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Kapitel: | 8 | |
Sätze: | 2.457 | |
Wörter: | 32.468 | |
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Gelangweilt sah ich aus dem Busfenster, während mich die Musik aus den Kopfhörern von den anderen Jugendlichen abschottete. Um mich herum waren alle Sitze frei. Mir war es nur recht, ich hatte nicht vor, mich mit jemandem zu unterhalten. Wie lange würde die Fahrt wohl noch dauern? Hatte ich auch genug Batterien für den Walkman eingepackt? Wir waren seit bald fünf Stunden unterwegs und hatten bereits in New Haven und Providence Halt gemacht, damit noch weitere Jugendliche dazu steigen konnten, jetzt steuerten wir auf Boston zu.
Wer war denn bitte auf die blöde Idee gekommen, eine Horde Jungs gemeinsam mit ihren Betreuern in einem Bus fast die gesamte nördliche Ostküste entlang bis nach Maine zu karren? Wäre es nicht einfacher gewesen, uns am nächstgelegenen Flughafen einzusammeln und von dort in die Pampa zu verfrachten? Immerhin fuhren einige schon seit Washington mit. Aber man war wohl der Meinung, dass man uns nicht einfach auf das Flugzeugpersonal loslassen konnte.
Gut, vermutlich wäre wirklich nicht einmal die Hälfte von uns angekommen. Denn freiwillig saß wohl niemand hier im Bus. Ich hatte keine Ahnung, was die anderen angestellt hatten, dass das Jugendamt oder ihre Eltern der Meinung gewesen waren, es sei eine gute Idee, sie in das Camp zu schicken. Ein Camp für delinquente, männliche Jugendliche, wie sie es nannten. Ich hatte keine Ahnung, was ich mir darunter vorstellen sollte, aber ich wusste, es hatte etwas damit zu tun, dass wir alle Mist gebaut hatten. Wir sollten dort mal dem Einfluss der Großstädte entfliehen und uns austoben, ein paar Wochen nicht auf dumme Gedanken kommen. So hatten sie es zumindest meinen Eltern angepriesen.
Pft, Einfluss der Großstädte, nicht auf dumme Gedanken kommen. Verdammt, ich hatte doch lediglich versucht, eine Packung Kondome zu klauen. Und definitiv nicht vor es noch einmal zu versuchen. Das eine Mal dabei erwischt zu werden, hatte mir gereicht. Was sollte ich also dort, zusammen mit anderen, die vermutlich viel Schlimmeres getan hatten?
Dennoch hielten es meine Eltern für eine gute Idee, meinten es könne mir auch helfen, etwas selbstständiger zu werden. Wie sollte es mich selbstständiger machen, mit einer Horde Jungs in ein Camp an den Arsch der Welt zu fahren? Das hieß für mich lediglich, sechs Wochen ohne meine Freunde auskommen zu müssen. Zwar hatte mir mein bester Freund Terrence versprochen, mir zu schreiben, und ich mir auch vorgenommen, zurückzuschreiben, aber es war nicht dasselbe, wie mit ihm Zeit zu verbringen. Es würde sicher deutlich weniger witzig werden als die Sommercamps mit ihm zusammen.
„Hey, Langer, Kopf runter!“, hörte ich hinter mir jemanden rufen. Automatisch zog ich den Kopf ein. Fast immer war ich damit gemeint. Das blieb wohl mit fast eins neunzig nicht aus. Und lieber wurde ich Langer oder ähnliches genannt als Fetti, Specki oder Moppelchen.
Aber die Zeiten waren zum Glück vorbei. Es war harte Arbeit gewesen, aber mittlerweile sah man nichts mehr davon. Jetzt gaben nur noch meine Zahnspange und meine Größe Anlass zu dummen Sprüchen. Und erstere würde ich hoffentlich auch bald loswerden. An der Größe ließ sich ja leider nichts machen, aber die allein war selten ein Grund mich zu ärgern. Auf die meisten in meinem Alter wirkte sie eher einschüchternd.
Ich sollte recht behalten. Denn eine Tasche flog über meinen Kopf hinweg, kaum dass ich ihn eingezogen hatte, und landete vorne bei den Betreuern. Sofort sprang der Getroffene auf und schrie, wer sie geworfen hätte. Natürlich war es nicht auszumachen, welcher der über zwei Dutzend Jungen es gewesen war.
Anderseits, was hätten sie auch tun sollen? Sie durften uns nicht schlagen und uns von dem Camp auszuschließen, wäre eine Freude gewesen.
Noch eine Weile zeterte er, dann hielt der Bus an einem recht großen Platz. Ich hätte mir gerne die Beine vertreten, aber wir durften den Bus nicht verlassen. Wir hätten ja stiften gehen können.
Also sah ich lieber aus dem Fenster und beobachtete die Personen, die dort standen. Scheinbar gab es hier nicht viele Zusteiger. Ich sah lediglich zwei Familien, die ihre Söhne mehr oder weniger herzlich verabschiedeten, und einen älteren Herrn, sicher schon gute fünfzig, der zwei Jungen umarmte und sie wohl ermahnte, denn beide nickten ihm ernst zu, nachdem sie sich gelöst hatten. Er hob ihre Reisetaschen vom Boden auf und trug sie zum Bus.
Ich lächelte, denn ich hatte heute schon ganz andere Abschiede gesehen. So wie den sehr schmächtigen Jungen, der gerade noch eine Ohrfeige von seinem Vater zum Abschied erhielt und dann seinen riesigen Koffer alleine zum Bus zerren durfte. Ein Wunder, dass er unter dem Gewicht nicht zusammensackte. Dasselbe schien sich auch der ältere Herr zu denken und ging zu dem Jungen, um ihm zu helfen, nachdem er die Koffer seiner Söhne eingeladen hatte.
Zum Schluss gesellte sich auch der vierte Junge dazu, sowie ein Betreuer mit einer Liste. Ich kannte das Spiel von meinem eigenen Einstieg. Er würde abhaken, dass die Jungen da waren, sich von ihnen alle wichtigen Bevollmächtigungen geben lassen und sie in die Regeln einweisen.
Es durfte nicht geraucht und kein Alkohol getrunken werden, während der Fahrt hatten wir sitzen zu bleiben und durften den Bus nicht verlassen, außerdem durfte die Tür der Bustoilette nicht abgeschlossen werden. Den Sinn verstand ich zwar nicht ganz, aber gut, wenn sie meinten.
Dann wurden die Jungs nach scharfen und spitzen Gegenständen abgesucht und auch ihr Handgepäck wurde kurz durchsucht. Alles zur Sicherheit, damit wir uns nicht gegenseitig oder den Betreuern etwas taten. Als wären wir Schwerverbrecher. Und wie man gesehen hatte, half es auch nicht viel.
Die Neuzugänge stiegen in den Bus und suchten sich einen Platz. Das Geschwisterpärchen setzte sich hinter mich und fing direkt an miteinander zu diskutieren. „Scheiße, wie lang ist die Fahrt?“
„Chris hat gesagt sechs Stunden.“
Genervt seufzte ich. So lange musste ich es noch aushalten? Na toll. Als würden die nächsten Wochen nicht schlimm genug werden, musste ich noch volle sechs Stunden im stickigen, engen Bus bleiben.
„Sechs Stunden?! Wie soll ich denn sechs Stunden ohne Kippen aushalten? Was soll denn der Mist?“
Wie er wohl reagierte, wenn er erfuhr, dass er seine Kippen auch im Camp nicht würde rauchen dürfen?
„Mat, beruhig dich! Es sind nur sechs Wochen. Wenn es gar nicht mehr geht, dann kommt Chris uns abholen.“
„Warum müssen wir den Mist überhaupt mitmachen?“
Wow, das konnte ja eine Fahrt werden, wenn der die ganze Zeit so rummeckerte. Da würde wohl nicht mal mein Walkman helfen. Wie hielt sein Bruder das nur aus?
„Am besten sollte sich Chris schon mal auf den Weg machen, damit er uns gleich wieder mitnehmen kann.“
„Du weißt doch, mindestens zwei Wochen müssen wir durchhalten. So war es mit Mrs. Estrada abgesprochen.“
Oh, was die beiden wohl ausgefressen hatten? Das klang doch ganz eindeutig nach irgendeiner Behörde. Aber immerhin schienen sie eine Option zu haben, frühzeitig abzubrechen.
„Blabla, schon klar. Aber sie glaubt doch nicht wirklich, dass wir da Freunde finden.“
Stimmt, mit so einer Stimmungskanone wollte sich sicher keiner anfreunden.
„Die will uns nur ein paar Wochen loswerden, das schwör ich dir! Sicher will die nur wieder irgendwelchen Mist ankurbeln, den wir nicht gleich mitbekommen sollen. So wie diese komische Jugendgruppe Anfang des Jahres. Bin ich froh, wenn ich mir das alles demnächst nicht mehr geben muss.“
„Ach komm, jetzt beruhig dich mal. Hier nimm, dann kommst du ein bisschen runter.“
Neugierig ließ ich meine Augen etwas nach hinten wandern und sah, wie ein Paar Kopfhörer herübergereicht wurde. Gut, dann war jetzt hoffentlich Ruhe.
Doch ich hatte mich etwas zu früh gefreut. Nicht nur, dass scheinbar ein paar Jungs den Schmächtigen ärgerten, auch fing einer der beiden hinter mir zu summen an. Nicht, dass es wirklich schlecht geklungen hätte, seine Stimme war sogar angenehm, aber das war schon sehr merkwürdig.
Dennoch döste ich irgendwann weg.
Ich erwachte wieder, als meine Musik plötzlich ausging. Ich kramte in meiner Tasche nach neuen Batterien und wurde recht schnell fündig. Ich wechselte sie aus und lehnte mich wieder zurück in den Stuhl. Kaum hatte ich mich angelehnt, berührte mich eine Hand ganz leicht an der Schulter. Es hätte auch einfach nur ein Lufthauch sein können, so leicht war die Berührung. Ich setzte den Kopfhörer ab und drehte ich mich langsam um.
„Hey. Sorry, aber kannst du mir auch ein paar leihen? Ich komm grad nicht an meine Tasche.“ Der Junge hinter mir strahlte mich mit unglaublich grünen Augen an. Ich hatte das Gefühl, es war so intensiv, dass es auf mein Braun übergehen würde.
Eine Weile musterte ich das feingeschnittene Gesicht, durch dessen linke Braue ein kleiner Metallstecker ging, und die zarte Gestalt, die in einem langärmeligen, schwarzen Shirt steckte. War das mitten im Sommer nicht etwas warm?
Auf seiner Schulter lag ein geflochtener Rattenschwanz und über der Brust sein schlafender Bruder, dessen Gesicht von den eigenen blonden, dauergewellten Haaren bedeckt wurde. Irgendwie wirkte das Bild falsch, wie der etwas kräftigere von seinem dünnen Bruder gehalten wurde, während er schlief. Ich beneidete sie. Mit meiner kleinen Schwester hatte ich mich nie so gut verstanden.
Als ich merkte, dass ich starrte, fuhr ich mir schuldbewusst durch die kurzen Haare und lächelte verlegen zurück. „Ehm... klar...“
Schnell drehte ich mich wieder nach vorne und kramte noch mehr Batterien hervor, die ich dann nach hinten reichte. Mit einem weiteren Lächeln bedankte sich der Junge.
Ich fragte mich, ob er der ältere oder der jüngere der beiden war. Sie sahen eigentlich beide fast gleich alt aus. Aber irgendwie auch nicht nach Zwillingen. „Danke, bekommst du wieder, sobald Mat aufgewacht ist.“
„Nur keine Eile ich hab genug dabei.“ Wie blöd lächelte ich zurück und drehte mich dann hastig um.
Was sollte das denn bitte werden? Ich konnte doch hier nicht irgendeinen Jungen so blöd angrinsen! Das ging doch nicht. Ich hatte mir geschworen, das ganze ohne Ärger durchzustehen. Und dazu gehörte zunächst einmal, nicht zu zeigen, dass ich auf Jungs stand.
Eigentlich tat ich das nicht und ging sehr offen damit um, doch ich hatte schon mitbekommen, dass es in Sommercamps manchmal problematisch wurde. Und hier war es mir einfach zu riskant. Immerhin glaubte ich nicht, dass die anderen auch nur irgendwelche kleineren Ladendiebstähle begangen hatten. Den beiden hinter mir zum Beispiel, traute ich auch zu, schon mal jemanden angegriffen zu haben. Andererseits war der Grünäugige so schmal... Wen sollte der denn verprügeln? Aber sein Bruder konnte sicher gut austeilen.
Ich konzertierte mich wieder auf die vorbeiziehende Landschaft, die mittlerweile fast ausschließlich aus Wäldern bestand. Wir hielten noch einmal in Portland, wo ein ziemlich bullig aussehender Junge dazu stieg, aus dessen Hose die Betreuer ein Messer fischten, bevor wir nach einiger Zeit und vielen weiteren Bäumen, und mittlerweile auch vielen Seen, endlich am Camp ankamen.
„Ich rufe euch jetzt nacheinander auf und ihr steigt dann bitte hinten aus, holt eure Tasche und bringt sie zu Christian und Luther, die werden sie einmal kurz durchsuchen, dann sammelt ihr euch bei Derrick und Hank“, wies uns einer der Betreuer an, während die anderen den Bus verließen. „Jack Archer... Hinten raus hab ich gesagt... Simon Ayers... Jeremy Beard... Toby Blanchett...“
Ich packte meine letzten Sachen in den Rucksack und verließ dann den Bus. Gierig atmete ich die frische Luft, während ich zur Gepäckklappe ging und meine Tasche suchte, die recht weit hinten lag, da ich ja schon früh eingestiegen war. Ich zerrte sie hervor und brachte sie zu den beiden Betreuern. Betend, dass sie meine Zigaretten nicht fanden, stand ich daneben, während sie grob alles durchsuchten. Nachdem sie nichts gefunden hatten, nahm ich sie wieder an mich und ging zum Sammelpunkt.
Ich sah, dass sich auch das Geschwisterpaar bereit machte langsam auszusteigen, doch erst als schon gut ein Dutzend Jugendliche den Bus verlassen hatten, stand der Braunhaarige auf und verließ den Bus. Während der Taschenkontrolle schienen einige Fragen wegen irgendwelcher Medikamente aufzukommen, doch er zeigte einen Zettel vor, woraufhin die Tasche auch ohne weitere Beanstandungen durchgewunken wurde.
Ich war deutlich irritiert, als statt seinem Bruder ein Typ mit Froschaugen und Föhnfrisur als nächstes den Bus verließ. Auch als nur noch eine Hand voll Jugendlicher im Bus saß, war er noch nicht herausgekommen und es schien weder seinen Bruder noch die Betreuer zu verwirren.
Hatte sein Bruder einen anderen Nachnamen? Nein, das wäre schon sehr ungewöhnlich. Oder waren sie keine Brüder? Aber sie waren offensichtlich beide von dem älteren Mann gebracht worden und hatten sich beide herzlich von ihm verabschiedet. Das war merkwürdig, aber es ging mich wohl auch nichts an.
Als der Hänfling ausstieg, löste ich mich aus der Gruppe und ging direkt auf ihn zu, um ihm mit der Tasche zu helfen, da keiner der Betreuer sich dafür zuständig zu fühlen schien. Nachdem sie kontrolliert worden war, trug ich sie auch zum Sammelpunkt.
Natürlich zerrissen sich einige das Maul, aber ich konnte darüberstehen. Ja, ich hatte Muskeln, und ja, ich bildete mir etwas darauf ein, denn ich hatte sie mir hart erarbeitet. Dann konnte ich sie auch zu etwas Sinnvollem nutzen und nicht, wie wohl die meisten hier, für Prügeleien.
Erst als vorletztes stieg auch der blonde Bruder aus. Jetzt hatte ich umso mehr Zweifel, dass sie tatsächlich Geschwister waren. So wirklich Ähnlichkeit hatten sie nicht. Nicht nur, dass der zweite kräftiger gebaut und blond war, er hatte auch ganz andere Gesichtszüge. Ich konnte mir nur nicht erklären, wie sie sonst zueinander stehen sollten.
Er gab seine Tasche ab und auch bei ihm wurden irgendwelche Tabletten gefunden, die wohl Fragen aufwarfen. Aber auch er konnte nachweisen, dass er sie brauchte. Was ihm jedoch, wie einigen anderen zuvor auch, zum Verhängnis wurde, waren die Zigaretten in der Tasche. Auch bei ihm wurden sie eingesackt.
Natürlich regte er sich wieder auf. „Ey, was soll der Mist?! Gib die wieder her, du Pisser!“
„Mathew, für dich gelten dieselben Regeln wie für alle anderen: Im Camp wird nicht geraucht. Sieh es als Herausforderung und Möglichkeit damit aufzuhören“, redete einer der beiden Kontrolleure auf ihn ein.
„Alter, fick dich mit Herausforderung! Ohne die Dinger bin ich tot!“
Wow, wie er sich über ein paar Schachteln so aufregen konnte. Es würde sicher irgendwo eine Möglichkeit geben, sich neue zu besorgen.
„Jetzt übertreib mal nicht so und geh zu den anderen. Rogelio möchte auch noch heute aussteigen.“ Der Betreuer drückte dem Rohrspatz seine Tasche in die Hand, der noch immer fluchend von seinem Bruder in Empfang genommen wurde.
Nachdem ihm sein Bruder etwas ins Ohr geflüstert hatte, beruhigte er sich etwas, starrte aber noch immer böse in die Gegend.
„Wir werden euch jetzt auf die Hütten und Zimmer aufteilen. Dazu zieht jeder einen Zettel aus dem Hut und geht danach zu dem jeweiligen Guide. Damit es keine Streitereien um die Betten gibt, haben wir diese ebenfalls schon verteilt, das ist die zweite Zahl auf dem Zettel“, verkündete einer der beiden, die am Sammelpunkt gewartet hatten, nachdem auch der letzte aus dem Bus gestiegen und kontrolliert worden war.
Die Betreuer stellten sich im Viereck ein Stück voneinander entfernt auf und hielten einen Zettel mit einer Zahl vor ihre Brust. In derselben Reihenfolge, in der wir aus dem Bus gestiegen waren, zogen wir einen Zettel und verteilten uns. Diejenigen in Zimmer fünf blieben in der Mitte, der Rest stellte sich außen herum.
Als der stämmigere der Brüder an der Reihe war und auf die Gruppe für Zimmer 2 zukam, sah ich die Wut in den Augen des anderen aufflammen, der bei Zimmer 5 stand. Sein Bruder hatte keine zwei Schritte gemacht, da rannte er ihm hinterher, sah kurz auf den Zettel und kam dann auf unsere Gruppe zu.
„Wer von euch hat die sechs?“ Ich sah, wie einer der etwas größeren Jungs schluckte und sich ganz kleinlaut meldete.
Ja, der Typ konnte einem gerade wirklich Angst machen. Ohne weiter etwas zu sagen, entriss er dem Größeren den Zettel und drückte ihm seinen in die Hand. „Viel Spaß.“
Alle waren viel zu perplex von der Aktion, um irgendwie darauf zu reagieren. Irgendwo bewunderte ich ihn, das für seinen Bruder zu tun, anderseits fand ich das nun schon sehr übertrieben. Sie würden es doch wohl aushalten mal sechs Wochen nicht dauerhaft bei ihrem Bruder zu sein. Und ich hatte schon gedacht, dass ich verrückt war, mich schon nach ein paar Stunden zurück nach Hause zu sehnen, aber das war irre.
Aber es schien akzeptiert zu werden. Die Betreuer sagten nichts dagegen und der bullige Junge ging zur anderen Gruppe. Na das konnte ja heiter werden, mit den beiden in einem Zimmer zu sein. Vielleicht wurden die sechs Wochen ja doch noch ganz witzig, wenn zwei so Vögel dabei waren.
„Wir bringen euch jetzt zu euren Zimmern. Dort habt ihr eine halbe Stunde Zeit euch einzurichten und euch auszuruhen. Dann holen wir gemeinsam mit den anderen Gruppen die Flagge ein und gehen dann zum Essen. Nach dem Essen gehen wir in unseren Gemeinschaftsraum und besprechen noch ein wenig Organisatorisches.“
Nach dieser letzten Ansage setzten sich die Zimmer in Bewegung. Da der Schmächtige nicht in meinem Zimmer und auch in einer anderen Hütte war, konnte ich ihm nicht helfen, aber dafür schien es andere angestachelt zu haben und der vierte Junge aus Boston, der mit ihm in einem Zimmer war, nahm sich seines Koffers an.
Das „Organisatorische“ bestand zum Großteil aus den Regeln des Camps und einigen Spielchen mit denen wir uns Kennenlernen sollten. Da ich bis auf die Geschwister, ja, sie sagten tatsächlich, dass sie Geschwister waren, und dem Jungen, der unter mir im Doppelstockbett schlief, mir auf die Schnelle niemandem von unserem Zimmer gemerkt hatte, bekam ich auch nur ihre Namen mit.
Die Geschwister hießen Mathew, er wollte aber lieber Mat genannt werden, und Peter, der unter mir wurde Zack genannt. Von den anderen über dreißig Namen konnte ich mir nicht wirklich welche merken, aber das würde sich wohl noch ergeben. Der für unser Zimmer zuständige Betreuer war Luther. Blöderweise war es der, den Mat als Pisser bezeichnet hatte.
Nach der großen Runde wurden wir noch auf dem Gelände herumgeführt, dann durften wir uns noch ein wenig draußen aufhalten. Ich schmuggelte meine Zigaretten nach draußen und verzog mich ein Stück in den angrenzenden Wald, während viele ihre Schwimmsachen holten, um noch etwas schwimmen zu gehen. Ich genoss die Ruhe im Wald, nachdem den ganzen Tag so viele laute Jungen um mich herum gewesen waren. An einen Baum gelehnt machte ich mir eine der Zigaretten an.
Irgendwann hörte ich die immer meckernde Stimme von Mat - Konnte er eigentlich auch normal reden? - und die beruhigende Stimme von Peter. Auch sie schienen etwas Abstand vom ganzen Trubel zu brauchen, denn sie liefen ebenfalls in den Wald hinein. Nachdem sie ein Stück gelaufen waren, aber in eine etwas andere Richtung als ich, blieben auch sie an einem Baum stehen und der Rattenschwänzige fischte zwei Zigaretten aus einer Schachtel.
Na da hatten sie doch welche.
Als die Glocke des Camps läutete und damit anzeigte, dass alle in ihre Zimmer zu gehen hatten, begab ich mich zurück. Die beiden Geschwister hatten sich schon vor einer ganzen Weile weiterbewegt, sodass ich sie aus den Augen verloren hatte.
Natürlich war das Einfinden im Zimmer nicht mit dem Schlafengehen gleichzusetzen. Dennoch legte ich mich auf mein Bett und holte einen Zettel und Stift heraus, um meinen ersten Brief an Terrence zu verfassen. Ich wusste noch nicht wirklich, was ich ihm schreiben sollte, aber mir würde schon etwas einfallen. Ansonsten erzählte ich ihm eben von den ungleichen Geschwistern.
„Ehm, Toby, oder?“, wurde ich auf einmal vom anderen Bett an meinem Kopfende angesprochen.
Ich hob den Kopf. Dort lag Peter, ebenfalls auf dem Bauch und mit dem Gesicht zu mir liegend, und streckte mir seine Hand entgegen, in der zwei Batterien lagen. „Ich hab ganz vergessen dir die zurückzugeben.“
„Danke, wäre aber wirklich nicht nötig gewesen.“ Ich nahm sie entgegen und legte sie erst mal neben mein Kopfkissen. Gerade hatte ich keine Lust deswegen aufzustehen.
„Du bist ’n ziemlich netter Kerl, oder? Du hast dem Dürren bei seinem Koffer geholfen, obwohl du nicht gemusst hättest.“ Die grünen Augen leuchteten mich freundlich an.
„Ich... Naja, warum auch nicht. Euer Vater hat ihm doch auch geholfen.“
„Ja, aber Chris muss auch nicht in so ein Camp hier.“ Er grinste mich an und irgendwie wirkte es so ansteckend, dass ich einfach zurück grinsen musste.
„Hey, ich hab ’n Busenwunderquartett mit. Wollt ihr mitspielen?“, rief einer der anderen Jungs dazwischen.
Peter nickte und schwang sich aus dem Bett, um zu den anderen zu gehen. Ich sah ihm nach und konnte dabei sehen, dass sein Bruder es genauso tat und die Nase rümpfte. Aber eine Antwort auf die Frage, die definitiv auch an ihn gestellt war, gab er nicht.
Ich nahm die nächstbeste Ausrede, die mir einfiel: „Nee, sorry, ich muss den Brief fertig schreiben. Hab meinen Eltern versprochen, dass ich gleich schreibe, sonst gibt’s Stress.“
„Kein Ding, sind ja noch ein paar Abende, dann spielst wann anders mit.“ Damit ging der Fragende wieder zu den anderen.
Oh ja, welche Freude. Ich wollte mir unbedingt die Brüste irgendwelcher Pornodarstellerinnen ansehen. Nein, danke. Wenn wenigstens ein paar Ärsche von männlichen Darstellern dabei gewesen wären, dann hätte es ja wenigstens noch etwas Reiz gehabt, aber so sicher nicht. Aber ich würde wohl auch nicht die gesamten Wochen drumherum kommen.
Während sich die anderen die Maße, Gewichte und sonstige Angaben zu den Damen um die Ohren warfen und ab und zu anzügliche Kommentare machten, schrieb ich an meinem Brief und lauschte der Musik aus Mats Walkman, den er so laut gestellt hatte, dass ich sie bis hier hören konnte.
Aber es störte mich nicht. Die Musik war gut und deutlich angenehmer als das Busengeschwätz. Noch angenehmer wäre es gewesen, wenn er dabei nicht die ganze Zeit im Takt auf dem Buch herumgetrommelt hätte, in dem er las, aber ich wollte ihn nicht wieder wütend machen, er hatte sich ja gerade erst beruhigt, also sagte ich nichts dazu.
Ich hatte gerade den Brief fertig, als Luther den Raum betrat und uns mitteilte, dass in einer halben Stunde Zeit für die Bettruhe sei. Mit viel Genörgel aber ohne großes Theater machten sich alle für das Bett fertig. Irgendwie befürchtete ich, dass es sich im Laufe der Zeit noch ändern würde und nicht alles so ruhig bleiben würde.
Luther kam nach der halben Stunde noch einmal herein und sah sich im Zimmer um. Vor dem Bett von Peter und Mat blieb er sehen. „Warum habt ihr euch nicht umgezogen?“
„Geht dich nichts an, Pestbeule. Wir können schlafen wie wir wollen.“
Boah, war der immer so auf Streit aus?
„Wir ziehen uns gleich um“, versuchte es Peter etwas sanfter.
