Storys > Kurzgeschichten > Drama > Die Wasserleichen

Die Wasserleichen

368
10.05.20 22:58
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

„Was hast du gesehen?“, fragte der Beamte zum wiederholten Male.

Morin zuckte mit den Schultern.

„Antworte!“, schrie der Fremde scharf. Eine Ader an seiner Schläfe begann zu pochen, unter seinem kurz geschorenen Haar konnte man die vor Anspannung gestraffte Haut sehen.

„Nichts. Es... es war dunkel“, sagte Morin unbekümmert.

Der Beamte musste sich scheinbar daran erinnern, auch mal wieder auszuatmen. Sein Kollege klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter und warf ihm einen Blick zu, der wohl sagen sollte „Wenn du ihn schlägst, kommst du ins Gefängnis“.

„Wen hast du in dieser Nacht gesehen?“, fragte der zweite Beamte, der sich wesentlich besser im Griff hatte.

Morin wich der Frage aus: „Ich bin früh schlafen gegangen.“ Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen.

„Wann?“

„Um acht hab ich das letzte Mal auf die Uhr geschaut“, sagte er, ausnahmsweise sogar wahrheitsgemäß.

„Und du hast nichts von all dem mitbekommen?“, hakte nun wieder der ungeduldige Herr ein.

Morin zog die Schultern hoch und schüttelte langsam den Kopf. Er warf einen Blick zum Spiegel und fragte sich, wie viele Leute hinter der Scheibe saßen und ihn beobachteten. Er hatte immer geglaubt, das wäre eine Erfindung der Filmindustrie, um Szenen spannender aussehen zu lassen.

 

Natürlich war Morin nicht etwa schon um acht Uhr abends schlafen gegangen. Selbst wenn seine Schicht wie vorgesehen um Mitternacht geendet hätte, hätte er sich die Zeit gegönnt und sich unter die Partygäste gemischt.

Morin kannte keine tiefgründigen Emotionen. Er war nicht wütend, hasste niemanden, weinte selten und er glaubte, noch nie wahre Euphorie empfunden zu haben. Meist war er einfach zufrieden. Seine Seele war ruhig und er genoss das Gefühl. Aber manches, weniges brachte sogar ihn aus der Fassung und eine Sache davon war sein Arbeitsplatz. Es mag banal klingen, aber zu oft erwischte er sich selbst beim Gedanken, diese schwimmende Stadt anzuzünden.

Er hatte lange mit sich selbst gehadert, ob er sich für die Stelle an Board bewerben sollte. Als er aber schließlich feststellte, dass sich eine Monatsmiete nicht mit Aktivismus, Kunst und Freunden bezahlen ließ, entschied er sich dafür. Irgendjemand würde diese Arbeit doch sowieso machen, also tat er damit der Welt keinen Schaden. Oder?

Morin hörte nicht um Mitternacht auf zu arbeiten und das hatte er auch gar nicht erwartet. Er dachte einzig und allein an seinen bevorstehenden Gehaltszettel und die Zeit, die ihm das Geld einspielen würde, als er einwilligte, erneute Überstunden zu machen. Wahrscheinlich hätte er sowieso ein schlechtes Gewissen gehabt, hätte er seine beiden Kolleginnen bei diesem Ansturm auf die Bar allein gelassen. Die Gäste waren angenehm betrunken, noch niemand war in dieser Nacht wütend geworden, was vielleicht mit dem Altersdurchschnitt der Passagiere zusammenhing.

Die Zeit vergeht schnell, wenn man keine Möglichkeit hat, auf die Uhr zu schauen und die Arbeit machte mit der Zeit sogar Spaß, je angetrunkener Morin wurde. Immer wieder wurde er von Gästen mit eingeladen und hin und wieder gönnten sich seine Kolleginnen und er eine eigene Runde. Je weiter die Nacht fortschritt, je näher ihr Schichtende kam, desto gleichmütiger wurden die drei.

Irgendwann, als die Arbeit hinter der Bar bereits recht gemütlich und ruhig geworden war, bekam Morin einen heftigen Stoß in die Rippen. Er sah zu Albana hinab, die mit einem Nicken zu einem Mann deutete, der sich soeben einen Weg durch die Gäste auf die Bar zu bahnte. Morin stellte die Cola-Rum in seiner Hand an den Rand der Theke, als hätte ihn ein Partygast dort stehen gelassen.

„Danke Alba, aber das nächste Mal bitte nicht so fest“, flüsterte er ihr zu, während er einen Lappen in die Hand nahm und begann die Theke abzuwischen.

„Selber Schuld! Den ersten Schlag hast du nicht mal mehr mitbekommen.“

Ihr Schichtleiter hatte eine Ahnung, dass sie ihre Arbeit nicht mehr allzu ernst nahmen, aber er sah darüber hinweg, vor allem da Morins und Albanas Schicht bereits vor über zwei Stunden geendet hätte.

