Jeder, der kritische Kommentare unter Fanfictions hinterlässt, wird früher oder später auf jemanden treffen, der dem Kommentator das an den Kopf wirft. »Genieße doch einfach den Text, der ist echt gut! Hör auf rumzukritisieren!«, ist dabei nur die harmlose Version, die jedoch fast genauso häufig kommt. »Don't like, don't read!« (DLDR), etabliert sich als beliebtes Argument gegen Kritiker, dass sie doch bitte aufhören mögen, Autor-chans Komfortzone anzukratzen. Das Problem: Es ist ein schwachsinniges Argument.
Eines liegt auf der Hand: Ich kann nicht hellsehen, also kann ich nicht immer im Vorfeld abschätzen, ob ein Text mir auch wirklich gut gefällt. Mit jahrelanger Leseerfahrung klappt das immer zuverlässiger, keine Frage, aber selbst das schützt mich nicht vor Fehlgriffen.
Nehmen wir einmal einen kritischen Leser an, der grundsätzlich keine Reallife meets Middle-Earth FFs liest. Also wird er in Texte, deren Kurzbeschreibung so etwas vermuten lassen, zumeist nicht hineinklicken. Oder nehmen wir mich: Ich lese Urban Fantasy nicht gern und lege daher die meisten Bücher dieses Genres wieder ins Regal zurück. Dennoch schreibt einer meiner Lieblingsautoren, Christoph Marzi, Urban Fantasy. Nur weil ich einen bestimmten Storytypus nicht favorisiere, heißt das nicht, dass ich alle Texte dieses Storytypus nicht mag. Es kommt vielmehr auf die Umsetzung an, weshalb eine Pauschalaussage wie DLDR schwierig bis unmöglich zu treffen ist.
Ich beispielsweise mag RL meets ME FFs durchaus gern, weil sie sehr spannende Konfliktfelder aufspannen durch die enormen kulturellen und sprachlichen Unterschiede. In gefühlt 99% aller Fälle enden solche FFs jedoch in 10th Walker Sues, in denen ein schlechter Selfinsert der zumeist weiblichen und jugendlichen Autorin in Mittelerde landet, feshe Sprüche abwirft und sich einen der Gefährten krall, weil das ja ein sooo hotter Boi ist, wie das beispielsweise in dieser FF der Fall war. (Lest lieber »Trinkt aus und kehrt heim!« von jandrina auf FF.de, eine wesentlich bessere Wahl.)
Muss man jetzt also DLDR brüllen, nur weil mir ein Text eines Storytypus nicht gefiel, obwohl ich prinzipiell gern da hinein schaue? Ist schwierig ... Oder nein, ist es eigentlich nicht, denn wie ich bereits ansprach kann man sich auch einmal vertun bei der Auswahl der Lektüre.
Hinzu kommt der Fakt, dass es sehr wohl eine Menge Texte gibt, über die ich einfach hinweg scrolle, weil ich wirklich von vornherein weiß, dass sie mir nicht gefallen werden. Ja, in diesem Falle lese ich nicht, wenn ich es nicht mag, und da ich dann auch logischerweise nicht kommentiere, wird so etwas schlicht nicht wahrgenommen.
Natürlich kann man auch kommentieren, ohne den Text gelesen zu haben, siehe Anne Rose, aber das ist eine andere Geschichte.
Lesen ist übrigens unabhängig vom Kommentieren. Ich kommentiere auch bei weitem nicht alles, was ich lese, und viele kommentieren gar nicht, wenn ihnen das Gelesene nicht gefällt. Gelesen haben sie es trotzdem, obwohl sie laut DLDR es nicht hätten tun sollen.
Die Hälfte der Rezensionen auf diesem Blog würde es wohl nicht geben, wenn ich nicht diesen einen Charakterzug hätte, gern Trash zu lesen und mehr oder weniger ausführlich darüber zu ranten. Gefällt dem einen, dem anderen weniger. Ich mach's gern. So, nun rante ich über den Text, weil ich ihn als so schlecht empfand, aber prinzipiell mache ich das hin und wieder sehr gern. Don't like, don't read? Eher nicht.
Was übrigens auch oft in diesem Zusammenhang dem Kritiker an den Kopf geworfen wird, ist eine Argumentation wie diese: »Aber das ist meine Geschichte! Mit der kann ich machen, was ich will! Ist doch bloß Fiktion!« Ja, das ist prinzipiell nicht falsch, wirft aber einige Probleme auf. In der Literaturszene ging vor kurzem mal wieder eine Rape Fiction Debatte um, die vielleicht nie aufgekommen wäre, wenn sich schon vor langer Zeit viele Leute zweier Dinge bewusster geworden wären:
- Wir sollten allem, was wir konsumieren (und ja, Fanfictions sind Konsumgut), kritisch gegenüber stehen, es reflektieren und hinterfragen.
- Autoren haben eine Verantwortung, und wenn sie sich dieser entziehen wollen, wird es gefährlich - und das betrifft alle Autoren, auch Hobbyautoren auf Archivseiten wie Wattpad.
Was passiert, wenn sich Autoren dieser Verantwortung entziehen, und warum das gefährlich ist, hat Elea Brandt hier[1] illustriert:
Stephenie Meyer, die Autorin der „Twilight“-Bücher, rechtfertigte die missbräuchlichen Aspekte in der Beziehung zwischen ihren Protagonisten Edward und Bella zum Beispiel wie folgt: “This is not even realistic fiction, it is a fantasy with vampires and werewolves, so no one could ever make her exact choices. […] Bella is constrained by fantastic circumstances [not Edward].” Kurz gefasst: Was in der Realität als Missbrauchsbeziehung gelten würde, ist in Romanen romantisch, weil es sich schließlich um Fiktion oder – in diesem Fall – Fantasy handelt.
