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Die Zeit

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01.08.23 22:37
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Der Mensch hat vieles erfunden. Gutes und nützliches, unsinniges und überflüssiges, schädliches und mörderisches – und er erfand die Zeit. Warum nur erfand er die Zeit? Zeit muss man habe, aber nicht im Sinne der Uhrzeit. Natürlich funktionieren moderne Gesellschaften nur mit exakter Zeit, da reicht es nicht, die Zeit nach dem Stand der Sonne oder in Monden zu berechnen. Wer nicht weiß, wie viel die Uhr geschlagen hat, verpasst den Bus, die Bahn oder was auch immer. Hat man richtig Pech, verpasst man die Verabredung mit der Liebe seines Lebens. Also nützlich ist Zeit schon. Im modernen Zusammenleben geht es nicht mehr ohne eine präzise definierte Zeit. Aber was bitte hilft es, einen Wettkampf mit dem Hundertstel einer Sekunde Vorsprung zu gewinnen? Nichts, gar nichts! Hier werden, mit den Augen nicht wahrnehmbare Unterschiede mit hohem technischen Aufwand vermessen und künstlich zu Ruhmestaten stilisiert.

Zurück zur Zeit als solcher. Jedes Lebewesen braucht Lebenszeit. Ein Zeitraum, nicht definierter Länge. Eine Stubenfliege lebt durchschnittlich 28 Tage, ein Mensch lebt (mit guter Gesundheit, ausreichend Wasser und Nahrung ausgestattet) leicht 80 Jahre, ein Baum je nach Art mehrere hundert Jahre. Zeit also, die nicht mit der Uhr gemessen wird, sondern in Erdumdrehungen oder in Bahnen, die die Erde um die Sonne zieht – je nach der individuellen Länge der Lebenszeit.

Zeit der Muße, nicht messbar, aber lebensnotwendig. Wer kann sagen, wie viel Zeit der Muße ein Mensch benötigt? Müßiggang ist aller Laster Anfang, besagt ein altes Sprichwort. Alt, ja, aber richtig? Ich glaube eher nicht. Wer viel Muße hat, lebt kreativer. Erst die Muße, die mir mein fortgeschrittenes Alter brachte, brachte mich dazu Geschichten zu erfinden. Das stimmt nicht ganz, in meinem Kopf waren immer schon Geschichten, ich scheiterte daran, dass mir die Ruhe zum Niederschreiben fehlte. Wenn ich ein Geschichtenerzähler wäre, hätte ich wohl meine Gedanken früher unter die Menschheit gebracht. Aber im mündlichen Formulieren, bin ich nur zum Erzählen von Tatsachen geeignet. Zum Fabulieren, dazu, brauche ich die Schriftform.

Was wäre der Mensch ohne Muße, es gibt Menschen, die keine Muße haben, sie gehören dann zu den Getriebenen. Ich habe die Zeit des Getriebenen durchlebt, ich weiß also, worüber ich schreibe. Getrieben von der Sorge, den Meinen nicht genug Sicherheit bieten zu können, bürdete ich mir immer neue Arbeit auf, übersah dabei, dass das Zusammenleben auch Muße erfordert. Muße, einfach nach einem langen Tag, nach einer endlosen Arbeitswoche, beieinander zu sitzen und die Nähe eines geliebten Menschen zu spüren. Gut, die Frau, die ich liebte, hat beizeiten Techniken entwickelt, die mich zwangen, uns Stunden der Muße zu gönnen. Ob mich das gerettet hat? Wäre ohne sie alles noch schlimmer gekommen? Ich kann es drehen und wenden, hin und her und so oft ich will, die Antwort auf diese Fragen kenne ich nicht.