„Da kommt ja unsere Ablöse!“, rief Johanna.

„Eigentlich bin ich nur hier um Mo zu erlösen.“

„Oho, Mo wird erlöst“, wiederholte Albana spöttisch. Sie war nicht gut darin, einen Rausch zu verheimlichen, fand Morin.

Ihr Schichtleiter ging nicht weiter darauf ein und sagte: „Für euch beide werde ich sofort eine Ablöse organisieren, für dich hab ich eine andere Aufgabe. Komm mit sobald die Stelle da sauber ist.“

Kurz war Morin verwundert, doch dann wurde ihm bewusst, was sein Vorgesetzter meinte. Er hatte die ganze Zeit die gleiche Stelle geputzt. Sie war weder nass noch klebrig. Also nickte er und kam mit.

Während sie sich von der Tanzmusik und dem Rauchgestank entfernten, hatte Morin das Gefühl, wieder klarer im Kopf zu werden. Je weiter sie kamen, desto lauter wurden ihre Schritte, die Musik vermischte sich mit dem monotonen Rauschen aufgebrochenen Meerwassers und die Luft wurde dick, salzig und kühl. Als sie abbogen, hatte Morin eine Ahnung, wo sie hingingen.

„Nimm die dort schon mal mit“, befahl Haru und griff selbst nach einer weiteren Mülltonne. Die beiden hatten dieses Gespräch schon oft gehabt und Morin war fast versucht, es erneut zu beginnen. Es auf diese Art zu machen spart sehr viel Zeit, und außerdem landet der Müll früher oder später, wenn auch auf Umwegen, sowieso im Meer. Haru stieß Morin an, der kurz erstarrt war. Er schnappte sich die beiden Tonnen, zwei gelbe und folgte Haru.

„Ich hasse dich dafür und ich hasse normalerweise niemanden“, sagte Morin.

Er sah, wie sein Schichtleiter kurz mit den Schultern zuckte. „Die Befehle kommen von weiter oben. Mir wäre sowas nie eingefallen.“

„Von wie weit oben?“

Haru packte eine weitere Tonne und zog sie ebenfalls nach sich. Zwei menschliche Silhouetten kamen in Sicht, die wohl schon länger damit beauftragt waren, die Tonnen zu leeren.

„Von wie weit oben?“, wiederholte Morin, als er noch glaubte, dass ihn die beiden Kollegen nicht hören konnten.

Haru stellte die Tonnen ab und kehrte um. „Du weißt ja inzwischen, wo du alles findest! Wenn du fertig bist, kannst du schlafen gehen!“, rief er Morin zu und verschwand.

Morin lehnte sich ans Geländer, während die beiden Fremden weitere Tonnen zusammentrugen. Er kannte sie nicht, aber das war auch kein Wunder bei so vielen Angestellten. Sie gingen blind und zügig ihrer Arbeit nach, scheinbar ohne zu reflektieren, was sie da soeben taten.

Morin sah aufs Meer hinaus. Die Nacht war ungewöhnlich hell. Der Mond spiegelte sich unzählige Male in den flachen Wellen. Beim Gedanken an die Wassertiefe spannte er sich kurz an. Würde das Schiff hier sinken, könnte man wahrscheinlich nicht einmal mehr die Leichen bergen. Es konnte sich alles Mögliche unter ihnen befinden, von mythischen Bestien bis hin zu realen Monstern, von lebendem bis hin zu totem und alles dazwischen. Die Gedanken wurden immer unbehaglicher, doch als sie kurz davor waren sich endgültig ineinander zu verfangen, rief jemand: „Komm her, kleine Diva! Willst dir etwa nicht die Hände schmutzig machen, was?“

Morin brauchte einen Moment um zu verstehen, dass er gemeint war. Seine Füße schleiften langsam über den Boden, er sah hinauf und stellte fest, dass das hier vermutlich der einzige unbeobachtete Platz auf dem ganzen Schiff war. Von oben. Von wie weit oben? Die Brücke war von hier aus kaum mehr zu sehen.

Die beiden Männer wirkten kurz verwundert, als sie erkannten, dass ein Mann vor ihnen stand. Eigentlich fand Morin seine Haare nicht zu lang, aber vielleicht hat sein theatralischer Auftritt gerade seinen Ersteindruck mit beeinflusst. Er nickte zögerlich, griff nach einer Tonne, bewegte sie aber nicht. Die Fremden starrten ihn verwundert an. „Ich glaube, der ist dicht“, raunte einer.

