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Ich vermisse dich

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03.11.22 16:52
6 Ab 6 Jahren
In Arbeit

Autorennotiz

Alle diese Texte nähern sich Heiner Carow, der einst ein ziemlich bekannter DDR-Regisseur war, jedoch nach der Wende keine Aufträge mehr erhielt und dazu gezwungen war, Serien zu drehen. Bekannt wurde er mit Werken wie "Die Legende von Paul und Paula" (1973) oder "Coming out" (1989). Er starb im Alter von 67 Jahren an einem Schlaganfall.

„Atme“, flüstere ich in die Stille hinein und neige mich über ihn. Seine Augen sind geschlossen, der Mund jedoch ist leicht geöffnet. Es wirkt so, als schlafe er. Als träume er wie ein kleines Kind, einen ruhigen Traum, einen guten Traum. Als strömten lauter bunte Bilder auf ihn ein, umwebten ihn und trügen ihn mit sich fort auf sanften Schwingen, immer tiefer in dieses Land hinein, das grenzenlos, von uns nur durch einen luftigen Vorhang getrennt ist. Das Land, in dem er neben seinem Kameramann sitzt, Kommandos gibt, Szenen wiederholt, Einstellungen testen lässt, wo er …

 

Ich kann nicht wissen, was gerade mit ihm geschieht. Ob er sich wirklich in diesem Land befindet, an jenem Ort, wo er nicht reglos auf dem Bett liegt und auskühlt, sondern wo er frei atmen kann und wo er, so, wie es seine Art ist, hastig die Tür zum Schneideraum aufstößt, sich eine Zigarette anzündet und die Arbeit dieses Tages begutachtet.

 

Mit den Armen stütze ich mich in den Kissen ab. Links und rechts seines Kopfes.

 

Es sehnt mich danach, verzehrt mich, dass er wieder atmet. Wie ein Feuer durchzuckt mich dies Verlangen danach, während ich die alte Dorfstraße hinab zum Bahnhof laufe – dem Zug entgegen. Schon kündigt er sich von Ferne durch einen schrillen Pfeifton an. Wenn ich ihn verpasse, weiß ich nicht, wie ich nach Hause kommen soll. Um diese Zeit fährt ja nichts mehr, hier, auf dem Lande. Ich beginne zu rennen. Links und rechts der Straße erstrecken sich Wiesen. Obstbäume säumen sie. Ich nehme sie nur flüchtig wahr. Es ist Spätsommer. Hätte ich Zeit, ich sammelte ihre Früchte ein. Äpfel und Pflaumen. „Später vielleicht“, denke ich, weiß jedoch, dass es kein Später mehr geben wird.

 

Ich neige mich tiefer zu ihm hinab, spüre seinen Körper, die Haut, darunter seine Rippen. Er wirkt so klein, so zerbrechlich. Und ich denke: „Wenn ich ihm doch nur die nötige Luft einhauchen könnte.“ Wie Gott dereinst seiner Schöpfung, damit ein Ruck durch ihn ginge und sich seine Brust wieder heben und senken würde und er, dem Fenster zugeneigt, der tief stehenden Sonne entgegen blinzeln könnte, so, wie er es immer getan hat, wenn er über eine Sache nachdachte. Reglos liegt er da – und das gerade jetzt, da die Menschen immer unruhiger werden, weil Unsicherheit und Ängste sie zermürben und keiner da ist, der sie ernstnimmt.

 

Ich höre meine Schritte laut auf dem Asphalt wiederhallen, spüre mein Herz hart in der Brust schlagen, hole tief Luft. Meine Lungen weiten sich und ich werde augenblicklich von Energie durchströmt.

 

Ich streichle ihn und schmiegen mein Gesicht an seines, schließe die Augen, reibe meine Nase an seiner Wange, küsse ihn. Es ist doch Wärme in ihm.

 

„Atme! Bitte“, flehe ich wieder, lege mich zu ihm ins Bett und nehme seine Hand in meine. Seine Haut ist so dünn. Die Adern schimmern bläulich hervor. Wieder zerreißt das Pfeifen die Stille. Schon meine ich den Zug in der Ferne zu erkennen. Ein Punkt, der grollend heranrollt – wie ein donnerndes Gewitter. Ein, zwei Schritte, schon ist er da. Die Türen öffnen sich. Ich haste die Stufen hoch und suche mir einen Platz am Fenster, sehe hinaus, hebe die Hand und presse die Stirn an die Scheibe. Es ist ein Abschied. Das wird mir in diesem Moment erneut klar. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchen das Land in goldgelbes Licht. Schon ruckt der Zug an und die Dorfstraße entschwindet meinem Blickfeld. Mit ihr die alten Obstbäume, die im Dämmerlicht wie verwachsene, ja verkrüppelte Gestalten wirken. Als Kind hatte ich Angst vor ihnen, denn sie erschienen mir wie fremde, gar überirdische Wesen.