„Wenn es heißt Bettruhe, dann habt ihr umgezogen zu sein! Also Umziehen und zwar etwas plötzlich!“
Ui, na in deren Haut wollte ich jetzt nicht stecken.
Natürlich waren alle Augen auf sie gerichtet, während sie widerwillig aufstanden und sich schnell aus- und wieder anzogen. Ich versuchte wegzusehen, aber meine Augen wurden magisch angezogen.
Und ich verstand, warum sie sich nicht hatten mit allen anderen umziehen wollen. Es war nur einen Moment gewesen, aber auf ihren Rücken zeichneten sich rote Striemen ab. Da sie mit dem Rücken zu ihrem Bett gestanden hatten, hatte nur ich sie sehen können und sie erschreckten mich. Wer hatte ihnen das angetan? Außerdem trug Peter unter seinem langen Shirt einen Verband am Arm.
Nachdem sie sich wieder hingelegt hatten, ging Luther zurück zur Tür und wünschte allen eine gute Nacht, bevor er das Licht löschte. Bis auf leises Schimpfen von Mat war nichts mehr im Raum zu hören und auch er verstummte recht schnell.
Am nächsten Morgen wurden wir von Luther geweckt und machten uns fertig. Als ich einen Blick in den Duschraum warf, entschied ich mich, später in der Freizeit duschen zu gehen, wenn hoffentlich nicht so viele dort waren. Da die Duschbaracke von unserer ganzen Gruppe genutzt wurde, tummelten sich dort gerade sicher gut dreißig Jungen unter den Duschen. Das musste ich mir nun wirklich nicht antun.
Dann wurde die Fahne gehisst und wir gingen zum Frühstück, das – wie schon das Abendessen – in einem riesigen Saal stattfand. Nach dem Frühstück mussten wir unser Zimmer aufräumen und dann ging es zu unseren Aktivitäten.
Am Vormittag stand für mich Wandern auf dem Plan. Wenn ich mich schon in der Pampa aufhalten musste, dann wollte ich wenigstens etwas für mich tun. Wir waren nur eine kleine Gruppe von fünf Leuten aus verschiedenen Jungengruppen des Camps, da die meisten natürlich eher angesagtere Aktivitäten gewählt hatten, aber so war es auch gut.
Rechtzeitig zum Mittagessen kamen wir zurück. In der folgenden Pause verzog ich mich wieder unauffällig zum Rauchen. Und wieder hatten auch die Geschwister die gleiche Idee.
Am Nachmittag war dann für mich Kanufahren angesagt. Es war nicht so ganz mein Sport, aber es war okay. Immerhin trainierte es ganz nebenbei die Arme.
Im zweiten Teil des Nachmittags hatten wir mit dem gesamten Zimmer eine gemeinsame Gesprächsrunde. Wie Luther uns erklärte, sollte sie dazu dienen, uns auf unsere Zukunft vorzubereiten und bla...
Ich hörte ihm nicht wirklich zu. Aber irgendwas musste dieses Camp ja von einem normalen Sommercamp unterscheiden. Gut, dass wir diese Runden nur zweimal die Woche hatten. Dienstags mit Luther und dem Zimmer und donnerstags mit der ganzen Gruppe. Da würden dann wohl zum Teil auch Referenten kommen. Vielleicht hatten die ja etwas Spannenderes zu erzählen.
In dieser Stunde sollten wir uns zuerst genauer vorstellen, wie alt wir waren, was wir machten und ob wir wüssten, was wir werden wollten. Tatsächlich waren wir alle zwischen fünfzehn und siebzehn und von den acht Jungen wussten nur Mat, Peter und noch ein weiterer, er hatte den bescheuerten Namen Guy, was sie nach der High School machen wollten.
Guy wollte Mechaniker werden und in der Werkstatt seines Vaters einsteigen. Mat hatte tatsächlich schon angefangen an seinem Berufswunsch zu arbeiten und ließ sich zum EMT ausbilden. Und Peter wollte Musiker werden. Gut, wir wurden ja auch gefragt, was wir uns wünschen würden, daher war es wohl erlaubt, so etwas zu äußern. Aber immerhin hatte er die Stimme und die Ausstrahlung dafür, dass konnte man nicht abstreiten.
Was mich verwunderte, war, dass Mat und Peter im nächsten Schuljahr gerade einmal das zweite High School Jahr anfangen sollten. Da Peter genauso alt war wie ich, hätte er eigentlich auch das letzte anfangen und Mat, da er ein Jahr älter war, schon fertig sein müssen. Was hatten sie getan, um so viel Zeit zu verlieren?
Der Abend verlief wie schon zuvor mit Flagge streichen, Abendbrot und etwas Freizeit. Da diese diesmal etwas länger war, entschied ich mich erst im See zu schwimmen und dann während der Zimmerzeit duschen zu gehen.
So entging ich auch der gemeinschaftlichen Abendgestaltung, die wohl wieder aus irgendwelchen Spielen bestanden hatte, die für mich ziemlich uninteressant gewesen wären. Kurz vor Luthers Abendrunde kam ich im Zimmer an und zog mich direkt um. Mat und Peter verschwanden mit ihren Sachen auf dem Klo. Gerade rechtzeitig kamen sie umgezogen wieder.
Der Mittwoch verlief ähnlich, nur spielte ich nach dem Kanu noch mit ein paar anderen Basketball.
Am Donnerstag wurden wir dann darüber aufgeklärt, welche Berufe wir ohne Collegeabschluss ergreifen konnten. Es war ziemlich langweilig und ich wunderte mich, dass niemand einschlief.
Direkt nach dem Abendessen ging ich duschen, denn der Tag war wirklich heiß gewesen und ich konnte mich ja auch nicht jeden Abend um meine Zimmergenossen drücken, das würde irgendwann auffallen.
Ich verließ gerade die Dusche, als ich Mat und Peter auf dem Gang diskutieren hörte. Ich konnte nicht alles verstehen, aber es ging wohl darum, dass Mat nicht mit den anderen in die Gemeinschaftsdusche wollte, sie aber bereits seit Montagmorgen nicht geduscht hatten. Peter war darüber natürlich wenig begeistert.
Irgendwo konnte ich Mat verstehen, ich mochte das ja auch nicht, aber es würde auch irgendwann unangenehm werden, wenn sie nicht bald gingen. Da außer mir keiner dort war, hoffte ich einfach, dass eine Person nur halb so schlimm war, band ich mir kurzerhand das Handtuch um und ging auf den Flur. „Hey ihr beiden. Ich bin gerade der einzige hier, also wenn ihr euch beeilt...“
„Danke.“ Ich sah Mat an, dass er protestieren wollte, doch Peter zog ihn an der Hand hinter sich her und zischte an mir vorbei in den Umkleideraum.
Da auch noch meine Sachen dort lagen, ging ich ebenfalls zurück, drehte ihnen aber den Rücken zu. Ich spürte, dass sie sich ziemlich beeilten und während ich gerade einmal meine Unterhose angezogen hatte, waren sie in der Dusche verschwunden.
Noch bevor ich mir die Haare trocken geföhnt hatte, kamen sie auch schon wieder zurück. Da ich nicht damit gerechnet hatte, dass sie so schnell waren, konnte ich mich nicht mehr umdrehen, bevor sie nur mit Handtüchern vor mir standen. Und ich kam nicht umhin wieder einmal festzustellen, wie unterschiedlich sie gebaut waren. Peter war nicht abgemagert, dennoch sah man jeden Muskel, obwohl sie nicht gerade trainiert waren. Mat dagegen war einfacher, normaler Durchschnitt, nicht dünn, nicht dick, nicht muskulös.
Schnell drehte ich mich um, denn ich stellte fest, dass mir das Muskelspiel von Peters Körper etwas zu sehr gefiel.
Ich stand Freitag nach dem Mittag wieder im Wald an einen Baum gelehnt und hörte in einiger Entfernung Mat und Peter diskutieren. Mat nörgelte die letzten Tage immer weniger, ihm schien es also doch nicht so schlecht zu gefallen. Dennoch hatte ich gestern gehört, dass er sich immer aus den Gemeinschaftsspielen heraus hielt.
Na so fand er sicher keine Freunde. Selbst ich hatte mich gestern zu diesem bescheuerten Quartett überreden lassen. Wenn man sich einfach nur auf die Daten konzentrierte und nicht auf die nackten Frauen achtete, war es auch gar nicht so schlimm.
Plötzlich wurde es lauter im Wald und ein Sturm an Gemecker und Beschimpfungen ging los. Ich sah nach drüben und konnte einen der Betreuer sehen, wie er den beiden gerade die Zigaretten entwendete. Oh, fuck!
Schnell trat ich meine aus und verschwand aus dem Wald. Zügig ging ich in unsere Hütte und das Zimmer und begann meine Zigarettenschachteln an verschiedenen Orten zu verstecken.
Ich wurde gerade rechtzeitig fertig, um mich auf das Bett zu schmeißen und so zu tun, als hätte ich gelesen, bevor Luther mit den beiden am Schlafittchen in den Raum kam.
Arthur, Lorenzo und Blaine – mittlerweile kannte ich die Namen unserer Zimmergenossen –, die mich schweigend bei meinem Tun beobachtet hatten, blickten nun auf. Luther wies die beiden Ertappten an, sich auf Mats Bett zu setzen und blickte einmal in die Runde. „Wisst ihr wo Zack und Guy sind?“
„Vermutlich schwimmen oder beim Volleyball, sie haben ihre Badehosen mitgenommen“, gab Lorenzo zur Antwort. „Soll ich sie holen gehen?“
„Nein, ihr bleibt hier.“ Mit diesen Worten ging er kurz vor die Tür und rief einen anderen Betreuer ran, damit er die letzten beiden Jungs holte.
Kaum waren sie anwesend, ließ er eine Schimpftirade los und suchte das gesamte Zimmer nach weiteren Zigaretten ab. Wir mussten alle Taschen zeigen und alle Betten abziehen. Dabei kamen neben zwei weiteren Schachteln der Geschwister, auch zwei von mir zum Vorschein. Mich überraschte, dass niemand anderes etwas geschmuggelt hatte. Oder es war einfach übersehen worden, so wie meine verbliebene Packung. „Sind das alles eure?“
Die Geschwister nickten zu meiner Überraschung. Wow, sie deckten mich gerade! Auch wenn sie vermutlich gar nicht wussten, wen sie deckten, war das eine ziemlich noble Geste.
„Gut. Ihr sechs räumt hier auf. Und ihr beide kommt mit raus und raucht die jetzt auf. Danach ist euch hoffentlich die Lust vergangen.“ Während Luther wütend den Raum verließ, standen die beiden gemächlich auf und gingen hinterher. Sie schien diese Strafe nicht wirklich zu beeindrucken.
War Peter überhaupt durch irgendetwas aus der Ruhe zu bringen? Ja, scheinbar, wenn man ihn von seinem Bruder versuchte zu trennen. Aber sonst? Es schien nicht so.
Als wir mit dem Aufräumen fertig waren und nach draußen gingen, brach Luther die Strafe gerade ab und verdonnerte sie zu Küchendienst für die nächsten fünf Tage. Schmunzelnd stellte ich fest, dass eine komplette Packung leer geraucht war. Damit hatte er wohl nicht gerechnet.
Am Abend gab es eine große Veranstaltung mit der ganzen Gruppe, doch unser Zimmer wurde zur Strafe davon ausgeschlossen.
Schön, dann konnte ich mich dem Brief von Terrence widmen, der heute gekommen war. Mit den Kopfhörern über den Ohren lag ich im Bett und las, als ich angesprochen wurde. „Hey, spielst du mit?“
„Was denn?“ Lorenzo hielt mir das Quartett vor die Nase. „Nee danke. Habt ihr auch was anderes zu spielen?“
„Wir können auch Flaschendrehen spielen“, schlug Zack vor und fand darin allgemeine Zustimmung.
Das Spiel war sehr lustig und die Aufgaben wirklich witzig und albern, schlugen aber nicht über die Strenge. Gut, die Fragen gingen hauptsächlich um Mädchen, aber ich schaffte es eigentlich gut meine Antworten so zu formulieren, dass sie geschlechtsneutral waren.
Nur Mat lag wieder auf seinem Bett, trommelte auf dem Buch herum und las. Ich hoffte, dass er mit den Leuten aus seinen Aktivitäten besser klar kam. Sonst konnte ich mir nicht vorstellen, wie er die Zeit rumbekommen wollte.
Zur gewohnten Zeit wurden wir dann wieder ins Bett geschickt, wobei die Geschwister sich noch immer im Klo umzogen.
„Ich pack das nicht mehr! Ich brauch was! Mir egal, was, aber ich steh das keine Woche mehr durch. Ich bin schon jetzt voll auf Entzug, spätestens morgen sieht man mir das auch an.“ Es war Sonntag und ich war diesmal etwas später mit meiner Mittagszigarette dran, da ich noch mit Zack gequatscht hatte.
Scheinbar waren die beiden heute etwas näher an meinem Stammplatz, denn im Gegensatz zu sonst, konnte ich verstehen, was sie sagten.
„Ich besorg uns was, okay? Hältst du’s bis heute Abend noch aus? Ich glaub Simon hat irgendwas. Er wirkte letztens ziemlich stoned. Ich frag ihn nachher.“ Peter klang völlig anders als sonst. Nicht ruhig, sondern äußert besorgt und fahrig. Er saß im Schneidersitz an einen Baum gelehnt, sein Bruder ebenfalls, nur hatte er den Kopf an seine Schulter gelehnt.
„Bist du sicher? Nicht, dass er uns verrät, wenn er doch nichts hat.“
„Willst du lieber warten, bis wir beide am Ende sind? Was sollen sie machen? Uns rausschmeißen? Gut, dann können wir nach Hause. Und wenn er was hat, dann wird er uns nicht verraten. Ich hab keinen Bock auf ’nen kalten...“ Peter stockte und sah sich panisch in meine Richtung um. Er musste gehört haben, dass ich mich ihnen genähert hatte.
„Ich bin es nur. Danke, dass ihr mich nicht verpfiffen habt. Wollt ihr eine abhaben?“ Ich fummelte zwei Zigaretten aus der Schachtel und reichte sie ihnen samt Feuerzeug, denn die hatte man ihnen natürlich auch abgenommen.
„Danke.“ Mat streckte seine Hand aus und ergriff die Sachen. Hastig steckte er die Kippe in den Mund und versuchte zittrig sie anzuzünden, was ihm aber misslang. Laut fluchend gab er beides an seinen Bruder, der ebenso scheiterte.
Scheiße, die beiden hatten doch vor zwei Tagen erst geraucht, so lange war das doch auch nicht her! Ich nahm ihnen die Sachen wieder ab und zündete ihnen jeweils eine an.
Still rauchten wir und ich konnte sehen, dass sie sich mit jedem Zug mehr entspannten. Nach einer Weile öffnete Peter die Augen. „Danke. Können wir dir ’ne Packung abkaufen?“
„Nee, vergiss es! Ihr lasst euch nur wieder erwischen und dann sind vielleicht meine letzten Vorräte weg, vergesst es!“ Wenn sie nochmal erwischt wurden, dann würde Luther noch gründlicher suchen und womöglich noch die letzte Packung finden, nee, das Risiko wollte ich nicht eingehen.
„Bitte, wir passen auch besser auf. Nur eine Packung“, flehte mich Peter an. Wow, die beiden schienen echte Probleme zu haben, wenn sie so um ein paar Zigaretten bettelten. „Scheiß auf den Preis. Du bekommst für das Risiko, was du willst. Nächstes Wochenende haben wir selbst wieder welche.“
Kurz kamen mir die Bilder aus der Dusche in den Kopf und Peters Rückansicht am Montag, bei der ich nicht nur den Rücken gesehen hatte. Doch schnell verdrängte ich sie. Ich wollte ihre offensichtliche Not nicht ausnutzen. Aber ich wollte ihnen auch nicht einfach etwas schenken. „Nee, ich geb euch keine. Wenn ihr rauchen wollt, dann kommt mit mir her, dann kann ich auch ’n Auge drauf haben. Und Mat muss die nächste Woche mitspielen, wenn wir mit dem Zimmer spielen.“
„Alter, steck dir deine Kippen sonst wo hin! Ich mach bei dem Mist nicht mit! Es geht doch eh die ganze Zeit nur um Titten und Ärsche“, fuhr mich der Blonde an.
Also von Ärschen hatte ich noch nichts gehört in den letzten Tagen, das wäre immerhin halbwegs interessant gewesen. Vielleicht klappte es ja, wenn man sich ganz fest vorstellte, dass er zu einem Mann gehörte? Oh Gott, ich hatte es echt mal wieder nötig, wenn ich so verzweifelt war.
Ich zuckte mit den Schultern. „Dann halt nicht.“
„Komm schon, Mat! Du hast mich gerade noch angefleht. Das wirst du doch wohl mal schaffen“, fuhr Peter ihn an. „Es sind doch nur ein paar dumme Spiele.“
„Und was soll ich denen erzählen?“ Mat sah seinen Bruder böse an.
„Denk dir was aus, du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen, du Großmaul! Reiß dich zusammen, ich hab keine Lust den ganzen Mist nochmal durchzumachen, weil du dir zu fein für ein paar Spiele bist.“
„Schon gut, schon gut! Ich zwing dich zu nichts. Wenn du nicht willst, dann nicht. Aber ich geb euch trotzdem nur hier was ab“, ging ich dazwischen, bevor sie sich an die Gurgel gingen.
„Geht klar, danke.“ Immerhin wusste Mat, wie man sich bedankte.
Dann hatte ich eine Idee. Wenn sie schon nichts mit den anderen zu tun haben wollten, dann vielleicht wenigstens mit mir. So langsam wurde mir nämlich auch langweilig, aber ich fand die anderen wenig interessant. Außerdem hätte ich dann vielleicht öfter Gelegenheit Peter – natürlich rein zufällig – nackt zu sehen. „Habt ihr vielleicht Lust heute Abend mit schwimmen zu gehen?“
„Nein“, antwortete Mat sofort.
Peter dagegen überlegte etwas länger und musterte mich dabei intensiv. Fast hatte ich das Bedürfnis verlegen wegzusehen aus Angst, er könnte mich durchschauen. Doch dann lächelte er. „Ich kann im Moment nicht ins Wasser, aber ich komm mit runter zum See.“
Sein Bruder starrte ihn mit großen Augen an, während ich zurück lächelte. Verdammt, ich hatte mir doch verboten so blöd zu grinsen! „Wir sollten langsam zurück.“
„Warst du vorher schon mal in so ’nem Camp?“, fragte Peter neugierig, als ich mit ihm am See saß. Während ich nur meine Badehose trug, hatte er noch ein langes Shirt darüber. Wie hielten er und sein Bruder das nur die ganze Zeit aus?
„Ja, schon häufiger, aber in ganz normalen und mit meinem besten Freund zusammen. Du?“ Er schüttelte den Kopf. „Warum nicht? Eigentlich ist das doch immer recht witzig, besonders wenn man nicht allein ist.“
„Zu teuer. Meine Geschwister hätten dann ja auch mit gewollt.“ Kaum hatte er das ausgesprochen biss er sich auf die Lippen.
„Aber Mat ist doch jetzt auch mit“, fragte ich unschuldig nach. Ich wollte wissen, was es damit auf sich hatte! Denn irgendwas stimmte ganz eindeutig nicht mit den beiden.
„Ja, aber ich meine die anderen... Also nicht Mat...“, stotterte er.
„Also ist Mat doch nicht dein Bruder?“, bohrte ich nach.
„Doch!“ Böse funkelten mich die grünen Augen an. „Vergiss einfach, was ich gesagt habe, okay?“
„Schon gut. Komm schon, bleib hier. Ich werd nicht weiter nachfragen“, beschwichtigte ich ihn, da er schon aufgesprungen war.
Nach einem weiteren bösen Blick setzte er sich wieder. Da ich Angst hatte, wieder in ein Fettnäpfchen zu treten, schwieg ich. Und auch er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte.
Nach einer Weile stand ich auf. „Ich geh noch etwas schwimmen. Um die Zeit sind die Duschen übrigens fast immer leer.“
„Danke.“ Mit einem ehrlichen Lächeln stand er auf und verschwand in Richtung der Hütten. Ich sah dem merkwürdigen Jungen noch eine Weile hinterher, dessen Shirt kein bisschen den Hintern in der engen Badehose verdeckte, dann stürzte ich mich ins Wasser.
Als ich nach ein paar Runden wieder ins Zimmer kam, war von Peter noch nichts zu sehen, doch sein Bruder lag wie immer auf dem Bett. Außer uns waren noch Guy und Blaine im Raum und spielten gerade Halma. Ich warf mich ebenfalls auf mein Bett und begann Terrence’ Brief zu beantworten.
Plötzlich kam Lorenzo hereingestürmt und hielt triumphierend ein Heft hoch.
„Och, nö, bitte nicht!“, dachte ich genervt. Das Spielchen kannte ich bereits und es war für mich eines der schwersten. Hätte es nicht noch etwas dauern können?
„Schaut mal, was ich Lawson abkaufen konnte! Geil, oder?“ Er knallte das Heft vor den beiden Spielenden auf den Tisch und setzte sich dazu. Sofort war das Spiel vergessen und gemeinsam blätterten sie es durch und fachsimpelten über die abgebildeten Schönheiten.
„Hey, Toby, komm, kuck dir die mal an! Die wäre doch was für dich!“ Seufzend stand ich auf und ging zu ihnen herüber. Also, auf ins Gefecht! „Schau, die hat ’n richtig geilen Arsch und ist trainiert. Und dazu noch SOLCHE Titten. Hammer!“
Ich sah mir die Dame an und ja, wäre sie ein Kerl gewesen, dann hätte sie wohl auf meine Beschreibung gepasst. Wie alle anderen auch, war ich nämlich beim Flaschendrehen nach meiner Traumfrau gefragt worden. Ich hatte einfach meinen Traummann beschrieben und dabei gewisse Details weggelassen.
Nur was Heteros unter einem geilen Arsch verstanden, war mir wie immer schleierhaft. Er war viel zu groß und sah irgendwie wabbelig aus. Und naja, dass sie große Brüste haben würde, war mir schon bei Guys Ausspruch klar gewesen.
Ich machte ein paar halbherzige Komplimente über die Frau, setzte mich auf einen der weiteren Stühle und sah mir dann das Heft mit an. Wieder weggehen wäre zu auffällig gewesen.
Immerhin war es keines dieser Hefte, wo man fast nur die Genitalien der Damen sah, meistens sah man sogar gar keine. Einige der Frauen waren sogar wirklich hübsch, sodass ich wenigstens halbwegs interessiert tun konnte.
Irgendwann nahm Lorenzo das Heft wieder an sich und stapfte damit direkt auf Mat zu. Ich hatte schon befürchtet, dass das passieren würde und sah ihm nach. „Hey, Streber. Wir haben deine Traumfrau gefunden.“
Er knallte ihm das aufgeschlagene Heft direkt vor die Nase und verdeckte damit das Buch.
Mat sah gar nicht darauf, sondern zog einfach nur das Buch hervor und setzte sich anders hin, damit er weiterlesen konnte. Lorenzo riss ihm die Kopfhörer vom Kopf und hielt ihm das Heft noch einmal vor die Nase. „Hey, das ist unhöflich! Schau sie dir wenigstens mal an!“
„Ja, sehr schön“, kommentierte der Blonde und wollte sich die Kopfhörer wieder holen, doch Lorenzo hielt sie aus seiner Reichweite.
„Der steht bestimmt auf so ganz flache“, feixte Guy. „So wie die Musiktante.“
Lorenzo lachte, während er Mat davon abhielt, an die Kopfhörer zu kommen. „Na, willst du der Musikschnalle mal an die Fotze? Dann musst du deinen Bruder aber mitnehmen, bei ihm wird sie sicher direkt feucht, so wie sie ihn immer ansieht.“
Ich seufzte. War ja klar gewesen, dass es mit solchen Jugendlichen nicht ruhig bleiben würde. Mat tat mir wirklich leid. Aber was sollte ich schon machen? Hätte er einfach von Anfang an mitgespielt, oder auf mich gehört, hätten sie es jetzt nicht auf ihn abgesehen.
„Kein Interesse. Und jetzt gib mir die Kopfhörer zurück, du Kackfresse!“, knurrte Mat böse.
„Vielleicht steht er ja gar nicht auf Titten und lässt sich lieber ’n Schwanz in den Arsch schieben“, mutmaßte Blaine. Die beiden anderen stiegen in sein Gelächter ein, ich musste mich beherrschen ihm dafür keine reinzuhauen.
Mat war aufgestanden und hatte sich die Kopfhörer zurückgeholt. Mit dem Walkman in der Hand kam er am Tisch vorbei, schmiss Blaine ein „Halt die Schnauze, du hirnamputierte Filzlaus“ an den Kopf und verließ das Zimmer.
Ich biss die Zähne zusammen um nicht ob der Beleidigung loszulachen. Andererseits machte ich mir Sorgen. Wenn er da mal keinen Fehler gemacht und sie damit noch in ihrer Annahme bestärkt hatte.
Doch für den Rest des Abends wurde er in Ruhe gelassen. Natürlich mussten auch Zack und Peter ihre Meinungen zu den Heftschönheiten abgeben.
Erst als Luther seine Runde machte, wurde es versteckt. Als ich ins Bett ging, zog ich mir schon einmal vorsorglich die Bettdecke bis über die Ohren.
Wenn ich allerdings gehofft hatte, dass die Sache mit Mat erledigt wäre, musste ich am Dienstag feststellen, dass es nicht der Fall war. Er und Peter kamen gemeinsam mit Luther zur Zimmerrunde und halfen ihm ein paar Sachen in den Raum zu tragen. „Danke euch beiden. Sehr freundlich, ihr könnt euch setzen. Dann wollen wir mal anfangen. Heute geht es aufgrund der Ereignisse letzte Woche um Gesundheitsprävention. Dazu…“
Peter setzte sich neben mich, Mat neben ihn. Da hörte ich jemanden – ich konnte leider nicht ausmachen wen – in Mats Richtung zischen: „Schwanzlutscher! Willst wohl an ihn ran.“
Peter, der die Situation am Sonntag nicht mitbekommen hatte, warf seinem Bruder einen fragenden Blick zu, doch dieser ignorierte sowohl das Zischen als auch seinen Bruder und widmete sich lieber dem Gruppengespräch.
„Warum wehrst du dich eigentlich nicht gegen die blöden Sprüche?“, fragte ich Mat, als wir am Abend zusammenstanden und rauchten.
Er zuckte mit den Schultern. „Was soll das bringen? Außerdem sind die Idioten mir ziemlich egal. Sollen sie doch erzählen, was sie wollen. Geht mir am Arsch vorbei.“
„Naja, aber mit Ignorieren hören sie auch nicht einfach wieder auf.“
„Und? Was interessiert dich das? Ist ja wohl meine Sache“, fuhr er mich an.