(Da das nur ein Zitat eines längeren Blogposts ist: Sie spricht sich dagegen aus und kritisiert im Weiteren Meyers Aussage. Für weitere Details zu dem Thema empfiehlt sich ihr Post sehr.)
Gerade junge Leser sind sehr beeinflussbar, und es sind diese jungen Leser, die Texte unreflektiert konsumieren, die missbräuchliche Beziehungen romantisieren, und sich scharenweise auf Archivseiten herumtreiben. Ein weiteres Beispiel erlebte ich auf Wattpad vor einiger Zeit am eigenen Leibe. Zur Info: Der Text ist mittlerweile von Wattpad genommen und hätte Wattpad diesbezüglich nichts unternommen, hier hätte wirklich der Jugendschutz intervenieren müssen. Des weiteren hat die Autorin Einsicht gezeigt und erkannt, dass das, was sie da tat, nicht gerade klug war.
Es handelte sich dabei um einen Text, in dem Jugendliche in einem Gebäude eingesperrt wurden und sich dann gegenseitig umbrachten. Es wurde sogar als positiv dargestellt und die Gewalt wurde exzessiv geschildert und sich, man kann es nicht schön reden, daran aufgegeilt. Dieser Text hatte tausende Follower, von denen, dafür lege ich meine Hand ins Feuer, die meisten minderjährig waren. Als der Text gemeldet und entfernt wurde, gab es einen riesigen Aufschrei und es kam zu einem Shitstorm, weil diesen Jugendlichen nun ihre Unterhaltung genommen wurde. Keiner von denen, die sich an diesem Shitstorm beteiligten, hatte auch nur einmal laut werden lassen, dass die Gewaltdarstellungen in diesem Text höchst bedenklich waren und durchaus eine Jugendgefährdung darstellten.
Literatur vermittelt Werte, selbst wenn man es »nur« als Hobby nach einem langen Schultag betreibt. Werke wie Twilight, die After-Reihe oder 50 Shades fanden eine enorme Resonanz, und das zieht Nachahmer an. Ich vermute, dass häufig eine Überlegung wie diese dahinter steht: »Das ist beliebt und erfolgreich. Also ist es gut, und ich mach das auch so. Und außerdem bringt es Klicks und Kommentare auf meinen Text, weil alle so etwas lesen.«
Und weil »alle so etwas lesen«, liegt der (irrtümliche) Gedanke nahe, dass Praktiken, wie sie in diesen Romanen geschildert werden, okay seien. Wird einem von Identifikationsfiguren (und seien sie nur fiktiv wie Bella und Edward) vorgelebt, dass es völlig in Ordnung, gar romantisch ist, wenn in einer Partnerschaft ein Abhängigkeitsverhältnis ausgelebt wird, und reflektiert man dieses Bild nicht, das da geschildert wird, ist der Gedanke, dass das alles sehr kritisch zu sehen ist, sehr fern.
Es findet mehr und mehr Nachahmer auf Archivseiten, weil solche Texte nun mal Klicks bringen, und es setzt sich immer mehr in den jungen Köpfen fest.
»Aber das ist doch nur Fiktion!« Nein, ist es eben nicht »nur«. Diese Fiktion hat eine nur allzu reale Auswirkung auf unser Leben, Handeln und Denken. Und genau da hört die Fiktion auf.
Lese ich so etwas, möchte ich meinen Mund aufmachen dürfen, möchte ich dagegen ansprechen dürfen, und nicht wegklicken »müssen«, weil einige mit absprechen wollen, ein selbstständig denkendes Wesen zu sein, das selbst bestimmen kann, was es lesen will und was nicht. Schon allein deswegen ist der Ausspruch DLDR obsolet. Denn was ich lese oder nicht, bestimme ich immer noch lieber selbst.
Den Mund aufmachen zu dürfen, dafür gehört für mich auch, schlicht inhaltliche Fehler ansprechen zu können. Ein Falke kann keine Pergamentrolle in einer schweren Lederhülle tragen, das geht schlicht nicht, wenn das Teil mehr wiegt als der Vogel. Ich komme auch nicht in drei Tagen von Gondor nach Bruchtal, wenn ich nur ein Pferd oder gar nur meine Füße habe.
Es sind die kleinen Dinge, die den Unterschied machen. Und schließlich und schlussendlich habe ich als Leser sehr wohl ein Anrecht auf ein Mindestmaß an Qualität. Klar, ich erwarte bei Texten von Hobbyautoren keine perfekt lektorierten Werke, bei der Wertung solcher Texte lege ich selbst auch andere Maßstäbe an als an Verlagswerke (oder Selfpublisher, die wollen dafür immerhin auch Geld). Aber ein offensichtlich hingerotzter Text, bei dem sich ein Scheiß um Kanon oder auch nur die einfachsten Formalien wie Rechtschreibung geschert wird, empfinde ich fast schon als Beleidigung. Kann mir keiner erzählen, dass solche Texte wirklich noch »mit Herzblut« geschrieben sind oder der Autor an Legasthenie leide, was allzu oft als Faulheitsausrede genutzt wird, um sich keine Mühe geben zu müssen.
Also, Leute: Schließlich und schlussendlich kann jeder lesen, was und wie er es will und muss sich nichts vorschreiben lassen, vor allem nichts von Teenagern, die sich ans Bein gepinkelt fühlen, wenn ein Kritiker daherkommt und es wagt, mal keinen Quitschie dazulassen. Don't assume my reading habit with your DLDR. Das Argument funktioniert auch anders herum: Natürlich darf jeder schreiben, was er will, verbietet einem ja keiner. Nur sollte man dann unter Umständen auch mit entsprechendem Feedback rechnen.
[1] zuletzt aufgerufen am 5.2.18 um 13:45