„Ja... ja das bin ich“, bestätigte Morin. Noch immer hakte sich der Gedanke in seinem Gehirn fest. Von oben. War es denn wichtig, von wie weit oben?

Morin setzte sich so schnell in Bewegung, dass die beiden Männer erschraken und zusammenzuckten.

„Bleib hier! Was soll das?“

Sie kannten seinen Namen nicht. Sie konnten ihn also niemanden melden. Und was wollten die beiden auch groß erzählen. Ein kleiner, dünner Mann mit einer Mädchenfrisur hat eine volle Mülltonne gestohlen?

Er verschwand durch eine Tür, folgte einem engen Gang bis hin zu einem Fahrstuhl. Er fuhr in sein eigenes Stockwerk, bis unter den Meeresspiegel, ließ die Tonne vor dem Fahrstuhl stehen und ging zu seinem Schlafzimmer. Er sperrte die Tür auf, und versuchte leise zu sein, um nicht unnötig viele seiner Kollegen zu wecken. Man bekam hier ohnehin nie genug Schlaf. Er schüttelte den Mann im unteren rechten Stockbett.

Mike fuhr hoch, er erkannte im dunkeln nicht, wer vor ihm stand.

„Solltest du Schwierigkeiten bekommen, wegen so einer komischen Sache die da passiert ist, dann kannst du ihnen sagen, dass ich es war“, flüsterte Morin.

Mike beruhigte sich, war aber schrecklich verwirrt: „Was? Was für eine Sache? Was ist passiert?“

„Na, genau genommen passiert es in ungefähr fünf Minuten“, gestand Morin, nahm Mikes Schlüsselbund vom Nachttischchen und verschwand, noch bevor sein Kollege irgendwelche Einwände äußern konnte.

Mike war Teil des Reinigungsteams. Mit seinen Schlüsseln ließ sich fast jede Tür auf diesem Schiff öffnen. Leider wusste Morin nicht, welchen er brauchte. Als er vor dem Zimmer des Kapitäns stand, und den siebten von duzenden Schlüsseln ausprobierte, fragte er sich, ob das denn eine gute Idee war. Der Gang in diesem Abteil war breiter und mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt. Die Wände waren tapeziert und bebildert und die Türen mit Namensschildern versehen. Hier schliefen nur ein bis zwei Leute in einem Raum, der Kapitän schief natürlich allein. Morin und seine Genossen hatten in ihrem sechsbett Zimmer nicht einmal genügend Platz, um ihre Koffer zu verstauen, weshalb sie sie immer eingeräumt unters Bett schoben.

Jeder Mensch ist gleich an Würde? Nicht unter dem Auge des Kapitalismus.

Der vierzehnte Schlüssel war es schließlich, der die Türen in diesem Abteil öffnete und der ihm Zutritt zum Kapitänszimmer verschaffte. Es war groß, aufgeteilt in zwei Räume und einem eigenen Badezimmer, hellgelb Tapeziert mit bläulichen Verzierungen und mit mehreren Teppichen ausgelegt. Gegenüber des Familiensofas hing ein Fernseher an der Wand.

Plötzlich fühlte sich Morin wieder bestätigt in seinem Vorhaben. Er zog die Mülltonne nach sich, und begann sie auszuleeren, zuerst auf dem Sofa, dann auf dem kleinen Esstisch und schließlich im Schlafzimmer. Sollte er die Tonne auf dem Boden liegen lassen? Würden sie ohne seine Fingerabdrücke herausfinden, dass er es war? Oder würden sie sich überhaupt erst gar nicht die Mühe machen, wegen ein bisschen Müll Ermittlungen anzustellen? Wo hatte er eigentlich die letzten Kameras gesehen?

Ganz egal. Das war es ihm wert. Natürlich, nicht alle Befehle kamen vom Kapitän selbst, aber wer seine Macht nicht nutzte um Gutes zu tun, schloss sich automatisch den Bösen an. Er war ein alter, erfahrener Mann. Er musste die Vorgänge auf diesem Schiff kennen. Und sie mussten ihm egal sein, denn mit seinem Geld und seinem Einfluss war er imstande, etwas daran zu ändern.

Morin fiel auf, dass hinter dem Vorhang gegenüber vom Bett etwas Licht durchsickerte. Er zog ihn beiseite und entdeckte einen Balkon. Selbstverständlich hatte der Kapitän einen eigenen Balkon zur Verfügung, einen äußerst schönen noch dazu, stellte Morin fest, als er hinaustrat. Wieder hielt das Meer seinen Blick fest. Er bildete sich ein auf dieser weiten Fläche sogar die Rundungen der Erde erkennen zu können, was wahrscheinlich Unsinn war.