 

Entlang der Strecke spannen sich weite, grüne Wiesen über die Hügel hinan. Tränen treten mir in die Augen, verschleiern die Sicht. Wenn ich nur daran denke, wie er dort oben in seinem Bett liegt. Schweigend, einsam – atemlos.

 

„Atme“, flüstere ich ein letztes Mal und sehe meine eigene Atemwolke an der Scheibe kondensieren. Ich bin versucht, etwas in diesen Nebel zu schreiben. Ein Herz, zwei Buchstaben hinein. H und C. Ich finde es kitschig, zugleich bindet es mich, gibt mir Kraft. Mehr noch aber ein: „Ich liebe dich.“

 

Ich drücke seine Hand, küsse sie, wende mich ihm zu, betrachte ihn eine Weile, schmiege mich an ihn, hole tief Luft. Warum nicht hier, bei ihm, bleiben? Aus seinem Garten dringt Amselgesang an mein Ohr. Der Zug beschleunigt und es drückt mich ins Polster des Sitzes. Die Landschaft rast vorbei. Wiesen, Gehöfte, Weiden, ein Reiterhof. Das Auge ist gar nicht so schnell, alles aufzunehmen.

 

Doch zwischen all den weiß ich seinen Blick auf mich gerichtet. Prüfend, wie immer, und gleichzeitig so offen und sanftmütig, ja geradezu verletzlich in seiner Sehnsucht nach dem Vater. Ich streichle ihn, während ich ihm zuhöre. Er erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen, der in der Hitlerjugend Halt fand, obwohl sie ihn auf eben jenen Krieg vorbereitete, der ihm den Vater genommen hatte.

 

Er suchte Zeit seines Lebens nach diesem Menschen, suchte nach Halt und Orientierung, nach Liebe. Er war dabei von einer Unruhe gepackt, die sich nun an der ihm aufgezwungenen Stille bricht.

 

Mit der Hand streiche ich einige Male über den leeren Platz neben mir und erahne die Wärme, die vom Polster ausgeht. Hat er nicht gerade eben noch hier gesessen – ist nur mal kurz zum WC gegangen? Atemlos halte ich inne, schlucke schwer an dem Knoten in meiner Kehle und diesem Gefühl, ihn dort in seinem Bett liegen zu sehen und nichts tun zu können, außer Gott um ein Wunder anzuflehen.

 

Durch das Zugfenster wölbt sich mir der frühe Abend entgegen. Das Rot zergeht in tiefem Blau. Von Osten her weiß ich dunkle Wolken kommen, Sein Blick erfüllt plötzlich den ganzen Himmel. Ich kann mich nicht abwenden, denn er ist überall. Auch wenn ich die Augen schließe, tritt er mir entgegen, sieht mich an. Und dabei konnte er zum Ende hin gar nicht mehr sehen. Er war vollkommen blind, hatten die Ärzte gesagt. Der Schlag hatte ihn unvermittelt getroffen – während der Dreharbeiten. Kein Gefühl mehr in der Hand, Sprach- und Artikulationsstörungen. Er war getaumelt und wäre gefallen, hätte ihn sein Kameramann nicht gehalten.

 

Tränen treten mir wieder in die Augen, brechen die Sicht, lassen sie verschwimmen. Farben mischen sich ineinander. Aber ich nehme ihre Buntheit kaum wahr. Ich presse die Lippen fest aufeinander. Drei Tage hatte er im Koma gelegen, dann stellten sie die Geräte ab.

 

Seine Brille trage ich bei mir in einem Etui. Sie fragten mich, was ich als Andenken mitnehmen wolle. Da sagte ich ihnen, dass ich gern seine Brille hätte. Wenn er mich durch sie ansah, wirkten seine Augen nur umso größer. So auch das Lächeln, das immer wieder in ihnen aufflackerte. Schon als Kind mochte ich das, ja, ich war richtiggehend verliebt in ihn, wegen seiner leuchtenden Augen.

