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Erinnerungen an einen Lehrer

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17.03.24 10:07
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Blicke ich in die ferne Kindheit zurück,

ist mir, als sähe ich Bilder aus einem alten Film.

(Heiner Carow)

 

~ für einen Lehrer ~

 

Ich blättere durch mein Poesiealbum und stelle fest, dass ich mich kaum noch an meine Lehrer aus der Grundschulzeit erinnern kann. Mir ein wenig unheimlich zumute, da fremde Stimmen zu mir sprechen, auch wenn sie mir allesamt Gutes wünschen.

Ein Lehrer ist mir indes noch recht nah, obwohl meine Erinnerungen auch an ihn nicht mehr allzu deutlich sind. All das, was ich über ihn schreibe, bahnt sich nur mühsam den Weg in mein Bewusstsein.

Achim Stubenrauch war Mathematiker und hatte sein gesamtes Berufsleben über an ein- und derselben Schule verbracht. 1991 stand er nach über 40 Dienstjahren kurz vor seiner Pensionierung. Weil er ausschließlich in der Oberstufe unterrichtete, hatte ich ihn nie als Lehrer gehabt, dennoch suchte ich seine Nähe.

Was mir von ihm bleibt, sind ein Spruch in meinem Poesiealbum, wonach sich nur der rege Geist weiterentwickeln könne, sowie einige wenige Gedankenbilder.

Ich sehe ihn im Schulflur auf mich zukommen. Wir grüßen uns, und Anke, meine Klassenkameradin, fragt mich: Warum bist du so nett zu dem? Stehst du etwa auf ihn?

Ich sehe, wie er in den Matheraum kommt, um den Unterricht für seine 10. vorzubereiten. Ich bin gerade dabei meine Sachen einzupacken. Wieder grüßen wir uns. Ich lächle, er lächelt.

Ich sehe ihn allein in der Mensa sitzen und überlege, ob ich es wagen kann, mich zu ihm zu setzen. Ich tue es und beginne sogar ein Gespräch mit ihm. Oder beginnt er es?

Ich stehe vor meiner Mutter, erzähle ihr von ihm. An meiner Schule gibt es einen alten Lehrer. Er heißt Herr Stubenrauch und wird von niemandem gemocht. Er wirkt so allein.

Ich sehe mich im Mädchenklo zwischen meinen Klassenkameradinnen stehen. Die Zigarette kreist. Ein Mädchen, mag sie Franzi geheißen haben, sagt zu Anke, die sich nicht traut, Lunge zu rauchen: Du musst den Rauch inhalieren. Und das machst du, indem du ‚Papa‘ sagst und die Luft dabei einziehst. Woher sie das wüsste, habe ich sie nie gefragt. Anke folgt ihrem Rat, beginnt zu husten und wird grün im Gesicht. Alle lachen über sie. Ich bin an der Reihe, weigere mich aber. Ich will die Zigarette noch nicht einmal anfassen. Die Mädchen starren mich an. Anke, noch immer grün im Gesicht, wittert ihre Chance. Soll ich euch mal was sagen?, entfährt es ihr. Die steht auf Stubenrauch. Gelächter bricht über mich herein. Was denn, auf den?

Stimmt ja gar nicht, erwidere ich.

Und warum bist du dann immer so nett zu ihm?

Und du, schleudere ich Anke entgegen, du bist in Herrn Werner verliebt.

Ich bemerke, wie in Ankes Gesicht das Grün einem tiefen Rot weicht, sehe auch, dass sie den Mund öffnet, um etwas zu sagen, doch wendet sich Franzi an mich: Jetzt echt mal, du bist in Stubi verknallt?

Nein!, beteuere ich.

Na besser is auch. Noch ein, zwei Jährchen und der schaut sich das Gemüse von unten an, erwiderte Franzi trocken.

Stubenrauch is voll komisch.

Voll streng, sagt meine Schwester.

So höre ich die Mädchen um mich her raunen und vernehme ihre Abneigung gegenüber diesem Lehrer.

Ich setze ab, lese diese Textstelle noch einmal und muss grinsen. Sie ist sicher nicht schlecht geschrieben. Nur leider weiß ich nicht, wo die Erinnerung aufhört und die Phantasie beginnt. Wohl standen wir Mädchen im Klo beisammen. Auch kreiste die Zigarette. Anke wurde sogar grün im Gesicht und dann auch rot, denn ich verriet ihr Geheimnis. Und weil sie mir das arg übelnahm, heuerte sie Mädchen aus der 10. an, die mir nach Schulschluss auflauerten, um mir ihr Butterfly-Messer unter die Nase zu halten.