Na gut, wenn er meinte, dann ließ ich ihn lieber in Ruhe. Ging mich ja auch wirklich nichts an. Komisch, dass aber auch sein Bruder nie etwas sagte. Vermutlich wusste er, dass es aussichtslos war. „Kommt ihr wieder mit an den See? Dein Verband ist doch jetzt ab, oder?“
Mat lehnte wie immer ab, während Peter überlegte. Vermutlich hatte er Angst seinen Bruder wieder allein zu lassen. Ich wollte ihm gerade sagen, dass er nicht musste, als er antwortete: „Ich komm mit. Aber ich mag nicht ins Wasser.“
„Okay, kein Ding.“ Freudig lächelte ich ihn an. Immerhin musste ich dann nicht allein gehen. Denn mit Lorenzo, Guy und Blaine wollte ich definitiv nichts mehr zu tun haben. Und Zack war selten aufzufinden. Vermutlich hatte er Freunde in einem anderen Zimmer. Also blieben mir nur die beiden. Und unsympathisch waren sie, trotz ihrer Macken, ja nicht.
„Steht Mat eigentlich wirklich auf Männer?“, fragte ich seinen Bruder, als wir gemeinsam am See saßen. Gerade war niemand in der Nähe und so konnte ich die Gelegenheit nutzen. Als mich der Gefragte böse ansah, schob ich hinterher: „Ich weiß, es geht mich eigentlich nichts an. Mich wundert nur, dass er sich überhaupt nicht wehrt oder es richtigstellt.“
„Wie du schon sagst: Es geht dich nichts an. Warum sollte ich mit dir über die Sexualität meines Bruders reden?“, fuhr er mich zu Recht an.
Was sollte ich sagen, ich hätte auch nicht gewollt, dass einer meiner Freunde es jemandem anderen erzählte. Gewusst hätte es ich es trotzdem gern.
„Weil ich auch auf Jungs stehe“, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Dafür vertraute ich Peter einfach nicht genug.
Um unser Gespräch nicht wieder in einem Streit enden zu lassen, lenkte ich ein. „Tut mir leid, das war ziemlich blöd, lassen wir das Thema. Sag mal, was für ein Instrument spielst du eigentlich?“
Peter ging auf die Ablenkung ein und erzählte mir, dass er hauptsächlich sang, aber auch ein paar Instrumente halbwegs beherrschte. So kamen wir auf unsere Lieblingsmusik und stellten fest, dass wir einen sehr ähnlichen Geschmack hatten.
Eine ganze Weile redeten wir, bis auf einmal Mat auf der Bildfläche erschien. Er hatte wieder seinen Walkman dabei und setzte sich grummelnd neben uns. Peter sah ihn zweifelnd an. „Was ist passiert?“
„Die Idioten sind passiert. Hier schenk ich dir.“ Er drückte Peter einen zerknüllten Zettel in die Hand.
Als dieser ihn auseinanderfaltete, sah ich, dass es eine Seite aus dem Heft war. Mit einem Stift hatte man der Dame einen Penis und Bart verpasst. Außerdem gab es eine Sprechblase, in der „I ❤ Matthew!“ stand.
„Wow, sehr kreativ. Und falsch geschrieben. Ist das normal in so ’nem Camp?“, wandte sich Peter an mich und hielt das Bild unter meine Nase, als hätte ich es noch nicht gesehen.
„Ja. Wenn sie glauben ein Opfer und seine Schwachstelle gefunden zu haben, werden sie auch so schnell nicht mehr ablassen. Ganz ernsthaft: Warum wehrst du dich nicht dagegen?“
„Geht dich nichts an.“
Genervt stöhnte ich. „Gut, dein Ding. Aber wenn du willst, dass sie aufhören, dann musst du da entweder drüber stehen und das mit Humor nehmen, egal ob es stimmt oder nicht, oder es ernsthaft abstreiten und ihnen keinen weiteren Grund geben, darauf herumzuhacken. Dann suchen sie sich irgendwann wen anders. Glaub mir, ich weiß wovon ich rede.“
„Kann ich mir vorstellen. Wie viele Schwächere hast du denn schon vermöbelt?“
Verwundert sah ich ihn an. Mat hielt mich für einen Schlägertypen? Das entlockte mir unweigerlich ein Lachen. „Gar keine. Aber ich war selbst schon oft genug das Opfer. So, ich bin nochmal schwimmen. Bis gleich.“
Leider hatte ich bei meinem Tipp die Aggressivität unterschätzt, die hier im Camp herrschte. In einem normalen Camp hätten sie recht bald aufgehört, ich kannte es ja zu genüge. Mein früheres Übergewicht war für andere immer wieder ein Grund gewesen, mich ärgern zu wollen. Als sie gemerkt hatten, dass es nicht funktionierte, hatten sie recht schnell aufgehört.
Doch hier war es anders. Sie gaben einfach nicht auf. Und das obwohl Mat sich mittlerweile tatsächlich verbal wehrte. Die Anfeindungen wurden einfach nicht weniger. Am Donnerstag hatte es sich sogar schon in der ganzen Gruppe herumgesprochen und es gab während der Gruppensitzung auch von anderen Zimmern Anfeindungen gegen ihn. Es war vermutlich gut, dass er nicht einfach mitgespielt hatte.
Am Freitag machte unsere Gruppe ein Lagerfeuer. Wir hatten Würstchen und Marshmallows gegrillt, ein paar Lieder gemeinsam gesungen – wobei ich feststellte, dass Peter wirklich gut singen konnte, aber ich hatte davon auch nicht viel Ahnung, es gefiel mir nur einfach – und saßen nun bei verschiedenen Spielen zusammen.
Mat hatte versucht, sich irgendwo in Ruhe hinzusetzen, war aber von den Betreuern aufgefordert worden, sich bei irgendeinem Spiel oder einer Unterhaltung zu beteiligen. Also hatte er sich seinem Bruder angeschlossen, der, genau wie ich, mit ein paar anderen Jungs Flaschendrehen spielte. Da wir hier draußen viel Platz für Schabernack hatten, beschränkten wir uns auf Pflichten, die festgelegt wurden, bevor die Flasche gedreht wurde.
Malachi hatte gerade seinen Namen auf den Boden pinkeln müssen und durfte nun die Flasche drehen. „Auf wen die Flasche zeigt, muss die Schwuchtel küssen. Mit Zunge!“
Die Meute grölte. Ich wäre am liebsten aufgesprungen und hätte ihm dafür eine reingehauen. Aber da die Betreuer nicht in Hörweite waren, hätte ich dann den Ärger bekommen. Mat starrte ihn an, als könnte er seinen Kopf damit zum Explodieren bringen und auch in den Augen seines Bruders funkelte Wut.
Die Flasche drehte langsam aus, als Peter plötzlich danach griff und sie anhielt. Sie deutete auf ihn.
Völlig perplex sah ich dabei zu, wie er das Gesicht seines Bruders zärtlich zwischen seine Hände nahm, ihm kurz in die Augen sah und dann einen sehr leidenschaftlichen Kuss initiierte. So leidenschaftlich, dass mir nur vom Zusehen die Hose spannte. Wow, das taten sie definitiv nicht zum ersten Mal!
Plötzlich schluckte ich. Ich dachte an die Busfahrt, die Zimmerverteilung, daran, wie die beiden gemeinsam im Wald gesessen hatten, die innige Beziehung der beiden zueinander, die sicher keine wirklichen Brüder waren. Konnte es sein, dass sie ein Paar waren? Dieser Kuss ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht zum ersten Mal einen Jungen küssten und auch nicht sich gegenseitig.
Dennoch wollte dieser Kuss einfach nicht zu den beiden recht ruhigen Jungen passen. Er wirkte irgendwie einstudiert, fast wie eine Show. Es sah nach Leidenschaft aus, aber irgendetwas fehlte, damit es echt wirkte.
Kaum hatte Peter den Kuss gelöst und einmal durchgeatmet, stand er auf, reichte Mat die Hand und zog ihn ebenfalls auf die Beine. Ohne ihn loszulassen, zog er ihn zu einem der Campingtische, auf denen Gesellschaftsspiele lagen, und begann eines davon zwischen ihnen aufzubauen.
So langsam löste sich die Starre, die dafür gesorgt hatte, dass ich auf sie beide gestarrt hatte. Und auch die anderen überwanden langsam ihren Schock.
Das Flaschendrehen war vergessen. Stattdessen war jetzt der Kuss das Thema. Bei Mat waren sie sich nun sicher, dass er auf Jungs stand. Nur Peter schien sie zu verwirren. Er hatte alle ihre Spiele mitgespielt, war recht beliebt gewesen, auch wenn wegen seines Bruders immer eine Skepsis gebliebenen war und nun tat er etwas, was sie nicht zuordnen konnten. Wäre er nicht so beliebt gewesen, wäre der Verdacht jetzt wohl auch auf ihn gefallen. Aber noch waren sie verwirrt. Ich hoffte, dass es so blieb.
Ich dagegen war mit den Gedanken komplett woanders. War das Glück, Schicksal, Pech? Es gab noch andere Jungen hier, die auf das eigene Geschlecht standen, und ich war ausgerechnet mit ihnen in einem Zimmer gelandet. Und einer von ihnen war blöderweise auch noch unglaublich attraktiv.
Das würde es mir nicht leichter machen, die nächsten vier Wochen weiterhin den Hetero zu mimen. Einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich das überhaupt noch wollte, kam aber zu dem Schluss, dass es besser war. Ich wollte nicht wissen, welche Gemeinheiten sich die anderen noch ausdenken würden. Ich wollte wirklich nicht ein Opfer dessen werden. Außerdem lohnte es sich wohl kaum für einen Jungen, der in Boston lebte, so sehr er mir auch gefiel.
Zudem konnten sie sicher einen Freund gebrauchen, den die anderen für normal hielten. Und ich wollte mehr denn je ihr Freund sein. Nicht weil sie auf Jungs standen, sondern weil sie sympathisch waren und nicht solche Ekelpakete wie die anderen.
Ich stand auf und ging zu ihnen an den Tisch. „Darf ich mitspielen?“
„Verpiss dich!“, zischte mir Mat entgegen. „Wir brauchen nicht noch mehr deiner blöden Tipps. Morgen hauen wir ab.“
„Ernsthaft, verscherz es dir nicht mit den anderen wegen uns“, meinte nun auch Peter. Im Gegensatz zu seinem Bruder sah er mich dabei aber an.
„Tut mir leid, bei mir hat es immer geklappt mit dem Wehren. Sind scheinbar noch größere Idioten als sonst. Und mit denen will ich gar nichts zu tun haben.“ Ich setzte mich einfach neben Peter auf die Bank.
„Aber wir könnten versuchen dich anzufallen.“ Mat tat so, als würde er mir über den Tisch hinweg an die Wäsche wollen. Ich war etwas verwundert, aber ja, er war mir gegenüber immer mehr aufgetaut. Vermutlich war das der nächste Schritt, dass er versuchte Scherze zu machen. Offenbar war er von meiner Ehrlichkeit überzeugt.
„Glaub ich kaum, dass ihr das tut. Ganz ehrlich, mir ist egal, worauf ihr steht. Ihr seid um ein vielfaches sympathischer als die da.“ Ich deutete angeekelt auf die Jungen hinter uns, die sich ganz offensichtlich noch immer das Maul zerrissen.
„Und was machst du, wenn wir morgen weg sind?“, fragte Peter. „Ich glaub nicht, dass die dich danach noch zurücknehmen, wenn du dich jetzt noch mit uns abgibst.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, werd ich dann sehen. Also, was spielt ihr?“
Bis wir aufs Zimmer mussten, spielten wir Pit, wobei immer jemand anderes gewann. Schnell waren die anderen vergessen und wir hatten unseren Spaß, auch wenn wir irgendwann fast heiser waren vom vielen Durcheinanderschreien.
Am nächsten Morgen herrschte im ganzen Camp aufgeregte Betriebsamkeit, denn die Eltern kamen. Zumindest die, die es sich leisten konnten, ihre Sprösslinge für zwei Tage besuchen zu kommen. Darunter waren auch meine und, wie ich Peters und Mats Aufregung entnehmen konnte, auch ihre.
Wir hatten uns gerade angezogen, da kam Luther noch einmal ins Zimmer. „Mat, Peter, kommt ihr mal mit zur Rezeption? Ein Anruf für euch.“
Die beiden sahen sich kurz an, ließen die Sachen liegen, die sie gerade in der Hand hatten, und folgten dem Betreuer. Der Rest von uns machte sich gemeinsam mit Christian und Zimmer 1 auf den Weg, um die Fahne zu hissen. Danach würden wir unsere Eltern treffen und mit ihnen gemeinsam frühstücken. Auch wenn ich sie in den zwei Wochen nicht wirklich vermisst hatte, freute ich mich, sie wiederzusehen.
Auf dem Weg zur Kantine stießen Mat und Peter wieder zur Gruppe. Beide sahen ziemlich schlecht gelaunt aus. Besorgt fragte ich sie: „Alles gut?“
„Sieht’s so aus?“, antwortete Mat bissig.
Peter klang da schon etwas versöhnlicher, wenn auch traurig. Wie immer war er der Ruhepol der beiden. „Chris ist was dazwischengekommen, er kommt nicht her. Wir bleiben also noch ’ne Weile.“
Chris? Ach ja, Peter hatte den Namen schon mal erwähnt, es war wohl ihr Vater. Hatten sie denn keine Mutter, die kommen konnte? Immer war nur von ihm die Rede. Aber ich wollte auch nicht nachfragen, da ich das Gefühl hatte, immer in Fettnäpfchen zu treten, wenn ich sie etwas Persönliches fragte.
Vielleicht würde sie es aufmuntern etwas zu scherzen. „Hmm. Das ist natürlich blöd für euch. Und Glück für mich, dann kann ich euch noch länger nerven.“
Peter grinste mich an und auch auf Mats Gesicht konnte ich ein kurzes Zucken um die Mundwinkel sehen. Dann verkündete Peter leise: „Tja, dann hoffe ich, dass du genug Kippen dabei hast. Damit fällt nämlich auch unser Nachschub weg.“
„Klar, meine Eltern haben welche für mich mitgebracht“, antwortete ich genauso leise. Auch wenn meine Eltern das Rauchen nicht unterstützten, lieber kauften sie mir welche, als dass ich sie klaute. Nicht, dass ich das getan hätte.
Damit kamen wir dann auch beim Speisesaal an. Ich hielt nach meiner Familie Ausschau und entdeckte sie an einem der Tische. Ganz automatisch griff ich nach dem nächsten erreichbaren Handgelenk und zog Peter daran hinter mir her. Mat folgte uns natürlich.
Zu meiner Freude hattem meine Eltern auch Terrence mitgebracht. Schnell stellte ich alle vor, nachdem wir uns am Tisch niedergelassen hatten: „Das sind meine Eltern, Lena, meine Schwester, und Terrence, mein bester Freund. Das sind Mat und Peter.“
Etwas perplex stammelten die beiden einen Gruß. Sie schienen gerade nicht wirklich zu wissen, wie sie sich in der Situation verhalten sollten. Danach begannen sie ruhig mit dem Essen, während meine Familie wild auf mich einredete und alles wissen wollte. Natürlich ließ ich aus, dass Mat geärgert wurde. Nicht nur um ihn nicht bloßzustellen, sondern auch weil ich Angst hatte, dass meine Familie einen falschen Kommentar brachte und mich dadurch outete. Immerhin war ich mir noch immer nicht so ganz sicher, was in diesen „Geschwistern“ vor sich ging und ob mein Verdacht richtig war. Auch wenn es natürlich nahe lag. Warum sollten sich Geschwister so küssen?
Nachdem meine Familie mir Löcher in den Bauch gefragt hatte, waren die beiden Geschwister an der Reihe, wurden jedoch schnell wieder in Ruhe gelassen, als sie eher ausweichend antworteten.
Nach dem Essen ging es zurück in die Zimmer zum Aufräumen. Dabei gab es eine kleine Einweisung von Luther, wie der Tag ablaufen würde. Bis zum Mittag würden wir alle zusammen gemeinsam mit den Eltern Gruppenspiele spielen, nach dem Mittag hatten dann alle frei. Wir durften mit unseren Eltern auch das Gelände verlassen. Wessen Eltern nicht da waren, musste jedoch dableiben. Wäre es möglich gewesen, hätte ich Peter und Mat gerne zum Familienausflug mitgenommen.
Außerdem konnte man auch für den Abend abgemeldet werden. Wer da war, würde vermutlich eine Nachtwanderung machen. Zumindest war es in den anderen Camps immer der Fall gewesen, wenn für den Abend kein Programm angekündigt wurde.
Die Gruppenspiele waren wie immer recht witzig und machten mir unglaublichen Spaß. Mat und Peter hielten sich in meiner Nähe, waren aber auch gleichzeitig deutlich distanzierter als sonst. Ich gewann immer mehr den Eindruck, dass sie durch die vielen Leute eingeschüchtert wurden.
Nach dem Mittag gab ich ihnen noch ein paar Kippen, bevor ich mit meiner Familie in eine Stadt in die Nähe fuhr. Wir wollten sie uns ein wenig ansehen, Eis essen gehen und vielleicht noch ins Kino.
Natürlich nutzten meine Eltern auch die Zeit, die wir nur als Familie hatten, um mir die Fragen zu stellen, die niemand anderen etwas angingen. „Und, wie ist das Camp? Ist es anders als andere?“
„Ja, wir haben zweimal die Woche so eine pädagogische Gesprächsrunde. Einmal nur mit dem Zimmer und einmal mit der ganzen Gruppe. So Zeug von wegen Berufswahl und Verhalten und Gesundheit und so Sachen. Ist jetzt nicht sonderlich spannend, aber man kann es aushalten.“ Ich wusste, dass ich meine Eltern nicht anlügen musste, was das anging. Sie sahen es durchaus als gerechtfertigte Strafe, dass ich hier war. Mir war es ebenfalls um einiges lieber als hätte der versuchte Diebstahl rechtliche Konsequenzen gehabt.
„Wie sind deine Zimmergenossen eigentlich so?“, fragte mein Vater.
Ich grummelte etwas. „Mat und Peter sind etwas merkwürdig, aber sehr nett, wenn man sie etwas kennengelernt hat, Zack ist okay, die anderen sind Schwachköpfe. Homophobe Schwachköpfe noch dazu.“
Alarmiert horchte Mum auf. „Haben sie dich geärgert, Schatz?“
„Nein, mich nicht. Aber Mat. Er hat keine Lust bei deren Spielen mitzuspielen, wo es ständig nur um Mädchen und Brüste et cetera geht. Deswegen haben sie angefangen ihn zu ärgern von wegen, er würde wohl auf Jungs stehen. Es wird immer schlimmer, aber er wehrt sich auch nicht wirklich dagegen.“ So unter uns konnte ich meinen Eltern das ruhig erzählen, denn ich wusste, dass sie ihn nicht darauf ansprechen würden.
„Hast du ihn denn Mal gefragt, ob er wirklich auf Jungs steht?“ Natürlich, sie hoffte wieder mal, mich verkuppeln zu können.
„Nein. Ich glaub nicht, dass er es mir sagen würde. Aber letztens beim Flaschendrehen sollte er mit Zunge geküsst werden, weil sie ihn ärgern wollten. Peter hat dann die Flasche angehalten und ihn ziemlich heiß geküsst. Also kann schon gut sein“, mutmaßte ich.
„Und, warst du eifersüchtig?“, feixte mein bester Freund und zwinkerte mir dabei zu.
„Worauf? Dass er ohne es zu wollen, vor allen geküsst wurde? Und auch noch von seinem Bruder? Nee, danke.“
„Ich meinte eigentlich, weil er Peter küssen durfte“, präzisierte er. Vermutlich wurde ich leicht rot. Woher wusste er das schon wieder? „Komm schon, gib’s zu, du wärst gerne von ihm geküsst worden. Ich kenn dich, du schmachtest ihn total an.“
„Also erstens: Wenn, dann würde ich IHN küssen. Und zweitens: Er kommt aus Boston. Das würde doch sowieso nicht funktionieren.“ Es hätte ja eh keinen Sinn gehabt, es abzustreiten, dass ich auf Peter stand. Er sah nun mal wirklich gut aus. Dennoch würde nicht mehr als eine Schwärmerei daraus werden. Was sollte ich mit einem Kerl, der so weit weg wohnte?
„Ach ja, ich vergaß: Du bist ja zu männlich, um dich küssen zu lassen“, meinte Terrence. Ich boxte ihm nur auf den Oberarm. Es war nicht das erste Mal, dass er mich damit aufzog. Aber es war nun einmal so, dass ich mir nicht vorstellen konnte, der schwächere Part in einer Beziehung zu sein. Ich hatte lieber selbst die Zügel in der Hand. Vermutlich war das auch der Grund, weshalb ich bisher noch keinen festen Freund gefunden hatte. Den meisten war ich einfach zu offensiv gewesen.
Was natürlich nicht hieß, dass ich noch nie Sex gehabt hatte. Es hatte nur nie für mehr als zwei oder drei Nächte gereicht, dann war es ihnen zu viel geworden.
„Könntet ihr so etwas bitte nicht vor Lena ausdiskutieren?“, bat mein Vater. Wir entschuldigten uns sofort dafür. Dann lenkte er das Thema um: „Dann willst du heute sicher auch zur Nachtwanderung?“
Verlegen nickte ich. Meine Eltern kannten mich einfach zu gut. Auch wenn ich mir mit Peter nichts vorstellen konnte, ich hatte sicher nichts dagegen, etwas mehr Zeit mit ihm zu verbringen.
Und so waren wir dann auch rechtzeitig zum Abendessen und zur Nachtwanderung zurück. Meine Eltern meldeten sich wie immer freiwillig als Helfer, um die Betreuer zu unterstützen. Außerdem wäre es für Lena nichts gewesen die Wanderung allein zu machen und mir wollten sie die Babysitterrolle nicht zumuten. Sie blieben daher als Posten zurück, während wir mit allen anderen weitergingen.
Irgendwann kamen wir dann an die Stelle, an der wir jeweils zu zweit wieder zurückgehen sollten. Es war für mich alles nichts Neues und dasselbe wie in anderen Camps auch. Ich würde dann gleich mit Terrence zusammen den markierten Weg zurücklaufen und zwischendurch vermutlich ein paar Mal erschreckt werden.
Doch was tat Terrence da? Als die nächste Zweiergruppe losgeschickt werden sollte, zog er Mat am Ärmel seines Shirts mit sich und ging mit ihm los. Peter und ich sahen den beiden perplex nach. Mat schien sich etwas zu sträuben, doch mein bester Freund flüsterte ihm etwas zu, worauf Mat sich kurz fragend zu uns umsah und dann ohne weitere Widerworte folgte.
Ich hoffte, dass er ihm nichts davon gesagt hatte, dass ich auf Peter stand. Das würde ich ihm nie verzeihen! Okay, vermutlich schon. Aber nicht so schnell!
Peter sah mich fragend an und ich lächelte aufmunternd. „Er tut ihm nichts. Vermutlich wollte er nur nicht, dass ihr beide eure erste Nachtwanderung allein machen müsst. Die können nämlich ziemlich fies sein.“
Nachdenklich nickte Peter. Er schien es nicht ganz zu glauben, aber für den Moment zu akzeptieren. Er schluckte kurz und fragte dann: „Dann gehen wir zusammen?“
Ich nickte und stellte mich an, um als nächstes loszulaufen. Eine Weile folgten wir den aufgestellten Fackeln still bis zum ersten Posten. Unterwegs hatten nur ein paar Dosen an einer besonders dunklen Stelle gelegen, die beim Darüberlaufen Geräusche machten, ansonsten war nichts passiert. Der Posten hielt uns kurz auf, um den Abstand zu Mat und Terrence zu wahren, bevor wir unseren Weg fortsetzten durften.
Plötzlich hörten wir vor uns zwei spitze Schreie. Grinsend sahen wir uns an. Feixend meinte ich: „Na, hat wohl mit dem Beschützen nicht so geklappt.“
Grinsend gingen wir weiter, als auf einmal jemand in einer Verkleidung aus dem Gebüsch sprang, nach Peter griff und ihn leicht in Richtung des Gebüsches mitzog. Mit einem panischen Aufschrei griff Peter nach meiner Hand, hielt sich daran fest. Reflexartig zog ich ihn in meine Richtung.
Da der Betreuer ihn nur hatte erschrecken wollen, ließ er los und Peter strauchelte gegen mich. Sofort griff auch seine zweite Hand nach mir und klammerte sich fest. Mit schreckgeweiteten Augen sah er mich an. Ich dachte gar nicht darüber nach, drückte ihn beschützend an mich und ging ein Stück weiter.
Als wir außer Sichtweite des Betreuers waren, ließ ich Peter los und drückte ihn etwas von mir. Noch immer zitterte er. „Ist alles gut?“
Nachdem er ein paar Mal durchgeatmet hatte, nickte er tapfer. „Ja, ich hab mich nur etwas erschrocken.“
Dass es für mich nach mehr als etwas erschrecken aussah, behielt ich lieber für mich. Er hatte ausgesehen, als wäre er nur knapp einer Entführung entkommen. Wir gingen weiter, wobei er meine Hand weiterhin festhielt. Seine Haut war von kaltem Schweiß bedeckt und seine Finger krallten sich in meine Haut. Aber er schien es gar nicht zu bemerken.
Der nächste Posten bestand zum Glück aus meinen Eltern und Lena, sodass ich ihn nicht darauf aufmerksam machen musste. Meine Eltern grinsten mich zweideutig an, aber ich schüttelte nur leicht und ernst den Kopf, was ihre Mienen besorgt werden ließ. „Alles okay bei euch?“
„Ja, Peter hat sich nur ziemlich erschrocken. Ist seine erste Nachtwanderung.“ Verstehend nickten meine Eltern, dann schickten sie uns weiter, da wir durch die Pause ja schon Abstand zu Mat und Terrence hatten.
Nach einer Weile laufen, es hatte noch irgendwelche merkwürdigen Geräusche aus Gebüschen und erhängte Strohpuppen in einem Waldstück gegeben, hörte ich eine Menge Stimmen vor uns. Wir näherten uns wohl dem Sammelpunkt.
Wehmütig seufzte ich, bevor ich mich zu Peter beugte und ihm zuflüsterte: „Wenn du nicht willst, dass das hier zu viele sehen, solltest du mich loslassen.“
Ich sah kurz auf unsere Hände, dann lächelte ich ihm freundlich ins Gesicht. Erst sah er verwundert nach unten, er schien es wirklich nicht mitbekommen zu haben, dann in mein Gesicht, bevor er verlegen wegsah und meine Hand losließ.
