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Sarah zitterte am ganzen Leib. Ein rauer Novemberwind fegte ihr vom Haar bis in die Maschen der Strickweste und trieb die letzte Wärme aus ihrem Körper. Der Weg vor ihr war ungewiss. Harte Wellen schlugen gegen die Seitenwand des Holzbootes, versetzten es in einen gefährlichen Schlingerkurs und der nasskalte Schneeregen, der in einem grausamen Konzert auf ihren Regenschutz niederprasselte, raubte ihr fast die Sicht. Doch Sandra gab das Ruder nicht aus der Hand. In einem Kraftakt manövrierte sie ihr Gefährt durch das Unwetter, folgte dem Schein ihrer Laterne, der über die dunklen Wasser irrlichterte, bis er vielleicht, irgendwann in der Ferne auf die Insel treffen würde. Die Insel, auf der jede Nacht ein rotes Licht flackerte, obwohl sich dort nichts regen sollte.
Sarah schluckte, versuchte den Kloß in ihrem Hals hinunterzuwürgen während sie das Ruder wieder ins Wasser stieß. Dass ihre Strickweste sie besser wärmte als jedes andere Kleidungsstück; dass die Winde nicht ganz so eisig und der See nicht ganz so stürmisch war, wie sie glaubte, wollte sie nicht wahrhaben. Sie wollte vergessen, dass es nicht allein das Wetter war, dass ihr die Gänsehaut den Nacken hinabtrieb. Sie durfte es sich nicht erlauben, schwach zu sein und den Verstand zu verlieren. Nicht hier, nicht jetzt, da sie allen Mut zusammengenommen und sich auf den Weg gemacht hatte, das Rätsel aufzuklären. Vermutlich gab es für alles eine ganz einfache Erklärung. Vielleicht hatten sich Schmuggler die Insel zunutze gemacht. Gab es ein besseres Versteck? Einen Flecken Land mitten im See, den niemand zu betreten wagte, weil es dort nicht mit rechten Dingen zugehen sollte? Wer, der nichts Gutes im Schilde führte, würde diesen Aberglauben nicht ausnutzen? Und doch… und doch konnte Sarah ihre irrationale Furcht nicht abstreifen. Die Schauergeschichten, die ihr ihre Großmutter schon am Kinderbettchen erzählt hatte, waren ihr wohl zu sehr in Fleisch und Blut übergangen, um sie ganz abzustreifen. Wie der Fettfilm einer schlechten Creme, die nicht in die Haut einziehen wollte, blieb etwas von den Ammenmärchen an ihr kleben.
Was man sich im Dorf über Insel erzählte, hatte tausend Namen und tausend Gesichter. Mal solle ein Wiedergänger, der in der harten Erde verscharrt war, sich Nacht für Nacht aus seinem Grab erheben und dort sein Unwesen treiben. Mal sei die Insel verflucht und jedem, der wagte, sie zu betreten, würden schreckliche Dinge wiederfahren. Mal hauste ein unsterblicher Hexenmeister, der nur auf ein nächstes Opfer für seine schwarze Magie lauere, in der Ruine auf dem Grashügel. Mal waren der Kiefernhain, der sich auf der Ostseite bis zum Kiesstand erstreckte, oder die Untiefen vor dem felsigen Ufer auf Westseite von grausamen Fabelwesen bevölkert, die nach Blut dürsteten. Und noch andere, tausend Mal verworrenere und unheimlichere Dinge sollten auf der Insel vor sich gehen, so dass seit Menschengedenken niemand mehr wagte, so weit auf den See hinaus zu rudern, dass er auch nur in die Nähe der Insel kam. Gesichert war den Schauergeschichten, die die alten Weiber und übermütigen Jünglinge abends am Kaminfeuer zusammenspannen, nur eines: Im April 1607, genau vor Dreihundert Jahren, zog ein mürrischer Einsiedler, ein seltsamer Kauz von vielleicht vierzig Jahren, auf die Insel und errichtete auf dem Grashügel eine einfache Fachwerkhütte, nur um ein halbes Jahr ohne jede Spur zu verschwinden. Was aus ihm geworden war, wissen wohl nur Gott und die Geister, die weiteren Gerüchten zufolge auf der Insel spuken sollten.
