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Temporär gescheitert

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07.09.22 23:17
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Ich bin ein alter Mann. Ich fühle mich so, wie sich ein alter Mann fühlt und ich gehe allein durch meine Tage. Seit ich allein lebe habe ich ein Gefühl, das Gefühl, das mir sagt, ich bin gescheitert. Eigentlich ist das Unsinn, denn ich blicke auf ein sehr erfolgreiches Leben zurück. Das Gefühl gescheitert zu sein, stellte sich mit dem Alleinleben ein und es hat auch nur mit meinem allein durch die Welt gehen, zu tun. Ich fühle mich nicht einsam, das wäre die falsche Beschreibung meines Zustandes. So bin ich fest davon überzeugt, mein Scheitern ist nur ein Gefühl, es handelt sich um ein temporäres Scheitern.

Wie soll ich nur beschreiben, warum ich mich als (temporär) Gescheiterter fühle? Alles begann damit, dass ich verlassen wurde, verlassen von der Liebe meines Lebens. Meiner Liebe kann ich die daran Schuld nicht in die Schuhe schieben. Im Alter von achtzig zu sterben ist nicht ungewöhnlich, aber wir haben ein so langes gemeinsames Leben hinter uns gebracht, dass mir die Regeln für das Alleinleben nicht mehr geläufig sind. Die Zeiten vor dem Zusammenleben, sind eine ferne Erinnerung – eine verblasste Erinnerung, an die ich nicht anknüpfen kann, so gerne ich das auch möchte. Es ist mir unmöglich, zu diesem Leben zurückzukehren. Ein Problem, meinen kleinen Haushalt allein zu führen, habe ich nicht – zumal mir alle vierzehn Tage eine Fee zur Seite steht. Das Problem anderer verlassener Männer, die nicht wissen, wie man einen Haushalt führt, ist mir unbekannt und unverständlich. Es gibt zurückgelassene Männer, die daran scheitern. Männer, die weder wissen, wie man kocht, noch wissen, wie man einkauft und auch von Wohnungs- und Wäschepflege keinen blassen Schimmer haben, sind ärmer dran, als ich es bin. Ihnen bleibt eigentlich nur noch der Ausweg, täglich auf die Lieferung von fertig gekochter Nahrung zu warten. Essen auf Rädern, nannte man das früher. Essen auf Rädern starb mit dem Ende der Wehrpflicht und somit auch des Zivildienstes. Heutzutage klingt das vornehmer, Landhausküche oder ähnlich verführerisch lauten die Aufschriften auf den bunt lackierten Lieferwagen. Ob der Inhalt der Styroporboxen dadurch besser schmeckt? Ich habe da meine Zweifel. Sind sie Herren betucht genug, können sie sich eine Kraft für die Reinigung ihrer Wohnung leisten. Das war es dann. So oder so, ihnen hilft auf Dauer, nur noch die Übersiedlung in ein Seniorenheim, egal, wie gesundheitlich fit sie noch sind. Sie sind mehr als temporär gescheitert – endgültiges Scheitern kann man das nennen.
     Mein Scheitern hat eine andere Qualität. Ich scheitere daran, mich in die Gesellschaft einzufügen. Was für ein freudloses Unterfangen, allein in einem Restaurant zu essen. Allein an einem Tisch zu sitzen, Speisen in sich hineinzuschaufeln (nein, ich schaufele nicht – ich esse mit Bedacht), an einem guten Wein zu nippen, was soll das? Aber wenn ich nicht weiter scheitern will, muss ich entweder lernen, mein Essen allein zu genießen oder ich muss es lernen, wie ich mich anderen Menschen anschließe. Da ich (bisher) weder zum einen, noch zum andern in der Lage bin, bleibt das Gefühl gescheitert zu sein.
     Ich scheitere beim Reisen. Da ich reise, ohne die Reisen zu genießen. Allein in einem Hotelzimmer abzuhängen, empfinde ich als erniedrigend. Am Abend gemeinsam auf den Tag zurückzublicken, erst das macht das Reisen zudem, weswegen ich reise. Trotzdem reise ich und hoffe dabei mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Gelingt das, ist es gut. Meist misslingt es und das Gefühl des Scheiterns stellt sich ein.
     Mein Leben lang bin ich gewandert. Eigentlich nie allein. Als Kind, mit Mutter oder Großeltern. Als Jugendlicher und junger Erwachsener, mit einem Freund und nachdem ich mich verliebt hatte, mit der Frau, mit der ich den weitaus größten Teil meines Lebens verbrachte. Aber wie wandert es sich allein? Ja, ich wandere jetzt allein – ausdauernd, oft und weit. Ich wandere, ab und zu, bis zur Erschöpfung. Für das Wandern gilt das Gleiche, wie für das Reisen. Allein kann ich das nicht genießen. Beim Wandern ins Gespräch zu kommen ist noch unwahrscheinlicher als beim Reise. Trotzdem, manchmal gelingt es und zum Wandern kann man sich relativ gut verabreden. Nur die Auswahl an Menschen meines Alters, die fit genug sind, mit mir zu wandern, ist gering. So wandere ich überwiegend allein und erleide auch dabei das Gefühl gescheitert zu sein.

