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Telefonzelle

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20.07.22 23:29
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Wer in meiner Altersklasse mitspielt, hat oft ein besonderes Verhältnis zu Telefonzellen, im Rheinland wird dieses Bauwerk auch gerne Telefonhäuschen genannt – im Amtsdeutsch heißen die Zellen abgekürzt TelH oder FeH. Ich habe Telefonzellen schon lange aus meiner Gedankenwelt verdrängt. Die letzte Telefonzelle, an die ich mich erinnern kann, stand an einem Strandzugang von Vielle-Saint-Girons im französischen Département Landes. Wir haben in einem Nachbarort über einige Jahre einen zweiten Wohnsitz gehabt und der Strand, der den schönen Namen Lette Blanche trägt, war unser Lieblingsstrand. Die Telefonzelle am Übergang zwischen dem unendlichen Küstenwald und den Dünen fand ich überflüssig, denn der Aufbau der Zelle fand zu einer Zeit statt, als die ersten Menschen bereits mit Mobiltelefonen durch die Gegend liefen. Nein, nicht mit Smartphones! Der gehobene Standard waren damals Klapphandys. Aber immerhin telefonieren konnte man mit diesen Handys – wenn dann der Netzausbau weit genug fortgeschritten war. Die Telefonzelle war nicht nur deplatziert, sondern machte bereits nach dem ersten Winter den Eindruck, als stände sie seit Jahrzehnten dort und sei niemals gewartet worden. In all den Jahren, in denen die Telefonzelle dort ziemlich nutzlos herumstand, habe ich nicht einmal gesehen, dass dort jemand das Telefon benutzt hat. Vor gut fünf Jahren hat France Telecom die Zelle dann entfernt und niemand hat sie vermisst.

Mir kommen eher nostalgische Gedanken, wenn ich an die Zeit der Telefonzellen zurückdenke. Da ich in jungen Jahren ohne eigenen Telefonanschluss war, war das Wissen um die nächste erreichbare Telefonzelle immer hilfreich. Schließlich war es bei Verabredungen im Freundeskreis auch damals Standard, das am Telefon zu besprechen. Hatte der Freund keinen eigenen Telefonanschluss – was damals eher normal war – gab es bestimmt den einen oder anderen hilfreichen Nachbarn, der entweder den Freund ans Telefon rief oder die Nachricht weitergab. Hilfreich war es, immer zwei Groschen passend im Portemonnaie zu haben, denn ohne passende Münzen ging gar nichts. Das war so, bis zu dem Tag, als es möglich wurde, von den Münztelefonen aus Ferngespräche zu führen. Diese Art Telefone schlucke auch andere Geldstücke. Aber das war ein teurer Spaß, denn dem Telefonapparat war es gleichgültig, wie lange man für sein Geld telefoniert – kassiert ist kassiert, basta! Schluckte das Telefon eine Mark, dann war die verbraucht, sobald der Angerufene abhob, auch wenn es sich um ein Gespräch für lediglich zwei Groschen handelte. Später gab es einen Entwicklungssprung, bei den Postämtern konnte man Telefonkarten in verschiedenen Preisstufen erwerben. Diese Karten wurden dann passend zur Länge des Gesprächs abgerechnet.

Die wichtigsten Jahre in meinem Leben als Telefonzellennutzer, waren die, als ich mich unsterblich verliebte. Ich hatte Glück, meine Angebetete war glückliche Besitzerin eines eigenen Telefons. Oh, welch liebende Worte wurden über die Telefonleitungen weitergeleitet. Ich denke, die Drähte glühten. Das ging immer so lange gut, bis sich eine Warteschlange vor der Telefonzelle bildete. Fasse dich kurz – war der Spruch, der in vielen Telefonzellen angebracht war. Das ist natürlich nicht das, was sich Liebende wünschen und die zwei Groschen für das Gespräch, wollte ich schließlich auch möglichst lange nutzen. Nun mögen zwei Groschen heute nicht mehr viel Geld sein, damals hatte ich aber gerade einmal zwei Mark am Tag zur freien Verfügung. Da überlegt man sich schon, ob ein Telefongespräch wirklich erforderlich ist. Aus Liebe zu telefonieren, war auf jeden Fall ein wichtiger Grund, da lohnte sich der Einsatz von zwei Groschen immer.

Aber genug vom Liebesgeflüster, das Problem löste sich mit der Zeit von selbst, wir heirateten – wir sind noch heute ein Paar und das Liebesgeflüster im direkten Kontakt ist sowieso das einzig wahre. Die Telefonzellen in Deutschland waren von gelber Farbe, im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland waren sie rot und in Frankreich kamen sie grau daher. In Frankreich gab es die Besonderheit, man konnte sich in der Telefonzelle anrufen lassen. Ich habe das in späteren Jahren geschäftlich genutzt. Auf Reisen in Frankreich wählte ich kurz einen Kunden an, nannte ihm die in der Telefonzelle angeschlagene Telefonnummer und ließ mich zurückrufen. War ich länger an einem Ort, teilte ich meinen Kunden einfach die Telefonnummer einer nahen Telefonzelle mit und wir vereinbarten eine Tageszeit, zu der ich an der Telefonzelle herumlungerte. Das war alles ganz nett, trotzdem, mein erstes Mobiltelefon, war eine ungeheure Erleichterung.