Es fühlte sich komisch an, auf einmal nicht mehr seine Hand zu halten. Um gar nicht erst in Versuchung zu kommen, sie wieder zu ergreifen, steckte ich meine Hände in die Hosentaschen.
Wir kamen beim Sammelpunkt an und wurden direkt von Mat und Terrence in Empfang genommen. Kaum dass er uns sah, wurde Mats Blick böse und seine Augen erdolchten mich fast. Und auch mein bester Freund erhielt einen bösen Blick. Dann nahm Mat seinen Bruder in den Arm und fragte leise: „Ist alles gut?“
Dieser nickte nur und machte sich wieder von seinem Bruder frei. Hier auf dem gut beleuchteten Platz konnte ich sehen, wie bleich Peter eigentlich war und verstand die Sorge seines Bruders. Dennoch meinte ich mich verteidigen zu müssen, immerhin schien er mir die Schuld dafür zu geben: „Einer der Betreuer hat so getan, als würde er ihn ins Gebüsch ziehen wollen. Peter hat sich ziemlich erschrocken.“
In Mats Gesicht schlich sich noch mehr Sorge, während er seinen Bruder fragend ansah. Dieser nickte kaum merklich, worauf er wieder in den Arm genommen und ihm beruhigend ins Ohr geflüstert wurde. „Es ist alles gut. Es war nur ’n scheiß ‚Witz‘. Dir tut keiner was...“
Mat wurde immer leiser und ich verstand nicht mehr alles. Und auch wenn wir etwas abseits standen, waren mittlerweile eine Menge Augen auf uns gerichtet. Ich stellte mich als Sichtschutz zwischen die Meute und die Geschwister und zog Terrence am Arm zu mir. Eine Weile standen wir so da, bis alle angekommen waren und wir uns zurück auf den Weg machten. Peter und Mat liefen etwas abseits von uns.
Als wir wieder beim Camp ankamen, hatten wir noch ein paar Minuten Zeit, um unseren Eltern gute Nacht zu sagen. Ich umarmte sie ebenso wie meinen Freund. Lena war direkt ins Bett geschickt worden. Als ich wieder gehen wollte, fragte meine Mutter noch: „Geht es deinem Freund wieder gut? Was war denn los?“
„Er hat sich wohl ziemlich erschrocken. Aber er meinte, es geht wieder.“ Mehr konnte ich ihnen leider auch nicht sagen, da ich ja auch nicht mehr wusste.
„Dann ist gut. Schlaf gut und träum was Schönes.“ Ich wünschte meinen Eltern dasselbe und ging zu unserem Zimmer.
In der Nacht wachte ich auf. Erst wollte ich mich einfach wieder umdrehen und die Decke über den Kopf ziehen, doch dann merkte ich, dass Geräusche an meinem Kopfende mich geweckt hatten. Ich schaute zu Peter und sah, dass er sich im Schlaf unruhig hin und her wälzte. Ohne weiter darüber nachzudenken, überbrückte ich den Abstand mit meiner Hand und rüttelte ihn leicht an der Schulter.
Er fuhr hoch und blickte mich orientierungslos an. Im Halbdunkel sah ich Tränen über sein Gesicht laufen.
„Es ist alles gut. Du bist im Camp. Du hattest ’n Albtraum. Versuch wieder einzuschlafen“, flüsterte ich ihm zu. Er nickte dankbar und drehte sich auf die Seite.
Ich strich über seine Schulter, bis sein Atem flacher ging. Dann wollte ich die Hand zurückziehen, doch er murmelte. „Bleib bitte da.“
Ich schluckte. Keine Ahnung, ob er überhaupt realisierte, wem die Hand gehörte, aber mich machte diese Bitte schwach. Er war so süß. Es verlangte schon viel Selbstbeherrschung, nicht einfach zu ihm hinüber zu klettern und mich an ihn zu kuscheln. Hätte er mich darum gebeten, hätte ich es sofort getan.
Nur so konnte ich nicht schlafen, ich hing halb aus meinem Bett heraus. Mit belegter Stimme raunte ich: „Ich kann so nicht schlafen. Gib mir deine Hand.“
Er drehte sich wieder herum und streckte seine Hand über seinen Kopf in meine Richtung. Ich legte mich hin, griff danach und verschränkte meine Finger mit seinen. Sanft streichelte ich mit dem Daumen über seinen Handrücken. Ich vernahm ein zufriedenes Seufzen von ihm. Es war sicher auch für ihn nicht bequem, aber so würden wir beide wenigstens schlafen können, auch wenn unsere Hände über unseren Köpfen aus den Betten hingen.
Ich wachte am Morgen auf, als er seine Hand aus meiner befreite. Unzufrieden zog ich sie zurück. Ich hatte trotz der Lage sehr gut geschlafen. Vermutlich lag das aber auch an dem nicht ganz jugendfreien Traum von Peter, den ich gehabt hatte. Ich setzte mich auf und massierte meinen Arm, der steif geworden war.
„Tut mir leid“, murmelte Peter, der sich ebenfalls aufgesetzt hatte.
Ich blickte zu ihm. Er sah verlegen seine Decke an, die, genau wie meine, über seine Beine gebreitet war. Ob er auch versuchte etwas zu verstecken? Der Gedanke ließ noch mehr Blut in meine südlichen Regionen fließen. Ich räusperte mich, bevor ich antwortete: „Nicht schlimm, es geht gleich wieder. Hast du noch gut geschlafen?“
Noch immer wirkte er verlegen, während er nickte. „Ja... Danke.“
„Gern geschehen.“ Ich lächelte ihn an, auch wenn er es nicht sah. Scheiße, er war grad echt verboten süß. Wie sollte ich da noch ganze vier Wochen verbergen, dass ich auf ihn stand?
Langsam kam Leben ins Zimmer und auch die anderen erwachten, es war also keine Zeit mehr, weiter darüber nachzudenken.
Nach dem Fahnenappell ging es zum Frühstück. Ich bemerkte die Blicke, die auf Mat und Peter lagen, und das Getuschel. Vermutlich würde nun, nach der Fürsorge seines Bruders, auch Peter zum Opfer der Anfeindungen werden. Es wäre wohl am besten gewesen, mir noch einmal zu überlegen, ob ich wirklich mit ihnen befreundet sein wollte, aber es reichte ein Blick auf Peter, damit es das Risiko wert war.
Für den Vormittag standen wieder Gemeinschaftsspiele mit allen Kindern und Eltern an. Nach dem Mittag verabschiedeten sich die Eltern dann und fuhren nach Hause. Bei uns fiel dies sehr herzlich aus. Nicht nur bei meinen Eltern sondern auch bei meinem besten Freund.
Dieser konnte sich einen letzten, geflüsterten Spruch nicht verkneifen, als wir uns umarmten: „Ganz ehrlich: Du solltest dich an ihn ranmachen. Ich hab keine Ahnung, was da gestern noch zwischen euch gelaufen ist, aber seine Blicke heute Morgen waren ziemlich eindeutig.“
„Mal sehen.“ Ja, ich hatte die Blicke beim Frühstück auch bemerkt. Immer wieder hatte er kurz geschaut und dann schnell wieder weggesehen. Ich konnte nur nicht einschätzen, ob ihm die Nacht peinlich war oder ob es doch mehr war. Aber noch war es mir zu unsicher, einen Schritt zu wagen. „Kommt gut nach Hause. Wir sehen uns in drei Wochen.“
In der folgenden Woche steigerten sich die Anfeindungen gegenüber Mat und Peter immer mehr. Gegen Ende der Woche durfte Peter nicht einmal mehr in den Zimmerrunden mitspielen. Außer sie suchten jemanden, den sie ärgern konnten. Nachdem sie das einmal getan hatten, wollte er aber auch gar nicht mehr mitspielen. Schön, wenigstens war er nicht so dumm und fiel darauf herein.
Wann immer es möglich war ohne sie bloß zu stellen, ging ich dazwischen. Außerdem spielte auch ich nicht mehr mit. Das musste ich mir einfach nicht geben, denn auch wenn sie mich nicht direkt angingen, verletzten auch mich ihre homophoben Sprüche. Die Sprüche waren noch recht harmlos, ich hatte schon schlimmere gehört, doch ich fürchtete, dass sich die Jungs noch weiter steigern konnten.
Als wir in der nächsten Woche am Montag beim Mittag saßen, kamen Ayden und Kylian an unserem Tisch vorbei, griffen ohne Vorwarnung auf die Teller der Brüder, schnappten sich die Würstchen, die darauf lagen, und rissen sie in Windeseile auseinander. Völlig verwirrt saßen wir da und konnten nicht einmal reagieren, bis sich Kylian zwischen Mat und Peter herunter beugte und raunte: „Das sollte man mit euren Würstchen auch machen, ihr Wurstfetischisten.“
Ich war außer Stande, mich zu bewegen oder etwas zu sagen. Ich hatte ja schon einiges erlebt, wenn Leute herausfanden, dass man auf Jungs stand, aber noch keine körperlichen Drohungen.
Plötzlich loderte in Mats Augen Wut auf. Scheinbar war sein Fass voll. Noch bevor jemand reagieren konnte, hatte er den Kerl an den Haaren gepackt, was diesen zum Aufschreien brachte, und stopfte ihm eine große Handvoll Würste in den Mund.
Als er gerade eine zweite packen wollte, wurde er von Ayden weggerissen. Wütend spuckte er diesem ins Gesicht und schrie. „Wer kann denn hier den Mund nicht vollbekommen?“
Mat und Ayden begannen zu rangeln, während Kylian versuchte seinem unfreiwilligen Mahl Herr zu werden und es aus seinem Mund zu bekommen. Jetzt kam auch wieder Leben in Peter und mich. Peter versuchte Ayden von seinem Bruder herunter zu zerren, während ich um den Tisch lief, um ihm zu helfen.
Gemeinsam trennten wir die beiden Rangelnden noch bevor ein Betreuer bei uns war. Alle fünf wurden wir sofort auf die jeweiligen Zimmer verwiesen und mussten dort auch den Rest des Tages bleiben. Es interessierte niemanden, was passiert war. Für die Betreuer waren wir alle gleichermaßen schuld.
Am Dienstag rechnete ich fest mit einer Rache, doch es kam nichts. Sie gingen uns sogar aus dem Weg. Hatten sie verstanden, dass man Mat nicht unendlich reizen konnte? Es wäre schön gewesen, wenn die beiden etwas Ruhe bekommen hätten.
Denn Peter hatte mich in der Nacht vorsichtig geweckt und mich zaghaft gefragt, ob ich ihm wieder beim Einschlafen helfen könnte. Ich war kurz davor gewesen, ihm anzubieten, zu mir ins Bett zu kommen, aber dann riss ich mich doch zusammen und reichte ihm wieder meine Hand. Es hatte diesmal länger gedauert, aber er war eingeschlafen. Scheinbar hatte ihm der Angriff zu schaffen gemacht.
Natürlich stand das Thema Gewalt und Konfliktlösung auch auf dem Plan für die Zimmerbesprechung. Zu meinem Erstaunen stellte es Luther so hin, dass wir auf die Kylian und Ayden losgegangen wären. Zumindest wussten wir damit, an wen wir uns nicht wenden brauchten, wenn wirklich etwas passierte.
Donnerstag stand das Thema auch in der Gruppensitzung an. Hier wurde es zum Glück eher neutral besprochen. Dennoch konnte ich die bitteren Blicke der beiden auf uns spüren. Immer wieder tuschelten sie mit Malachi. Sie würden doch nichts planen, oder?
Doch es passierte nichts nach der Runde. Wie immer gingen wir zum Flaggestreichen und dann zum Abendbrot.
Ich gab Mat und Peter nach dem Essen eine Zigarette und ging dann auf dem Gelände etwas Joggen. Ich musste einfach den Kopf frei bekommen. Immer wieder machte ich mir Sorgen um die beiden, sah überall tuschelnde Leute. Es war ihre Sache, nicht meine! Ich durfte mich davon nicht fertigmachen lassen.
Und dennoch tat ich es. Ich musste immer mehr zugeben, dass mir Peter besser gefiel als ich zugeben wollte. Dass ich jetzt schon die dritte Nacht in Folge händchenhaltend mit ihm geschlafen hatte, beförderte noch das Verlangen mehr als nur seine Hand halten und spüren zu dürfen. Mir schoss das Bild vom Peters Hintern in den Kopf.
Plötzlich setzte sich eine Idee in meinem Kopf fest. Ich wusste, dass Peter und Mat die Freizeit nach dem Abendbrot noch immer gerne zum Duschen nutzten, damit sie allein waren. Mittlerweile vertrauten sie mir doch und hatten auch beim ersten Mal meine Anwesenheit toleriert. Ob ich es wagen sollte, auch duschen zu gehen, um vielleicht einen Blick riskieren zu können?
Zügig joggte ich zurück zu unserer Hütte und holte meine Sachen. Dann ging es weiter zur Duschbaracke. Schon im Gang hörte ich Stimmen. Schade, aber selbst, wenn sie nicht dort waren, tat mir eine Dusche sicher gut. Am besten eiskalt.
Ich betrat den Umkleideraum und hörte gleichzeitig jemanden in der Dusche aufschreien. Das klang verdächtig nach Mat!
Ich ließ meine Klamotten auf die Bank fallen und stürmte in den Duschraum. Sofort begriff ich das Bild, dass sich mir bot. Peter, der böse fluchte und knurrte, wurde von Blaine und Jeffery an die Wand gedrückt, während Mat auf den Knien hockte, wo er von Malachi und Ayden festgehalten wurde. Die Geschwister versuchten verzweifelt sich loszureißen, kamen aber gegen jeweils zwei Gegner nicht an. Direkt vor Mat stand zudem Kylian.
Scheinbar hatten die Fünf Mat und Peter beim Duschen überrascht, denn die Geschwister waren völlig nackt, während die anderen noch angezogen waren. Wobei, nicht ganz: Kylian hing die Hose an den Fesseln, die Unterhose in den Kniekehlen. Gerade griff er Mat in die Haare und zog daran, während er knurrte: „So, wer kann jetzt den Mund nicht voll genug bekommen?“
Augenblicklich wurde mir schlecht. Dieses verdammte Schwein! Mit zwei Schritten war ich bei ihm und schubste ihn weg. Durch die Hose konnte er sich nicht abfangen und stürzte zu Boden. Kaum war er aufgekommen, war ich schon über ihm und schlug ihm ins Gesicht. Es gab ein widerliches Knacken, als seine Nase unter meiner Faust nachgab. Schreiend hielt er sie sich.
Ich ließ von ihm ab und ging auf Malachi und Ayden zu. Letzterer ließ Mat los und schlug nach mir. Zwar traf er meinen Torso, aber ich ignorierte es und versuchte ihn zu erwischen. Ziemlich schnell waren wir in ein Gerangel verwickelt. Am Rande nahm ich wahr, dass Mat sich mit Malachi prügelte, während Peter noch immer versuchte von seinen Peinigern wegzukommen, aber wieder zurück gegen die Wand gedrückt wurde. Schmerzerfüllt schrie er auf.
Das setzte bei mir noch ein paar Reserven frei und ich konnte meinem Kontrahenten in die Magengrube schlagen. Stöhnend ließ er von mir ab. Ich machte ein paar Schritte und riss Blaine von Peter weg. Da ich im gleichen Moment von hinten erneut von Ayden attackiert wurde, blieb mir nichts anderes übrig, als einfach schnell das Knie hochzuziehen und es genau zwischen Blaines Beinen landen zu lassen. Er schrie auf und hielt sich den Schritt. Peter konnte sich nun von der Wand abdrücken und versuchte sich endgültig von Jeffery loszumachen.
Ich drehte mich um und verpasste Ayden noch einen Schlag. Diesmal traf ich ihn am Ohr. Wütend fluchte er und nahm die Beine in die Hand. Blaine folgte ihm. Ich achtete nicht mehr auf sie und packte mir Jeffery. Da er von mir abgelenkt war, gelang es Peter ihn zu treffen. Er machte sich von mir los und folgte seinen Kumpanen.
Plötzlich war es still. Ich drehte mich um und sah Mat zitternd am Boden hocken, völlig in sich zusammengesackt. Von den Angreifern war nichts mehr zu sehen. Eilig ging ich zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Alles gut? Bist du verletzt?“
Er blickte panisch auf, schlug meine Hand weg und rutschte von mir ab. Verwirrt machte ich einen Schritt hinter ihm her. Ich wollte ihm doch nur helfen! Da wurde ich von Peter unsanft weggedrängt. Er knurrte: „Fass ihn nicht an!“
Völlig hilflos sah ich mit an, wie er sich neben seinen Bruder hockte und ihn in den Arm nahm. Langsam wiegte er sich mit ihm hin und her und sprach beruhigend auf ihn ein. Nach und nach beruhigte sich Mat und das Zittern hörte auf.
Mittlerweile realisierte ich wieder, dass sie noch immer nackt waren. Ich stand auf und holte ihre Handtücher. Ich wusste nicht, wem welches gehörte, aber das war jetzt auch egal. Ich legte eines Peter um die Schulter, der mich jetzt erst wieder wahrzunehmen schien, denn er sah mich verwundert an, und gab ihm das andere für Mat in die Hand. Liebevoll begann er seinem Bruder die Haare abzutrocknen. Dabei flüsterte er: „Es ist alles gut. Wir fahren morgen nach Hause. Chris holt uns ab. Und wenn nicht, dann verschwinden wir einfach.“
„Nein!“ Nicht nur ich war verwundert über das kleine, harsche Wort aus Mats Mund. „Wir bleiben hier!“
„Wie stellst du dir das vor? Willst du die nächsten zwei Wochen nicht duschen? Du traust dich doch so schon kaum hier rein, wie soll das denn jetzt werden?“ Peters Stimme hatte einen mahnenden Ton angenommen. Dennoch trocknete er seinen Bruder noch immer vorsichtig ab.
„Toby passt auf“, gab Mat trotzig zur Antwort und schnappte seinem Bruder das Handtuch aus der Hand.
„Was?!“ Völlig verwirrt sahen wir ihn an.
„Du passt auf, dass niemand kommt, während wir duschen gehen“, präzisierte Mat, während er sich das Handtuch über die Hüften legte.
„Ehm, wer sagt, dass ich das will?“ Hatte er sie noch alle? Das konnte er doch nicht einfach bestimmen! Ich hing ja gerne mit ihnen ab, aber ich war sicher nicht ihr Bodyguard. Außerdem hielt ich es auch für sinnvoller, wenn sie nach Hause fuhren. Wer wusste schon, was sich die Jungs sonst noch ausdachten.
„Du willst doch auch, dass wir bleiben.“ Mats blaue Augen bohrten sich in meine. Fast hatte ich das Gefühl, er hätte mich durchschaut.
„Ich kann mich nach der Aktion sicher auch abholen lassen. Ich bin mir recht sicher, dass ich Kylian die Nase gebrochen habe“, versuchte ich auszuweichen. Oder hatte Terrence ihm vielleicht doch etwas verraten?
„Und ihnen den Triumph lassen, uns vergrault zu haben? Nein!“ Er befreite sich aus Peters Armen und stand auf. Mit kämpferischem Blick sah er in die Runde. Obwohl es ihm gerade noch schlecht ging, ließ dieser Blick keinen Zweifel zu, dass er es ernst meinte. „Ich gehe nicht, bevor nicht auch alle anderen gehen.“
„Ist gut“, seufzte sein Bruder. „Du bist so ein Sturkopf... Toby, würdest du wirklich auf uns aufpassen?“
„Jaja, schon gut, ich pass auf.“ Wie könnte ich denn bei diesem süßen Hundeblick „Nein“ sagen? Und dann lächelte er auch noch so unglaublich schön. Verdammt, ich war ihm erlegen. Er hätte alles von mir bekommen, wenn er nur darum gebeten hätte.
„Danke.“ War das ein wissendes Grinsen ins Mats Gesicht? Das machte mich noch irre. Ich wollte nicht, dass mich jemand durchschaute.
Auch Peter stand nun auf. Erst jetzt fiel mir auf, dass er verletzt war. „Du blutest!“
„Ist nichts weiter“, antwortete er und entzog mir hastig den Arm, nach dem ich gerade greifen wollte. Er ging mit Mat zu seinen Sachen. Sie trockneten sich fertig ab und zogen sich dann an. Ich blieb an der Tür zum Gang stehen und wartete. Mir war die Lust aufs Spannen gehörig vergangen.
Als sie gerade wieder angezogen waren, kam Derrick, der Betreuer von Aydens Zimmer, herein. Sofort begann er zu schimpfen: „Ihr schon wieder! Was ist hier los?“
„Ayden, Malachi, Kylian, Blaine und Jeffery haben Peter und mich angegriffen, als wir gerade duschen waren“, antwortete ihm Mat ohne besondere Emotionen in der Stimme.
Das... Ich biss mir auf die Zunge. Es war Mats Sache, wie viel er erzählen wollte. Ich konnte es verstehen, dass er wegließ, weshalb und wie sie angegriffen wurden. Es war nichts, was man unbedingt erzählen wollte.
„Und was machst du dann hier?“ Der Betreuer sah mich scharf an.
„Ich wollte duschen gehen und hab den Lärm gehört. Da hab ich nachgesehen. Die waren in der Überzahl, ich hab Mat und Peter nur helfen wollen.“
„Warum hast du niemanden geholt? Wir hatten das Thema doch vorhin erst.“
Ich biss mir auf die Zunge, um ihn nicht zu beleidigen. „Weil sie in der Zeit die beiden ziemlich zugerichtet hätten!“
„Kylian muss jetzt ins Krankenhaus!“, klärte er mich auf.
„Wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre, hätten Mat und Peter ins Krankenhaus gemusst! Ich finde die Rechnung deutlich besser.“
„Ihr kleinen, frechen... Geht auf euer Zimmer!“, brüllte er. Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und verschwanden eilig.
Auf dem Zimmer zog Mat einen Verband aus seinem Koffer, mit dem er Peters Arm verband. Der blutete schon gewaltig, aber er weigerte sich, damit zu einem der Betreuer zu gehen. Nicht einmal mich ließ er ihn genauer ansehen.
Nach einer Weile kam dann Luther und wir mussten alle noch einmal einzeln berichten, was passiert war. Natürlich drohte er damit, unsere Eltern von dem Vorfall zu unterrichten, aber ich wusste, dass zumindest meine Eltern mich zuerst einmal nach meiner Version fragen würden, bevor es eine Strafe gab. Und die würde bei der Aktion sicher nicht folgen. Ich fragte mich, ob Mats und Peters Vater das genauso sah. Kurz kam mir das Bild der Striemen auf ihren Rücken wieder in den Sinn.
In der Nacht wurde ich von einer Hand geweckt, die mir zaghaft durch die Haare fuhr. Ich blinzelte ein paar Mal und sah dann in Peters Richtung. Er lächelte mich an. „Danke.“
Verwirrt sah ich ihn an. „Und dafür weckst du mich?“
„Sorry. Ich konnte mal wieder nicht richtig schlafen. Ich wollte dich eigentlich nicht wecken.“
Er sah so verloren aus, wie er dort auf seinem Bett hockte, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Ich fasste mir ein Herz und wickelte mich aus meiner Decke. Soweit es ging, schob ich den Oberkörper zu ihm herüber und zog mich dann über den Abgrund auf sein Bett. Etwas verwundert sah er mich an, während ich mich neben ihn setzte und einen Arm um ihn legte. „Bist du sicher, dass es nicht besser wäre, wenn ihr nach Hause fahrt? Dich scheint das hier alles ziemlich mitzunehmen. Hast du überhaupt auch nur eine Nacht durchgeschlafen?“
„Zu Hause schlaf ich auch nicht besser“, gab er zu und zuckte mit den Schultern.
„Warum? Also, warum schläfst du so schlecht?“
„Weil ich die Schlaftabletten nicht nehme.“ Frech grinste er mich an. „Aber ich denke, das ist nicht die Antwort, die du hören möchtest... Weil ich einfach zu viel mitgemacht hab und mich das in meine Träume verfolgt.“
„Warum nimmst du dann nicht die Schlaftabletten? Sollten die nicht dabei helfen?“
„Weil dann alles andere schlimmer wird.“ Auf seinem Gesicht lag ein sarkastisches Grinsen. „Entweder ich nehme die Dinger und mir geht es nachts gut, dafür aber am Tag scheiße, oder ich nehm sie nicht und es ist umgedreht.“
„Hmm... Wenn du meinst. Sag mal: Schlägt euer Vater euch?“ Ich wusste nicht, woher diese Frage so plötzlich gekommen war. Sie war über meine Lippen gerutscht, bevor ich wirklich darüber hatte nachdenken können. Aber mir war aufgefallen, dass sie heute keine Striemen mehr gehabt hatten. „Ich meine wegen euren Rücken am ersten Tag...“
„Manchmal. Aber wir haben, am Tag bevor wir hergefahren sind, Mist gebaut. Wir haben alles versucht um nicht herkommen zu müssen. Er wusste sich einfach nicht mehr anders zu helfen.“ Peter erzählte es so trocken, als wäre es das normalste der Welt.
Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie es war, vom eigenen Vater geschlagen zu werden. So etwas gab es bei uns zu Hause nicht. „Und was war mit deinem Arm?“
„Ich hab mich, beim Versuch nicht herkommen zu müssen, verletzt.“
„Und du bist sicher, dass sich nicht mal jemand den Arm jetzt ansehen sollte? Das hat schon ziemlich stark geblutet.“ Besorgt strich ich über seinen Oberarm.
„Nein, das passt schon. Es war nicht schlimm. Das wird nicht mal eine Narbe geben.“
„Na gut. Aber wir sollten langsam schlafen. Soll ich wieder deine Hand halten? Hilft dir das beim Schlafen?“ Ich nahm den Arm von seiner Schulter und wollte mich auf den Weg in mein Bett zurück machen.
„Kannst du... Kannst du hierbleiben?“ Verlegen sah er auf seine Decke. Ich seufzte innerlich, nickte aber auch gleichzeitig. „Danke.“
Ich zog noch mein Kissen und meine Decke herüber und machte es mir dann neben ihm irgendwie bequem. Aufgrund der Enge blieb mir gar nichts anderes übrig, als meinen Arm um ihn zu legen. Zum Glück hatte jeder eine eigene Decke. Sonst hätte er vermutlich bemerkt, wie gern ich bei ihm lag. „Wenn du nicht schlafen kannst, darfst du mich jederzeit wieder wecken.“
„Danke“, murmelte er und rückte noch ein Stück zu mir. Schnell war er eingeschlafen, während ich noch mit wild pochendem Herz neben ihm lag. Doch irgendwann schlief auch ich ein. Zum Glück wachten wir morgens wieder rechtzeitig auf, sodass ich noch vor dem Wecken wieder in mein Bett kam.
