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Remarque und Calvados

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16.02.23 23:52
16 Ab 16 Jahren
In Arbeit

Wenn die Trauer nicht mehr der alles Schöne überlagernde Inhalt des Gedenkens ist, die tiefe Trauer sich nach und nach in liebendes Gedenken wandelt, dann ist der Zeitpunkt gekommen, in denen die schönen Erinnerungen aus der Versenkung aufsteigen. So geht es mir seit einiger Zeit.

Unsere bald sechs Jahrzehnte andauernde Gemeinsamkeit schönzureden, wäre unredlich. Nein, ich sehe sie weiterhin realistisch, genau so, wie wir es gemeinsam zu Lebzeiten meiner Liebe gehalten haben. Unser Leben war getragen von der tiefen Liebe, die uns verband. Unproblematisch war unser Zusammenleben nie, zu verschieden waren unsere Charaktere. Trotzdem, wir hielten zusammen, wie Pech und Schwefel.

Neben der Liebe, die uns verband, gab es natürlich auch andere Gemeinsamkeiten, die unser Zusammenleben prägten. Das Interesse an Literatur wohnte uns beiden inne. Mein Schatz las viel, ich auch; und da wir anfangs kein Geld für ein Fernsehgerät hatten, saßen wir oft am Abend, jeder mit einem Buch in der Hand beieinander.

Diese Einleitung dient der Erläuterung, wie es zu unserer, in der im Anschluss folgenden Geschichte beschriebenen, Vorliebe für den Schriftsteller Erich Maria Remarque und für den Apfelbrandwein Calvados gekommen ist. Eine sonderbare Verbindung? Wir empfanden diese Verbindung als logisch und normal. Auch jetzt, da ich allein lebe, empfinde ich so, wenn ich auch schon seit Jahren keinen Calvados mehr getrunken habe.

Eigentlich begann alles an meinem 16. Geburtstag. Einer meiner Onkel schenkte mir ein Buch – Arc de Triomphe von Erich Maria Remarque. Um es ehrlich zu sagen, ein Junge in diesem Alter ist eigentlich zu jung für dieses Buch. Gut katholisch, wie ich nun einmal erzogen war, war für mich das, was der Protagonist mit seiner Geliebten im Bett trieb, sündig. Stärker ausgedrückt – eine Todsünde! Aber Sünde hin oder her, ich verschlang das Buch, wie kein anderes davor. Es ist sehr spannend geschrieben und die Handlung des Romans beschreibt in eindringlichen Worten das Leben von Menschen, die vor den Nazis geflohen waren und illegal in Paris lebten. Im Laufe der Jahre, bis ich auf meine große Liebe traf, habe ich immer wieder einmal in diesem Buch gelesen. In meinem Zimmer stand es immer griffbereit in der Nähe meines Betts.

Als ich auf die Liebe meines Lebens traf, fiel die Lust auf Lesen zuerst einmal in einen längeren Schlaf. Ein Winterschlaf, so könnte man meinen, denn als die Liebe uns gefangen nahm, war es Spätherbst. Wieso und weshalb das geschah, darüber haben wir oft gerätselt, denn wir kannten uns bereits einige Monate, unternahmen einiges gemeinsam, nur zu Gefühlsausbrüchen ist es nicht gekommen. Vielleicht war es das schlechte Wetter, das unsere Unternehmungslust ausgebremst hatte. Wie es auch gewesen sein mag, wir beschäftigten uns mit anderen Dingen, als lesen.

Als sich der Taumel der Gefühle lichtete, haben wir bald geheiratet und das Interesse am Lesen wuchs wieder. Wir empfahlen uns gegenseitig Bücher und das haben wir über die Jahrzehnte bis zum Schluss beibehalten. Ich empfahl meiner frisch angetrauten Arc de Triomphe. Sie hat in wenigen Tagen das Buch ausgelesen. Ihr erging es so, wie mir, vieles, was Remarque über Leben und Schicksal der Flüchtlinge schrieb, war ihr neu. Das, was ich als junger Mensch noch für sündhaft gehalten hatte, beeindruckte sie nicht, schließlich waren wir inzwischen anderer Ansicht, über das, was ich, gerade der Pubertät entwachsen, als Sünde empfunden habe. Etwas Anderes regte ihre Gedankenwelt an. Remarque beschreibt, wie es sein Protagonist und seine Geliebte im Bett treiben, während sie schon am Abend reichlich Calvados getrunken hatten und sich vom Wirt eine besonders gute Flasche dieses Apfelbrandweins geben ließen, die sie dann während ihrer Liebe leerten. Nun ja, zu dieser Beschreibung meine ich, auch große Romanciers übertreiben. Wir haben es nie ausprobiert, uns fehlte es zuerst an Geld, für diesen durchaus teuren Weinbrand und später verließen wir uns lieber auf unsere Gefühle, dazu brauchte es keinen Weinbrand.