 

Ich bin heute gewandert. Zu einer Burgruine. Von den inneren Räumlichkeiten ist kaum noch etwas erhalten und doch existieren noch Spuren der Küchenpflasterung. Eine Zeitlang blieb ich dort, betrachtete sie, hingehockt, die Hände gefaltet, und ließ mich von meinen Gedanken tragen. Wie wird das Leben hier gewesen sein? Was wird sich zugetragen haben? Während der Hausherr im angrenzenden Speisesaal mit seinen Gästen aß, wurden hier die nächsten Gänge kredenzt. Alles in Eile und hektisch darauf bedacht, dass kein Handgriff unnütz ist. Es musste perfekt ein. Ja, auch schon im 13. Jahrhundert unserer Zeit, als die Burg noch lebte, war das so. Als sie noch von Menschen bewohnt war. Heutzutage kommen die Touristen, bleiben eine Weile, sehen sich um, genießen bei einem Imbiss den wunderschönen Ausblick, phantasieren sich Bilder und Szenen, vielleicht sogar Gespräche zusammen. Welch Geheimnis birgt sich in diesen Mauern? In der Nacht ruht sich die Burgruine aus. Dann erhebt sie sich, in Dunkelheit gehüllt, schweigend über dem Land.

 

Auf der Rücktour ging ich einen Passweg entlang. Er wird auch Schlossleite geannt, weil er zwei der drei Burgen in diesem Gebiet verbindet. Ich lief und ließ mich gleichzeitig treiben. Auch, als ich an Wiesen und abgeernteten Feldern, an Koppeln und Weiden vorbeikam. Manchmal hielt ich inne und die Tiere kamen heran. Dann streichelte ich sie über den E-Zaun hinweg. Ich holte tief Luft und spürte, wie sich meine Lungen weiteten, wie ich mich leichter zu fühlen begann und ich den Drang verspürte, die Arme auszubreiten, zu rennen – so, wie ich es als Kind oft getan hatte. Dann war ich mir mein eigenes kleines Flugzeug. Doch gerade als ich ansetzen wollte, blieb mein Blick an einem Strauch mit noch unreifen Brombeeren hängen und ich musste innehalten. Plötzlich strömten Bilder auf mich ein – Erinnerungen, die mich die alte Dorfstraße hochjagen ließen, hin zu ihm. Er war es, der mir einst erklärte, woran man reife Brombeeren erkennt. Nicht an ihrer Farbe, nein, sie fallen einem förmlich in die Hand, wenn man sie pflücken möchte und sie schmeckten so süß, süßer noch als Honig.

 

Als ich daheim ankomme und den Schlüssel ins Schloss stecken möchte, reißt er die Tür auf und lächelt mich an. Mein Herz macht einen Hüpfer. Wir fallen uns in die Arme. „Wo warst du, ich habe auf dich gewartet“, flüstert er immer wieder und umfasst mein Gesicht.

 

„Ich …“, setze ich an und sehe ihm in die Augen.

 

Heute wäre er 93 Jahre alt geworden.

 

 

Es war so still im Raum, als sie, bäuchlings auf dem Bett liegend, las. Über den Schneeleoparden, den Geist der Berge, wie man ihn wegen seines scheuen Wesens nennt. Nur wenigen war es bisher beschieden, ihn in freier Wildbahn zu beobachten. Nicht nur, dass er sich oft versteckt hält, in Höhlen und unter Bergvorsprüngen – sein getupftes Fell lässt ihn für das ungeübte Auge unsichtbar erscheinen. Und doch ist er da und beobachtet, regungslos kauernd und schält sich nur dann, so er es möchte, allmählich aus der ihn umgebenden Landschaft, um plötzlich aufzutauchen. Wie eine Chimäre, dies mächtige Tier. Aus dem Nichts gekommen, so scheint es, um auch im Nichts wieder zu verschwinden.

 

Er ist ein Einzelgänger und streicht durch seine Welt, hoch über der Baumgrenze, durchs Geröll und durch den Schnee. Schneeleoparden brüllen nicht wie andere Großkatzen. Sie sind so still. Wie die Landschaft, diese karge Weite. Friedlich folgen sie ihren Pfaden-

 

Sie hielt im Lesen inne – noch immer diese Szenen vor Augen – und musste ganz unvermittelt an ihren Freund denken. Damals, als er starb, war es ihr schwer gewesen, ihn loszulassen. Damals hatte sie an seinem Bett gesessen, seine Hand gehalten und ihm über die Wange gestrichen. Er, die Augen geschlossen, lag da vor ihr – so klein wie Kind wirkte er. Von der Krankheit gezeichnet, ausgemergelt.