Am Freitagabend saßen Peter und ich am See. Wie sonst auch trug er wieder ein langes Shirt. Ich hatte mich in den zweiten Kopfhörereingang seines Walkmans eingestöpselt. Mat war nicht dabei, da die Idioten geschlossen die Tatsachen komplett verdreht hatten und behaupteten, Mat hätte sie belästigt und sie sich nur dagegen wehren wollen, Peter und ich hätten dann völlig überreagiert.
Dafür hatte Mat den Rest der Woche Stubenarrest und musste in der Freizeit im Zimmer bleiben. Außerdem mussten wir alle bis zum Ende des Camps den Küchendienst übernehmen.
Leider hatte sich herausgestellt, dass Kylians Nase nur angebrochen war. Ich hätte ihm gegönnt, dass sie komplett hinüber war. Andererseits hätte es auch bedeuten können, dass ich das Camp verlassen musste. Es war also vielleicht ganz gut so. Dennoch hatte ich mir natürlich eine Standpauke anhören müssen, dass ich nicht auf Schwächere losgehen durfte. Schweigend hatte ich sie über mich ergehen lassen. Alles andere hätte ja auch nichts gebracht. Die Meinung der Betreuer stand fest: Mat war an der ganzen Sache Schuld.
Peter und mir hätte es nichts ausgemacht mit ihm im Zimmer zu bleiben, aber er hatte darauf bestanden, dass wir nach draußen gingen. Peter hatte mir dann erzählt, dass Mat, und auch er, eben manchmal einfach Zeit nur für sich brauchten. So lagen wir auf der Decke und sahen auf den See.
„Kannst du mir kurz helfen?“ Ich sah ihn verwirrt an. „Mir ist warm, aber ich komm wegen dem Verband so schlecht aus dem Shirt. Kannst du mir helfen?“
„Klar.“ Ich hoffte einfach, dass meine Stimme nicht belegt klang. Wie zog man als Hetero einem anderen Jungen das Shirt aus? Vermutlich gar nicht. Also griff ich einfach an den Saum seines Shirts und zog es vorsichtig über seinen Kopf, immer darauf bedacht ihn nicht zu berühren.
„Danke.“ Ich nickte nur knapp und legte mich wieder hin. Um ihn nicht anzustarren, schloss ich die Augen. Doch es änderte nichts an meiner Vorstellungskraft. Eilig stand ich auf, sagte ihm, dass ich schwimmen ging und stürzte mich dann in die kalten Fluten.
Nach dem Schwimmen holten wir unsere Sachen und Mat, um nachzusehen, wie voll die Duschen waren. Doch schon auf dem Gang hörten wir, dass die Dusche nicht leer war. Mat blieb stehen, verabschiedete sich von uns und ging wieder zurück zur Hütte. Fragend sah ich Peter an.
„Ich würde trotzdem gern gehen“, antwortete er. „Du müsstest mir dann nur nochmal etwas helfen.“
„Wobei denn? Wieder nur das Shirt?“ Er schüttelte den Kopf. Oh Gott, ich hoffte, dass er keine Hilfe beim Einseifen brauchte. Das würde ich sicher nicht hinbekommen, ohne ihn unkeusch zu berühren. Quälte er mich eigentlich absichtlich? Nein, der Gedanke war absurd.
„Du müsstest mir mit der Tüte helfen. Alles andere geht schon.“ Ich nickte. Das würde ich wohl hinbekommen.
Gemeinsam betraten wir also den Umkleideraum. Ich half Peter zum zweiten Mal aus dem Shirt und zog ihm dann eine Tüte über den Arm, nachdem er sich selbst fertig ausgezogen hatte. Dabei kam ich gar nicht umhin, mir den Arm genauer anzusehen. Die Innenseite zeigte viele kleine Narben. Zu den Venen hin wurden es mehr. Einige waren schon sehr verblasst, andere waren noch recht gut zu sehen, jedoch schien keine mehr im Heilungsstadium zu sein, sie waren also alle schon älter. Die einzige halbwegs frische Wunde war eine Schnittwunde am Unterarm, die leicht unter dem Verband hervorschaute. Vermutlich war es die vom Anfang des Camps. Verlegen sah Peter weg, während ich die Tüte mit einem Gummi wasserdicht befestigte.
Hinter ihm betrat ich die Dusche. Es waren nur zwei Jungen hier, die aber so gut wie fertig zu sein schienen. Während Peter neben mir duschte, konnte ich mir den ein oder anderen Blick nicht verkneifen, wobei ich mir verbat, tiefer als bis zum Bauchnabel zu schauen. Ich stand darauf, wie sich die Muskeln bei jeder seiner Bewegungen unter seiner Haut abzeichneten. Es passte so gut zu dieser fast schon zierlichen, aber gleichzeitig auch ausdrucksstarken Person. Seine Muskeln waren nicht auffällig, aber dennoch präsent. Wenn man sie einmal bemerkt hatte, waren sie nicht mehr zu übersehen. Außerdem entdeckte ich auch eine größere, längliche Narbe auf seiner rechten Schulter.
Zum Glück schien Peter meine Blicke nicht zu bemerken. In aller Ruhe duschte er sich und wusch sich danach die Haare. Leise fluchte er, als sich dabei der Zopf aus seinen Haaren löste und in den Abfluss geschwemmt wurde. Doch er hielt sich nicht lange mit dem Vorfall auf, sondern sah zu, dass er fertig wurde. Wie schon vorher half ich ihm auch dabei, sich das Shirt wieder anzuziehen und wir machten uns gemeinsam auf den Weg zurück zum Zimmer.
„Na, musstest du der Schwuchtel beim Duschen helfen?“, kam es von Blaine, als wir ins Zimmer traten. Ich ignorierte ihn einfach, genauso wie Peter auch.
Dieser ging direkt an seine Waschtasche und holte ein neues Haargummi heraus, welches er seinem Bruder vor die Nase hielt, der wie so häufig auf dem Bett lag, die Kopfhörer über den Ohren hatte und las. „Kannst du mir die Haare eben neu flechten? Der Gummi ist rausgefallen.“
„Kann nicht“, antwortete der Gefragte und hob dabei seine bandagierte Hand. Auch er war am Vortag etwas verletzt worden. Er hatte sich sowohl die Handfläche großflächig aufgeschrammt, als auch die Knie. Ich war wohl mit den paar Kratzern am Hals von Aydens hinterhältigem Angriff noch am glimpflichsten davongekommen. „Frag doch den Großen.“
Mit bittenden Augen sah Peter zu mir. Seufzend sprang ich von der Leiter. Ich hatte mich eigentlich auch hinlegen und etwas lesen wollen, aber dazu würde ich wohl erst später kommen. Mat rutschte etwas an die Wand und bot mir damit an mich zu setzen. Gerne nahm ich das Angebot an und ließ mir von Peter das Haargummi reichen. „Hast du ein Glück, dass ich ’ne kleine Schwester hab.“
Er grinste, während er sich zwischen meine Beine auf den Boden setzte. Da meinte Blaine noch einen seiner dummen Kommentare bringen zu müssen: „Na, spielst du jetzt auch mit Schwänzchen?“
Peter wollte aufspringen, doch ich drückte ihn an der Schulter auf den Boden. Kalt blickte ich den Jungen an. „Weißt du, ich hab kein Problem damit, dir auch die Nase zu brechen.“
Sein Mund klappte auf und er sah mich perplex an. Ja, ich konnte auch anders. Nur meistens sah ich keinen Grund dazu. Ich wusste, dass meine Statur Eindruck machte, wenn ich drohte. Daran änderte auch die Zahnspange nichts. Bleich geworden sah er weg.
Ich konzentrierte mich wieder auf den Nacken vor mir und sammelte die längeren Haare des Rattenschwanzes in meiner Hand. Als ich über seinen Nacken strich, um ein paar feinere Haare zu fassen zu bekommen, bildete sich eine Gänsehaut und Peter zog schaudernd die Schultern an. Oh, da war wohl jemand empfindlich. Wie er wohl reagieren würde, wenn man ihm leicht in den Nacken pustete oder ihn dort küsste?
Bevor ich auf die blöde Idee kam, das auszuprobieren, verdrängte ich den Gedanken. Dennoch konnte ich nicht widerstehen noch einmal hauchzart über die Haut zu streicheln. Die weiche Haut fühlte sich gut an. Wieder zog er die Schultern an und ich vernahm einen schmunzelnden Laut von Mat. Ihn hatte ich völlig vergessen. Hoffentlich hatte er nicht bemerkt, dass das zweite Mal völlig unnötig gewesen war.
Eilig flocht ich die noch leicht feuchten Haare zu einem Zopf. Mit einem leichten Klopfen auf die Schulter gab ich Peter das Zeichen, dass er aufstehen konnte. Zu gern hätte ich ihn noch eine Weile dort sitzen gehabt und seine weiche Haut gestreichelt. Aber das war völliger Unsinn.
Da ich ja versprochen hatte auf die beiden beim Duschen aufzupassen, kam ich nun auch häufiger dazu, Peter dabei beobachten zu können. Mit jedem Mal fiel es mir schwerer ihn nicht zu berühren oder zu deutlich zu zeigen, was der Anblick in mir auslöste. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Nachdem ich mit den beiden unsere Abendzigarette geraucht hatte, ging ich in den Wald, um zu joggen.
Ein ganzes Stück tiefer hinein ließ ich mich gegen einen Baum sinken und versuchte die Anspannung loszuwerden. Da es mir schwer fiel, mich in der Umgebung zu entspannen, schloss ich die Augen und dachte daran, wie es wohl wäre, wenn Peter mir dabei half. Mit seinem Namen auf meinen Lippen löste sich dann auch irgendwann endlich die Anspannung. Noch einen Moment ließ ich die Augen geschlossen.
Als ich sie dann wieder öffnete, glaubte ich einen Moment, eingeschlafen zu sein und zu träumen. Denn er stand vor mir und sah mich mit neugierig schiefgelegtem Kopf an.
Noch bevor ich die Situation richtig begreifen konnte, erklärte Peter: „Sorry, wollte dich nicht stören... Ich hab dich gesucht. Du bist spät dran, wir müssen gleich rein.“
Wie lange stand er schon da? Was ich hier getan hatte, war wohl kaum zu übersehen, immerhin hatte ich noch immer meine Hand in der Jogginghose. Aber hatte er auch mitbekommen, an wen ich dabei gedacht hatte? Vermutlich nicht, sonst hätte er wohl nicht mehr dort gestanden und ruhig auf mich gewartet. Oder war gerade das ein Zeichen? Vielleicht stand er ja auch auf mich und wollte mehr sehen?
Sofort verwarf ich den Gedanken wieder. Er war einfach nur albern. Für den Fall, dass die anderen recht hatten und er und sein Bruder auf Jungs standen, hätte er dann auch immer noch auf mich stehen müssen. Sofern sie nicht sowieso ein Paar waren. Nein, er hatte sicher nichts gehört. „Ich komm gleich. Ich geh nur noch eben duschen.“
„Bis gleich.“ Ein kurzes Schmunzeln zeigte sich auf Peters Lippen und nach einem Nicken entfernte er sich.
Erst da wurde mir bewusst, was ich gerade gesagt hatte. Warum hatte er mich auch finden müssen? Der Wald war doch nun wirklich groß genug. Selbst das Stück, das auf dem Gelände lag. Wie sollte ich ihm denn jetzt noch in die Augen sehen?
Langsam lief ich zur Hütte zurück und zerbrach mir den Kopf, wie ich die letzten knapp eineinhalb Wochen überstehen sollte nach der Aktion. Vielleicht hätte Terrence einen Tipp für mich, wenn er am Wochenende wieder mit zu Besuch kam. Ich betete darum.
In der Nacht wurde ich durch Peters unruhiges Wälzen und Atmen wach. Noch im Halbschlaf griff ich automatisch nach ihm, um ihn durch ein paar Streicheleinheiten zu beruhigen. In den letzten Wochen hatte ich gemerkt, dass das häufig schon reichte, damit er ruhiger weiterschlief.
Kaum hatten meine Finger seinen Schopf berührt, um ihn zu kraulen, wurde er auch schon ruhig. Das ging ja diesmal schnell... Augenblicklich war ich wach. Nein, das war zu schnell gewesen. Und er klang auch nicht, als würde er schlafen. Dafür ging sein Atem zu schwer. Hastig zog ich meine Hand wieder zurück. Verlegen stotterte ich: „Tut... Tut mir leid... Ich... Ich dachte du... du hättest wieder einen Alptraum... Ich... Ich hab noch halb geschlafen... Sorry.“
Oh Gott, war das peinlich. Sogar fast noch peinlicher als selbst dabei erwischt zu werden. Immerhin war ich schon fertig gewesen. Wie konnte er das auch hier im Zimmer tun? Gut, er war nicht der erste, ich hatte auch einige der anderen schon dabei gehört, aber er wusste doch, dass ich einen leichten Schlaf hatte!
„Sorry. Ich wollte dich nicht wecken. Ich hab nicht gedacht, dass du so schnell aufwachst.“ Peters vor Erregung raue Stimme jagte mir Schauer über den Rücken. Wie es wohl klang, wenn er mit dieser Stimme meinen Namen raunte? Ich schluckte, um den Gedanken abzuschütteln. Leise lachte er auf. „Ich würde sagen, damit sind wir dann wohl quitt.“
Zustimmend grummelte ich und murmelte dann ein „Schlaf gut“, bevor ich mich unter der Decke verkroch. Mein Gesicht glühte. Ich hörte noch, wie er es erwiderte, dann war es völlig still im Raum. Auch wenn ich eigentlich versuchte, nicht zu lauschen, horchte ich dennoch automatisch, ob er weitermachte.
Doch ich hörte nichts mehr in der Richtung. Langsam fielen mir die Augen zu.
Natürlich träumte ich in dieser Nacht von ihm. Wie hätte es nach den Ereignissen des Tages auch anders sein sollen? Immerhin hatte er mich mit meiner Hand in der Hose im Wald erwischt und ich ihm durch die Haare gekrault, als er sich gerade Erleichterung verschafft hatte. Ob es wohl wirklich so etwas wie Rache gewesen war?
Schon der Gedanke, er könnte dabei in irgendeiner Form an mich gedacht haben, machte mich wieder ganz konfus. Es wurde wirklich Zeit, dass das Camp zu Ende ging und ich ihn vergessen konnte. Oder zumindest am Wochenende Terrence zum Reden kam. Denn so ganz war ich mir nicht mehr sicher, dass ich Peter wirklich vergessen wollte.
Zu meiner Freude saß Terrence am Samstag tatsächlich wieder mit meinen Eltern am Tisch und grinste zu mir herüber, als ich mit Mat und Peter den Speisesaal betrat. Ich lehnte mich zu den beiden herüber: „Wollt ihr dann mit euren Eltern zu uns kommen?“
„Klar, gern.“ Mit suchenden Blicken gingen sie weiter in den Raum hinein, während ich mich zu meiner Familie setzte.
„Und?“ Terrence grinste mich hämisch an, kaum, dass ich alle gegrüßt und mich gesetzt hatte.
Es war schon ziemlich klar, was er mir damit sagen wollte. "Nichts, und sie kommen gleich mit ihrer Familie rüber, okay? Könntet ihr die Andeutungen dann bitte lassen?"
„Du bist also immer noch nicht weiter?“, fragte Terrence unnötigerweise weiter nach. Meine Familie sah mich ebenso neugierig an. Natürlich, sie hofften auch, dass ich irgendwann mal einen Freund finden würde. Gut, dass wir fünf allein am Tisch saßen und uns durch die Umgebungslautstärke niemand hören konnte.
„Nein, und ich weiß immer noch nicht, ob ich das will.“ Vorsichtshalber sah ich mich nach den beiden um, bevor ich antwortete. Sie standen bei dem Mann, der sie auch zum Bus gebracht hatte, und unterhielten sich mit ihm. Peter berichtete etwas, woraufhin der Mann grinste und sie sich dann zu dritt auf den Weg in unsere Richtung machten. In Terrence’ Richtung schob ich hinterher: „Ich muss dir aber unbedingt nachher noch ein paar Sachen erzählen. Allein.“
Sie kamen bei uns an und begrüßten alle. Ihr Vater stellte sich uns als Chris Allen vor, bot uns aber an, ihn beim Vornamen zu nennen. Einen Moment stutzte ich beim Nachnamen. Das hieß ja, dass nicht nur beide Brüder unterschiedliche Namen trugen, sondern auch ihr Vater einen anderen. Denn sonst hätte mindestens einer von ihnen vor mir aus dem Bus aussteigen müssen. Die Familie wurde wieder ein Stück seltsamer.
Gemeinsam aßen wir unser Frühstück und hielten Smalltalk. Chris schien tatsächlich nicht sonderlich gesprächig zu sein. Dadurch konnte ich ihn nicht wirklich einschätzen. Er machte einen sehr sympathischen Eindruck, zumal er sehr alternativ gekleidet war, aber das wissen, dass er seine Söhne geschlagen hatte, wollte mir einfach nicht aus dem Kopf.
Außerdem schien er zu Peter ein besseres Verhältnis zu haben als zu dessen Bruder. Während er mit Peter ab und zu scherzte, lächelte Mat, wenn überhaupt, nur verhalten darüber. Meine Eltern schienen den Mann aber sehr gut leiden zu können. Daher luden sie ihn und seine Söhne auch ein, mit uns zusammen in die Stadt und den Zoo zu fahren. Gerne nahmen die drei das Angebot an.
Aber erstmal standen wieder Gruppenspiele auf dem Plan. Doch schon auf dem Weg zum großen Versammlungsplatz kam Luther auf uns zu. „Guten Tag, Mr. und Mrs. Blanchett. Dürfte ich Sie kurz stören? Ich würde gerne noch einmal mit Ihnen und Ihrem Sohn über den Vorfall vorletzte Woche reden.“
„Natürlich. Terrence, kannst du etwas auf Lena aufpassen?“ Mein bester Freund nickte und nahm sie an der Hand, um mit ihr zum Platz zu gehen.
Währenddessen fiel Luthers abschätzender Blick auf Mat und Peter, sowie ihren Vater. „Und zu wem gehören Sie, Mr. ...?“
„Allen. Ich bin der Vater von Peter und Mat“, stellte er sich vor und reichte dem Betreuer die Hand. Dabei schien er sich überhaupt nicht an dem Blick des Mannes vor sich zu stören.
„Ah, das trifft sich gut, mit Ihnen müssten wir ebenfalls reden. Würden Sie und Ihre Söhne bitte auch mitkommen?“ Chris sah einmal fragend zu seinen Söhnen und legte ihnen dann die Hände auf die Schultern und führte sie hinter uns her.
Wir gingen in den Gemeinschaftsraum unserer Gruppe, wo bereits einige Erwachsene, die fünf Angreifer, sowie die Betreuer Hank und Derrick warteten. Die Erwachsenen wurden einander vorgestellt. So wie es aussah, waren lediglich Kylians und Aydens Eltern nicht beim Gespräch dabei.
Luther begann das Gespräch einzuführen. „Wir haben Sie alle noch einmal zum Gespräch gebeten, um gemeinsam über das Vorkommnis am vorletzten Donnerstag zu sprechen. Da wir Sie ja alle über die Vorkommnisse informiert haben, möchte ich sie hier nur noch einmal zusammenfassen: Ayden, Malachi, Blaine, Jeffery und Kylian behaupten, Mat hätte sie bedrängt und belästigt, nachdem er mit Peter die Dusche betreten hat. Er hätte gegenüber seinem Bruder anzügliche Bemerkungen über die anderen Jungen gemacht und dabei deutlich Interesse an ihnen geäußert. Mr. Allen, lassen Sie mich bitte ausreden! Die Jungen hätten ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er das sein lassen sollte. Als dies nicht geschah, hätten sie sich dann körperlich gegen die Angriffe gewehrt. Dann sei Toby dazu gekommen und habe direkt Partei für Mat und Peter ergriffen. Dabei hat er nicht nur Kylian fast die Nase gebrochen, sondern auch Blaine in die Weichteile getreten. So viel zu den Vorwürfen. Wir möchten Ihnen als Eltern und Ihren Kindern noch einmal die Möglichkeit geben, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Mr. Allen, wollen Sie anfangen? Immerhin wollten Sie mich schon unterbrechen und Mat war der Auslöser des Streits.“
„Ich weiß ja nicht, was die Jungen da gehört haben wollen, aber Mat hat sicher keine anzüglichen Bemerkungen über sie gemacht.“ Chris klang bei der Aussage sehr sicher. Gut, das machte ihn deutlich sympathischer, wenn er so hinter seinen Kindern stand. „Vielmehr habe ich gehört, dass es ein paar Tage vorher schon mal einen Vorfall gegeben haben soll, bei dem er und Peter bedroht wurden.“
„Ich nehme an, Sie sprechen von dem Vorfall beim Essen drei Tage zuvor?“ Chris nickte. „Dabei handelte es sich lediglich um eine Auseinandersetzung zwischen Ayden, Mat, Peter, Toby und Kylian wegen des Essens, die mit dem anderen Vorfall nichts zu tun hat.“
„Komisch nur, dass ausgerechnet die zwei Jungen, die meinen Söhnen drei Tage zuvor angedroht hatten, ihnen ihre Weichteile zu zerstören, wie sie es vorher an den Würsten des Mittags demonstriert hatten, auf einmal Opfer von Belästigungen geworden sein sollen.“ Wenigstens davon schienen Mat und Peter ihrem Vater erzählt zu haben, das war doch schon mal gut.
Meine Eltern sahen mich fragend an. Natürlich, ich hatte ihnen nichts von der Sache mit dem Essen gesagt. Mir war es nach den ganzen anderen Sachen einfach entfallen. Mit einem Schulterzucken deutete ich ihnen an, dass nichts weiter passiert war. Sie wussten, dass ich es ihnen später genauer erklären würde.
Kylian riss das Wort an sich: „Die Schwuchtel hat mir seine Würstchen in den Mund gestopft und gesagt, ich könnte den Mund nicht voll genug bekommen von Schwänzen!“
„Du hast die Würste doch vorher als solche bezeichnet, nicht ich“, war Mats trockene Antwort darauf. „Aber was man anfasst, dass muss man auch essen. Ich wollte dir nur dabei helfen.“
„Sehen sie, das Problem ist nicht, ob ihr Sohn einen der Jungen direkt belästigt hat, sondern dass Mat und Peter sehr offensiv mit ihrer Sexualität umgehen. Davon fühlen sich die anderen Jungs verständlicherweise bedroht“, mischte sich Hank ein. Chris lachte ungläubig.
Jetzt konnte ich nicht mehr an mich halten. „Wo sind die beiden bitte offensiv? Die anderen behaupten doch immer, dass sie schwul sind. Die beiden haben nie etwas in die Richtung von sich gegeben.“
„Aber sie haben sich geküsst! Und es nie abgestritten“, machte Blaine zum ersten Mal auf sich aufmerksam. „Wenn sie es nicht wären, dann hätten sie es abgestritten!“
Chris sah die beiden Brüder kritisch an. Das schien Peter dazu zu veranlassen, sich zu rechtfertigen. Er sah seinen Vater an, während er berichtete: „Malachi hat beim Flaschendrehen Mat ärgern wollen und gesagt, dass derjenige, auf den die Flasche zeigt, ihn mit Zunge küssen muss. Ich hab nur die Flasche angehalten, bevor es komplett eskaliert. Nur weil die zu feige sind, dazu zu stehen, dass sie mal mit ’nem Jungen knutschen wollen, müssen sie das nicht an Mat auslassen!“
„Wer will denn diesen widerlichen, kleinen Schwanzlutscher schon küssen?“, gab ausgerechnet Kylian von sich.
Das schien Mat genauso zu sehen, denn man konnte sehen, wie ihm der Kragen platzte. Dann brüllte er den Jungen an: „Wer wollte denn den Schwanz gelutscht bekommen und konnte ein ‚Nein‘ nicht akzeptieren? Stattdessen musstest du mit deinen Freunden wiederkommen. Wie armselig muss man sein, nicht dazu stehen zu können und sich stattdessen lieber an Schwächeren zu vergreifen?“
Alle sahen geschockt zu Kylian, der erbleicht war, da er wohl nicht damit gerechnet hatte, dass Mat verraten würde, was passiert war. Und seine Freunde wussten wohl nichts vom ersten Versuch. Genauso wie ich und wohl auch Peter, der seinen Bruder verwundert ansah und ihn dann in den Arm nahm, da er wieder zu zittern begann.
Der Vater der beiden sah sie eher fragend an, genauso wie meine Eltern mich. Doch ich konnte mich gerade gar nicht darauf konzentrieren, denn irgendwie hatte mich Mats Aussage getroffen.
Nach einem Moment schockierter Stille brach es aus Kylian heraus: „Was fällt dir ein, hier so ’nen Mist zu erzählen? Das hast du dir doch alles ausgedacht!“
„Hat er nicht!“, zischte Peter zwischen den beruhigenden Worten, die er an seinen Bruder gerichtet hatte.
Wütend zeterte Kylian zurück: „Du bist doch...“
„Jetzt ist hier mal Ruhe!“, brüllte Hank in den Raum. Und sofort herrschte auch Stille. „Toby, du bist erst später dazu gekommen und am Unparteiischten. Wie war die Situation, als du dazu gekommen bist?“
Etwas verwundert sah ich auf und dann fragend zu Peter. Der nickte mir nur kurz zu. Das hieß wohl, dass ich erzählen sollte, was wirklich passiert war. „Ich hab Mat und Peter gesucht. Schon im Gang hab ich gehört, dass sie sich mit jemandem gestritten haben, was etwas komisch war, da sie sonst eigentlich nur allein duschen gehen. Also hab ich nachgesehen. Jeffery und Blaine haben Peter an der Wand festgehalten, Malachi und Ayden haben Mat auf den Knien auf den Boden gedrückt. Bis auf Peter und Mat waren alle angezogen. Kylian hat vor Mat gestanden mit heruntergelassener Ho...“
„Das ist nicht fair! Der will den beiden doch an den Ar...“
„Kylian, du hast gerade Sendepause! Sonst gehst du raus“, unterbrach ihn Derrick. „Wenn das wirklich stimmt, was ihr da gerade erzählt, warum habt ihr dann zuerst etwas anderes behauptet?“
Nun mischte sich auch meine Mum ein: „Fragen sie das gerade ernsthaft? Natürlich ist es einem jungen Mann peinlich, wenn jemand versucht ihm so etwas anzutun.“
„Nein, ich versteh das schon, aber wir können ihnen das jetzt deutlich weniger glauben, als wenn sie es gleich erzählt hätten. Was sagt ihr vier denn dazu?“, wendete sich Derrick an die anderen vier Angreifer.
