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Regal der Erinnerung - Die Madonna

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02.03.24 23:20
6 Ab 6 Jahren
Fertiggestellt

Im Regal der Erinnerung steht eine Madonna. Ungewöhnlich in einem Haushalt, in dem ausschließlich Menschen leben, die sich nicht dem Christentum zugehörig fühlen. Aber das ist an dieser Stelle unerheblich, schließlich will ich erzählen, wie die Madonna in das Regal gelangte. Die ziemlich ramponierte Figur ist eine Nachbildung der Madonna von Lourdes. Aus Gips gegossen – das linke Auge fehlt. Der ehemals weiße Umhang, in den sie gekleidet ist, erstrahlt nicht mehr. Seine Farbe hat sich in einen schmutzigen Grauton mit einem Stich ins Braune verwandelt (vielleicht handelt es sich auch um ein Braun mit einem Hang zum Grau - im Erklären von Farbtönen bin ich nicht gut). Auch sonst ist die Figur ziemlich ramponiert, aber die Erinnerung hält sie in der Ecke ihres Regalfaches fest und sie wird dort wohl bleiben bis ich diese Wohnung verlassen muss.

Der Ausgangspunkt dieser Kurzgeschichte ist, dass wir zu Ende des vergangenen Jahrhunderts und zu Beginn des neuen Jahrtausends oft und gerne eine Auszeit in Grayan-et-l’Hôpital auf der Halbinsel Médoc nahmen. Eine außerhalb der Saison ausgesprochen ruhigen Gegend an der Küste des Atlantiks, genau das, was wir zum Abschalten vom ganzjährigen Stress brauchten. Damals gab es in Frankreich noch häufig Geschäfte, die sich La Cave nannten. Übersetzt heißt der Begriff der Keller oder auch der Weinkeller und ein Weinkeller ist mit in diesem Fall mit La Cave gemeint. Die Ausstattung der Geschäfte glich meist wirklich einem Kellerraum oder Schuppen. Das Innere beherrschten mehrere große Tanks, die wohl jeweils über tausend Liter Wein fassten. Zum Einkauf nahm man einen Weinkanister mit, in den der Wein aus dem Tank umgefüllt wurde; im Notfall reichte auch eine leere Wasserflasche. Man findet diese Art von Geschäften manchmal auch heute noch, aber das eigentliche Aus dieser Läden war das Aufkommen der Weinschläuche, in denen heute der Landwein in den Regalen der Supermärkte feilgeboten wird.

Wir kauften gerne unseren Wein in diesen Geschäften und wir waren sogar im Besitz von mehreren dieser fünf Liter fassenden Weinkanister. Von unserem Quartier aus mussten wir wohl an die zwanzig Kilometer in die nächste Kleinstadt fahren, um die nächste Cave zu erreichten. Das war kein Problem, denn der nächste Supermarkt, der Schlachter und das Delikatessengeschäft befanden sich ebenfalls in dieser Kleinstadt. So ließ sich der Wocheneinkauf auf einen Rutsch erledigen. Interessant am Einkaufsvorgang ist die Rückfahrt zu unserem Quartier. Einen kleinen Weiler mussten wir bei dieser Fahrt passieren, ein öder Ort auf dem Land, der sich Vensac nennt. Im Ort gibt es eine Besonderheit, an einer Gablung der Hauptstraße steht eine Säule, die mit einer Marienstatue gekrönt ist. Es handelt sich um eine etwas sonderbare Darstellung der Madonna. Sie steht dort auf der Säule mit etwas ausgebreiteten Armen, was der Figur einen Eindruck von Ratlosigkeit verleiht. Irgendwann in unserer Karriere als Weinkäufer, kamen wir zu der Überzeugung, dass die Madonna böse guckt, wenn wir mit unserem Weinkanister im Kofferraum an ihr vorbeifuhren. Wir diskutierten scherzhaft, ob die Madonna überhaupt wissen konnte, dass wir Wein transportierten. Das ging einige Jahre so und eines Tages besuchte uns einmal unsere Tochter, die noch weiter südlich in Frankreich lebt. Wir nahmen sie mit zu Einkauf und auf der Rückfahrt bekam sie unsere Scherze über den bösen Blick der Madonna mit. Wie immer, wenn wir als Familie beisammen sind, wird so etwas weiter scherzhaft ausgebaut. So verlebten wir den Rest des Tages ausgesprochen fröhlich.

Monate später kam dann unsere Tochter auf Heimatbesuch und sie hatte ein Mitbringsel dabei. Sie überreichte uns feierlich die ramponierte Madonnenfigur und meinte, so hätten wir immer eine Madonna im Haus, die unseren Weinkonsum kontrolliert. Die Figur, auf einem Trödelmarkt irgendwo in Aquitanien erstanden, wanderte in das Regal der Erinnerung und kontrolliert seitdem unsere Tätigkeiten am Computer. Wein trinken wir in diesem Raum nicht, denn Alkohol und Computer sind einfach keine gute Kombination. Aus meinem Berufsleben heraus weiß ich, Programme unter Alkoholeinfluss erstellt sind weder gut noch überhaupt irgendwie brauchbar und somit reif für den digitalen Papierkorb. Auch die Freizeitbeschäftigung mit Computern unter Alkoholeinfluss unterlassen wir, zu schnell klickt man irgendwo und hinterher ist das nur schwer zu reparieren. So bleibt die Aufsicht der Madonna wirkungslos und es ist meine Aufgabe, sie beim Entstauben des Regals hin- und herzuschieben.

Manchmal mache ich mir Gedanken darüber, was mit dem ganzen Plunder im Regal geschieht, wenn ich entweder tot bin oder vielleicht in ein Seniorenheim gezogen bin. All diese Erinnerungsstücke werden wohl den Weg alles Irdischen gehen. Nach mir wird sich niemand mehr daran erinnern, weshalb dieses oder jenes Teil in diesem Regal gelandet ist. Es sind eben meine Erinnerungen die in diesem Regal lagern und ab und zu entstaubt werden müssen. Das Staubwischen blieb bisher immer mir überlassen, meine liebe Frau weigerte sich strickt die ganzen Figürchen und unnützen Gerätschaften zu entstauben und zum Auswischen der Fächer auch noch aus dem Regal zu entfernen und anschließend wieder einzuräumen, aber ich habe jetzt ein Opfer gefunden, das mir diese Arbeit abnimmt – alle zwei Wochen erscheint die Putzfee und nimmt mir diese lästige Arbeit ab.

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Autor

BerndMooseckers Profilbild BerndMoosecker

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Sätze: 39
Wörter: 886
Zeichen: 5.392

Kurzbeschreibung

Was im Regal der Erinnerung gesammelt wird ist zum einem großen Teil Ramsch. So beschrieb ich es bereits in der Erzählung über die Uhren. Die Madonna zählt auf jeden Fall zu dem, was ich Ramsch nenne. Trotzdem, die Madonna gehört zu einer Erinnerung, die ich nicht missen möchte.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Nachdenkliches auch in den Genres Entwicklung, Familie gelistet.