Er bemerkte zwei dunkle Umrisse nahe im Wasser. Zuerst hielt er sie für Felsen, da sie sich nicht bewegten, aber wahrscheinlich mussten es Meerestiere sein, angelockt vom Müll, unter dem sich auch einige Essensreste wiederfanden.

Etwas über ihm zog seine Aufmerksamkeit auf sich, aber er stellte fest, dass es nur eine Decke oder ähnliches sein konnte, die jemand am Fenster aufgehängt hatte. Unter sich sah er einen ähnlichen Umriss. Falls es eine Decke war, war das ein riskanter Ort, sie aufzuhängen, fand er.

Schon langsam sorgte er sich darum, wie viel Zeit er sich noch lassen konnte. Wie lange würde der verehrte Herr noch in die Nacht arbeiten? Er beschloss, die Tonne einfach an ihren Platz zu stellen und aufs beste zu hoffen. Er versperrte die Balkontür hinter sich, zog den Vorhang ordentlich zu und zog die Tonne wieder nach sich. Endlich war er wieder ruhig und entspannt. Seine Seele war wieder zufriedener durch seinen kleinen Akt des Protestes.

Gerade als sich seine Hand auf den Türgriff legte, hörte er einen dumpfen Schlag. Etwas Weiches, Schweres traf auf etwas Massives. Unter so vielen Menschen und einer derart riesigen Maschinerie waren solche Geräusche nichts ungewöhnliches. Sehr wohl ungewöhnlich war jedoch das Geräusch einer Hand, die gegen Glas schlägt, wenn unmöglich jemand auf dem Balkon sein konnte.

Es war keine Angst, die er empfand, sonder Vorsicht, als er sich lautlos erneut dem Balkon näherte. Er spähte an dem Vorhang vorbei, als er nichts entdeckte, zog er ihn ganz zur Seite.

Auf den ersten Blick dachte er, der Balkon war leer, doch der dunkle, flache Umriss am Boden war einfach schwer zu erkennen. Die Decke muss runter gefallen sein, dachte Morin. Eine Decke macht nicht solche Geräusche, erinnerte ihn sein Verstand. Er öffnete die Balkontür, trat aber nicht hinaus. Er starrte dieses etwas an, in der Hoffnung, irgendwann klug daraus zu werden. Etwas sah aus wie Haare, lange, schwarze, verklebte Haare, die sich über die Hälfte dieses Dinges legten. Je genauer er hinsah, desto mehr erkannte er. Das könnte der Umriss eines Körpers sein. Das seitlich unter den Haaren, vielleicht war das eine Hand und Finger. Und was war das der Hüfte abwärts?

Seine Mutter hatte als Kind einmal eine Wasserleiche entdeckt. Noch im Erwachsenenalter war sie nicht darüber hinweg gekommen. Sie hatte erzählt, wie sie in ihrer kindlichen Naivität die Hand des schwimmenden Kindes fassen wollte - und sich diese ohne große Mühe vom Körper löste. Morin war sicher, dass das gleiche bei diesem Körper passieren würde. Er hatte eine Wasserleiche vor sich liegen. Ihm fiel der zweite Laken ein, den er ein paar Stockwerke unter sich hatte liegen sehen und Unbehagen stieg in ihm auf. Wusste er nun etwas, das er nicht wissen durfte? Wer war dafür verantwortlich?

Auch wenn er es vermutlich bereuen würde, musste Morin das Gesicht des Menschen sehen. Er versuchte, ihn so sanft wie möglich umzudrehen und musste feststellen, dass dieser Mann trotz seines sehnigen, schmalen Körperbaus ungewöhnlich schwer war. Vielleicht ist er mit Wasser vollgesogen, kam es Morin in den Sinn. Nun war sein Kinderspiel von vorhin bedeutungslos geworden. Das Zimmer des Kapitäns zu verunstalten, aus Trotz über seine Arbeit kam ihm nun lächerlich vor. Er musste sich überwinden und Hilfe holen. Nun, helfen konnte dem da ohnehin niemand mehr, aber vielleicht konnte man verhindern, dass so etwas ein zweites Mal - nein, ein drittes Mal - geschah. Kurz musste er an die beiden Umrisse im Wasser denken, die er für Meerestiere gehalten hat.

Er gab es auf, das Gesicht des Mannes sehen zu wollen und versuchte das klebrig nasse Haar von ihm los zu werden, als etwas sein Gelenk umspannte. Zuerst hielt er das Gefühl für surreal, Haare, in denen er sich verfangen hatte oder vielleicht seine Uhr, die eben verrutscht war. Panik empfand er keine. Vorsicht, ja, aber keine Angst und keine Panik.

