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Kapitel: | 4 | |
Sätze: | 103 | |
Wörter: | 2.611 | |
Zeichen: | 15.160 |
Da meint man eigentlich, nach dem Abitur und einem Jahr Selbstfindung in einem Behindertenwohnheim, endlich erwachsener geworden zu sein und sich selbst nach der Pubertät mit süßen 19 Jahren vollständig gefunden zu haben. Frisch einen Freund gefunden, der allerdings in einer anderen Stadt studiert, aber das macht ja erst mal nichts. Tja, falsch gedacht. Nach zwei Jahren Chemiestudium befinde ich mich nach wie vor auf dem Weg zu mir selbst, obwohl ich mir vorher so sicher war, dass ich mich schon gefunden hatte.
Wie das kommt? Ganz einfach: Man nimmt eine Krankheit, einen anstrengenden Freund, neue Freunde, ein wenig Drama und Familienstress, schmeißt alles in einen Reaktionskolben, schüttelt mit voller Wucht alles durch und lässt es dann zwei Jahre erhitzen.
Angefangen hat eigentlich alles, als ich mich im Jahr 2016 nach meinem FSJ gegen ein Studium der Sonderpädagogik und für das Chemiestudium entschieden habe. Das FSJ hat mein Leben für immer geprägt. Es war eine wundervolle Erfahrung und ich bin echt froh, dass ich nach dem Abitur nicht direkt mit dem Studieren angefangen habe. In den letzten Ferien vor Beginn des ersten Semesters habe ich dann meinen Freund Lionel kennengelernt- oder besser nach zwei Jahren wieder getroffen, wir kannten uns schon vorher durch einen Freund (auf den ich mal gestanden habe, aber das ist eine andere Geschichte). Einen Monat gemeinsame Zeit hatten wir, bis er von seiner Heimatsstadt ins 320 km entfernte Konstanz zurück musste, da er dort Informatik studierte. Dieser Monat war schön, wir waren beide frisch verliebt und haben uns jeden Tag gesehen. Deswegen fiel uns die Trennung auch unsagbar schwer, auch wenn es zunächst nur für ein paar Tage war. Sein Semester fing vor meinem an, da er an der FH und ich an der Uni studierten. Somit bin ich kurz vor meinem Semesterbeginn zum ersten Mal nach Konstanz gefahren um dort etwas Zeit mit ihm zu verbringen.
Einen Tag bevor der Einführungstag an der Uni stattfand, fuhr ich schließlich wieder zurück nach Würzburg, danach haben wir uns knapp einen Monat nicht mehr gesehen, weil sein Studium zu hart war um jedes Wochenende mit mir zu verbringen.
In der Früh des Einführungstages war ich unerträglich nervös. Eigentlich hatte ich nie Probleme damit, neue Leute kennen zu lernen, über die letzten 4 Jahre hatte ich mein davor nicht vorhandenes Selbstbewusstsein soweit aufgebaut, dass ich endlich über meinen eigenen Schatten springen konnte. Aber trotzdem war die Angst da, dass ich eventuell keine Freunde finden würde und alleine wäre, wie früher in der Schule (was auch eine andere Geschichte ist).
Glücklicherweise war das nicht der Fall. Gleich zu Beginn, als noch alle Erstsemester in der Aula des Chemiegebäudes der Uni Würzburg standen, sprach mich ein Junge an und fragte, ob ich Chemie oder Biochemie studiere. Als ich ihm antwortete, hat er sich gefreut und sich mit Le vorgestellt. Kurz darauf stieß ein Mädchen zu uns, Pauli. Auch sie kannte vorher niemanden und war froh, direkt zwei Chemieerstis gefunden zu haben, denen es ähnlich ging. Der Tag ging vorbei und mein erster Eindruck meiner Kommilitonen war sehr gut. Le kam ursprünglich aus Aschaffenburg und Pauli aus München. Ich hatte die starke Hoffnung, dass wir drei für die nächste Zeit zusammen bleiben würden. So kam es dann auch. Und zusätzlich zu den beiden kamen noch zwei weitere Jungs zu uns in die Gruppe dazu: Tris und Jan. Die ersten paar Tage waren hart. Wir mussten jeden Tag bis 18 Uhr an der Uni bleiben und zum Teil danach auch noch das Gelernte zusammenfassen. Dennoch war auch der erste Eindruck des Studiums echt gut.
