Autor
|
Bewertung
Statistik
Sätze: | 152 | |
Wörter: | 2.317 | |
Zeichen: | 14.376 |
Familien haben ihre Geheimnisse – ich könnte auch schreiben, sie haben ein Eigenleben. Das passt auch besser zu den Erfahrungen, die ich mit meiner Herkunftsfamilie gemacht habe. Worüber ich schreibe, ist eine tragische Geschichte, geprägt durch den Weltkrieg. Vor Beginn des großen Völkermordens zählte meine Familie sechs jüngere Männer im „wehrfähigen“ Alter. Bis die Waffen nach Jahren endlich schwiegen, hatte sich die Zahl dieser Männer auf zwei reduziert. Was geschehen war, erübrigt sich, umfassend zu erzählen, es ist Teil der Weltgeschichte. Drei von ihnen gelten als vermisst. Inzwischen sind sie aus Gründen Abwicklung für Tod erklärt worden. Leben wird abgewickelt, ein furchtbarer Gedankengang.
Das Schicksal meines Onkels C. ist eigentlich ungeklärt, er verschwand im April 1945 in der Schlacht bei den Seelower Höhen. Der Bruder meiner Mutter fiel bei 1942 bei Rshew 200 Kilometer westlich von Moskau. Es gab sogar Bilder seines Grabes. Mein Vater ging Ende 1942 bei Strelizy im Kessel von Demjansk unter – spurlos. Was sich für mich nie erschlossen hat, war das Schicksal meines Onkels Helmut. Als er verloren ging, war er nicht einmal vierundzwanzig Jahre alt.
Helmut war ein jüngerer Bruder meines Vaters. Aber während nach dem Verbleib meines Vaters und meines Onkels C. stets geforscht wurde, schien Helmut auf seltsame Art und Weise aus dem Familiengedächtnis gelöscht zu sein. Seit seine Mutter 1959 starb, hat nach meinem Dafürhalten niemand mehr seinen Namen erwähnt. Mein Großvater sprach mit mir manchmal über meinen Vater, ich kann mich aber nicht erinnern, dass er jemals seinen jüngeren Sohn erwähnt hat. Auch wenn ich mit seinen beiden überlebenden Brüdern zusammen war, fiel nie sein Name. Ich habe das als gegeben hingenommen, es war einfach so. Während meines langen Arbeitslebens fehlte mir die Zeit und auch das Interesse, mich mit der Geschichte meiner Familie zu beschäftigen.
Nach dem Ausscheiden aus dem Beruf widmete ich mich zuerst einmal dem Reisen, wiederum eine Zeit, in der ich mich nicht weiter um meine Herkunft kümmern konnte und wollte. Als mein Leben in ruhigere Bahnen geriet, interessierte mich zuerst einmal das Schicksal meines Vaters. Schließlich wusste ich auch über sein Verbleiben wenig. Nur, dass er kurz nach seinem letzten Heimaturlaub im Herbst 1942 als vermisst gemeldet wurde, war mir bekannt. Ein Gutachten des Suchdienstes brachte mir Klarheit. Verkürzt entspricht das Gutachten der Darstellung seiner vermuteten Todesumstände, die ich weiter oben genannt habe. Drei kurze Geschichten (Phantomschmerz, Eine kurze Ehe und Annäherung an einen Fremden) habe ich diesem Thema gewidmet. Mein Wissensdrang war befriedigt, das Schicksal meines Vaters war hinreichend geklärt und ich widmete mich wieder der Reisetätigkeit.
Lange Zeit hat sich in Richtung Ahnenforschung nichts getan, erst vor circa zwei Jahren nahm mein Interesse an der Familienhistorie wieder Fahrt auf. Auslöser war, dass meine Frau verstarb und mich in dieser schweren Phase meines Lebens ein mir bis dahin unbekannter Großcousin anschrieb. Er hatte von seinem Großvater einen Stapel Familienfotos und einen Stammbaum übernommen. Fotos und Stammbaum hatte er digitalisiert, und er fragte bei mir nach, ob ich interessiert sei. Als ich mein Interesse äußerte, erhielt ich eine recht große Anzahl Bilddateien und den Link zu einer genealogischen Datenbank, in der er den Stammbaum unserer gemeinsamen Herkunftsfamilie gespeichert hatte. Der Stammbaum reicht weit zurück, weiter als ich mir das bei einer ganz normalen Familie vorstellen kann. Ich selbst kannte bis dahin nur die meisten (Vor)Namen meiner Urgroßeltern. Hatte aber kaum eine Vorstellung von ihren Lebensdaten. Da gibt es zum Beispiel Jacob Mahler, geboren 1520 in Calmbach, einem Ort im Schwarzwald. Was mag diesen Menschen bewogen haben, von dort nach Blaubeuren zu ziehen? Auf jeden Fall muss die Familie dort heimisch geworden, denn 1887 wurde in Blaubeuren ein Mädchen geboren, das meine Großmutter werden sollte.