Malachi, Jeffery und Blaine waren unter den Augen ihrer Eltern zusammengesackt und sahen zu Boden. Lediglich Ayden sah uns hasserfüllt an, bevor er behauptete: „Die lügen doch alle drei! Als würde jemand...“
„Es stimmt, was sie erzählen“, gab Malachi leise zu. „Eigentlich wollte ich mich nur an den beiden rächen, weil Peter mich blöd dastehen lassen hat beim Flaschendrehen. Ich wusste nicht, dass es dann so eskaliert. Am Donnerstag meinte Kylian dann, dass wir die beiden mal aufreiben sollten, weil sie uns ständig auflaufen lassen. Natürlich war ich dabei. Ich wusste nicht, dass Kylian so etwas vorhatte. Ich dachte, wir verprügeln sie etwas und das war’s.“
„Toby hat gesagt, du hast Mat festgehalten?“, fragte ihn seine Mutter.
Reumütig nickte er. „Als ich verstanden hab, was Kylian vorhat, konnte ich nicht mehr kneifen.“
Auch Jeffery und Blaine bestätigten, was passiert war, nachdem ihre Eltern noch einmal streng nachgefragt hatten. Malachi war der erste der drei, der danach einfach aufstand, zu Mat ging und ihm die Hand hinhielt. „Ich weiß, dass es das nicht wieder gut macht, aber: Tut mir leid.“
Mat nahm ohne etwas zu erwidern zuerst Malachis, dann die Hände der anderen beiden. Ich hätte an seiner Stelle vermutlich auch nicht gewusst, was ich dazu sagen sollte. Dann trat Derrick zu uns. „Mr. Allen, wenn Sie möchten, können wir die Polizei rufen, damit Sie Anzeige erstatten können.“
„Das muss Mat entscheiden, ob er das will.“ Dieser schüttelte jedoch einfach nur den Kopf. „Dann nicht.“
„Mat, du weißt aber schon, was da mit dir passiert ist, oder? Das war nicht einfach...“, versuchte der Betreuer ihn aufzuklären, wurde jedoch harsch von ihm unterbrochen.
„Ja, ich weiß, was er versucht hat, war ja nicht das erste Mal, dass es jemand versucht. Und nein, ich will ihn nicht anzeigen, bringt ja eh nichts. Außerdem hat der doch ganz andere Probleme, mit denen er erst mal klarkommen muss.“ Mit den Worten stand er auf und verließ gemeinsam mit seinem Bruder den Raum.
Verdutzt sah ich ihm nach. Das war doch jetzt nicht wirklich sein Ernst gewesen, oder? Verdammt, was stimmte nur mit diesem Jungen nicht?
„Wir können dann auch gehen?“, fragte mein Vater.
„Ja, natürlich“, bestätigte Luther. Ich verließ gemeinsam mit meinen Eltern und Chris den Raum.
Kaum waren wir im Gang, fasste mich mein Vater an der Schulter und zwang mich ihn anzusehen. „Toby, es ist ja löblich, dass du deinen Freunden helfen willst, aber du darfst deswegen nicht lügen und auch niemandem die Nase brechen!“
„Tut mir leid.“ Ich versuchte möglichst reumütig zu klingen, obwohl es mir nicht im geringsten leid tat. „Ich hab einfach nicht mehr nachgedacht, sondern nur zugehauen. Und Mat wollte nicht, dass es jemand erfährt.“
„So was kommt nie wieder vor, hast du verstanden?“ Ich nickte. Damit gaben sich meine Eltern dann auch zum Glück zufrieden.
Vor dem Gebäude stellten wir fest, dass Mat und Peter nirgendwo zu sehen waren. Chris stöhnte genervt. „Toby, weißt du, wo die beiden hingehen, wenn sie allein sein wollen?“
„Klar. Entweder aufs Zimmer zum Musikhören oder in den Wald“, antwortete ich sofort.
Wieder stöhnte er genervt. „Schön, dann such ich eben den Wald nach ihnen ab.“
„Ehm... Ich weiß, wo sie im Wald sind.“
Mit großen Augen sah er mich an. „Oh... Kannst du mich hinbringen?“
Ich nickte, worauf meine Eltern sich wieder an mich wandten. „Wir gehen schon mal zurück, wir wollen ja Terrence nicht zu lange als Babysitter hinhalten. Bis gleich.“
„Und du bist dir sicher, dass du weißt, wo sie sind?“, fragte Chris noch einmal, als wir losliefen.
„Ja. Wir sind häufig zusammen dort. Und wenn sie allein sein wollen, dann sagen sie das einfach, dann geh ich schwimmen oder joggen.“
Skeptisch betrachtete mich der ältere Herr. „Du bist ihnen wirklich ein guter Freund geworden, oder?“
Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste nicht, ob ich es als guten Freund bezeichnen würde, aber Freunde waren wir auf jeden Fall. „Keine Ahnung. Vielleicht.“
„Magst du uns mal in Boston besuchen kommen, wenn deine Eltern das erlauben?“, bot er an.
Diesmal war es an mir, ihn skeptisch anzusehen. Wäre es nicht normalerweise an den Brüdern gewesen, mich einzuladen? „Ich weiß nicht, ob Mat und Peter das wollen.“
Leise lachte der Mann. „Glaub mir, wenn du weißt, wo sie sich verstecken, dann haben sie dich wirklich gern. Nicht mal ich weiß, wo sie hingehen, wenn sie allein sein wollen. Und außer mir haben sie nicht wirklich jemanden.“
„Oh.“ Irgendwie klang das traurig. Aber hatte Peter nicht etwas von weiteren Geschwistern erzählt? Was war denn mit denen? Und mit ihrer Mutter?
Doch mir blieb keine Zeit danach zu fragen, denn wir hatten die Stelle fast erreicht und ich konnte die beiden durch das Blattwerk schon erahnen. Vorsichtshalber kündigte ich uns an. „Hey, euer Dad hat euch gesucht.“
„Hallo, Chris.“ Die beiden saßen am Boden und Peter hatte seinen älteren Bruder mal wieder im Arm, was immer noch sehr grotesk wirkte. Jetzt wusste ich auch wieder, woher der Gedanke gekommen war, die beiden könnten ein Paar sein.
Peter sah zu seinem Vater auf und fragte: „Hast du was für uns?“
„Ist das jetzt dein Ernst?“, fragte der zurück.
„Ja! Falls du es nicht gemerkt hast: Mat ist völlig am Ende und mir geht es auch nicht wirklich gut“, antwortete der Jüngere.
„Die lassen uns hier nicht mal rauchen! Die haben uns alles abgenommen“, empörte sich Mat mal wieder.
„Dafür habt ihr euch aber echt gut gehalten“, war die überraschte Antwort des Vaters. Peter deutete über die Schulter hinweg zu mir, der ich gerade meine Zigaretten aus der Tasche fummelte.
Resigniert seufzend sah der Vater auf die Packung in meiner Hand und zog dann ebenfalls eine Packung hervor, die er öffnete und Peter und Mat etwas daraus gab. Das sah eindeutig nicht nach Kippen aus. „Euch ist schon klar, was passiert, wenn Mrs. Estrada rausfindet, dass ich euch den Mist rauchen lasse, oder? Du auch?“
Skeptisch sah ich auf das Angebotene und schüttelte den Kopf. Nein, ich hatte wirklich nicht vorgehabt Joints auszuprobieren. Krass, dass ihr Vater ihnen einfach so welche gab. Mat nahm ihm das Feuerzeug ab und zündete sich seinen an, bevor er auch seinem Bruder Feuer gab. Beide nahmen einen Zug, bevor Mat antwortete: „Die hat doch keine Ahnung, die alte Schnepfe. Was glaubt die denn? Dass wir einfach so, plötzlich mit allem aufhören können? Selbst mit dem Zeug ist es schon übel genug.“
„Jaja, ich weiß. Aber ihr solltet wirklich versuchen, damit aufzuhören.“ Chris zündete sich selbst eine Zigarette an und gab jedem von ihnen eine verschweißte Packung. „Also Mat, was sollte das?“
Mat seufzte genervt und zuckte mit den Schultern. „Ich hab keine Lust auf die Bullen und denen das erzählen zu müssen. Außerdem: Ich hätte es ja einfach machen können, als er gefragt hat und dann wäre es gut gewesen. Selbst schuld.“
Irritiert sah ich Mat an. Bitte? Er hätte Kylian auch einfach so... Meine Gedanken wurden unterbrochen, als Chris plötzlich auf Mat zuging und ihm kräftig eine Ohrfeige verpasste. „Noch einmal und es setzt richtig einen!“
„Aua! Ich hab’s doch nicht gemacht!“, antwortete Mat trotzig.
„Es geht nicht darum, ob du’s gemacht hast, sondern dass du darüber nachdenkst, es zu tun.“ Wow, war ihr Vater so homophob? „Wie kam es überhaupt dazu?“
„Im Gegensatz zu Peter hab ich einfach nichts zu erzählen, wenn es um Mädchen geht. Und ich wollte meine Ruhe haben, es sind einfach zu viele Menschen. Immer! Die ganze Zeit! Irgendwann fingen die dann mit dem Schwuchtelkram an. Was soll ich denn sagen? Oh, ja, stimmt, ich steh auf Männer? Seid ihr jetzt so nett und hört auf? Oder soll ich ihnen lieber was von irgendwelchen Frauen vorheucheln, die ich angeblich gehabt hätte? Und dann auch irgendwann anfangen mich an Schwächeren zu vergreifen?“ Schon wieder machte Mat mir mit seiner Aussage ein schlechtes Gewissen. Aber immerhin hatte ich mich nicht getäuscht, was seine Homosexualität anging. Nur wohl leider bei Peter. Schade.
Doch Chris milderte das schlechte Gewissen wieder ab. „Mat, es ist ein Unterschied, ob du dir und anderen dein ganzes Leben lang versuchst einzureden, dass du auf Frauen stehst, und dich dann an irgendwem vergreifst, oder ob du für ein paar Wochen mal einfach das Spiel mitspielst, damit es nicht schon wieder Stress gibt. Jungs, ihr wisst doch, dass noch immer nicht alles geklärt ist und jedes Mal, wenn es Ärger gibt, wird es wackeliger.“
„Sorry. Aber ich kann das einfach nicht“, entschuldigte sich Mat direkt und klang dabei fast verzweifelt.
„Schon gut. Wollt ihr heimfahren?“ Chris fuhr seinem älteren Sohn kurz tröstend durch die Haare. Gut, er schien doch kein Problem mit Mats Vorlieben zu haben. Das beruhigte mich. Immerhin wurde er dann dafür nicht geschlagen.
Die beiden Brüder sahen kurz sich gegenseitig an, dann ging ihr Blick zu mir. Peter lächelte mich an, bevor er antwortete. „Nein, die Woche halten wir schon noch aus.“
Chris’ Blick war ihrem gefolgt und auch er lächelte. „Keine Sorge, ich hab Toby schon zu uns eingeladen. Aber schön, dass ihr bleiben wollt. Euch scheint es doch ganz gutzutun, mal mit anderen zu tun zu haben. Besonders du siehst ziemlich erholt aus, Peter. Gehen wir zurück?“
Wir nickten alle und löschten die Glimmstängel, bevor wir uns in Bewegung setzten. Peter warf mir einen kurzen Blick von der Seite zu, bevor er leise antwortete: „Ich schlaf die letzten Wochen einfach recht gut.“
„Oh, na wenn es hilft, kann ich auch jede Nacht mit dir Händchen halten, kein Problem“, feixte Mat und grinste mich an. Er hatte das mitbekommen? Ich spürte, wie ich rot wurde und sah verlegen zu Boden. Ja, das war sicher unauffällig, damit niemand mitbekam, dass ich auf Peter stand. Aber Mat setzte noch einen drauf: „Aber ich schlaf nicht bei dir im Bett, das kannst du vergessen! Du machst dich immer fett und fängst an zu kuscheln!“
„Du bist ’n Arsch!“ Peter schlug seinem Bruder gegen die Schulter, der darauf zurückschlug, aber verfehlte. Beide kabbelten sich lachend etwas, während wir uns dem Waldrand näherten.
Nachdem wir die Gemeinschaftsspiele hinter uns gebracht hatten, saßen wir auch beim Mittag wieder alle zusammen an einem Tisch. Wir redeten alle durcheinander, das meiste war Smalltalk, bis meine Mutter mit ihrer Frage meine Aufmerksamkeit auf Chris und ihr Gespräch lenkte. „Warum ist Ihre Frau eigentlich nicht mitgekommen?“
Dieser grinste etwas und antwortete: „Weil ich keine Frau habe.“
„Oh. Und was ist mit der Mutter der beiden Jungs?“, fragte mein Vater und die Vorsicht war ihm anzuhören. Er befürchtete wohl eine tragische Antwort.
Chris zuckte mit den Schultern. „Gute Frage, das wissen die Jungs wohl besser als ich.“
Fragend, ob der merkwürdigen Antwort, sahen wir zu den Geschwistern.
„Tot, kurz nach meiner Geburt. Hab sie nie kennengelernt“, antwortete Mat nur emotionslos und knapp, bevor er weiter mit Lena in ihrem Malbuch malte.
Doch als wäre Mats Reaktion nicht schon schockierend genug, antwortete Peter mit eisigem Ton: „Ich wünschte in der Hölle.“
Alle starrten Peter mit großen Augen an, während Chris ihm gegen den Hinterkopf schlug. Es schien nicht doll, aber genug damit Peters Kopf kurz nach vorne ruckte. „Du sollst nicht so reden!“
„Sorry.“ Peter rieb sich den Hinterkopf, bevor er sich kleinlaut verbesserte: „Vermutlich lebt sie immer noch in Chicago. Wenn sie denn noch lebt und sich nicht totgesoffen hat.“
„Ehm, ja, mein Beileid“, wünschte meine Mutter in Chris’ Richtung. Sie schien ziemlich verunsichert, wie sie mit dem Wissen umgehen sollte.
Doch Chris sah sie verwundert an. „Was? Warum? Das müssen Sie Mat wünschen, nicht mir.“
„Aber sie war doch ihre Frau?“ Nun schien meine Mutter endgültig verwirrt und ich auch.
Dass die beiden Brüder, ob der Verwirrung feixten, machte es nicht gerade besser. Nach einem Moment, in dem sie beide sich angegrinst hatten, klärte Mat die Situation auf: „Chris kennt unsere Eltern nicht. Er war nur so freundlich, sich zwei pubertierende Halbstarke ans Bein zu binden.“
„Dann sind sie also...?“ Meine Eltern schienen noch immer nicht ganz verstehen zu können, wie das möglich war. Für mich klärten sich damit aber zumindest einige Fragen.
„Ich bin der Pflegevater der beiden. Sie können und wollen nicht in ein Heim, deswegen sind sie bei mir untergebracht. Aber manchmal frage ich mich, ob das wirklich eine gute Idee war. Es ist gar nicht so einfach, plötzlich auf zwei fast erwachsene Jungs aufzupassen, die es einem nicht immer leicht machen.“ Er grinste die beiden an und zwinkerte ihnen zu.
Peter grinste zurück. „Du hast es dir doch ausgesucht! Jetzt leb damit.“
„Ich finde, sie machen das schon ziemlich gut. Ist sicher für sie alle drei nicht ganz einfach“, lobte mein Vater höflich.
„Danke.“ Chris schien das Lob ehrlich anzunehmen. „Dennoch überlass ich das Rechtliche für die beiden Knallköppe doch lieber dem Jugendamt. Sie glauben gar nicht, auf was für blöde Ideen zwei Jungs in dem Alter kommen können.“
„Seien Sie sich da mal nicht so sicher“, feixte mein Vater. „Toby ist ja nun auch nicht umsonst hier.“
„Dabei scheint er doch ein feiner, junger Mann zu sein.“ Chris musterte mich kurz. „Ich bin mir sicher, sie würden ihn nicht mal für einen Tag gegen einen der beiden eintauschen wollen. Was hast du denn angestellt? Als du jemandem helfen wolltest, doch mal zu fest zugeschlagen?“
„Ich hab versucht Kondome zu klauen“, erzählte ich dem leeren Teller vor mir. Dabei warf ich meinem Vater aus den Augenwinkeln einen bösen Blick zu. Das musste ja nun wirklich nicht sein, dass ich das erzählen musste. Anderseits würde ich so vielleicht erfahren, was Mat und Peter getan hatten. Aber diese und ihr Vater lachten erst mal eine Runde. Zu recht, wie ich fand.
„Das ist süß. Irgendwie passt das zu dir. Vermutlich hat deine Freundin sich wegen ihrer strengen Eltern nicht getraut, welche zu kaufen, aber du wolltest auch kein Risiko eingehen und hast sie deswegen lieber geklaut, damit es keiner mitbekommt?“ Chris grinste mich an, während ich mit den Schultern zuckte. Ja, so in etwa kam das hin. Bis auf ein paar kleine Details.
„Wann fahren wir endlich in den Zoo?“, fragte Lena in die Gesprächspause hinein.
„Du hast ja Recht, Schatz, wir sollten langsam los. Kommt ihr nun mit?“ Erneut bestätigten die Brüder, dass sie gerne mitwollten und so kam natürlich auch Chris mit.
Der Zoobesuch war lustig, vor allem für Lena. Sie hatte einen Narren an Mat und Peter gefressen und zog die beiden an der Hand von einem Gehege zum nächsten. Da die beiden wohl noch nicht häufig in einem Zoo gewesen waren, konnte sie ihnen alles erzählen, was sie über die Tiere wusste – und das war eine Menge – und sie sogen es begeistert auf. Da sich die drei Erwachsenen über allen möglichen Erziehungskram unterhielten, von dem ich gar nicht so wirklich alles wissen wollte, konnten Terrence und ich uns etwas hinter die anderen zurückfallen lassen und die Zeit nutzen, um uns allein zu unterhalten.
„Und wie läuft’s? Hast du es dir jetzt doch anders überlegt und willst nach Boston abhauen? Oder warum wolltest du unbedingt allein reden?“, fragte Terrence, sobald wir außer Hörweite waren.
„Ach, erzähl keinen Blödsinn.“ Ich wusste jetzt gar nicht mehr, ob es überhaupt Sinn machte, ihm etwas zu erzählen. Immerhin hatte mir das Gespräch der Brüder mit ihrem Vater ja schon gesagt, dass Peter auf Mädchen stand.
„Was wolltest du mir denn sonst erzählen? Rück schon raus mit der Sprache. Wer weiß, wie lange wir überhaupt unter uns bleiben können.“
„Peter hat mich erwischt, als ich mir ein runtergeholt hab“, gab ich etwas verlegen zu.
„Und? Ich hab dich doch auch schon erwischt. Hat ihm gefallen, was er gesehen hat?“ Ein leicht anzügliches Grinsen konnte sich der Gute doch nicht verkneifen.
Toll, wer sollte denn so viele Fragen auf einmal beantworten? Also eine nach der anderen. „Ja, aber ich hab dabei nicht an dich gedacht. Und da ist auch eher mein Problem: Nicht, was er gesehen hat – da gab es nämlich nichts zu sehen –, sondern was er vielleicht gehört hat.“ Ich senkte noch einmal die Stimme etwas weiter. „Vielleicht ist mir aus Versehen sein Name dabei rausgerutscht. Ich hab die Augen zu gehabt und als ich sie wieder aufgemacht hab, stand er vor mir.“
„Oh, das ist blöd. Du weißt also nicht, ob er was gehört hat?“ Ich nickte. „Wie hat er denn reagiert?“
„Ziemlich gelassen. Er hat mir nur gesagt, dass wir rein müssen, hat kurz gegrinst und ist dann gegangen.“
„Klingt nicht, als hätte er etwas gehört. Ist doch also halb so wild. Oder hättest du gern gehabt, dass er es gehört hat?“ Mein Freund grinste mich an.
„Ich weiß nicht. Dann wüsste ich vielleicht wenigstens, was er von mir hält. Aber dann wüsste er, dass ich schwul bin. Das wäre irgendwie... komisch...“ Ich fuhr mir durch die Haare, während mein Freund mich fragend ansah. Natürlich, damit er verstand, warum das komisch war, musste ich ihm alles erzählen. Immerhin hatte ich sonst ja auch kein Problem damit, wenn es jemand erfuhr. „Peter träumt häufig schlecht und hat mich ein paar Mal damit aufgeweckt. Er schläft an meinem Kopfende. Das erste Mal hab ich ihn aufgeweckt und ihm tat der Körperkontakt gut, deswegen hab ich dann die Nacht seine Hand gehalten. Irgendwie ist es zur Gewohnheit geworden. Nach der Sache in der Dusche war es so schlimm, dass ich bei ihm im Bett geschlafen habe. Nicht wie du denkst! Mit meiner eigenen Decke! Und wir waren auch schon häufiger zusammen duschen. Wenn er jetzt rausfindet, dass ich auf Jungs und auch noch auf ihn stehe, dann ist das irgendwie merkwürdig. Außerdem... er hat sich später in derselben Nacht auch einen runtergeholt. Ich bin wach geworden und dachte, er hätte wieder schlecht geschlafen. Ich wollte ihn beruhigen und hab ihm im Halbschlaf durch die Haare gestreichelt. Erst als er plötzlich ruhig war, ist mir aufgefallen, was los war.“
Ich sah Terrence an, dass er sich zusammenreißen musste, nicht loszulachen. Mir wäre es wohl ähnlich gegangen, wenn mir jemand das erzählt hätte. „Oh Mann, das klingt so verrückt. Und du weißt immer noch nicht, wie es um sie steht?“
„Mat steht wirklich auf Jungs. Aber Peter wohl nicht. Zumindest hat Mat zu Chris gesagt, dass er eben im Gegensatz zu Peter keine Erfahrung mit Mädchen hat und den Jungs daher nichts zu erzählen hat. Aber das hab ich erst vorhin erfahren. Daher hat sich das Ganze wohl eh erledigt.“ Ich konnte eine gewisse Traurigkeit nicht aus meiner Stimme heraushalten.
„Mat hat nur gesagt, dass Peter Erfahrung mit Mädchen hat?“ Ich nickte. „Das heißt doch nun wirklich nichts. Es probieren doch genug vorher auch mit Mädchen rum. Es kann sich ja nicht jeder, so wie du, direkt sicher sein.“
„Toll, dann bin ich so gar nicht weiter.“ Ich seufzte. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.
„Was willst du denn? Du willst ihm doch sicher hier eh nicht näherkommen, oder? Also warum der Stress?“ Neugierig sah der Kleinere zu mir auf.
„Chris hat mich eingeladen, sie mal in Boston zu besuchen. An sich würde ich gern, ich mag die beiden. Und ich hab schon vorher darüber nachgedacht, ob ich Peter nicht mal zu mir einlade. Aber dann will ich, dass er Bescheid weiß. Nur ihm das im Nachhinein am Telefon sagen oder schreiben, finde ich feige. Aber ich weiß sonst nicht, wie ich es machen soll. Ich hab Angst, wie er reagiert. Was ist, wenn er ein großes Theater macht und alle von den Sachen vorher erfahren?“ Ich hatte noch immer wenig Lust, vor der ganzen Gruppe geoutet zu werden, aber das erschien mir mittlerweile einfach nicht mehr so wichtig. Nur musste nicht jeder erfahren, was zwischen uns vorgefallen war.
„Toby, du bist ’n Feigling. Warum sollte er das machen? Das schadet ihm doch auch. Und er kommt doch mit Mat super aus, warum sollte er dann bei dir ein Problem damit haben? Es gibt doch nicht viele Möglichkeiten, wie er darauf reagieren kann: Entweder er steht nicht auf Jungs und will dann trotzdem noch mit dir befreundet sein oder eben nicht, oder er steht auf Jungs und vielleicht zufällig auch noch auf dich, ansonsten eben nicht. So schwer ist das doch nicht.“
„Du hast gut reden. Wer liegt mir denn seit zwei Monaten mit Jayla Harper in den Ohren? Was ist denn daraus geworden?“ Warum ließ ich mir überhaupt von ihm Tipps geben? Er kam doch selbst nicht voran.
„Das ist etwas ganz anderes“, behauptete er. „Sie ist DIE Frau für mich, dass muss gut vorbereitet sein. Bei dir geht es nur um einen Urlaubsflirt.“
„Und wer sagt, dass Peter nicht DER Mann für mich ist?“, fragte ich leicht gereizt.
„Toby, ganz ehrlich: Ich glaube immer noch nicht, dass es DEN Mann für dich gibt. Du hast jetzt schon wie viele ausprobiert? Zwei? Drei? Und sie sind dir alle weggerannt, weil du immer der Mann sein wolltest. Und ich kann sie verstehen. Das hält doch kein Kerl auf ewig aus, wie eine Frau behandelt zu werden.“
Ich wusste bereits, dass Terrence nicht daran glaubte, dass ich mal wirklich einen Freund finden würde. Aber ich gab es dennoch nicht auf. Und ich hasste es, dass er mir einreden wollte, dass es nichts werden würde. Daher reagierte ich auch etwas giftig. „Ich behandel sie nicht wie eine Frau! Ich mag es einfach nur... naja, wenn ich eben bestimmen kann, was im Bett läuft.“
„Siehst du: Du behandelst sie wie Frauen“, beharrte mein Freund weiter.
Da zeigte sich wieder, dass mein Freund nicht nur eine völlig falsche Vorstellung von mir hatte, sondern auch davon, wie man mit Frauen umging. Aber das war nicht meine Sache und ich hatte keine Lust mich mit ihm zu streiten. Daher sah ich mich nach einer Ablehnung um und fand sie in Lena. Schnell rannte ich zu ihr. „Lena, geh nicht so nah ran, die beißen!“
Am Abend hatte ich dann eine Entscheidung gefällt: Ich wollte Peter zumindest vorsichtig näherkommen. Wenn er dann Terror machte, konnte ich morgen mit meiner Familie heimfahren. Außerdem war am Abend Disko, da würde mir schon etwas einfallen, wie ich mich vorsichtig rantasten konnte.
Natürlich wurde bei so einem reinen Jungencamp der Besuchstag für die obligatorische Disko genutzt, denn so waren auch ein paar Mädchen anwesend. Die Musik war okay und ich hatte auch schon mit ein paar getanzt. Außerdem hatte meine Mutter auch wieder darauf bestanden, dass ich wenigstens einmal mit ihr tanzte. Ich tat es gern, denn im Gegensatz zu den Mädchen hier konnte sie es.
Nachdem sie mit mir einen Walzer getanzt hatte, war Terrence an der Reihe, da sich das Lied gerade anbot. Er konnte nur Fox Trott und auch nur, weil ich es ihm mal bei einer ähnlichen Disko beigebracht hatte. Aber es reichte für solche Veranstaltungen.
„Toby, tanzt du mit mir?“ Lena grinste mich breit an.