Der Körper bewegte sich ruckartig. Er musste verrutscht sein. Der ganze Balkon war schließlich überschwemmt. Nochmal fuhr ein Ruck durch den Körper, der Druck um Morins Gelenk wurde schmerzhaft fest. Der Kopf hob sich und Morin gingen die Erklärungen aus. Das Gesicht drehte sich langsam zu ihm. Die verklebte Strähnen verdeckten vieles davon. Gott sei Dank, denn die wenigen Gesichtszüge die er erkennen konnten, waren abscheulich. Dort wo eine Nase hätte sein sollen, waren nur zwei fast vollständig zugewachsene Löcher. Etwas, was wie verwischtes Make Up aussah, rann von den dunklen Augen herab und es war bestimmt alles, außer verwischtes Make Up. Die Lippen waren, naja, abgebissen? Abgeschnitten? Verrottet? Nichts schützte die zugespitzten, gelb-schwarzen Zähne. Einige davon fehlten und die Chancen standen gut, dass sie auf dem Balkon zu finden waren.

Der Druck um Morins Handgelenk wurde erneut stärker. Meine Uhr ist auf der anderen Hand, fiel ihm ein.

Der Druck löste sich so schnell wie er gekommen war und das Gesicht wandte sich von ihm ab. Es umfasste die Stäbe des Geländers im Versuch, mit Gewalt da durch zu passen, aber selbst für eine Wasserleiche war das unmöglich. Das Ding hatte Morin vollkommen vergessen. Seine Geräusche erinnerten an einen Erstickungstod. Warte mal...

Er packte den Mensch - die Leiche - unter den Armen und hoffte, dass er ihm keine Gliedmaßen ausreißen würde. In dieser Position konnte es ihn nicht erwischen, egal wie sehr es sein Maul aufriss oder blind in die Luft schlug. Morin zerrte es, noch immer von seinem Gewicht überrascht, in das Schlafzimmer des Kapitäns, durch das Vorzimmer durch bis ins Bad, wo er es einfach in die Wanne fallen ließ. Er sprang weg von ihm, aber es war wütend, sehr sogar und es hatte seinen Todeskampf scheinbar völlig vergessen. Fast wäre es ihm gelungen, sich aus der Wanne zu ziehen, aber Morin trat ihm gegen die Brust. Für einen Moment blieb es unbeweglich liegen. Morin nutzte den Moment.

Er stieg auf die Brust der Leiche, griff über sie hinweg und drehte kaltes Wasser auf. Zuerst gab es dem Ding wieder neue Energie, es lebte auf, griff nach Morin, wollte ihm aber nicht hinaus aus der Wanne folgen. Auch, wenn es keine Lippen hatte, konnte Morin erkennen, wie es versuchte die Zähne zu blecken. Er setzte sich auf den geschlossenen Klodeckel und starrte es an. Es wand sich hin und her, das Wasser färbte sich in Kürze vom Blut der Leiche und je höher der Spiegel wurde, desto ruhiger wurde... es, bis sie sich nur noch gegenseitig anstarrten. Es war schwer, in ein solches Gesicht zu sehen, aber es wurde leichter, je mehr der Hass und die Wut der Leiche vergingen. Irgendwann reichte das Wasser, um ganz darin unterzutauchen und Morin drehte den Hahn ab und wartete.

Einige Male erwiderte es seinen Blick, aber dann nur kurz. Einmal fauchte es ihn an. Nach ein paar Minuten begann es, an der Badewanne herum zu beißen. Es wollte raus.

„Verstehst du mich?“

Es horchte auf.

„Du verstehst mich nicht, hab ich recht? Warum sollte ein Fisch aus dem atlantischen Ozean auch Deutsch sprechen?“

Noch immer hörte es gespannt zu, reagierte aber nicht weiter.

„Weißt du... ich kann dich ja verstehen. An deiner Stelle wäre ich auch wütend. Ich bin wütend, obwohl es mich nicht mal halb so schlimm erwischt hat.“

Es richtete sich auf und streckte mehr von seinem Körper aus der Wanne. Erst jetzt konnte sich Morin das Ding im Licht genauer ansehen. Bis zur Hüfte war es vollkommen mit dunkeln Schuppen bedeckt, manche davon frisch und rund, andere eingekerbt, scharfkantig oder sogar ausgerissen. Ab der Taille wurden sie immer weniger, bis Haut, aufgequollene, verletzte und dünne menschliche Haut, überwiegte. Im Gesicht lagen dann überhaupt nur mehr drei Schuppen.

Was Morin anfangs für eine sehr dunkle Augenfarbe gehalten hatte, waren zwei schwarze Höhlen, die das wenige Licht im Badezimmer zum Glück nicht ausleuchteten. Trotzdem war er sich sicher, dass er klar und deutlich gesehen wurde.

Die Krallen an den Händen waren ungewöhnlich dick und Morin musste feststellen, dass sie sich vorhin unter seine Haut gegraben hatten. Er hatte keine Angst.