Die gelbe Telefonzelle in Deutschland war es aber, die meine jungen Jahre geprägt hat. Heute erscheint das anachronistisch – ein Mobiltelefon hat schließlich jeder, was braucht es da noch öffentliche Fernsprecher. Damals war das anders und selbst bei unseren Erziehungsbemühungen als junge Eltern, gehörte das Einüben des Umgangs mit dem öffentlichen Fernsprecher zum Programm. Sobald unsere Tochter groß genug war, an den Telefonhörer zu gelangen und den Münzeinwurf zu erreichen wurde geübt, zuerst in Begleitung, dann wurde Töchterchen, versehen mit zwei Groschen allein losgeschickt. Seit diesem Tag war die Kleine mit zwei Groschen ausgestattet, wenn sie allein unterwegs war. Sie war sehr selbstständig und kam immer erst nach Hause, wenn die vereinbarte Zeit erreicht war. Da konnten wir die Uhr nach stellen. Nur einige wenige Male hat Töchterchen angerufen, weil sie sich unerwartet verspätete. Einige der Geldstücke wurden zweckentfremdet und wurden in Süßigkeiten verwandelt. Das geschah äußerst selten und wir haben dann klaglos neues Telefongeld herausgegeben. Uns hat die Telefonzelle auch später noch gute Dienste geleistet. Meine Frau und ich arbeiteten zu sehr unterschiedlichen Zeiten, eigentlich war immer jemand zu Hause. So konnten wir per Telefon Kontakt halten, das war dann aber schon zu Zeiten der Telefonkarten. Obwohl teuer, leisteten wir uns damals einen Anrufbeantworter. So konnten wir auch dann Nachrichten hinterlassen, wenn der Hüter der Wohnung gerade einkaufen war.

Bei den Überlegungen zu Telefonzellen kam es mir in den Sinn, in unserem Stadtteil gibt es immerhin noch zwei öffentliche Fernsprecher. Ein Telefon an einer Säule an unserer Bushaltestelle und eine Telefonzelle in der Ortsmitte. Der Sinn dieser Einrichtungen geht mir nicht auf, denn nie sehe ich jemand dort telefonieren. Die Telefone scheinen betriebsbereit zu sein, aber die Telefonsäule erregt mein Interesse eher nicht. Es ist die etwas weiter entfernte Telefonzelle, die meine Fantasie beflügelt. Gelb ist sie nicht, sie leuchtet in Magenta, der Farbe der Telekom. Ein Blick durch die verschmierten Scheiben lässt erkennen, auch dort scheint das Telefon betriebsbereit zu sein. Komme ich auf meinen diversen Wegen durch den Ort an der Telefonzelle vorbei, juckt es mich in den Fingern, die Funktionsfähigkeit des Telefons zu überprüfen. Ich müsste dazu meine Liebe um unsere letzte verbliebene Telefonkarte bitten. Diese trägt sie seit Jahren in ihrer Geldbörse herum. Das traue ich mich nicht, ich fürchte, ein vernichtender Blick wurde mich treffen. Es gibt in Wahrheit einen anderen Grund, den Versuch zu unterlassen, das Innere der Zelle ist total vermüllt. Ich bin nicht abergläubisch, aber die heruntergekommene Telefonzelle erinnert mich an eine Zeile aus einem Lied von Hannes Wader – denn der Atem toter Seelen staut sich unter diesem Dach. Es ist einfach so, den Atem toter Seelen möchte ich nicht einatmen.

Gestern entschlossen wir und zu einem gemeinsamen Spaziergang und was sahen wir? Ich habe es zuerst nicht glauben wollen und habe zweimal hingesehen – der Müll in der Telefonzelle war beseitigt. Das machte uns mutig. Vorsichtig öffneten wir die Tür der Zelle, ein Schwall abgestandener Luft drang in unsere Nasen. Hineinzugehen trauten wir uns nicht. Wir waren jedoch nah genug am Telefon, um die Betriebsbereitschaft zu erkennen. Auf einem kleinen Display lief eine Schrift in Endlosschleife und verkündete, dass man sowohl mit Telefonkarten, als auch durch den Einwurf von Euromünzen telefonieren könne. Hier endete unser Mut. Den unter einer dicken Staubschicht lagernden Hörer mochten wir nicht in die Hand nehmen. Deshalb muss ungeklärt bleiben, ob das Telefon wirklich funktioniert.

PS: Das Geheimnis, warum die Telefonzelle immer noch an ihrem Platz steht, glaube ich, gelöst zu haben. Das Geheimnis verbirgt sich im Dach des Bauwerks. Dort ist ein Hotspot des öffentlichen W-LAN Netzes der Telekom verborgen. Und nur für den Fall, dass jemand die Geschichte liest, die oder der zu jung ist, um zu wissen, was ein Groschen ist – ein Groschen war, vor der Einführung des Euros, ein Zehnpfennigstück. Das sind ungefähr fünf Cent.

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Kurzbeschreibung

Eine Woche krankheitsbedingte Untätigkeit ließ mich auf sonderbare Gedanken kommen. In diesen ging es um die gute alte Telefonzelle. Wie wichtig diese öffentlichen Fernsprechanlagen einmal waren, kann sich heute niemand mehr vorstellen.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Alltag auch im Genre Nachdenkliches gelistet.

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