Eine andere Erinnerung mischt sich also mit dieser. Gelb zergeht in Blau und wird zu Grün. Und Grün fließt ins Rot und wird zu Braun. Ich weiß noch, dass Franzi und die anderen nicht gut über Achim Stubenrauch sprachen. Er war ihnen zu alt, zu streng – einfach komisch. Sie wussten nichts mit ihm anzufangen.

Ich sehe mich im Schulflur auf ihn warten, um ihm mein Poesiealbum zu geben. Es sind nur noch wenige Tage bis zu den Sommerferien. Und da ich danach aufs Gymnasium gehe, werde ich ihn wohl nicht wiedersehen. Er versteht, lächelt mich an und sagt, dass er mir das Album gleich am Montag wieder mitbringen werde. Hat er mir das tatsächlich gesagt? Ich zweifle. Vielleicht stopft die Phantasie wiederum Löcher, die die Zeit ins Gewebe meiner Erinnerungen riss. Wohl kann ich mich daran erinnern, dass er mir das Album im Matheraum gab. Er holte es aus seiner Aktentasche, die auf dem Lehrertisch stand. Danke, sagte ich. Ich glaube, er hatte es eilig. Die Pause war nur kurz. Aber er zeigte mir seinen Eintrag. Erst daheim versuchte ich mich daran, ihn zu entziffern, musste aber meine Mutter um Hilfe bitten. Heute lese ich seinen Text nicht nur des Inhalts, sondern auch seiner Handschrift wegen. Für mich zeugt sie von hoher Intelligenz, Disziplin und Akkuratesse, aber auch von ästhetischem Empfinden und der Gabe, Harmonie und Dynamik aufs Blatt zu malen. Sicher konnte er auch gut zeichnen. Vielleicht spielte er sogar ein Instrument, sprach Latein und Alt-Griechisch …

Wieder unterbreche ich mich und schüttle grinsend den Kopf. Das sind nicht die Gedanken des Mädchens, das ich einst war. Sie fragte nicht nach Alt-Griechisch und Akkuratesse. Nein, sie nahm stattdessen all ihren kindlichen Mut zusammen und setzte sich im Essenraum zu einem Lehrer, der ihr einsam erschien. Sie sah es als ihre Pflicht an, ihm Gesellschaft zu leisten, ohne sich bewusstmachen zu können, dass sie sich in ihm spiegelte, ja, dass sie es war, die sich einsam und ausgrenzt fühlte, weil sie es nicht vermochte, Anschluss in ihrer Klasse zu finden.

Ich weiß, dass an jenem Tag, als er mir das Album wiedergab, die Sonne schien, im Raum aber wohltuendes Dämmerlicht herrschte, weil die Vorhänge halb zugezogen waren.

Schließlich sehe ich meine Mutter, wie sie seinen Eintrag liest, den Blick hebt und sagt: Er hat ‚von einem Mathematiklehrer‘ geschrieben, nicht ‚von deinem …‘. Das wirkt so bescheiden. Ja, aber er war doch für mich nur ein Mathematiklehrer, wenngleich ein besonderer Mensch.

Bild reiht sich an Bild, doch ist es mir unmöglich, sie zu verknüpfen, um aus ihrer Abfolge eine Geschichte entstehen zu lassen. Aber was erwarte ich nach all der Zeit.

Uns beide gibt es schon lange nicht mehr. Weder ihn, der mit seiner Aktentasche unterm Arm durch die Schulflure ging, noch mich, die ihn irgendwann bemerkte und sich an seinen Tisch im Essensaal setzte. Noch ihn, der bereit war, sich meiner anzunehmen und es sich gefallen ließ, dass ich ihm nachging, um ihm ein Gespräch aufzudrängen, noch mich, die ihn fragte, ob wir wieder zusammen zu Mittag essen würden, noch ihn, der einwilligte, noch mich, die ihn nach seinem Leben auszufragen begann, nach seiner Frau, seinen Kindern und seinen Hobbys. Spielte er gerne Schach? Und fragte ich ihn, ob er’s mir beibringe. Ach, wieder komme ich vom Wege ab und ich beginne gänzlich zu phantasieren, wenn ich schreibe, dass er einen Lada besaß, mit dem er am Wochenende gern aufs Land fuhr … Rauchte er? Wenn, dann nur ab und zu eine Zigarre oder Pfeife. Ja, das hätte zu ihm gepasst.