 

Er musste gehen – das wusste sie. Und es würde bald geschehen. Sie hob die Hand, strich ihm übers Haar, neigte sich dann auch nach vorn, küsste ihn auf die Stirn, den Mund. Ob er all das noch spürte? Und ob er auch ihre geflüsterten Worte vernahm? Sie wünschte sich so sehr – und es grenzte beinahe an Wahnsinn –, er möge erwachen, einen tiefen Atemzug tun und die Augen wieder öffnen, sie anzulächeln und ihr zu sagen, dass er es überstanden habe. Noch ein zwei Wochen, dann wäre er wieder hergestellt. So, wie es seine Art gewesen war. Immer ein Stehaufmännchen. Nichts hatte ihm etwas anhaben können. Und wenn ihn etwas drückte, hatte er es weggelacht, einfach weggelacht. Manchmal auch weggeschimpft. Ja, laut war er gewesen, bisweilen zu laut. Und erregen konnte er sich. Wie ein Berg, so kollerte er tief aus sich heraus.

 

Sie ließ ihren Blick zum leicht geöffneten Fenster hinüberwandern. Auch jetzt meinte sie ihn vor sich zu sehen. Wie er da lag, auf seinem Bett im Krankenhaus, schweigend. Und so still war’s im Raum gewesen.

 

An jenem Tag, als er starb, hatte die vorfrühlingshafte Sonne geschienen. Es war gegen Mittag gewesen und sie hatte ihre Strahlen ins Zimmer geschickt. Nur am Rande war ihr das damals bewusst gewesen. Doch jetzt, da sie darüber nachsann – ja, die Sonne hatte geschienen und vielleicht sogar sein Bett erreicht und so auch ihn.

 

Tränen waren ihr in die Augen gestiegen, als sie spürte, dass er ging, ja, dass es nun endgültig kein Zurück mehr gäbe. Noch einmal klammerte sie sich an ihn, berührte ihn, küsste ihn. „Lass mich nicht allein“, hatte sie zitternd und nach Luft schnappend geflüstert.

 

Ja, das war damals so gewesen. Ein Leben ohne ihn, das hatte sie sich nicht vorstellen können. Die Angst vor dieser Leere, die sich da, einen winzigen Schritt weiter, gerad‘ neben ihr, aufgetan hatte. Schon nach ihr greifend, sie schnappen wollend, um sie mit sich fortzureißen in die Finsternis und sie dort, wie in einer tief ins Erdreich gegrabenen Zisterne am Boden ihrer eigenen Verzweiflung verkümmern zu lassen. Das Licht nicht mehr sehend, geschweige denn erahnend.

 

Auch nach all den Jahren verging kein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte. Und so auch jetzt, in diesen Momenten, da sie auf dem Bett lag, das Buch über den Schneeleoparden vor sich und von diesem uralten Wesen erfuhr. Zwar ging ihr Leben weiter, ja, irgendwann war es weitergegangen, doch in manchem Augenblick durchzuckte es sie so sehr, dass sie innehalten musste. Ganz gleich, wo sie war und was sie gerade tat. So auch jetzt. Die vorfrühlingshafte Sonne schickte ihre nachmittäglichen Strahlen ins Zimmer hinein und Ruhe breitete sich aus in ihr. Prickelnde, erquickende Ruhe, der sie sich nur allzu gern ergab. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie die Wärme spürte. Sie schloss kurz die Augen, holte tief Luft. „Ich habe dich lieb“, flüsterte sie den Sonnenstrahlen entgegen und wollte den Kopf schon wieder senken, als sie ein leichter Luftzug streifte. So still, so leise war er gekommen, wie ein Schneeleopard, scheinbar aus dem Nichts.

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Kapitel: 2
Sätze: 186
Wörter: 2.420
Zeichen: 13.625

Kurzbeschreibung

Der Verlust eines lieben Menschen wiegt schwer. Schreibend kann man der Trauer nicht entkommen, doch lässt sie sich vielleicht in Produktivität umwandeln. Das zumindest versuche ich mit dieser Sammlung von Texten. Es sind Erinnerungen, aber auch Gedankenspiele, Szenen, Dialoge, Fragen, um vielleicht auch eine Brücke zu schlagen.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Familie auch in den Genres Liebe, Alltag, Nachdenkliches, Freundschaft und gelistet.