Eigentlich gab Sarah nichts auf das Geschwätz der Leute. Sie hielt es für einen Aberglauben, mit dem sich das Fischerdorf gerne die Zeit vertrieb, wenn die Tage kürzer und die Nächte länger wurden und die Langeweile in die Schankstuben und Häuser Einzug hielt. Seit ein paar Wochen jedoch geriet Sarah mehr und mehr in Zweifel wie der Putz, der langsam von den Wänden eines alten Hauses blättert. Es hatte in der letzten Vollmondnacht Ende Oktober begonnen. Der Nacht, in der bei Anna das Fieber ausgebrochen war. Anna, das war Sarahs erste Tochter und ihr ein einziges Kind. Ein zierliches Mädchen von sieben Jahren mit brauen Ringellöckchen, die ihr sogar noch im Schlaf ins rosige Gesichtchen fielen. Und schlafen hatte Sarah ihre Tochter in den letzten Wochen oft gesehen seit ihre Stirn zu glühen begonnen hatte. Kaum eine Stunde am Tag war das Mädchen wach und hob zittrig und schwach die Lider. Zuerst hatte Sarah geglaubt, dass das arme Kind sich eine üble Krankheit eingefangen hatte und in Erwartung des Schlimmsten den Hausarzt gerufen. Doch der wusste sich auch keinen Rat. Nicht für das Fieber und auch für die anderen Dinge, die des Nachts geschahen. Denn jeden Tag zur Geisterstunde, mit dem ersten Glockenschlag der Kirchturmuhr, erhob Anna sich plötzlich als sei sie von einer Sekunde auf die andere genesen, von ihrem Lager und tapste zum Fenster. Dor stand sie dann, die Augen verklärt wie bei einer Schlafwandlerin und blickte starr hinaus auf den See, wo in der Ferne der rote Schein erglühte. Ihre Lippen bewegten sich unablässig und Worte in einer fremden Sprache, die Sarah nie gehört hatten, erfüllten als schauriges Flüstern den Raum. Kein gutes Zureden, kein Anrufen, kein Rütteln und Schütteln half, um das Kind aus einer Trance zu wecken. Und das war noch nicht alles. Ein Luftzug, Sarah vermutete, dass er vom Kamin her kam, ging das Zimmer. Die Wellen des Sees peitschen ans Ufer, warfen das vertäute Boot wie einen Spielball hin und her und Schatten huschten über die Wände. Dann gingen dumpfe Geräusche durchs Haus, jede Nacht aufs Neue. Ein Knirschen, ein Heulen, ein Poltern fast wie Schritte. Einmal war Sarah mit der Laterne in der Hand und dem Messer im Rockschurz auf Flur gestürzt, um die Einbrecher auf frischer Tat zu überwältigen. Doch hatte sie niemanden gesehen, nichts als die vergilbten Fotografien auf der Garderobe. Mit dem letzten Glockenschlag dann war der Spuk vorbei. Anne brach in sich zusammen und Sarah trug ihre Tochter behutsam ins Bett, wo diese wieder vierundzwanzig Stunden im Dämmerschlaf lag. Ins Haus kehrte Stille ein. Am nächsten Morgen aber stellte Sarah fest, dass immer eine Kleinigkeit aus dem Haushalt abhanden gekommen war. Seltsame Kleinigkeiten. Ein Stück Trockenfleisch aus der Vorratskammer; ein paar Hühnerknochen aus den Küchenabfällen; ihre Monatsbinde, die noch schmutzig in der Waschkammer lag. Und das Licht, das rote Licht auf der Insel des Einsiedlers brannte die ganze Nacht.
In den ersten Tagen hatte Sarah es verdrängt, es als Einbildung abgetan, dass ihr Haus nicht mehr sicher war. Dann war sie fest entschlossen gewesen, die Diebe zu überwältigen. Doch als sie ihrer niemals habhaft wurde, reifte ihr über Tage hinweg die Entscheidung. Heute war es soweit. Abermals ihre entkräftete Tochter zu Bett bringen zu bringen zu müssen, hatte das Fass überlaufen lassen. Sie hatte am Nachbarhaus sturmgeklopft, bis jemand im jemand im Fenster Licht entzündete und Christine, die Magd und gute Seele gebeten, ein paar Stunden auf Anne aufpassen. Zunächst hatte das junge Mädchen sie mit Engelszungen von ihrem Plan abbringen wollen, doch als sie Sarahs unerschütterliche Entschlossenheit spürte, hatte sie sich bereiterklärt, Anne in Obhut zu nehmen. Vermutlich saß sie nun neben dem fiebernden in ihrer Kammer und betete einen Rosenkranz nach dem Anderen, dass ihr nichts zustoßen möge. Ein wenig tat Sarah das Mädchen leid, das sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Doch sie konnte nicht anders. Sie machte sich Sorgen, große Sorgen. Reichte es nicht, dass eine Sturmflut vor drei Jahren ihr den Gatten genommen hatte? Sollten jetzt auch Schmuggler ihre Tochter mit einen unbekannten Droge vergiftet haben?! Die musste einfach wissen, was dahintersteckte und den Schurken das Handwerk legen! Wenn es denn Schurken waren…
Und so stieß Sarah die Ruder ins aufgewühlte Wasser, weiter und weiter dem roten Schein entgegen, während in ihr Kopf und Brust miteinander rangen wie ihr Wille und die Angst. Der Wind um sie her rauschte unheimlich in der Nacht, ein Säuseln, ein Flüstern fast. Schneeregen zerschmolz zwischen ihren Stiefeln zu eisigen Pfützen, in denen das Mondlicht sich spiegelte. Dann plötzlich ein Ruck, ein Knirschen und das Boot stand still, nur von den Seitenwellen noch bewegt. Sarah blickte sich um: über ihr ein Gespinst aus niedrighängenden, kahlen Zweigen, zwischen denen sich Spinnenweben spannen und vor ihr heller Kies. Sogleich raffte Sarah ihre Röcke, nahm ihre Laterne auf und trat hinaus ans Ufer. Sie hatte ihr Ziel erreicht.
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