Ich sehe ihn noch immer vor mir: groß, schlank, mit grauem, leicht gewelltem Haar, das er zurückgekämmt trug, und einer Brille auf der Nase. In seiner Aktentasche befanden sich neben Unterrichtsmaterialien wohl auch Pausenbrote und eine Thermoskanne mit Tee oder Kaffee. Ein typischer DDR-Lehrer, möchte man meinen, doch wirkte er wie aus einer anderen Zeit. Ich weiß, welche Ära er als Kind und Jugendlicher miterlebt hat. Heute würde ich ihn danach fragen, ebenso wie nach seinem Leben in der DDR. Damals, als ich ihm im Essensaal gegenübersaß, fehlten mir das Wissen und die Ausdrucksmöglichkeiten. Und so konnte ich ihn nur anlächeln und er lächelte zurück. Dieser alte Lehrer. Ich hätte es mich bei keinem anderen getraut zu fragen, ob ich mich zu ihm setzen dürfe. Ich hätte es aber auch bei keinem anderen gewollt.

Er besaß Charisma, das ich schon als Kind spürte. Er strahlte Selbstsicherheit und Kompetenz aus. Ich wusste, dass sein Kopf mit Mathematik angefüllt war. Sein Wesen ließ dazu jene geduldige Zurückhaltung erahnen, die es braucht, um Schülern eine gute Lernatmosphäre zu bieten. Unwillkürlich fragte ich mich, wie es wäre, bei ihm Unterricht zu haben.

Aus heutiger Sicht stelle ich mir natürlich auch die Frage, wie er in seiner Jugend ausgesehen haben mag. War er ein Schönling? Und, bildete er sich etwas auf sein Aussehen ein? Wenn ja, dann hatte er es mich nie spüren lassen. Aber warum sollte er auch? Ich war ein 12jähriges Mädchen, noch dazu eine Schülerin, wenngleich nicht seine. Und so drängt sich mir auch die Frage auf, ob er nur deswegen auf mich einging, weil wir im schulischen Rahmen nichts miteinander zu tun hatten. Konnte sich deswegen Vertrautheit zwischen uns entwickeln? Ich würde lügen, wenn ich schriebe, dass er unsere Treffen in gleicher Weise wie ich genossen, ja, dass sich hinter seinem Lächeln mehr verborgen habe, als die Sympathie eines Lehrers für ein Kind, das seine Nähe sucht. Aber vielleicht interessierte ich mich auch schon in besonderer Weise für ihn – ohne, dass es mir bewusst war. Ich spürte nur ein vages Zucken. Vielleicht hatte Anke recht, indem sie sagte, ich sei in ihn verknallt. Ich weiß es nicht. Möglich, dass ich an ihm zu erwachen begann. Möglich auch, dass er das sogar spürte und es trotzdem zuließ, dass ich um den Tisch herumkam, um mich ein wenig zu nah neben ihn zu stellen, weil er mir etwas zeigen wollte.

Möglich aber auch, dass ich mich gerade jetzt, da ich diese Zeilen niederschreibe, in ihn zu verlieben beginne und dieses Gefühl nur meinem kindlichen Ich einzureden versuche, weil ich selbst zu feige bin, es mir einzugestehen?

Ich erinnere mich daran, wie überwältigt ich war, mit ihm im Essensaal zu sitzen, zu ihm durchgedrungen zu sein und in ihm einen Vertrauten, gar einen väterlichen Freund gefunden zu haben. Wenn wir uns begegneten, fühlte ich mich nicht mehr allein.

All das ist nun über 30 Jahre her und obwohl ich sein Gesicht nur noch schemenhaft vor mir sehe, würde ich ihn auch heute noch unter Tausenden erkennen.

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Gesko Am 15.03.2024 um 11:17 Uhr
Eine anrührende Geschichte - was manche LehrerInnen für uns bedeutet haben, im Guten wie im Bösen, im Schwärmerischen, wie im Mutmachenden, ist sicher ein Geschichte wert.
Klatschkopies Profilbild
Klatschkopie (Autor)Am 15.03.2024 um 18:20 Uhr
Vielleicht ist sie es Wert, aufgeschrieben zu werden. Und vielleicht sogar so, wie ich es getan habe. Auch wenn ich einen sehr schwärmerischen Ton gewählt habe, ist mir dieser Lehrer doch mehr als ein pures Lustobjekt. Damals war er mir ein Vertrauter, heute wäre er mir auch ein Zeitzeuge. Er hat die NS-Zeit miterlebt, war sogar noch bei der Wehrmacht. Dann hat er den Neuanfang in Form der DDR miterlebt und schließlich ihr Ende. Sie wurde mit sämtlichen Schulbüchern vom Hof gefegt.

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Klatschkopies Profilbild Klatschkopie

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2 Bewertungen

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Sätze: 105
Wörter: 1.795
Zeichen: 10.122

Kurzbeschreibung

Kindheitsheitserinnerungen

Kategorisierung

Diese Story wird neben Nachdenkliches auch in den Genres Liebe, Trauriges, Freundschaft und Humor gelistet.