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Sätze: | 26 | |
Wörter: | 1.019 | |
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Ray Brand war nicht für die Nacht gemacht.
Schon in seinem alten Dorf hatte er unter den langen, schlaflosen Stunden gelitten – die Ärzte gaben ihm Tabletten, an die er sich gewöhnte wie an Brot und Wasser. Doch seit er in die Stadt gezogen war, seit dem neuen Job in der St. Ethelreda-Heilanstalt, wurde alles schlimmer. Die Nächte wurden länger. Die Dunkelheit dichter.
Er sah sein Spiegelbild in der verregneten Scheibe neben der Eingangstür:
Kurze, oben zerzauste Haare, ein Bartschatten auf den Wangen. Augen, die aussahen, als hätten sie seit Tagen kein echtes Licht mehr gesehen.
Ein Wächter, der selbst beschützt werden musste.
Der Pförtner – ein alter Mann mit grauen Brauen, der kaum ein Wort sprach – ließ ihn hinein.
Ray nahm den Schlüsselbund entgegen und versuchte zu lächeln, doch es blieb bei einem kurzen Zucken.
Der erste Schritt durch die Korridore war, als ginge er in ein fremdes Herz hinein:
Lange Flure, flackernde Neonlichter, das monotone Tropfen irgendwo in der Ferne.
Jeder Schritt hallte, als sei er nicht allein.
Ray dachte an seine Tabletten.
Er hatte sie im Spind gelassen – zu weit entfernt, um jetzt zurückzugehen.
Und sofort war da der alte Zweifel: Was, wenn er ohne sie wieder Dinge sah, die nicht da waren?
Ein Knistern lief durch die Leitung über ihm. Dann ein Kratzen hinter der Wand.
Ray blieb stehen und lauschte.
War es Einbildung?
Das Kratzen verstummte.
Es war so still, dass er nun seinen eigenen Herzschlag hörte – und das leise Brummen der Neonröhren.
Er ging weiter in Richtung seines Arbeitsplatzes, bis er in der Ferne einen Schatten sah.
Er blieb sofort stehen. Seine Hand begann zu zittern. Ein Schauer kroch ihm den Rücken hinauf.
Panik stieg in ihm auf.
Doch er erinnerte sich: Sein Job bestand darin, sicherzustellen, dass keine unbefugte Person durch die langen, dunklen Korridore wanderte.
Er zückte sein Handy, aktivierte die Taschenlampe – in der Hoffnung, etwas erkennen zu können.
Aber der Lichtkegel war zu schwach, um den Flur ganz zu erfassen.
„Es war sicher nichts“, redete er sich ein.
„Nur mein Kopf, der mir Streiche spielt.“
Er ging weiter.
An seinem Arbeitsplatz angekommen, fand er einen kleinen Raum vor:
Ein schlichter, düsterer Nachtwächterraum mit einem Schreibtisch, einem Monitor, einem Stuhl, einer kleinen Couch – sonst nichts.
Er stempelte sich an der alten Stechuhr neben der Tür ein, nahm seine Ausrüstung: eine starke Taschenlampe und ein Pfefferspray – für den Notfall.
Auf dem Tisch lag ein kleiner Brief mit der Aufschrift „An Ray“.
Er öffnete ihn.
Darin standen seine Aufgaben und die Dauer der Schicht.
Nichts Ungewöhnliches.
Einige Zeit verging. Ray saß am Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm, als plötzlich ein Klirren ertönte.
Er checkte sofort die Kameras – aber nichts war zu sehen.
Vielleicht nur ein altes Fenster? Ein Vogel?
Doch dann – wieder: ein Klirren, wie zerbrechendes Glas.
Ray wollte am liebsten sitzen bleiben. Doch er musste nachsehen.
Mit zögerlichen Schritten und der Taschenlampe in der Hand machte er sich auf den Weg in die dunklen Flure.
Seine Hände begannen zu schwitzen.
Als er sich der Stelle näherte, hörte er erneut das Kratzen – diesmal hinter sich.
Langsam drehte er sich um.
Nichts zu sehen. Doch das Kratzen hörte nicht auf.
Ray folgte dem Geräusch – bis er erneut den Schatten sah.
Er leuchtete mit der Taschenlampe – doch die Gestalt verschwand, bevor das Licht sie traf.
Ray rannte in ihre Richtung, wollte sehen, wer es war.
Doch alles, was er fand, war eine Sackgasse. Niemand war da. Keine Spur.
Plötzlich – eine Stimme.
Tief. Aggressiv. Bedrohlich.
Ray rannte.
Verwirrt, panisch – er hatte die Orientierung verloren.
Korridor um Korridor suchte er nach einer Karte, nach einem Hinweis – doch nichts.
Sein Herz raste.
Er war allein.
In einer psychiatrischen Anstalt, mitten im Wald. Ohne Kontakt zur Außenwelt. Ohne zu wissen, wie er zurück in den Wachraum kam.
Wieder hörte er eine Stimme – diesmal klang sie freundlicher.
Aber er verstand kein Wort.
Dann sah er sie:
Eine große, schmale Gestalt, die sich langsam näherte.
Ray rannte und versteckte sich hinter einem Vorhang.
Nach einer Weile wagte er einen Blick.
Nichts mehr zu sehen.
Er atmete tief durch – was auch immer das war, es war weg. Doch es wirkte nicht freundlich.
Nach mehreren Minuten des Umherirrens sah Ray eine Tür am Ende des Ganges.
Er rannte darauf zu.
Ein Schild: „Patientenzimmer“.
Die Tür war offen.
Der Raum – leer.
Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus. Warum war das Zimmer leer?
Ray konnte sich nicht mehr einreden, dass er allein war. Irgendwo hier war jemand.
Er versuchte, sich zu beruhigen – doch dann hörte er Schritte in der Ferne.
Er versteckte sich.
Die Schritte kamen näher – gingen an ihm vorbei.
Als er wieder aus seinem Versteck trat, sah er: Die Schritte führten in eine Sackgasse.
Wieder niemand zu sehen.
War es alles nur Einbildung?
Diese Gedanken wurden von einem lauten Knall unterbrochen.
Er lief in die Richtung des Geräuschs – und da war sie wieder:
Die große, dunkle Gestalt.
Ray rannte – aber sie war schneller.
Kurz bevor sie ihn erreichte, entdeckte er eine offene Tür, sprang hinein und knallte sie zu.
Kurz fühlte er sich sicher – bis er sich umsah.
Ein leerer Raum.
Dachte er zumindest.
Auf dem Bett – jemand.
Ray erstarrte.
Gehen? Oder bleiben?
Er atmete tief durch, sammelte all seinen Mut – und öffnete die Tür erneut.
Nichts.
Keine Spur von der Gestalt.
Er setzte seinen Weg fort – Schritt für Schritt durch die dunklen Gänge.
Stimmen flüsterten.
Sie wurden lauter, kamen näher.
Aber niemand war zu sehen.
Ray ignorierte sie und ging weiter.
Nach einer Weile kam er an einen Ort, der ihm bekannt vorkam – der Wachraum.
Er trat ein, sah die Couch, legte sich hin und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Als er wieder aufwachte, lag er auf einem Bett.
Er trug andere Kleidung.
War das alles nur ein Traum?
Oder war es Realität?
Ende?
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