Die Liebe ist vielleicht die wichtigste Eigenschaft, die dem Menschengeschlecht innewohnt. Ohne Muße kann der Mensch nicht lieben. Liebe erfordert Zeit und Gelassenheit, Muße eben. Menschen, die meinen zu lieben, ohne sich die Muße dazuzunehmen, sind zum Scheitern verurteilt. Sie scheitern mit ihrer Liebe und reißen den geliebten Menschen mit ins Unglück. Wer ohne Muße liebt, verkommt zu einem Monster. Wie will er das für beständige Liebe notwendige Vertrauen aufbauen? Wie will er es schaffen, für seine eigenen Fehler und Eigenarten beim Objekt seiner Liebe um Verständnis zu werben und im Gegenzug lernen, mit den Eigenheiten seines Gegenübers zu leben. Liebe zueinander und Verständnis füreinander entstehen in Stunden der Muße, nicht in den Stunden der unbezähmbaren Leidenschaft. Leidenschaft, wie Muße, beides hat seinen Platz und beides ist notwendig, aber das wirklich große zwischen zwei Menschen entsteht in den Stunden der Muße. Suchend die Hand eines Menschen zu ertasten, erfordert, das, was ich Muße nenne. Wer will denn die dazu erforderliche Zeit mit der Uhr erfassen? Wie viel Zeit der Muße braucht es nun, von der ersten zarten Berührung, bis zum Ausbruch wilder leidenschaftlicher Liebe? Ob es jemand gibt, der die Antwort liefern kann? Ich wage das zu bezweifeln, dazu sind die Menschen zu verschiedene Individuen. Von der ersten Berührung zweier Hände bis zur Leidenschaft kann es Sekunden oder Jahre dauern. Eine im Vorhinein nicht zu messende Zeit. Genauso so wenig messbar, wie Lebenszeit. Die Länge des gesamten Zeitraums ist erst im Nachhinein zu benennen. Ich weiß, im Allgemeinen dauert meine Entscheidungsfindung lange. Ich weiß, wie lange es bis zur ersten zärtlichen Berührung dauerte, ich weiß, wie lange es bis zum Ausbruch unbändiger Leidenschaft dauerte, ich kann die Zeit benennen, die diese Liebe hielt. Ja, ich weiß sogar, wie lange es dauerte, bis der Traum zerplatzte. Nur im Vorhinein hätte ich diese Zeit nicht benennen können. Da ich immer noch lebe, kann zwar meine bisherige Lebenszeit bemessen werden, aber die Dauer meiner gesamten Lebenszeit, können erst diejenigen messen, die mich überleben werden. Lebenszeit und Zeit der Muße sind etwas anderes als der Fahrplan des Busses, der mich in die Stadt bringen soll. Da steht minutengenau, wann er abfahren soll und wann er ankommen soll. Doch selbst da, bleibt eine Ungewissheit – die Unsicherheit, die jedem technischen Vorgang innewohnt. Deshalb ist die Zeit eine wenig nützliche, mit Fehlern behaftete Erfindung. Trotzdem, wie ich es bereits schrieb, unsere moderne Gesellschaft ist ohne exakte Zeitangaben undenkbar. Das ist nun keine umwerfende Erkenntnis. Wir müssen exakt wissen, wann der Bus kommt, der uns zum Flugzeug für den Flug in den Urlaub bringt. Ein Volksvertreter muss exakt wissen, wann die Parlamentssitzung beginnt, aber müssen wir wirklich wissen, wie viele Hundertstelsekunden weniger es benötigt, um den Sieg durch eine Sturzfahrt mit einem Bob in einem Eiskanal zu erlangen?

Die Zeit heilt alle Wunden. Die Zeit! Welche Zeit? Wie viel Zeit vergeht, bis die Wunde, aufgerissen durch den Tod eines geliebten Menschen verheilt ist? Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte? Das zu definieren, ist unmöglich. Jeder Mensch in einer solchen Situation muss seine eigenen Gefühle bewältigen, dazu muss er seinen eigenen Rhythmus finden; und genau genommen, die Zeit heilt gar nichts. Der längere Abstand macht den andauernden Schmerz erträglicher. Ähnlich, wie man das endlose Ticken einer alten, mit Federuhrwerk betriebenen, Wanduhr nach längerer Zeit nicht mehr wahrnimmt, verschwindet der Schmerz im Hintergrund. Der Schmerz wird erträglicher, das kann ich spüren und auch einsehen. Aber wie lange das dauert, ist so unbestimmt, dass der Begriff Zeit in diesem Zusammenhang unbrauchbar ist. Wenn es dann wirklich gelungen ist, den Schmerz zu verdrängen – ein unbedeutendes Ereignis, der geringste Anlass, mehr ist nicht erforderlich, den Schmerz neu zu beleben und die Qual beginnt von Neuem.