„Wenn ich dich hier lasse, wirst du kein schönes Leben mehr haben. Du wirst nicht mehr frei sein.“

Scheinbar gespannt lauschte es seinen Überlegungen.

„Aber etwas wie dich hat noch nie jemand gesehen. Sollte die Menschheit nicht davon wissen? Wie hast du dich so lange verstecken können?“

Morin überlegte und konnte sich das Verhalten der Leiche nur mit seinem eigenen erklären.

„Wahrscheinlich warst du so lange ruhig und zufrieden, bis dich etwas wütend gemacht hat.“

Er legte den Kopf schief um zu sehen, ob es es ihm nachtat. Es legte tatsächlich den Kopf schief und stemmte sich noch ein Stück weiter aus der Wanne. Eigentlich hätten dort Genitalien sein sollen und irgendwann trennte sich ein Körper in zwei Beine auf, aber nicht bei diesem Wesen. Naturgesetzte waren für es scheinbar mehr ein Vorschlag als eine Richtlinie.

„Ich würde es genauso machen. Ich wäre genauso wie du und du wärst genauso wie ich.“

Er näherte sich der Leiche und kniete vor ihr nieder. Langsam fasste er in dessen Haar. Der leere Blick des Wesens fiel schnell zwischen Morin und seiner Hand hin und her, vermutlich um die Gefahr einschätzen zu können, aber Morin blieb ruhig.

„Ich mag deine Haare“, sagte er und stellte im selben Moment fest, dass stellenweise ganze Büschel ausgerissen waren. Es fasste weit weniger vorsichtig in seine Haare und riss daran. Es gab ein Geräusch von sich wie ein Gurgeln und Morin war sich nicht sicher, ob es ein Kompliment, eine Beleidigung oder ein Lachen sein sollte.

„Vielleicht kann ich etwas für dich tun“, flüsterte Morin, nachdem es ihn wieder losgelassen hatte. Er griff an dem Ding vorbei und drehte erneut kaltes Wasser auf. Dann stand er auf, verschloss den Abfluss des Waschbeckens und drehte auch dort das Wasser auf.

„Vielleicht reicht es ja. Vielleicht kannst du so deinen Weg selber wählen.“

Das Waschbecken ging zuerst über. Begierig nach Freiheit schüttete die Leiche das Wasser aus der Badewanne. Aufgeregt wandte es sich hin und her, tauchte unter, um dann wieder ungeduldig über den Beckenrand zu linsen.

Morin fühlte, wie sich seine Schuhsohlen ansogen. Was verband ihn mit diesem Tier? Warum wollte er ihm so dringend helfen?

Mit einer kräftigen Bewegung zog es sich aus der Wanne und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem nassen Fußboden. Es zog sich mit den Händen über die Fliesen und, seine Beine - nein, seine... was auch immer das war - wiegte sich langsam hin und her, was ihm die Anmut einer Schlange verlieh. Es zog sich zur Tür und schlug mit dem Kopf dagegen. Es lehnte sich zurück, um zum nächsten Schlag auszuholen, aber Morin war schneller und stieß die Tür auf. Er sprang über die Leiche drüber und zog vor ihm den Teppich weg. Zufrieden zog sie sich in das Wohnzimmer und wartete geduldig, bis der dünne Wasserfilm aus dem Bad den nächsten Raum eingenommen hatte. Währenddessen ruhte sein leerer Blick wieder auf Morin und er fühlte eine gewisse Verbundenheit mit... diesem Tier? Was war es nun wirklich? Er sollte jemanden holen. Oder er sollte es über das Geländer ins Wasser werfen.

Das muss schneller gehen. Der Gedanke kam ihm, als er sah, wie langsam der Wasserfilm ausbreitete. Das Schiff muss schneller geflutet werden.

Wenn ich die Pools überschwemme... Von der Brücke aus würde alles hinab laufen... Vielleicht könnte ich wo ein Fenster einschlagen...

Intuitiv wusste Morin, in welchen Zimmer bereits Leute schliefen und welche frei waren. Er verschwand in einem Zimmer, lief kurz darauf zurück auf den Gang und verschwand im nächsten und im nächsten und kurz darauf trat Wasser aus den offenen Türen. Er rollte den Teppich auf und die Leiche zog sich mit den Händen ihm nach. Warum gab ihm das ein so befriedigendes Gefühl? Er würde wirklich großen Schwierigkeiten bekommen, wenn ihn jemand entdeckte.