Unweigerlich grinste ich zurück. Da sie gerade erst das Tanzen lernte – unsere Eltern bestanden darauf, dass wir wenigstens einmal einen Tanzkurs gemacht hatten, soziale Kompetenzen und so – brannte sie darauf, jede Gelegenheit zu nutzen und zu zeigen, was sie schon konnte. „Klar.“
Ich hielt ihr meine Hand hin und ging mit ihr auf die Tanzfläche. Es war nicht ganz so einfach mit ihr zu tanzen, da sie mit ihren zehn Jahren noch recht aufgedreht war und außerdem nun mal deutlich kleiner. Aber solange es ihr Spaß machte, war es okay.
Mitten während des Liedes kicherte sie plötzlich. Ich folgte ihrem Blick und sah Mat, der etwas tollpatschig mit meiner Mutter tanzte. Er hatte den Takt und die Schritte zwar raus, aber es sah schon sehr steif aus, was er da aufs Parkett legte.
„Als nächstes möchte ich mit Mat tanzen!“, verkündete Lena begeistert. Und natürlich erfüllte er ihr den Wunsch. Er konnte wirklich ziemlich gut mit ihr umgehen. Vielleicht sollte er etwas mit Kindern machen, wenn es mit dem EMT doch nicht klappte. Was ich natürlich nicht hoffte.
„Kannst du auch tanzen?“ Das nächste Opfer meiner Mutter war natürlich Peter. Er grinste, stand auf und hielt ihr formvollendet seine Hand hin. Begeistert ergriff sie sie und die beiden stürzten sich auf die Tanzfläche. Es sah wirklich gut aus, was er dort ablegte. Da konnte ich mir noch das ein oder andere abschauen.
Meine Mutter schien das ähnlich zu sehen, denn sie nutzte die Gelegenheit, um gleich noch zwei weitere Tänze mit ihm zu wagen.
Dann brauchte sie eine Verschnaufpause, die meine Schwester nutzte, sich ein wenig von Peter zeigen zu lassen. Es sah süß aus, wie er mit meiner Schwester am Rand stand und ihr Schrittfolgen zeigte. Ab und zu wurden sie unterbrochen, da sich die Mädchen die Gelegenheit, mit einem gutaussehenden Tänzer zu tanzen, nicht entgehen lassen wollten. Zu ihnen schien das Gerücht um Peters Schwulsein noch nicht durchgedrungen zu sein oder sie wähnten sich dadurch in Sicherheit.
Irgendwann wurde Lena müde und kuschelte sich auf Mats Schoß. Auch wenn sie von Peter etwas lernen konnte, den größeren Narren hatte sie an seinem Bruder gefressen. Aber es schien beide nicht zu stören. Peter setzte sich an den Tisch und quatschte etwas mit Chris.
Als ein Klassiker von Elvis den Raum beschallte, standen meine Eltern auf und nutzten die Gelegenheit auch mal wilder zu tanzen und nicht Lena an der Backe zu haben, die mittlerweile bei Mat schlief. Als ich meinen Eltern nachsah, fiel mein Blick auf Peter, der den Blick auf die Tanzfläche gerichtet hatte und wippend der Musik lauschte. Es schien ihn kaum auf dem Stuhl zu halten. Plötzlich kam mir eine ziemlich blöde Idee und ich warf die Sache mit dem vorsichtig Näherkommen über den Haufen.
Ich stand auf, stellte mich neben ihn und räusperte mich kurz, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Als er zu mir aufsah, hielt ich ihm meine Hand hin. „Magst du tanzen?“
Einen ganz kleinen Moment sah er mich verwundert an, dann begann er zu strahlen und ergriff meine Hand.
Peter war ein verdammt guter Tänzer und beherrschte nicht nur in der Theorie die Frauenschritte. Ich hatte ihn ja bisher nur beobachten können, aber er passte sich direkt an meinen Schritt an und ließ sich super gut führen. Nach den ersten ein, zwei Missverständnissen hatte er sich an meine Art gewöhnt und es lief perfekt. Wenn Tanzen wirklich der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens war, dann mussten wir gut zusammenpassen.
Vermutlich war das der beste Weg das auszudrücken, was ich wollte: Jemanden, der sich von mir führen ließ und darauf vertraute, dass ich wusste, wohin die Reise ging.
Fast ohne Übergang wechselten wir in den nächsten Tanz. Peter sah kurz zu mir auf und lächelte mich an, dann konzentrierte er sich wieder auf den Tanz. Ich vergaß einfach alle anderen im Raum und konzentrierte mich nur noch auf ihn und die Musik. Nur ganz am Rande achtete ich darauf, dass wir keine anderen Tänzer blockierten.
Nach einem weiteren Tanz wurde eine Schnulze bespielt. Peter löste sich aus meinem Griff und wollte zurück, aber ich hielt ihn leicht am Handgelenk fest. Ich lächelte ihn vorsichtig an. „Was ist, schon müde?“
Wieder war er kurz verwundert, bevor er sich fasste und zurück lächelte. „Nein, noch lange nicht.“
Er ließ sich von mir heranziehen, schlang seine Arme um mich und legte seinen Kopf an meine Schulter. Ich legte ihm eine Hand auf den Rücken, die andere an die Hüfte und begann mich mit ihm zur Musik zu bewegen. Mir war vollkommen bewusst, wie das wirken musste, aber es war mir gerade egal. Ich konnte ihm nahe sein und es gefiel mir. Im Gegensatz zu mir war er völlig entspannt. Mich machte es irgendwie nervös. Sicher spürte er, wie schnell mein Herz schlug.
Nach einer Weile hob er leicht den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Ich strich ihm mit dem Daumen der unteren Hand leicht über die Haut, da sein Shirt etwas nach oben gerutscht war, und lächelte ihn an. Den Gedanken, ihn einfach zu küssen, verdrängte ich ganz schnell wieder. Das Lächeln erwidernd lehnte er nach einem Moment den Kopf wieder an. Es schien also alles in Ordnung zu sein. Ob ihn das hier wohl genauso nervös machte wie mich?
Nach dem Lied ließ ich ihn los und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, zu unserem Tisch zurückzugehen. Die Blicke aller anderen im Raum blendete ich weiterhin einfach aus. Sollten sie doch denken, was sie wollten.
Nur die Blicke an unserem Tisch konnte ich nicht ignorieren. Meinen Eltern, die sich gerade wieder auf den Weg zum Tanzen machten, stand die Bewunderung ins Gesicht geschrieben. Ob nun dafür, dass ich einfach mit einem Jungen getanzt hatte oder für Peters Tanzkünste, war ich mir nicht sicher. Terrence grinste mich breit an. Für ihn schien die Sache sicher zu sein. Mat und Chris dagegen schienen wenig begeistert. Sie sahen eher skeptisch und besorgt zu Peter, als ich ihn noch zu seinem Stuhl begleitete.
„Danke für den Tanz“, raunte ich ihm noch zu, als er sich setzte und strich ihm kurz über den Oberarm. Nach einem letzten Lächeln ging ich zu meinem Platz am anderen Ende des Tisches zwischen den nun leeren Plätzen meiner Eltern und Terrence.
Sobald ich saß, ging mein Blick wieder zu Peter, welcher jedoch in Richtung der Tanzfläche schaute. Seine Miene konnte ich daher nicht sehen. Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas zu, worauf er nickte und beide aufstanden. Verwirrt sah ich ihnen nach. Hatte ich etwas falsch gemacht?
Hilfesuchend sah ich zu Mat, der jedoch einfach nur mit neutralem Gesichtsausdruck den Kopf schüttelte. Was sollte mir das denn sagen? Es konnte heißen, dass er enttäuscht von mir war, dass ich mir keine Sorgen machen sollte oder auch dass er nicht wusste was los war. Na ganz Klasse.
Terrence schien genauso verwirrt. Er beugte sich zu mir und flüsterte: „Was ist denn los?“
Ich zuckte mit den Schultern und flüsterte zurück: „Keine Ahnung. Bis gerade dachte ich, dass alles gut ist.“
„Was sollte das werden?“, giftete mich Mat über den Tisch hinweg nun doch an. Gut, dass meine Eltern gerade nicht da waren, sie hätten ihm den Ton wohl nicht einfach durchgehen lassen.
Verwundert über die Schärfe in seiner Stimme antwortete ich: „Ich hab einfach nur mit Peter getanzt.“
„Ich würde eher behaupten, du hast ihn für dein kleines Experiment missbraucht. Hör auf damit! Peter ist kein Versuchskaninchen, an dem du deine neu entdeckten Neigungen ausprobieren kannst!“
Mein Gesichtsausdruck wurde noch verwunderter und auch Terrence konnte man ansehen, dass Mat ihn verwirrte. „Welche neu entdeckten Neigungen?“
„Komm schon, jetzt fang nicht noch an es abzustreiten, dass du auf Peter stehst! Das sieht doch ’n Blinder mit ’nem Krückstock!“ Auf Mats Gesicht machte sich Ärger breit.
Ich stand auf, bedeutete Terrence mir zu folgen und setzte mich auf einen der Plätze neben Mat. Es war ja außer uns eh niemand mehr am Tisch, da mussten wir auch nicht brüllen und womöglich Lena wecken. Möglichst ruhig antwortete ich ihm: „Wo ist dein Problem? Es geht dich doch gar nichts an.“
„Natürlich geht es mich etwas an! Peter ist mein Bruder!“ Er setzte mir den Finger auf die Brust. „Und wenn du ihm weh tust, weil du meinst, du müsstest mal mit ihm ausprobieren, wie es so ist, schwul zu sein, und es dir dann doch zu viel werden, dann bekommst du es mit mir zu tun!“
Ich musste schmunzeln, während Terrence plötzlich in irres Lachen ausbrach. Verwirrt sah Mat ihn an. „Wie geil! Ich dachte immer als Schwuler muss man sich die Großer-Bruder-Nummer nicht antun!“
„Peter ist für mich kein Experiment. Ich weiß schon seit ein paar Jahren, dass ich auf Jungs stehe.“ Vorsichtig nahm ich die Hand von meiner Brust und lächelte Mat an, der nun mich irritiert ansah. „Ich hätte mich sicher nicht für ein kleines Experiment vor dieser Horde Jungs geoutet. Ich hab lange überlegt, ob es sich lohnt das Risiko einzugehen, nur um ihm zu zeigen, dass ich auf ihn stehe.“
Nun war es an Mat zu lachen. „Dann hättest du dir das Theater echt sparen können. Mich wundert ja wirklich, dass die anderen Idioten nichts davon bemerkt haben, aber das war schon sehr offensichtlich.“
„Peter wusste es schon?“ Mat nickte. „Seit wann?“
„Als du uns die Zigaretten angeboten hast, waren wir uns sicher.“ Mir klappte die Kinnlade herunter, doch Mat erklärte im ruhigen Ton weiter: „Niemand tut jemand anderem etwas Gutes, ohne dabei auf eine Art von Gegenleistung zu hoffen.“
„Aber wie? Ich meine, wie konntet ihr das da schon wissen?“ War das überhaupt möglich?
„Wir merken einfach recht schnell, wenn jemand uns sexuell anziehend findet.“ Er zuckte einfach nur mit den Schultern, als würde diese Antwort alles erklären.
„Warum hat er dann nie was gesagt?“ Eigentlich war die Frage blöd. Denn es konnte nur eine Antwort darauf geben: Er war einfach nicht an mir interessiert.
„Weil ich es süß fand, dass du nicht gleich mit der Tür ins Haus gefallen bist, wie ich es sonst gewohnt bin.“ Peter hatte sich hinter meinem Rücken unserem Tisch genähert und setzte sich gerade neben seinen Bruder. Dieser murmelte etwas davon, dass er es albern fand. Chris setzte sich neben den Jüngeren. „Statt mich einfach nur als Objekt zu sehen, hast du dich vorsichtig an mich herangetastet. Ich wollte wissen, wie es ist, wenn es richtig läuft, also so wie es sein sollte. So mit sich kennenlernen und so. Außerdem hast du einfach nicht auf meine Annäherungsversuche reagiert. Da dachte ich, du bist dir noch nicht ganz sicher.“
„Welche Annäherungsversuche?“ Es hatte von seiner Seite aus welche gegeben?
„... bitten alle Campteilnehmer sich in spätestens fünfzehn Minuten in ihren Zimmern einzufinden. In einer halben Stunde beginnt die Nachtruhe“, erklang es aus den Lautsprechern. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass die Musik ausgegangen war, so sehr war ich in unser Gespräch vertieft gewesen.
Schnell verabschiedeten wir uns von unseren Eltern und machten uns dann auf den Weg in unser Zimmer. Auf dem Weg fragte ich Peter noch, ob wir später noch reden könnten, was er bejahte.
Und so lag ich wach, bis völlige Ruhe eingekehrt war. Fast erschrak ich, als ich plötzlich Peters Stimme vernahm. „Kommst du rüber?“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und zog mich wieder zu ihm ins Bett herüber. Dort setzte ich mich neben ihn mit dem Rücken an die Wand. Vorsichtig fragte ich: „Was meintest du mit: Du wolltest mal wissen, wie es richtig sein muss.“
Ich dachte schon, er würde nicht mehr antworten, da lange nichts kam, doch dann fand er wohl die richtigen Worte. „Naja, bisher lief es immer so: Mein Gegenüber hat sein Interesse bekundet, wir haben die Regeln ausgehandelt, hatten Sex und das war’s dann. Ich wollte einfach wissen, wie es ist, wenn man – Wie soll ich es nennen? – umworben? wird. Wenn eben einfach alles ganz normal läuft. Man lernt sich kennen, entwickelt vielleicht Zuneigung, verliebt sich und landet erst dann vielleicht mal irgendwann im Bett. Du verstehst, was ich meine?“
Langsam nickte ich. „Was meinst du mit Regeln aushandeln? Und wie viele Partner hattest du schon?“
„Eben was wir machen und was erlaubt ist und ... solche Sachen eben.“ Ich hatte das Gefühl, er hätte statt dem letzten noch Konkretes nennen wollen, es sich dann aber ganz schnell anders überlegt. Was er wohl sonst hätte sagen wollen? „Und wie viele? Keine Ahnung. Einige. Ist das wirklich wichtig?“
Sicher hätte es mich interessiert, aber es klang nicht, als wollte er genauer darauf eingehen, daher schüttelte ich den Kopf. „Und trotzdem hast du dich nie verliebt? Oder mal vorher ausprobiert, wie es ist, sich erst kennenzulernen?“
„Nein. Ich hatte... ich hatte einfach nicht die Zeit dazu. Es ist in den letzten Jahren einfach zu viel passiert, als dass ich mich auf jemand anderen als mich selbst und Mat hätte konzentrieren können. Erst seitdem wir bei Chris sind, kann ich mich langsam wieder auf andere einlassen. Vorher war es einfach nicht möglich. Da gab es nur Mat und mich.“ Peter hatte den Blick vor sich auf die Matratze gerichtet. So ganz wohl schien ihm bei unserem Gespräch nicht zu sein.
„Du hast Mat wirklich gern, oder? Und er dich auch. Man merkt es euch ziemlich an, dass ihr euch nähersteht als die meisten Geschwister. Ich dachte sogar zwischendurch, dass ihr nur behauptet, dass ihr Brüder seid, damit niemand merkt, dass ihr ein Paar seid.“ Mittlerweile musste ich wirklich über diesen Gedanken schmunzeln.
Und Peter schien ihn auch lustig zu finden, denn er lachte leise. „Wie kamst du denn darauf?“
„Es wirkte, als wäre es nicht das erste Mal, dass ihr euch geküsst habt am Lagerfeuer. Und normalerweise küsst man seinen Bruder nicht. Also zumindest nicht so. Und auch nicht seinen besten Freund.“ Schon wenn ich daran dachte, Terrence zu küssen, stellten sich mir die Nackenhaare auf.
Peter klang nachdenklich, als er antwortete: „Mhm, stimmt wohl. Aber bei Mat und mir ist es etwas... anderes. Es bedeutet uns nichts, wenn wir uns küssen. Es ist eher... wie ein Spiel. Viele kann man damit ziemlich verrückt machen. Und das haben wir uns früher oft zunutze gemacht. Mittlerweile machen wir das eigentlich nicht mehr. Aber Mat... naja, es wäre einfach scheiße gewesen, wenn jemand anderes ihn geküsst hätte. Daher hab ich ihn dann einfach geküsst, es ist ja nichts dabei.“
„Und wenn dich jemand anders küssen würde? Wäre da auch nichts dabei?“, fragte ich einer plötzlichen Eingebung folgend.
Ich konnte es nicht wirklich sehen, aber ich hörte es in seiner Stimme: Peter schmunzelte bei seiner Antwort. „Kommt drauf an, wer es ist.“
Langsam, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich zurückzuziehen, legte ich meine Hand in seinen Nacken und zog ihn zu mir. Zuerst bewegten sich nur unsere Lippen gegeneinander, dann öffnete er seine leicht und ließ meine Zunge ein. Seine Küsse sahen nicht nur heiß aus, sie waren es auch. Zumindest dieser hier. Nicht nur er ließ ein wohliges Seufzen hören, als ich den Kuss wieder löste.
„Nein, das lässt mich nicht kalt“, sagte er nach einem Moment.
„Gut.“ Noch einmal küsste ich ihn. Dabei ignorierte ich den Drang, ihn aufs Bett hinunter zu drücken. Dafür war hier einfach der falsche Ort.
Dennoch schien ihm das nicht zu entgehen. „Was soll das werden? Willst du mich in dein Bett kriegen?“
„Warum der Umweg? Ich bin doch schon in deinem“, versuchte ich meine Verlegenheit zu überspielen. Leise lachte er. Dann nahm ich meine Hand aus seinem Nacken und antwortete ernster: „Aber nein, eigentlich nicht. Ich wollte nur wissen, ob die Küsse so gut sind, wie sie aussehen. Und dann, ob es nur ein Glückstreffer war. Für alles andere ist hier eindeutig nicht der richtige Ort.“
„Du hast wohl recht. Aber du würdest?“ Ich konnte seiner Stimme nicht wirklich entnehmen, ob er darauf hoffte oder wie er sonst dazu stand. Tatsächlich klang er dabei erschreckend neutral.
Einen Moment überlegte ich, wie ich meine Antwort am besten formulierte. Er machte mich wirklich an. Seine Bewegungen, sein Auftreten, sein Körper, nach neuester Erkenntnis auch seine Küsse, aber mich schreckte immer noch die Entfernung ab. Und seine manchmal merkwürdigen Eigenheiten und seine bisher sehr undurchsichtige Vergangenheit.
Ich hatte das Gefühl, dass es alles sehr kompliziert machen würde. Und darauf hatte ich nicht so wirklich Lust. Vielleicht, wenn ich mich wirklich in ihn verlieben würde, aber im Moment war es nur körperliche Anziehung und Neugierde auf einen offenbar erfahreneren Jungen. „Ich weiß nicht. Ich würde eher dein Angebot annehmen und erst mal sehen, wohin das alles führt. Ich steh wirklich auf dich und mag es nicht überstürzen, damit es so endet wie sonst bei dir.“
„Wäre ich nicht draufgekommen, nachdem du meinen Namen durch den halben Wald gestöhnt hast.“ Das hämische Grinsen war deutlich in seiner Stimme zu hören.
Einen Moment war ich völlig sprachlos. Er hatte es also doch gehört! War dann... Hatte er sich wirklich am Abend rächen wollen? So wie er sich gerade gab, war es wirklich kein Versehen gewesen, dass ich aufgewacht war. „Du, kleiner...!“
Diesmal drückte ich ihn wirklich aufs Bett. Sobald er lag, setzte ich mich auf seine Beine und hielt seine Arme fest. Mit unterdrücktem Lachen versuchte er sich zu befreien. Plötzlich gab es einen Stoß von unten gegen die Matratze und wir konnten Mats gezischte Stimme hören: „Vögelt woanders!“
„Sorry“, flüsterten wir beide nach unten. Dennoch ließ ich Peter nicht los.
„Was ist, ich dachte nicht hier?“, fragte Peter.
„Will ich auch nicht“, antwortete ich lächelnd und beugte mich etwas weiter über ihn, bis ich seine Augen erkennen konnte.
„Was hast du sonst vor?“ Seine Stimme klang leicht rau.
„Mal sehen.“ Mittlerweile war ich sehr nah über seinem Gesicht und sah ihm direkt in die Augen, von denen durch die Dunkelheit im Raum nicht viel zu erkennen war. Meine Lippen berührten seine beim Sprechen fast. So blieb ich eine ganze Weile und versuchte dabei den Fakt zu ignorieren, dass offensichtlich nicht nur mich die Situation anmachte.
Wie ich erwartet hatte, schnellte Peters Kopf plötzlich hoch und er versuchte meine Lippen zu erwischen, doch ich zog meinen Kopf einfach zurück und lachte ihn dann an. „Zu langsam.“
Er ließ sich wieder sinken. Ich folgte, bis ich ihn wieder fast berührte. Nach einem Moment versuchte er es erneut, doch wieder war ich schneller. So ging das Spiel einige Mal hin und her, wobei wir immer mehr ins Lachen verfielen.
Dann folgte ein erneuter Ruck von unten. „Seid ihr jetzt mal fertig? Oder wollt ihr alle wecken?“
Mat hatte wohl Recht, das wollten wir definitiv nicht. Daher legte ich meine Lippen kurz fest auf Peters und ließ mich dann vorsichtig fallen, sodass ich auf ihm zu liegen kam. Nachdem ich den Kuss gelöst hatte, seufzte ich resignierend. „Ich sollte wieder rüber.“
Ganz leicht verhakten sich Peters Finger mit meinen. „Schlaf doch wieder hier.“
Auf das Angebot erklang von unten ein genervtes Stöhnen. Ich jedoch musste schmunzeln. Ich hatte Peter bisher wegen solcher Sachen eher für arglos, vielleicht auch naiv, gehalten, doch scheinbar wusste er ziemlich genau, was sie in mir auslösten und setzte sie auch bewusst ein. Wie häufig er das wohl schon ausgenutzt hatte?
Ich rollte mich von ihm herunter und legte mich neben ihn. „Ist gut.“
Er zog die Decke unter sich hervor und deckte uns beide damit zu. Wieder musste ich mich an ihn kuscheln und den Arm um ihn legen, damit wir halbwegs bequem liegen konnten. Doch diesmal war keine Decke zwischen uns, die verhinderte, dass er meine Erregung spüren konnte. Aber jetzt war es auch egal, er wusste es ja sowieso. Dennoch drehte ich mich etwas weg, damit es dadurch für ihn nicht unbequem wurde. Nachdem wir uns gegenseitig eine gute Nacht gewünscht hatten, schliefen wir recht schnell ein.
Nachdem wir am nächsten Tag unsere Eltern verabschiedet hatten, lief die letzte Woche im Camp weiterhin in normalen Bahnen. Wir machten in der Freizeit viel zu dritt, spielten zusammen etwas, gingen spazieren, hörten Musik oder hingen am See rum.
Dabei erfuhr ich auch, dass sich sowohl Peter als auch Mat wegen ihrer Narben an den Armen schämten und daher immer Klamotten mit langen Ärmeln trugen. Sie wollten einfach nicht, dass ständig jemand nachfragte, woher sie kamen. Daher hielt auch ich mich mit der Frage zurück. Aus demselben Grund trug Mat wohl auch keine kurzen Hosen.
Außerdem erfuhr ich, dass selbst ohne die Narben Peter nicht mit ins Wasser gekommen wäre, da er nicht schwimmen konnte. Natürlich wunderte ich mich, dass er so tanzen, aber überhaupt nicht schwimmen konnte. Er erklärte es damit, dass seine Mutter früher Tänzerin gewesen wäre, bevor sie angefangen hatte, zu viel Alkohol zu trinken. Als jüngster von vier Brüdern und mit nur einer jüngeren Schwester hätte er dann natürlich auch die Frauenschritte lernen müssen. Ich versprach ihm bei unseren gegenseitigen Besuchen das Schwimmen beizubringen.
Denn, dass wir uns besuchen wollten, stand mittlerweile fest, auch wenn wir noch nicht wussten, wann es so weit war. Zwar hatten wir drei uns gegenseitig zu unseren Geburtstagen eingeladen und meiner lag an einem Freitag, mit durch Labor Day verlängertem Wochenende, recht günstig, aber er war bereits in zwei Wochen und daher war noch nicht klar, ob es unseren Eltern recht wäre, wenn dann schon wieder so viel Geld für Flüge draufgehen würde. Weder meine, noch die Familie der beiden Brüder, nagte am Hungertuch, aber nach den Flügen der letzten Wochen, um uns zu besuchen, war so eine spontane Ausgabe nicht so einfach. Dennoch wollten wir es versuchen und hatten auch Telefonnummern ausgetauscht. Zu Peters Geburtstag eineinhalb Wochen später sah es nicht besser aus, zumal er unter der Woche hatte und wir dann schon wieder zur Schule mussten. Sie mussten nach meinem Geburtstag wieder hin, ich sogar schon nächsten Montag wieder. Unsere Hoffnungen hingen daher an Mats achtzehnten Geburtstag, da er am Sonntag nach Thanksgiving hatte und somit vier Tage frei waren.
Immerhin schlief ich in der letzten Woche jede Nacht bei Peter, auch wenn Mat dagegen durchaus was zu meckern hatte, da wir ihn das ein oder andere Mal weckten, wenn wir uns gegenseitig neckten. Aber mittlerweile wusste ich auch, dass man das bei ihm nicht allzu ernst nehmen musste. Wenn man erst einmal dahintergekommen war, dass er häufig missgelaunter tat, als er eigentlich war, war er ein ziemlich netter Zeitgenosse und man konnte gut mit ihm herumalbern.
Das war auch dringend nötig, dass wir uns so gut verstanden, denn natürlich hatten alle meine Aktion beim Tanzen mitbekommen und hatten es nun auch auf mich abgesehen, nachdem sie mich vorher eher ignoriert hatten. Aber es war okay. Nachdem man Kylian nach Hause geschickt hatte und alle anderen Angreifer, bis auf Ayden, nun ziemlich kleinlaut geworden waren, gab es keine körperlichen Angriffe mehr und die verbalen beschränkten sich wieder auf ein paar dumme Sprüche.
Ich begegnete denen ziemlich selbstsicher und stand dazu, dass ich auf Jungs stand. Immerhin tat ich das ja sonst auch. Das schien auch bei Mat und Peter etwas auszulösen. Der Jüngere begann ebenso selbstbewusst damit umzugehen wie ich, wobei er dennoch häufig genug auch von Mädchen redete – scheinbar stand er auch auf sie, obwohl er selbst behauptete, noch nie etwas mit einem gehabt zu haben –, während der Ältere nun häufiger mit lockeren Gegensprüchen reagierte, statt aggressiv zu werden.