Was kann ich tun, um das gefühlte Scheitern zu beenden? Ein Rezept habe ich bisher nicht gefunden. In die Gesellschaft einfügen ist leichter gesagt, als getan. Das Reisen fängt inzwischen an, mir, zumindest manchmal, Freude zu machen. Mich an Reisegruppen anzuschließen, liegt wirklich nicht in meinem Naturell, aber allein Reisen, ist eine Sache der Gewohnheit. Ich übe das und reise, so oft es geht. In diesem Zusammenhang wird das Scheitern enden. Das Scheitern ist in diesem Fall bereits temporär. Wandern, ja, das hat etwas. Wandern ist eine lebenslange Gewohnheit von mir. Nur, wie ich es oben beschrieben habe, ich bin eigentlich noch nie allein gewandert. Die Lernfähigkeit eines Menschen jenseits der Achtzig ist begrenzt, aber nachdem ich nun fünf Monate allein gewandert bin, stelle ich unerwartet fest, auch allein wandern, kann befriedigend wirken. Löst sich damit mein Scheitern? Nein, ich glaube nicht! Beim Wandern muss ich umlernen. Ich muss mich einer der zahlreichen Wandervereine anschließen, oder ich muss auf einen Menschen treffen, der bereit ist, meine Wanderleidenschaft mit mir zu teilen. Da warte ich jetzt einfach ab. Nein, ich werde das aktiv angehen. Niemand wird kommen und mich in einen Wanderverein einladen, da muss ich selbst aktiv werden und auf diese Menschen zugehen. Ich glaube, dadurch könnte sich das Gefühl des Scheiterns in Wohlgefallen auflösen.

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Schriftstellerin Am 08.09.2022 um 21:37 Uhr
Hallo Bernd,
es tut mir leid, wenn ich lese, wie Du schilderst, dass Du alleine im Restaurant sitzt und trotz großer Breitschaft Deinerseits keiner mit Dir reden will. In unserer Gesellschaft läuft vieles schief. So geht das nicht weiter. Wir vereinsamen. Ich bin zwar noch jünger als Du, aber ich kenne dieses Problem auch, wenn ich mal alleine weggehe. Niemand will mit einem reden. Unter vielen Menschen kommt man sich einsamer vor, als zu Hause alleine. Mir ist auch völlig unerklärlich, warum ich in einer Kneipe oder auf einem Konzert weit und breit die Einzige bin, die nichts dagegen hätte, angeredet zu werden. Und es geht mir jetzt nicht darum, einen Partner kennenzulernen. Besonders ist mir das nach der Wende aufgefallen, als wir das erste Mal die Kneipen in Westberlin besuchten. Die Leute waren viel kälter drauf als bei uns im Osten. Auch in den besetzten Häusern hier in Friedrichshain, in denen meist nur Westdeutsche Autonome und Studenten wohnten, war die Atmosphäre sehr kalt und ist es bestimmt auch immer noch, aber ich gehe dort nicht mehr hin. Die Leute dort wollten unter sich bleiben und ließen Außenstehende nicht an sich ran. Für sie gilt wohl nicht der Slogan der kirchlichen Jugendbewegung in der DDR: "Vertrauen wagen", sondern "Jeder ist allein auf dem Highway". Ein Kumpel, ein sympathischer Typ, erzählte mir mal entsetzt, dass dort eine Frau zu ihm gesagt hatte: "Du passt hier nicht in die Szene." Er konnte da gar nicht drüber weg kommen. So was hatte noch nie jemand zu ihm gesagt.
Einen Schönen Abend wünscht Schriftstellerin
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BerndMoosecker (Autor)Am 08.09.2022 um 23:20 Uhr
Hallo Schriftstellerin,
Dein Kommentar bewegt mich.

Ich tue mich leider nicht so leicht im Kontakte knüpfen, wie meine verstorbene Liebe, aber ich bemühe mich :-)
Ich bin manchmal überrascht. Ich hatte "vornehm" mit Blick auf die Elbe gegessen, natürlich allein am Tisch. Zurück im Hotel spricht mich eine Frau an, von der ich zumindest wusste, sie reist auch allein. Ihre Aussage war, wir haben im gleichen Restaurant gegessen, ich habe sie gesehen. Oh, warum haben sie sich nicht zu mir gesetzt? Und ihre Antwort - ich wollte sie nicht stören.