Und eben als sich der nächste besorgniserregende Gedanke seinen Weg in seinen Verstand bahnen wollte, öffnete sich die Tür direkt neben ihm. Eine hellblonde, kleine Frau in einem Nachtkleid stand mit wütendem Blick in der Tür und Morin war bereits drauf und dran sich zu entschuldigen, doch als sie die Wasserleiche neben ihm bemerkte, verlor ihr Gesicht alle Farbe und sie wurde still. Die Leiche sah aufgeregt zwischen ihr und Morin hin und her und warf ihm schließlich einen Blick zu, der wohl sagen sollte: „Von jetzt an komme ich hier allein zurecht.“

Morin ließ den zur Hälfte zusammengerollte Teppich fallen und lief zum Fahrstuhl. Er hatte einiges zu tun. Es waren keine Schreie zu hören. Trotzdem musste er sich fragen, was wohl nun mit ihr und den anderen noch schlafenden Führungspersonen passieren würde.

 

Zum wievielten Mal ging nun schon die Sonne auf? Vor ein paar Nächten hatte Morin den Kapitän irgendwie überreden können, das Schiff vom Kurs abzubringen und aufs offene Meer zu steuern. Überreden. Es war nicht schwer, jemanden mit einem Fleischermesser in der Hand und zwei lebendigen Wasserleichen hinter sich zu etwas zu überreden. Aber warum hatte er das nochmal getan? Irgendwie fühlte es sich richtig und sinnvoll an, doch musste er sich ständig fragen, ob es das denn war.

Erst am späten Vormittag war er schlafen gegangen. Als er das nächste Mal aufwachte, nach wer weiß wie vielen Stunden, war er allein. Niemand mehr war in seiner sechsbett Schlafkabine und niemand mehr sonnte sich beim Pool. Niemand mehr kochte und niemand steuerte das Schiff. Die einzigen Lebenden waren Vögel, die auf diesem Schiff Rast machten und die Wasserleiche. Immer wenn er ins Meer blickte, fand er sie früher oder später. Manchmal kletterte sie am Schiff hoch und sah ihn einfach nur an und manchmal tauchte sie sofort wieder unter, wenn er sie entdeckte.

Seitdem war er schon oft aufgewacht und dann wieder schlafen gegangen. Das Essen wurde schon langsam faul. Jedes Mal, wenn er die Hauptküche betrat, wurde ihm schlecht vom Gestank. Trinken musste er das Wasser aus den Pools. Aus den Leitungen kam nichts mehr. Einen Pool hatte er zum waschen, einen zum trinken und die anderen als Reserve.

Er gönnte sich täglich neues, teures Gewand und Schmuck und kümmerte sich so gut er konnte um die Blumen und Palmen an Board, was eigentlich viel zu viele waren, aber er konnte den ganzen Tag ja sonst nichts tun. Aus irgendeinem Grund ging er noch immer in seine sechsbett Kabine um zu schlafen, obwohl die gesamte Führungsebene nun frei war. Dort unten begannen die Wände bereits zu schimmeln.

Am wohlsten fühlte er sich jeden Abend, wenn er sich nach seinen selbst auferlegten Arbeiten nackt in seinen Badepool fallen ließ und von unter Wasser hoch in den orangenen, verschwommenen Himmel blickte. Da hatte er das Gefühl, nichts tun zu müssen und er vergaß seine Mitschuld.

Woran hatte er denn Mitschuld? Er hatte doch nur geholfen.

Ein dunkler Umriss verdeckte den strahlenden Himmel, er fühlte etwas über seine Brust gleiten und stellte fest, dass es Haare waren - die Haare jemand anderes.

Er tauchte langsam auf und als er knapp über der Wasseroberfläche wieder klar sehen konnte, erkannte er die Wasserleiche über sich. Inzwischen wusste er, dass es viele diesesgleichen geben musste. Er hatte schon welche mit anderen Haarfarben gesehen, manche mit Brüsten, einige waren sogar noch dürrer als er, andere fülliger und sie deckten die ganze Bandbreite an Verwesungsgraden ab.

Morin tauchte unter, um unter ihm wegzuschwimmen und neben ihm ganz auftauchen zu können. Er atmete tief durch und sah sich um. Sie waren alleine. Wie immer. Er lehnte sich an den Beckenrand und beobachtete seinen Freund.

Es gurgelte. Inzwischen konnte Morin die Sprache der Leiche deuten. Der Unterton verriet ihm, dass das gerade ein Ausdruck der Freude war, aber es gab auch noch ein Gurgeln, dass Spott bedeutete und eines, dass wohl eine Verabschiedung darstellen sollte. Ein Fauchen war nicht immer eine Drohung, es konnte auch bedeuten, dass es Schmerzen hatte oder enttäuscht war.

„Ich hab Hilfe gerufen“, sagte Morin, „Sie sind auf dem Weg hier her. Du und deine Freunde solltet verschwinden.“

Es blieb still.