Ich komme vom Thema ab, denn schließlich geht es hier um meinen Onkel Helmut. Auch er ist im Stammbaum verzeichnet als Sohn meiner Großeltern, mit seinem Geburtsdatum im Dezember 1920. Was meine Meinung über das (scheinbare) Desinteresse an seinem Schicksal verstärkte, war das an dieser Stelle verzeichnete Todesdatum. Statt Tag – Monat – Jahr war dort einfach verstorben vermerkt. Da ich aus den Nachforschungen, die meinen Vater betreffen, die zu beschreitenden Wege kenne, wandte ich mich erneut an das Deutsche Rote Kreuz, mit der Bitte um Auskunft über das Schicksal meines Onkels. Es vergingen einige Wochen, bis ich eine Eingangsbestätigung meiner Suchanfrage erhielt. Ich wurde gebeten, mich in Geduld zu üben.
Danach geschah lange Zeit gar nicht. Die Monate gingen ins Land, aus den Monaten wurde ein Jahr, ein weiteres Jahr verging. Ich verbrachte meine Zeit, so wie ich es gerne tue, mit diversen Reisen. Ich dachte nur selten an die seit Langem nicht beantwortete Anfrage beim Roten Kreuz. Für mich war es sicher, ich bekomme eine Antwort, es kann aber dauern. Diese Gewissheit war es, die mich immer wieder von den Gedanken an meinen Onkel ablenkte. Es war Mitte September 2024, da lag ein dicker Briefumschlag in meinem Briefkasten. Ich weiß es nur deshalb so genau, weil ich wieder einmal mitten in den Vorbereitungen für eine Reise steckte. Was der Umschlag beinhaltete, war mir sofort klar – statt einer Briefmarke oder des Aufdrucks einer Frankiermaschine prangte ein fetter, roter Stempel in Französisch und Deutsch darauf: Kriegsgefangenenpost gebührenfrei.
Nach dem Öffnen des Couverts hielt ich zwei Schreiben in der Hand. Ein Anschreiben und das Gutachten mit einigen Anlagen sowie ein Porträtbild meines Onkels. Das sehr ausführliche Anschreiben versetzte mich in Erstaunen. Das Gutachten, das meinen Vater betrifft, habe ich mit einem Begleitschreiben, bestehend aus einigen dürren Worten, erhalten. Dieses Anschreiben entpuppte sich als ausführlicher Brief über zwei DIN-A4-Seiten. Im ersten Absatz entschuldigt man sich für die lange Bearbeitungszeit. Danach werden mir die dem Suchdienst bekannten Personaldaten meines Onkels genannt. Neu für mich ist dabei der Hinweis, dass sich mein Onkel letztmals am 14.08.1944 aus Tiraspol (in der heutigen Republik Moldau gelegen) gemeldet hat.
Den danach folgenden Absatz gebe ich, unter Weglassung personenbezogener Daten, im Wortlaut wieder: Der Suchauftrag besteht beim DRK-Suchdienst seit 1947, erneuert 1950. Die erste Anfrage stellt E. M., die Schwägerin des Vermissten.
Bei E. M. handelt es sich um meine Mutter. Das wirft für mich Fragen auf, die für immer unbeantwortet bleiben. Eine der Fragen lautet: Warum hat meine Mutter mir nie davon erzählt? Und natürlich bleibt immer noch die Frage, was diesen jungen Mann aus dem Familiengedächtnis löschte? Vielleicht liegt es daran, dass er weder Frau noch Kinder hinterließ. Vielleicht war es auch dieses absolut spurlose Verschwinden, das auch im Gutachten überzeugend dargestellt wird.