So etwas verunsichert mich noch mehr. Wirke ich so unnahbar? Ich glaube nicht, das ich so wirke, aber das können sicher andere besser beurteilen. Trotzdem, ich blicke voll Neugier in die Zukunft.

Wir es vor der Wende war, kann ich natürlich nicht beurteilen. Aber, was ich positiv einstufe - sofort nach der Wende fand ich Freunde in den neuen Ländern.

Liebe Grüße
Bernd
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Klatschkopies Profilbild
Klatschkopie Am 14.10.2022 um 0:17 Uhr
Hallo Bernd,

der Text rührt mich an und lässt mich zutiefst betroffen zurück. Ich kann deine Gedanken und Gefühle nachvollziehen. Mir tut es ebenfalls leid, lesen zu müssen, dass du dich allein fühlst, dass du, obwohl du in die Öffentlichkeit gehst, kaum Anschluss findest.

Was ich wunderbar finde - und das möchte ich an dieser Stell wirklich hervorheben! -, ist, dass du in die Öffentlichkeit gehst, dass du auch alleine das Restaurant besuchst, wanderst, reist. Du machst das, was dir früher Spass bereitet hat, tust es weiter, auch wenn du dich beschnitten fühlst, leer, allein, um nicht zu sagen einsam. Ich habe dich vor meinem geistigen Augen gesehen. Das mag an deiner Gabe liegen, eindringliche, bewegende Texte schreiben zu können, jedoch auch daran, dass du mir trotz all der emotionalen Schläge, die du aushalten musstest, ein starker Menschen bist.

Du jammerst nicht, sprichst nur über das Gefühl des Schweiterns, schränkst es sogar ein, sagst, es sei partiell. Ja, das ist es, partiell. Es wird vorübergehen.

Und um auf die Elbe und das Restaurant zu kommen: Manchmal sind die Leute um einen her auch schüchtern, obwohl man ja eigentlich nichts zu verlieren hat, wenn man fragt. Manchmal wirkt man aber auch so sehr in sich gekehrt, dass man den Eindruck macht, als wolle man allein sein. Mir sagte das mal mein alter Chef, in deinem Alter.

Was Schriftstellerins Ausführungen anbelangt, so bin ich zwar aus dem gleichen Stall, wahrscheinlich sogar aus der gleichen Stadt ... aber da ich kein Kneipengänger bin, weiß ich dazu nichts zu sagen. Ich war neulich auf einem Konzert von einer Rockband aus der ehemaligen DDR, City, da herrschte aber genau diese Athmosphäre, die sie beschreibt: jeder war dem anderen gut, man kam ins Gespräch. Wenigstens das und es waren Menschen wie du und ich, keine aufgedrehten Hypertypen, die man an der Pfeife aufrauchen möchte. Es gibt diese Flecken, an denen sich Kontakt ergibt. Du schreibst, machst du auch Lesungen? Veröffentlichst du deine Texte? Dieser Text hier, allein dieser, der steht doch Pate für eine ganze Generation. Du beschreibst deren Schicksal - und ich denke mit anderen Texten doch auch.

Vielleicht ist die Zeit aber auch noch nicht reif. Wie du selbst schreibst, blickst du in die Zukunft - und vielleicht trifft es dich, ohne, dass du es erwartest. Du bist aktiv, ziehst dich nicht zurück. Da geht was!

... vornehm an der Elbe sitzen ... wohl in Dresden, oder wie?

Alles Liebe dir und danke dafür, dass du diesen Text mit uns teilst.

Herzlich
KlatschKopie
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BerndMooseckers Profilbild
BerndMoosecker (Autor)Am 14.10.2022 um 12:56 Uhr
Hallo Klatschkopie,
danke für Deine wohltuenden Worte. Man muss sein Schicksal mögen, lautet eine meiner Einstellungen zum Verlauf des Leben.

Im Moment bin ich in einer wirklich guten Zeit, noch eine Woche Frankreich habe ich vor mir. Meine Tochter sehe ich jetzt fast täglich und so werde ich genug Kraft haben, die nächsten Monate als angenehm zu empfinden.

Nein, es war nicht Dresden, ich saß in Dessau an der Elbe :-) Das Ende der DDR hatte eben positive Auswirkungen, ich lernte schon relativ kurz nach der Wende Menschen kennen, die ich noch heute zu meinen Freunden zähle.
Herzliche Grüße
Bernd
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Autor

BerndMooseckers Profilbild BerndMoosecker

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Kurzbeschreibung

Ich habe Gedanken aufgeschrieben, die einem Menschen durch den Kopf gehen, der nach fast einem Menschenleben allein zurück blieb.