Jahre später kamen wir in eine Lebenskrise, das lag nicht an nachlassender Liebe, dem täglichen Trott oder nachlassender Anziehung. Es war die Wohnung oder genauer ausgedrückt, wir hatten keine Wohnung mehr. Die Schuld lag nicht bei uns, der Bau unserer neu erworbenen Wohnung verzögerte sich immer weiter und die bisherige Wohnung mussten wir räumen. Eine Baracke, in der ehemals Büros untergebracht waren, wurde zu unserer provisorischen Behausung. Platz hatten wir reichlich, unsere gesamtes Mobiliar lagerten wir dort ein. Was fehlte, war eine gebrauchsfähige Küche, so behalfen wir uns mit der noch vorhandenen Kaffeeküche. Ein Bad hatten wir auch nicht, aber eine Damen- und eine Herrentoilette. Beide mit je einem Miniwaschbecken ausgerüstet, das war es. Alles war schwierig, die Tochter musste zur Schule gebracht werden, wir wollten sie nicht umschulen, schließlich hofften wir, es handele sich eine Notlösung für einige Wochen, es wurden Monate.

Einmal hatte meine Mutter in dieser Zeit einen Geistesblitz. Sie hatte sich wohl überlegt, wie sie uns die missliche Lage erträglicher gestalten könnte. So stand sie eines Tages in unserer Behausung und beschenkte uns mir einer Flasche eines sehr guten und entsprechend teuren Calvados. Wir tranken ab und zu ein Glas davon und meiner Liebe fiel Arc de Triomphe wieder ein. Sie las das Buch zum wiederholten Mal. Als endlich unsere neue Bleibe bezugsfertig war, gab es immer noch einen Vorrat Calvados in der Flasche. Wir tranken sie am ersten Abend, nachdem wir unsere Wohnung eingerichtet hatten, leer. Das Buch erhielt einen Ehrenplatz im Bücherregal.

Viel später kam es zu einer gefühlten Katastrophe. Das Buch ging verloren. Meine Liebe vermutete, sie hätte es verliehen. Das mag sein, aber ihr ist nie eine Idee gekommen, wem sie es geliehen haben könnte.

Ihre Trauer über das verlorene gegangene Buch war groß, sie litt an so etwas, wie körperlichem Schmerz, wenn sie sich den Kopf darüber zermarterte, wem sie Arc de Triomphe geliehen haben könnte. Nach einigem Nachdenken beschloss ich das Buch einfach neu zu kaufen. Es war in der Buchhandlung nicht mehr vorrätig, aber ich konnte es bestellen. So dauerte einige Zeit, bis ich das Buch endlich in Händen hielt und es meinem Schatz überreichen konnte. Sie las das Buch umgehend ein weiteres Mal. Auch bei mir war die Freude groß, sodass auch ich das Buch noch einmal las. Danach erhielt das Buch den endgültigen und angemessenen Platz, ich sehe es noch heute täglich, es steht im Wohnzimmer, entsprechend der Wichtigkeit des Werkes, nahe der Couch. Manchmal, in besonderen Momenten, lese ich ein oder zwei Seiten darin – noch seltener ein ganzes Kapitel.

Was uns über die vielen Jahre geblieben ist, wenn es dann ein Weinbrand sein sollte oder musste, kauften wir Calvados. Nein, keine Flasche! Es gibt einen Laden für alkoholische Spezialitäten in der Nähe, dort kann man sich Calvados abfüllen lassen. Wir haben in diesem Geschäft eine Art Flacon erworben. Er fasst vielleicht einen viertel Liter. Wenn es uns dann überkam, haben wir den Flacon auffüllen lassen und sehr lange davon getrunken – immer mit Blick auf Arc de Triomphe. Der Flacon mit den Resten des Weinbrands stand immer fein säuberlich hinter dem Buch verborgen. Das Buch verdeckte das Gefäß nicht vollständig, diesen Anblick brauchten wir, um beruhigt festzustellen, wir sind für die besonderen Momente im Leben gerüstet.

Den Flacon besitze ich immer noch. Er ist inzwischen aus dem Bücherregal in einen Vorratsschrank abgewandert. Mit reicht heutzutage der Blick auf das Buch, um positive Gedanken in mir zu generieren.