Am Sonntag wachte ich wieder früh auf, Peter in meinen Armen rührte sich noch überhaupt nicht. Ich wollte noch nicht aufstehen. Immerhin wusste ich nicht, für wie lange es das letzte Mal sein würde, dass ich ihn im Arm halten konnte. Meine Meinung zu einer Beziehung mit ihm hatte sich zwar nicht geändert, dennoch empfand ich es als schön neben ihm aufzuwachen. Ich mochte das Gefühl, begehrt zu werden, das er mir gab, obwohl wir uns seit dem letzten Samstag nicht weiter angenähert hatten. Es hatte keine Küsse mehr gegeben und die einzige Berührung war die beim Tanzen geblieben. Danach hatten wir dem anderen maximal über den Arm gestreichelt oder oberhalb des T-Shirts. Und dennoch merkte ich, dass er mehr wollte, genau wie ich.
Doch nun lockte mich der Anblick seines Nackens direkt vor meinen Augen viel zu sehr. Ich streichelte über seinen Arm, um ihn vorsichtig zu wecken und als er sich im Halbschlaf etwas mehr an mich kuschelte, legte ich leicht meine Lippen direkt unter den Haaransatz. Sofort bildete sich eine Gänsehaut und er zog die Schultern an. Ich packte ihn etwas fester, damit er nicht wegrutschen konnte und nuschelte dagegen: „Ich wollte das schon ’ne ganze Weile machen. Du bist hier wirklich empfindlich, oder?“
Natürlich wusste ich, dass meine Lippen beim Sprechen leicht über seine Haut strichen, genauso wie mein Atem. Und der erneute Schauer, der durch seinen Körper lief, erfreute mich. Doch er drehte sich in meinen Armen um, legte kurz seine Lippen auf meine und murmelte dann: „Solltest du nicht in dein Bett?“
„Ich will nicht“, grummelte ich zurück und drückte mich näher an ihn. „Wir fahren doch nachher eh, darf ich hierbleiben?“
Er schien einen Moment zu überlegen, bevor er nickte. Mit einem Lächeln drückte ich meine Lippen auf seine und forderte dann mit der Zunge Einlass in seinen Mund. Wenn sie uns schon so sehen würden, dann gerne auch richtig, es sollte sich ja lohnen.
Als ich Luther vor der Tür hörte, wurde ich noch einmal fordernder und rollte ich mich mit einem Grinsen auf Peter, der beides erwiderte. Ganz vorsichtig bewegte ich meine Hüfte gegen seine, als die Tür aufging.
„Guten Morgen, Jungs. Aufstehen und fertigmachen, in einer halben Stunde ist...“, unterbrach der Betreuer seine morgendliche Litanei und wechselte in ein Brüllen, als er uns entdeckte. „Ihr kleinen...! Raus aus dem Bett und zwar alle beide! Sofort!“
Wie ertappt hörte ich auf, mich zu bewegen und zog die Decke fester über uns, ehe ich stammelte: „Ehm... Ist grad ganz ungünstig.“
„RAUS DA!“ Luthers Kopf wurde hoch rot und er kam auf das Bett von Mat und Peter zu.
„Sicher? Das wollen Sie nicht sehen...“, spielte Peter mit. Luther stand nun fast vor dem Bett und Mat schlüpfte noch an ihm vorbei heraus.
„Boah, endlich hört ihr auf. Das geht schon seit ’ner halben Stunde so, ich dachte schon, ich werd seekrank. Aber das will wirklich keiner sehen, wenn die beiden jetzt aufstehen.“ Mit angewidertem Blick wendete er dem Bett den Rücken zu. Natürlich sahen mittlerweile auch alle anderen neugierig zu uns.
„Wenn ihr jetzt nicht SOFORT aufsteht, dann zieh ich euch aus dem Bett!“, drohte der Betreuer.
„Schon gut, schon gut. Aber Sie sollten wirklich wegsehen. Das gehört sich nicht“, meinte ich, kurz bevor ich Peter noch einen leichten Kuss gab und die Decke etwas anhob. Tatsächlich sah Luther etwas zur Seite. Eilig standen wir auf und sprangen aus dem Bett.
Kaum kamen wir auf dem Boden zu stehen, sah er wieder zu uns. Ihm entgleisten alle Gesichtszüge. Kein Wunder, wir standen ja auch vollständig mit Schlafklamotten bekleidet vor ihm und man konnte kein Zeichen von Erregung sehen. Nicht, dass sie nicht da gewesen wäre, aber sobald er den Raum betreten hatte, war sie bei uns beiden verflogen. Er griff an uns vorbei zur Bettdecke, hob sie an und fühlte auf dem Bettlaken.
„Pft, da werden Sie nichts finden. Für wie blöd halten Sie die beiden? Die fangen doch nicht ernsthaft an rumzumachen, wenn gleich jemand zum Wecken kommt“, warf Mat ein und grinste uns beide dann an. Ihm schien der Scherz ebenfalls gefallen zu haben. Und auch von den anderen Jungs grinsten, bis auf Blaine, alle vor sich hin.
„Was hattest du in Peters Bett zu suchen?“, herrschte mich Luther an.
Ich zuckte mit den Schultern. „Wir waren schon wach und wollten quatschen ohne jemanden aufzuwecken. Also bin ich zu ihm rüber.“
„Und was sollte das Theater?“ Diesmal wurde Peter angesehen.
„War ’ne spontane Idee, weil doch sowieso alle glauben, dass wir drei ständig miteinander rummachen“, griff Peter meinen Gedanken auf.
„Lasst den Blödsinn sein und geht euch umziehen! Ihr müsst noch eure Klamotten packen.“ Wir gehorchten und trotteten von dannen, um uns fertig zu machen. Es war gut zu wissen, dass er uns für den Mist nichts konnte.
Nach dem Frühstück gab es noch das obligatorische Gruppenphoto am Ende eines solchen Camps. Als ich sah, dass sich Mat und Peter einige Schritte abseits der Gruppe aufstellten, ging ich zu ihnen herüber, stellte mich zwischen sie und legte jedem von ihnen eine Hand auf die Schulter. Sie taten es mir gleich und legten ihre Hände grinsend auf meine Schultern. Tatsächlich schafften wir es das Grinsen aufrecht zu erhalten, bis der Photograph endlich abgedrückt hatte.
Danach ging es Sachen holen und dann in den Bus. Dort sah ich, dass wieder Willis dem schwächlichen Finn bei seinem Koffer half. Da noch einmal kontrolliert wurde, ob alle da waren, mussten wir in derselben Reihenfolge einsteigen, in der wir ausgestiegen waren. Ich suchte mir wieder einen Platz recht weit vorne, da dort die Chance groß war, dass entweder eine Reihe davor oder dahinter noch für Mat und Peter Platz blieb. Abgesehen davon, dass wohl sowieso keiner zu nah an mir oder den beiden sitzen wollte.
Da noch beide frei waren, als Peter einstieg, entschied er sich für die Reihe vor mir. Als Mat als vorletztes den Bus betrat, stand Peter auf. Ich ging davon aus, da Mat auch schon auf der Hinfahrt am Fenster gesessen hatte, dass er seinen Bruder durchlassen wollte, damit er wieder dorthin konnte, aber tatsächlich setzte er sich neben mich und grinste nur, als ich ihn verwundert ansah.
„Toby, kann ich deinen Walkman haben? Dann könnt ihr beide mit unserem hören“, bat Mat auch schon im nächsten Moment. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die beiden das vorher irgendwann unauffällig ausgeheckt hatten, ohne dass ich es mitbekommen hatte.
Ich reichte Mat meinen Walkman, der im Gegensatz zu ihrem nur einen Kopfhöreranschluss hatte. Außerdem durfte er sich aus beiden Sammlungen zuerst eine Kassette aussuchen.
Die Fahrt verlief ziemlich ruhig. Zuerst unterhielten wir uns noch zu dritt, dann setzte sich Mat die Kopfhörer auf und holte sein Buch heraus. Noch eine Weile redete ich mit Peter, schmiedete mit ihm Pläne, was man anstellen konnte, wenn man sich gegenseitig besuchen kam, dann ging uns der Gesprächsstoff aus. Ich lehnte mich gegen das Fenster und ließ mich von der Musik beschallen, während Peter etwas las. Leider war mir das nicht vergönnt, da mir davon schlecht wurde.
Kurz vor Portland polterte plötzlich Peters Buch zu Boden. Etwas verwirrt sah er durch die Gegend, dann hob er es auf und setzte sich wieder hin. Nachdem er es in seinem Rucksack verstaut hatte, drehte ich mich etwas zu ihm, sodass ich mit dem Rücken, der Sitzlehne und dem Fenster ein Dreieck bildete, und zog ihn an der Schulter zu mir. Etwas widerwillig ließ er es geschehen und legte seinen Kopf gegen meine Brust. Dort schlief er dann auch direkt weiter, während ich ihm über Kopf und Schultern streichelte.
Ich merkte noch, wie Mat in seinem Rucksack kramte und etwas Größeres hervorholte, schenkte dem aber keine weitere Beachtung, sondern sah weiter Peter an, bis der Ältere sich plötzlich umdrehte, es einmal kurz heller wurde und ein Klicken und dann ein Surren zu hören war.
Verwundert sah ich zu ihm, wie er gerade ein Polaroid aus der Kamera in seiner Hand zog. Seit wann hatte er denn eine dabei? Sogar Peter regte sich wieder und sah seinen Bruder böse an. Sofort erklärte dieser: „Sorry, Chris hat Sonntag immer noch keine Ruhe gegeben, weil er sich Sorgen gemacht hat... Du weißt schon, dass Toby dich ausnutzt und so. Ich wollte ihm zeigen, dass es nicht so ist, deswegen hat er die Kamera dagelassen. Eigentlich wollte ich euch beim Händchenhalten nachts photographieren, aber ihr habt ja lieber zusammen im Bett geschlafen und da dachte ich, dass das falsch aussehen könnte. Und der Blitz hätte sicher die anderen geweckt. Ich wollte nicht, dass sich Chris das mit der Einladung nochmal überlegt, nur weil er Angst hat, dass Toby dich zu irgendwas überredet.“
Peter hatte mir in der Woche erzählt, dass sein Vater ihn nach dem Tanz mit nach draußen gebeten hatte, um ihn zu ermahnen, dass er sich von mir zu nichts überreden oder drängen lassen sollte. So wie ich es heraushörte, war das wohl bei beiden Brüdern schon vorgekommen. Daher fand ich die Idee von Mat umso süßer. Zumal so ein Photo sicher schön war. Ich grinste den Älteren an. „Bekomm ich auch eins?“
„Klar. Moment... Stillhalten...“ Gerade als Mat abdrückte, hob Peter die Hand und zeigte den Mittelfinger in die Kamera. Lachend wurde mir das zweite Photo überreicht.
Als es fertig entwickelt war, sah ich es mir an. Es passte wirklich gut. Peter, wie er an mich gekuschelt lag, die Augen verschlafen halb geöffnet, meine Hand noch in seinen Haaren und seine zu einer obszönen Geste gehoben. Es entsprach Peter um einiges mehr als das erste Photo, das ich mir ebenfalls zeigen ließ. Dort schaute keiner von uns in die Kamera. Peter schlief noch und ich sah zu ihm herunter. Es war eine friedliche Atmosphäre. Ich reichte das erste Photo zurück und streichelte Peter durch die Haare. „Du bist wirklich süß, wenn du schläfst.“
„Schön. Lasst ihr mich jetzt weiterschlafen?“, grummelte dieser nur als Antwort. Natürlich ließen wir ihn in Ruhe und Mat drehte sich wieder um und schlief nach einer Weile ebenfalls. Und auch mir fielen die Augen zu.
Erst als einer der Betreuer Boston als nächsten Halt ankündigte, kam wieder Leben in uns. Wir tauschten unsere Geräte und Kassetten zurück, wobei wir uns noch gegenseitig welche ausliehen, und Mat und Peter begannen sich zum Aussteigen fertig zu machen. Als der Bus hielt, standen beide auf. Ich tat es ihnen gleich und umarmte beide noch zum Abschied. „Wir sehen uns. Und vergesst nicht, zu schreiben oder anzurufen.“
„Machen wir. Komm noch gut heim und lass dich von den Idioten nicht ärgern“, wünschten sie mir noch, dann verließen sie den Bus.
Aus dem Fenster sah ich ihnen zu, wie sie zuerst Chris begrüßten und dann mit seiner Hilfe ihre Taschen aus dem Bus hievten. Willis half Finn beim Ausladen seines Koffers. Mehr konnte er dann auch nicht mehr tun. Ich sah, wie der Schmächtige mit dem großen Koffer zu seinen Eltern trottete und direkt mit einer Ohrfeige begrüßt wurde. Dem anderen war deutlich anzusehen, dass er mit den Zähnen knirschte. Auch sie hatten sich wohl wirklich angefreundet.
Als der Bus wieder anfuhr, drehten sich die ungleichen Brüder und ihr Vater zu mir um und winkten mir zum Abschied zu. Hoffentlich ein Abschied, der nicht allzu lange währen würde.
Noch immer schwer atmend setzte ich mich oberhalb von Peters Kopf auf die Couch und streichelte ihm über den verschwitzten Rücken. Er legte den Kopf auf meinen Oberschenkel, während ich nach den Zigaretten auf dem Couchtisch griff. „Ich darf hier doch rauchen, oder?“
Er nickte und begann über mein Knie zu streicheln. „Klar, hat sich nicht geändert.“
Ich nahm kurz meine Hand weg, um mir die Zigarette anzünden zu können. Indem ich sie Peter vor die Nase hielt, bot ich sie ihm an, er schüttelte jedoch den Kopf. Nachdem ich wieder eine Hand frei hatte, streichelte ich erneut seinen Rücken. „Wollte nur höflich sein. Ist immerhin schon ’ne Weile her, dass ich das letzte Mal hier war.“
Er drehte sich auf den Rücken und sah zu mir hoch in mein Gesicht. „Stimmt. Hat sich einiges geändert in den letzten drei Jahren, hmm?“
Nachdenklich nickte ich und zog an der Zigarette. Ja, er hatte recht. Mittlerweile war keiner von uns mehr Schüler. Er studierte seit September Gesang an der Boston University, Mat arbeitete beim Rettungsdienst und ich jobbte in einem Fitnessstudio als Trainer. Ich hatte nach der High School keine Lust aufs College gehabt und mir daher dort eine Stelle gesucht.
Diese Änderungen hatten auch dafür gesorgt, dass wir uns seltener sahen als zu Anfang. Immerhin arbeiteten Mat und ich in Schichten. Genauer gesagt, hatten wir uns im Juli zuletzt gesehen. Im September hatte es einfach nicht geklappt. Jedoch war Mats einundzwanzigster Geburtstag ein Termin gewesen, für den ich mir einfach hatte Zeit nehmen müssen, auch wenn es bedeutete, dass ich für nicht mal zwei Tage in Boston war.
Da wir uns so lange nicht gesehen hatten, kannte ich auch das Tattoo auf Peters rechter Schulter noch nicht, über das ich nun strich. „Steht dir gut.“
„Ja, es ist wirklich gut geworden. Aber einmal muss ich noch, damit nichts mehr zu sehen ist.“ Peter hatte vor zwei Jahren angefangen seinen Körper nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Zuerst hatte er sich Tunnel stechen lassen – sie waren ein Geschenk von Chris zum achtzehnten Geburtstag gewesen –, dann hatte er sich zum neunzehnten seinen gesamten linken Arm tätowieren lassen und nun sollte ein weiteres Tattoo auch die Narben an seiner rechten Schulter verdecken. Er wollte endlich nicht mehr jedes Mal an seine Vergangenheit erinnert werden, wenn er sich im Spiegel sah oder mit kurzen Ärmeln in die Öffentlichkeit ging. Mat hatte da etwas weniger Probleme, ihm war noch einiges an Körperbehaarung gewachsen, die seine Narben zumindest oberflächlich fast unsichtbar machte.
Peter drehte sich etwas auf die Seite und strich mir mit der Hand über den rasierten Intimbereich. „Das steht dir aber auch gut.“
„Danke. Ja, war nur mal ’n Test.“ Hastig nahm ich einen Zug von der Zigarette in der Hoffnung, er würde die Lüge nicht bemerken.
Vermutlich wäre es besser gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen. Nämlich, dass ich es für einen anderen Mann getan hatte. An sich wäre es nicht das Problem gewesen, immerhin hatten wir uns, als wir vor ziemlich genau drei Jahren das erste Mal miteinander geschlafen hatten, darauf geeinigt, dass es völlig in Ordnung war, wenn wir mit anderen schliefen, da wir nicht zusammen waren und uns nicht so häufig sahen.
Das Problem war nur, dass dieser Mann zu Hause in New York alles durcheinanderwirbelte. Er stellte mein Leben völlig auf den Kopf. Er schaffte es, dass ich ihm die Führung überließ. Er hatte es sogar geschafft, dass ich ihm zuliebe weniger rauchte. Er war es auch gewesen, der mir aufgetragen hatte, dort für unsere Treffen rasiert zu sein. Ich hatte mich nach einem sehr spontanen Stelldichein dann dafür entschieden, dass es ein Dauerzustand sein sollte. Ich hatte nicht vor, wegen so etwas, noch einmal auf ihn zu verzichten.
Vermutlich wäre das der richtige Zeitpunkt gewesen, Peter von ihm zu erzählen. Denn das hatte ich mir für den Besuch vorgenommen: Peter von dem Wirbelwind zu erzählen, ihn darauf vorzubereiten, dass ich nach all der Zeit endlich eine Entscheidung getroffen hatte. Noch immer ließen wir es „langsam angehen, lernten uns kennen“. Dass war völlig absurd! Ich hatte nur einfach nicht den Mut, Peter zu sagen, dass ich mich nicht in ihn verlieben würde, egal wie lange wir uns näherkamen.
Der Grund, warum ich es nicht konnte, war einfach: Ich wusste, dass Peter sich verliebt hatte. Es war nicht zu übersehen und ich konnte ihm nicht das Herz brechen. Nach und nach hatten er und Mat mir in den letzten Jahren von ihrer Vergangenheit erzählt und ich fürchtete das, was passieren konnte, wenn ich Peter nun sagte, dass er für mich nie mehr als ein Freund mit Vorzügen werden würde.
Selbst wenn ich mich durchaus mal für eine Weile in ihn verknallt hatte, ich kam nicht mit dem klar, was diese Vergangenheit für Peter bedeutete. Es war mir einfach zu viel und zu kompliziert. Denn sie war eindeutig nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Wie auch? Immerhin hatte er sich und seinen Körper verkauft, um seine Drogen zu finanzieren. Das konnte nicht einfach ungeschehen gemacht werden. Auch nicht, indem man die Narben kaschierte. Von den Erlebnissen, die überhaupt erst dazu geführt hatten, ganz zu schweigen.
Peters Lippen an meinen Genitalien rissen mich aus den Gedanken. Offensichtlich wollte er es auf eine zweite Runde ankommen lassen, die ich ihm sicher nicht verwehren wollte. Damit war dieser Zeitpunkt aber auch definitiv der falsche, um ihm so etwas zu sagen. Ich hatte ja noch fast vierundzwanzig Stunden, um mit ihm zu reden, da würde es auf die halbe Stunde auch nicht ankommen.
Meine Hand vergrub sich in seinen Hinterkopf, während ich die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte.
Nachdem wir uns endlich dazu hatten aufraffen können, den Probenraum im Keller zu verlassen – das Zimmer von Mat und Peter war für Zweisamkeiten einfach denkbar ungeeignet – und duschen zu gehen, war doch schon mehr Zeit vergangen als gedacht. Wir beeilten uns, damit wir den Raum noch aufräumen und für die weiteren Übernachtungsgäste herrichten konnten. Außerdem mussten wir noch Chris helfen, zwei Biergarnituren in den Club zu räumen und ihn zu dekorieren. So blieb uns bis zum Beginn von Mats Party gar keine Zeit mehr, zu zweit in Ruhe zu reden. Außerdem wäre es dem Geburtstagskind gegenüber nicht fair gewesen, seinem Bruder die Laune zu verderben.
Wirklich viele Gäste gab es nicht. Mat tat sich noch immer schwer neue Leute kennenzulernen. Daher waren neben der Band, die die beiden mit Chris’ Unterstützung auf die Beine gestellt hatten, nur ein paar Stammgäste des Clubs anwesend, die es sich nicht nehmen lassen wollten, dem Sohn des Besitzers zu gratulieren. Doch diese hatten es sich am Nebentisch bequem gemacht.
Anthony, den Bassisten der Band, kannte ich schon von anderen Feierlichkeiten. Er war mit den Brüdern zur High School gegangen und schon dort mit ihnen in einer Band gewesen. Ich verstand mich recht gut mit ihm, auch wenn er nicht wirklich viel redete.
Den neuen Sänger der Band kannte ich jedoch noch nicht. Peter hatte ihn am College kennengelernt, woraufhin dieser Peters Platz am Mikro eingenommen hatte. Jener spielte stattdessen nun Gitarre. Ihr früherer Gitarrist, Quentin, war fürs College an die Westküste gezogen. Zumindest war es das, was mir Peter am Telefon erzählt hatte. Da ich nie wirklich mit ihm warm geworden war, war das aber in meinen Augen kein großer Verlust. Luke war deutlich sympathischer und sah uns noch nicht einmal merkwürdig an, als ich die Gelegenheit nutzte, mal wieder mit Peter zu tanzen.
„So, du bist also die Inspiration für Peters neuesten musikalischen Erguss?“, fragte er mich über die Musik hinweg, als wir uns wieder an den Tisch begaben. Ich öffnete zwei Flaschen Bier und gab eine davon an Peter weiter. Fragend sah ich ihn dabei an.
„Naja... Größtenteils, ja.“ Verlegen kratzte Peter sich.
„So? Worum geht es denn?“ Fast drohte mir das Herz aus der Brust zu springen. Er hatte doch hoffentlich kein Liebeslied für mich geschrieben! Das würde alles nur noch komplizierter machen.
Grinsend stand Mat auf, ging zur Anlage und legte nach einigem Suchen eine Kassette ein. Er startete das Gerät und einen Moment später war der Raum wieder von Musik erfüllt. Einige der älteren Herren schienen ziemlich irritiert von dem Lied. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Die Lieder, die sonst hier im Club liefen, waren zum Teil recht explizit, aber wenn dann ein so explizites Lied lief, wie das gerade, während die dafür Verantwortlichen nur einen halben Meter entfernt saßen, konnte das schon mal peinlich werden.
Als es zu Ende war und Mat die Kassette wieder herausnahm, räusperte Peter sich verlegen. „Es ist noch nicht so ganz fertig.“
Ich war etwas perplex von dem Lied. Galt das jetzt als Liebeserklärung? Immerhin hatte er ein ziemlich intimes Lied geschrieben, bei dem er zugab, dass ich es größtenteils inspiriert hatte. Andererseits konnte man es auch einfach nur als Fantasie sehen, die er gerne erleben würde, da das Lied nur bedingt etwas widerspiegelte, dass zwischen uns passiert war.
Der Text spiegelte wohl eher seine Träume und Gedanken in den Nächten des Ferienlagers wieder. Nein, das war ganz sicher kein Liebeslied. Dennoch erleichterte mir das mein Vorhaben nicht wirklich. Zügig trank ich mein Bier aus und danach noch ein weiteres.
Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile und tranken dabei. Irgendwann hatte ich meine Sorge einfach vergessen. Aber das Lied war noch immer in meinem Kopf präsent. Mit einem Lächeln auf den Lippen legte ich meinen Arm um Peters Schulter und beugte mich zu ihm herunter. Mittlerweile war das auch im Sitzen nötig, da ich noch einige Zentimeter gewachsen war. Leise raunte ich direkt an sein Ohr: „Wollen wir das Lied Wirklichkeit werden lassen? Die anderen bleiben sicher noch ’ne Weile hier, wir könnten ja schon mal runtergehen und die Zeit noch nutzen.“
Während ich gesprochen hatte, hatte ein heller Blitz den Raum erhellt, und als ich aufsah, stand Chris mit einer Kamera an unserem Tisch. War ja klar gewesen, dass er das Ding irgendwann holen würde, immerhin gab es von jeder Feier wenigstens ein solches Foto, wo fast alle Gäste drauf waren. Er schien grundsätzlich damit zu warten, bis alle etwas angeheitert waren und nicht mehr auf so etwas achteten.
Peter nickte zur Antwort leicht und leerte sein Glas. Dann stand er auf und hielt mir seine Hand hin. Hastig stürzte auch ich mein Getränk hinunter und nahm sie beim Aufstehen an. Er verkündete dabei: „Ich geh schon mal schlafen. Feiert noch schön.“
Natürlich verstanden die anderen Jungs, was wir vorhatten und verabschiedeten sich entsprechend feixend.
Als ich am nächsten Tag wieder im Flugzeug auf dem Weg zurück nach New York saß, hatte ich ihm immer noch nichts von dem Orkan erzählt, der in mein Leben gefegt war. Die Zeit, bis die Band in den Proberaum gekommen war, um dort zu schlafen, hatten wir noch bis zum Schluss ausgenutzt und waren dann auch schnell eingeschlafen. Am Morgen hatte ein gemeinsames Frühstück mit Chris und der Band angestanden, danach half ich den Brüdern und ihm beim Aufräumen, bis ich los musste, um meinen Flug zu erreichen. Morgen musste ich früh wieder arbeiten, daher hatte ich einfach nicht länger bleiben können. Es war dadurch gar keine Zeit gewesen, Peter in Ruhe davon zu erzählen.
Vermutlich wäre das eh eine blöde Idee gewesen. Ich war doch bisher erst drei oder vier Mal mit dem Mann, dessen sturmgraue Augen mich so gefangen nahmen, im Bett gelandet. Vermutlich war es für den Moment einfach nur die Neugier darauf, etwas Neues zu erleben. Das Erlebnis, sich selbst völlig hingeben zu können und die Kontrolle abzugeben. Bald würde es mir wahrscheinlich sowieso zu viel und zu langweilig werden. Er hatte schließlich deutlich gemacht, dass er die Führung nicht abgeben würde. Immerhin war es doch meiner Erfahrung nach immer so, dass es dann irgendwann für den Geführten zu viel wurde.
Richtig, damit hätte ich Peter nur unnötig verrückt gemacht und ihm sinnlos wehgetan. Ich könnte es ihm ja immer noch erzählen, wenn aus der Sache tatsächlich mehr werden würde. Genau, das würde ich tun. Ich würde Peter von dem Chaoten, der mein Leben durcheinanderbrachte, erzählen, wenn sich unerwarteter Weise mehr mit ihm ergab.
Ob er wohl wieder einen seiner farbenfrohen Briefe mit dem nächsten Termin für ein Treffen zu zweit in unseren Briefkasten geworfen hatte? Ich hoffte es, denn dann hätte ich einen Grund, ihn direkt anzurufen, wenn ich nach Hause kam. Wobei das eher unwahrscheinlich war. Immerhin sahen wir uns ja am Wochenende noch bei unseren Freunden. Dennoch hoffte ich, Roger bald mal wieder allein treffen zu können.
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