Das Gutachten, das ich als Kopie erhalten habe, ist alt. Es ist auf den 26. Oktober 1971 datiert. Meine Mutter wird es nicht erreicht haben. In den Jahren, die seit der Suchanfrage vergangen waren, hat meine Mutter mehrfach die Adresse gewechselt und da sie inzwischen wieder verheiratet war, stimmte auch ihr Name nicht mehr mit dem der Anfrage überein.
Das Gutachten selbst löste bei mir, ähnlich wie das Gutachten über das Schicksal meines Vaters, Erschütterung aus. Ich kann den Inhalt nur als ein Dokument des Wahnsinns beschreiben, von dem jeder Krieg geprägt ist. In den Tagen Ende August, Anfang September, in denen mein Onkel wohl den Tod fand, gingen im Südabschnitt der Ostfront tausende Männer unter. Sie verschwanden einfach, töteten und wurden selbst getötet. Selbst die, die das Inferno überlebten und in Gefangenschaft gerieten, starben noch massenhaft, an seelischer und körperlicher Erschöpfung, an Ruhr oder Typhus.
Mein Onkel ist aller Wahrscheinlichkeit nach bei der Operation Jassi-Kirschinew, einem sowjetischen Großangriff, der am 20. August 1944 begann, zu Tode gekommen. So legt es mir das Gutachten nahe und im Wortlaut liest sich das dann so: Der Verschollene gehörte der 257. Infanterie-Division an, die einen Abschnitt an der Dnjestr-Front bei Tighina (Benderi) zu verteidigen hatte. Der Schwerpunkt der sowjetischen Offensive lag weiter südlich, sodass die Division in den ersten beiden Tagen an den Kämpfen nicht unmittelbar beteiligt war. Am 22. August, als der Gegner den Durchbruch erzwungen hatte, musste sie im Zuge der allgemeinen Absetzbewegungen den Rückzug nach Westen antreten und geriet so in den großen Kessel zwischen Jassi und Kischinew. Seit diesen Kämpfen werden zahlreiche Soldaten der 257. Infanterie-Division vermisst …
Warum schickt ein Regime seine jungen Männer ins Verderben? Eine Frage, die ich mir oft stelle, ohne eine befriedigende Antwort zu finden. Mein Onkel starb im 24. Lebensjahr für einen Wahn, den Wahn von der Überlegenheit der Rasse und der Selbstherrlichkeit eines Diktators. Hast du, toter Soldat, je ein Mädchen geliebt? Sicher nicht, denn nur da, wo es Frieden gibt, können Zärtlichkeit und Vertrauen gedeih’n, warst Soldat, um zu sterben, nicht um jung zu sein. Diese Worte sang einmal Hannes Wader. Dem habe ich nichts hinzufügen.
So frage ich dich, mein toter Onkel, was bewegte dich in deinem Leben? Ich weiß nur wenig über dein Leben. Du warst 12 Jahre alt, als die Nazis der deutschen Demokratie den Todesstoß versetzten. Bist du gleich oder später der Hitlerjugend beigetreten? Wo du zur Schule gegangen bist, weiß ich. Ich besuchte zeitweise die gleiche Volksschule wie du. Eben nur zwei Jahrzehnte später. Ich weiß von deinen Eltern, dass du teilweise die gleichen Lehrer hattest. Mein Vater, viereinhalb Jahre älter als du, ging auch in diese Schule. Nach dem 8. Schuljahr dürftest du die Schule verlassen haben, um eine Berufsausbildung zum Sattler aufzunehmen. Hast du das Handwerk im väterlichen Karosseriewerk erlernt? Warum weiß ich das nicht? Solche einfachen Lebensdaten meines Vaters sind mir bekannt, obwohl auch er für mich ein Fremder ist. Meine Eltern heirateten im November 1939. Auf einem Hochzeitsfoto, aufgenommen nach ihrer standesamtlichen Trauung, stehst du zwischen meinem Vater und deinem Bruder Karl. Im Gegensatz zu meinem Vater und deinem Bruder trägst du Zivilkleidung. So gehe ich davon aus, du warst noch nicht zur Wehrmacht eingezogen. Wann tratest du deinen Wehrdienst an? Im Dezember dieses Jahres wurdest du 19 Jahre alt. Ahntest du, dass dieser Krieg, vom Naziregime vom Zaun gebrochen, sich zum bis dahin brutalsten und größten Krieg der Menschheitsgeschichte entwickeln würde? Mein Vater hatte zu dieser Zeit den Polenfeldzug überstanden. Hast du mit meinem Vater über seine Erfahrungen an der Front gesprochen? Wie alt warst du, als du erstmals in den Kampf gezogen bist? Dem Gutachten beigefügt ist ein kompletter Lebenslauf der 257. Infanterie-Division, der du zum Zeitpunkt deines Untergangs angehörtest. Da ich nicht weiß, wann du in diese Division eingegliedert wurdest, kann ich nicht wissen, wann und wo du gekämpft hast. Dieser Lebenslauf liest sich wie eine Horrorgeschichte. 