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Schriftstellerin Am 12.03.2023 um 12:34 Uhr
Hallo Bernd,
ich danke Dir für den Literaturtipp. Ich wusste bisher bloß, dass Remarque "Im Westen nichts Neues" geschrieben hat. Das habe ich noch nicht gelesen, da ich keine Kriegsbücher- oder Filme mag. Ürigens, jetzt muss man bloß mal Ukraine als Suchbegriff eingeben, dass kommt auf das Gleiche raus.
Ich habe mal in das von Dir empfohlene Buch hineingelesen. Bei e-Büchern kann man sich immer eine Leseprobe ansehen. Da kann man ja auch gleich ein Kriegsbuch lesen. Es ist alles ziemlich dramatisch.
Du interessierst Dich doch sehr für Frankreich. Hast Du mal "Transit" von Anna Seghers gelesen. Es spielt in den Vierzigern in den sogenannten unbesetzten Gebieten und handelt hauptsächlich von Marseille. Ich finde, es ist ihre bestes Buch. Es geht auch um Emigranten.
Gruß Schriftstellerin
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Schriftstellerin Am 13.03.2023 um 21:54 Uhr
@BerndMoosecker Hallo Bernd,
ist ja interessant, dass Du das beste Buch von Anna Seghers auch kennst. Ich dachte eigentlich bei Euch im Westen wäre sie gar nicht so bekannt gewesen, obwohl sie aus Mainz kommt. Ich lernte mal jemand kennen, der aus Mainz kommt, und er erzählt mir, dass sie dort nicht sehr gut gelitten ist.
Bei uns in der DDR war sie Schullektüre. Das „Siebte Kreuz“ haben wir beim Abitur gelesen. Ich fand es langweilig. Deshalb war ich auch baff erstaunt, als ich an einem Zeitungskiosk mal eine Reclamausgabe von „Transit“ fand.

Die Sprache von dem Buch war frisch und modern und das Buch las sich total spannend. Vielleicht war es nicht gut für Anna Seghers als Schriftstellerin, dass sie in der DDR gelandet war, nach dem Krieg. Sie war in den Zwanzigern und Dreißigern bestimmt eine interessante, schräge junge Frau, die im Cafe des Westens zusammen mit ihren Künstlerkumpels getrunken und diskutiert hat.

Ich habe sie nachher in der DDR nur noch als linientreue, total überzeugte Leninistin und Marxistin erlebt, die die Linie der Partie strikt verfolgt hat. Von ihrem früheren Ich ist nicht mehr viel übriggeblieben. Ewig war sie im Fernsehen und hat langweilige Reden gehalten auf Parteitagen, immer mit diesem weißen Haarknoten, ein Proletenlook, obwohl sie eine Intellektuelle aus bürgerlichem Hause war und keine Arbeiterfrau. Es gab auch viele Verfilmungen im Fernsehen, die vielleicht gar nicht mal so schlecht waren. Vielleicht blieb ihr nicht anderes übrig.
Ein sehr gute Parisbuch ist noch „Giovannis Zimmer“ von James Baldwin. Seitdem wollte ich immer mal Les Halles kennenlernen. Leider sind sie schon lange abgerissen und die Orginalzwiebelsuppe, von der in diesem Buch die Rede ist, habe ich auch noch nicht gegessen, aber schon mal nach einem you tube Rezept nachgekocht. Bei Dir, als Frankreichfan, steht Zwiebelsuppe bestimmt öfter mal auf dem Speiseplan. Jedenfalls ist das ein sehr billiges Gericht. Fur den kleinen Geldbeutel.
Gruß Schriftstellerin
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BerndMoosecker (Autor)Am 12.03.2023 um 17:50 Uhr
Hallo Schriftstellerin,
danke für Deinen ausführlichen Kommentar zu meiner kleinen, persönlichen Geschichte. Vielleicht habe ich etwas zu viel, von meinem vergangenen Familienleben darin preisgegeben, aber das ist dann mein Problem.
"Transit" ich in meinen Augen ein Meisterwerk der Literatur. Ich habe das Buch vor Jahren verschlungen. Ja ich weiß, "Im Westen nichts Neues" ist ein Kriegsbuch, aber wenn man das Buch richtig benennt, es ist ein Antikriegsbuch und um es ehrlich zu sagen, ich würde es nicht noch einmal lesen (zu grausam). "Arc de Thiomphe" solltest Du Dir vielleicht gönnen. Der Roman endet schließlich am Tag des Kriegsbeginns. Ich habe aber noch eine andere Empfehlung: Remarque schrieb auch "Die Nacht von Lissabon".
Gruß Bernd
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Autor

BerndMooseckers Profilbild BerndMoosecker

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Statistik

Kapitel: 2
Sätze: 67
Wörter: 1.280
Zeichen: 7.625

Kurzbeschreibung

Manchmal reicht ein Buch für eine Lebenserinnerung. So ist es mir ergangen und auch die Frau, die ich liebte, erlag dem Zauber dieses Romans.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Familie auch im Genre Liebe gelistet.

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