Zeit als solche ist ein imaginärer Begriff. Im Gefühl kann die Zeit davon eilen, man möchte Uhr anhalten, um das Beisammensein mit einem geliebten Menschen zu verlängern. Die gleiche Zeit kann sich ins unendliche dehnen und will einfach nicht vergehen – sogar beim Warten auf den Bus, schlimmer noch, beim Warten auf einen geliebten Menschen. Hannes Wader formulierte bezüglich der Zeit die folgenden Liedzeilen: Deine Uhr zeigt erst auf drei, sie blieb schon vor Stunden steh’n. Sie schläft den langen Schlaf und wird nie mehr wieder geh’n. Damit ist für mich das Gefühl, wie sich dehnende Zeit anfühlt, treffend beschrieben.

Zum Abschluss meiner Betrachtungen zitiere ich Mark Aurel. Auch er hat sich mit der Zeit befasst und kam zu folgender Erkenntnis:

Lebe so, als müsstest du sofort Abschied vom Leben nehmen,
als sei die Zeit, die dir geblieben ist,
ein unerwartetes Geschenk.

Autorennotiz

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Nicolass Profilbild
Nicolas Am 11.08.2023 um 19:25 Uhr
Ich war hier vor einiger Zeit schon einmal angemeldet, unter einem anderen Namen angemeldet und kann mich sehr gut an dich erinnern. Ich finde deinen Text sehr schön. Du hast sehr gut die Ambivalenz der Zeit eingefangen. Ich habe letztes Jahr meine Mutter und meine Schwester verloren. Bis jetzt hat die Zeit gar nichts geheilt und das wird sehr wahrscheinlich auch nie passieren. Dass inzwischen 1/1/2 Jahre seit diesen Ereignissen vergangen sind, hat nur dazu geführt, dass meine Erinnerungen an damals und an die schlimmen Ereignisse nicht mehr so präsent sind. Davon bleibt meine Gefühlswelt jedoch vollkommen unberührt. Gefühle richten sich nicht nach Stunden, Tagen oder Wochen. Rational betrachtet ist Zeit natürlich weder gut noch böse. Es gibt Phasen, da hasse ich die Zeit abgrundtief, und plötzlich ist sie mir wieder wohlgesonnen.

Ich finde das Zitat von Mark Aurel zwar schön, für mich und viele andere Menschen ist es aber nicht umsetzbar. Sei es, weil sie nicht den Mut dazu finden, nicht wissen, was sie eigentlich wollen, sich nicht selbst überwinden können, oder weil sie die Fürsorge für andere Menschen immer der persönlichen Selbstentfaltung vorziehen würden. Ob das nun aus altruistischen Motiven geschieht oder nicht, mag dahingestellt sein.

Meine Mutter war ihr ganzes Leben nur für andere Menschen dagewesen und war bis kurz vor ihrem Tod erwerbstätig. Als ich zu ihr meinte, ob das traurig sei, so wenig für sich selbst getan zu haben. Sie sagte zu mir, sie würde es nicht so empfinden und das glaube ich ihr auch. Nicht jeder Mensch findet sein Glück in der Selbstentfaltung und nicht jeder Mensch will "hustlen", wie es heutzutage heißt.

Aber ich schweife zu sehr ab. Ein Leben ist mehr als die Summe der Monate und Jahre, die eine Person in dieser Welt verbracht hat. Ich denke, da sind wir uns alle einig.
Liebe Grüße
Nicolas
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BerndMooseckers Profilbild
BerndMoosecker (Autor)Am 11.08.2023 um 23:18 Uhr
Hallo Nicolas,
danke für Deine tiefsinnigen Kommentar, der eigentlich schon eine selbstständige Story ist.
Ein Leben ist mehr als die Summe der Monate... schreibst Du. Ja, dem stimme ich zu, weil das Mehr erst den Menschen ausmacht.
Liebe Grüße
Bernd
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Miras Profilbild
Mira Am 02.08.2023 um 8:42 Uhr
Einfach nur berührende Worte, geprägt von Lebenserfahrung. Danke für die nachdenklichen Zeilen, die einen über das Leben nachdenken lassen.
Liebe Grüße
Mira
BerndMooseckers Profilbild
BerndMoosecker (Autor)Am 02.08.2023 um 15:28 Uhr
Liebe Mira,
danke für Deinen positiven Kommentar und die anerkennenden Worte, die Du für mein Philosophieren über die Zeit gefunden hast.
Liebe Grüße
Bernd

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Kurzbeschreibung

Gedanken über Sinn und Ablauf der Zeit - ihren Sinn und Unsinn