1940 Westfront (da wirst du noch in der militärischen Ausbildung gewesen sein), 1941 – 1943 Ostfront (warst du dabei?), ab August 1942 Westfront – zum Küstenschutz in der Bretagne (warst du in der Bretagne? Dann hast eine Zeit relativer Ruhe gehabt), ab April 1943 wieder Ostfront – da warst du dabei, bis die Truppe sich 1944 in die Gegend zurückzog, in der auch du untergegangen bist. Was über die Tage deines Untergangs im Lebenslauf steht, sind nur wenige Sätze, die mich tief ergriffen haben: August – Rückzug gegen den Pruth. Einkesselung zwischen Dnjestr und Pruth, südwestlich von Kischinew. Zerschlagung – beim Ausbruchsversuch – am Pruth, südostwärts Jassy.
Mein Onkel – hast du mich jemals kennengelernt? Ich kann mich so klein, wie ich war, naturgemäß nicht erinnern. Ich traf einmal im Leben auf meinen Vater, da war ich ein Jahr alt. Er war nicht begeistert von mir. Ich weiß es aus einem seiner Briefe an meine Mutter, indem er sich über mein ängstliches Verhalten beschwerte. Was hat dieser Mensch von einem Kleinkind erwartet? Hat er in mir einen zukünftigen Krieger für die arische Rasse gesehen? Ich kann all das nicht wissen und so frage ich dich, hattest du auch so verquere Ansichten, obwohl du erst nach meiner Geburt volljährig wurdest?
In diesem Dezember würdest du 104 Jahre alt, somit warst du gerade einmal einundzwanzig Jahre älter, als ich es bin. Wir hätten unter normalen Umständen einen langen gemeinsamen Lebensweg haben können. Da du es nicht erlebt hast, sage es dir, du stammst aus einer Familie, die langlebige Männer hervorgebracht hat. Dein Vater und dein Bruder Karl wurden 94 Jahre alt, dein Bruder Andreas erreichte fast das sagenhafte Alter von 100 Jahren und auch ich, der älteste deiner Neffen, befinde mich bereits im vierundachtzigsten Lebensjahr. Du siehst, wir haben viele gemeinsame Lebensjahre verpasst. So frage ich dich, hast du einmal eine Freundin gehabt? Nicht eine jugendliche Schwärmerei. Nein, habt ihr das Bett geteilt? Das fragt man nicht, mag deine Antwort sein. Da gebe ich dir recht. Aber bedenke, wenn nicht, hat man dich auch noch um diese Erfahrung betrogen. Du wirst sicher noch erfahren haben, dass mein Vater vermisst wurde. Im Gegensatz zu dir war er aber verliebt, verheiratet und hatte ein Kind gezeugt. All das ist dir versagt geblieben, mir tust du leid und ich habe den Eindruck, ich bin der einzige Mensch, der so etwas wie um dich Trauer empfindet.
Apropos betrogen, hast du in diesem Krieg bis zum Schluss an den Sieg geglaubt? Oder hast du dich um deine Träume betrogen gefühlt? Wer und wie warst du überhaupt? Ist dir aufgefallen, dass du von Völkermördern in den Tod geschickt wurdest oder hast du das millionenfache Leid von Unschuldigen als normal empfunden? Warst du indologisch verblendet und hast es als das gute Recht deines Volkes und deiner Rasse angesehen, andere Völker zu unterdrücken? Bist auch du diesem Wahn erlegen?
Ich hätte noch viele Fragen an dich, aber was ich dich auch frage, es wird auf ewig unbeantwortet bleiben. Was ich erhoffe ist, dass ich dir durch meine Gedanken so nahe gekommen bin, dass du nicht wieder in den Tiefen meiner Erinnerung verloren gehst.
|
Sätze: | 152 | |
Wörter: | 2.317 | |
Zeichen: | 14.376 |
Feedback
Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!