„Du brauchst mich nicht mehr.“

Es richtete sich auf und warf sich seitlich ins Wasser. Vielleicht hatte es in den letzten Tagen ja auch gelernt, seine Sprache zu verstehen.

Als es wieder auftauchte, sprach Morin weiter: „Ich werde dir das niemals verzeihen. Sie waren unschuldig. Hätte ich gewusst, was du vorhast, hätte ich das niemals getan.“

Wie hätte er auch wissen können, was sie vorhatten? Gelegentlich wenn er ins Meer blickte, sah er sie. Ihre Beine waren straff zusammengebunden, sie trieben leblos auf der Wasseroberfläche. Manchmal schlugen sie immer und immer wieder gegen das Schiff, manchmal wurden sie weggetragen.

Die Leiche fauchte, kam ihm näher, baute sich über ihm auf und packte ihn an den Haaren. Morin blieb unbeeindruckt und hielt dem leeren Blick stand.

„Du hast auch mal gelebt, nicht wahr? Wenn ich die Schuppen und das wild gewachsene Fleisch von deiner Flosse schneide, finde ich dann auch zwei gefesselte Beine?“

Es drückte ihn mit seinem ganzen Gewicht unter Wasser und Morin konnte dumpf das wütenden Fauchen hören. Er glaubte, es würde ihn loslassen. Es mochte ihn sehr, das wusste er. Doch es dachte wohl nicht daran, dass er nicht lange ohne Luft überleben konnte. Er griff nach oben, bekam zuerst die Schulter der Leiche zu fassen, dann ertastete er den Beckenrand und zog sich daran hoch.

„Tut mir leid!“, sagte er mit seinem ersten Atemzug, dann, „Das war respektlos. Es tut mir leid. Du kannst nichts dafür.“

Es wandte sich ab und zog seine Runden im Pool, als wollte es Morin beleidigt ignorieren. Erst als er nach ein paar Minuten aus dem Pool stieg und sich anzog, schenkte es ihm wieder offensichtlich seine Aufmerksamkeit. Morin war sich sicher, dass er die ganze Zeit über seine volle Aufmerksamkeit gehabt hatte. Als er angezogen war, reichte er ihm eine Hand und half ihm heraus. Mit einem Eimer befeuchtete er den Boden, damit sich die Leiche wieder leichter fortbewegen konnte. Sie gingen und zogen sich zur Reling und sahen dem Sonnenuntergang entgegen.

„Heute werde ich nicht mehr hier schlafen“, sagte er, als er die Lichter auf dem Meer in der Ferne erkannte. Morin wusste, dass die Leiche einige Male bei ihm in seiner Schlafkabine war. Manchmal fand er Perlen, leere Muscheln, Fische und vor allem lange, schwarze Haare in seinem Bett oder daneben liegen. Einmal schenkte die Leiche ihm sogar einen Augapfel und Morin musste ihr später erklären, dass er diese Art an Geschenken nicht haben wollte.

„Ich werde ihnen nichts von dir und den anderen erzählen. Dann würden sie euch jagen und töten. Aber du darfst so etwas nicht noch einmal machen!“

Die Leiche sah ihn mit großem, leeren Blick an und Morin wusste genau, dass sie es wieder machen würde.

„Wenn ich einmal alt und krank bin, komme ich zurück, in Ordnung? Dann darfst du mich auch zu so etwas wie dich machen. Wirst du dann noch hier sein?“ Oder wird es bis dahin vollkommen verwest sein?

Sie schauten gemeinsam den näherkommenden Schiffen entgegen und Morin bemerkte nicht einmal, wie die Wasserleiche verschwand. Er hoffte nur, sie war in Sicherheit.

 

 

Autorennotiz

Für einen Schreibwettbewerb habe ich eine Kurzgeschichte zum Thema "Meerjungfrauen" geschrieben. Die einzige Vorgabe war, keine Klischees zu verwenden und ich glaube, das ist mir ganz gut gelungen.

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

Autor

LaurinJonass Profilbild LaurinJonas

Bewertung

Eine Bewertung

Statistik

Sätze: 357
Wörter: 5.321
Zeichen: 30.535

Kategorisierung

Diese Story wird neben Drama auch in den Genres Fantasy, Horror, Mystery und Angst gelistet.

Zugehörige Readlist

Morin
(4 Werke)
Der Realist (2 von 4)
StorysKurzgeschichtenMehrere Genres
Von LaurinJonas

184 1
Die Wasserleichen (3 von 4)
StorysKurzgeschichtenMehrere Genres
Von LaurinJonas

368 5 16
Der Lügner und der Traummacher (4 von 4)
StorysKalendergeschichtenMehrere Genres
Von LaurinJonas

215 5 2

Ähnliche Storys