Nach einem Monat getrennt von Lionel kam er dann endlich wieder nach Würzburg. Allerdings schlechter Laune. Er hat sich zum Teil mir gegenüber ziemlich abweisend verhalten, was mir zu schaffen gemacht hat und etwas an meinem Selbstbewusstsein genagt hat. Zu der Zeit bekam ich meinen ersten Neurodermitis-Schub. Neurodermitis ist eine Autoimmunkrankheit, die ich schon seit Kleinkindalter habe und die bei mir eigentlich seit der Grundschule nicht mehr aufgetreten ist. In dem Winter ist sie allerdings wieder zurück gekommen- schlimmer als jemals zuvor. Meine Haut an den Beinen hat extrem gejuckt, dazu kam, dass meine Augen angeschwollen und rot waren und meine rechte Hand Ekzeme hatte. Auch als Lionel weg war wurde das nicht besser. Ich probierte verschiedene Hautpflegeprodukte aus, nichts half, vieles verschlimmerte die juckende und offene Haut nur noch.
Meine mittlerweile guten Freunde aus der Uni wussten das, allerdings habe ich ihnen verschwiegen, wie schlimm es wirklich ist. Bis etwa Januar war es auch noch auszuhalten. In der Zeit bis dahin hatten wir unser erstes Praktikum, welches wir alle gut bestanden hatten und es stellte sich heraus, dass ich besonders mit Le sehr gut zusammen arbeiten konnte, während Pauli und Jan mich auf Dauer echt genervt haben. Tris war der Ruheopol der Gruppe, jeder kam mit ihm gut zurecht, vor Allem Pauli und Le. Die ersten Klausuren wurden geschrieben, alle mit sehr guten Noten bestanden. Was wünscht man sich als Ersti mehr, vor Allem wenn man sieht, wie viele durchgefallen sind.
Die weiteren Treffen mit Lionel waren irgendwie merkwürdig. Er war total im Studiumsstress und oft ziemlich schlecht drauf, was er an mir ausgelassen hat. Wir hatten zwar auch verdammt viel schöne Zeit, aber die Kleinigkeiten, die passiert sind und mir zu schaffen gemacht haben, waren immer daran schuld, dass meine Neurodermitis wieder schlimmer war, sobald wir wieder voneinander getrennt waren. Zu diesen Kleinigkeiten gehörte, dass er nicht so gut mit meiner Familie zurecht gekommen ist, wie ich mir das eigentlich gewünscht hätte, dass er nicht zu meinem 20. Geburtstag gekommen ist, dass er mich damit aufgezogen hat, wenn mir etwas gefallen hat, das ihm nicht gefallen hat, solche Dinge eben. Und eigentlich hatte ich schon im Februar überlegt, Schluss zu machen, weil ich und meine Haut es langsam nicht mehr ausgehalten haben. Aber im Endeffekt hatte ich Angst vor dem Alleinsein und immer Hoffnung, dass es beim nächsten Mal mehr schöne Zeiten gibt, weil auch wenn es nicht so klingt, aber die gab es.
Anfang des zweiten Semesters gab es dann eine Änderung. Nach dem ersten Praktikum wurde eine Laborfeier organisiert, bei der wir, das heißt Le, Tris und ich, ein Mädchen und einen Jungen kennenlernten: Carmen und Tian. Beziehungsweise eigentlich kannten wir sie schon seit dem Praktikum, aber an dieser Feier haben wir die beiden besser kennen gelernt. Vor Allem Carmen war mir ziemlich sympathisch, da ich mittlerweile von Pauli ziemlich genervt war und mal wieder froh war, in Gesellschaft von anderen Mädchen zu sein. Ich war seit dem Abend der Meinung, sie und Le würden perfekt zusammen passen und hatte mir vorgenommen, die beiden zu verkuppeln. Wenn ich schon mit meinem Liebesleben nicht 100 prozentig zufrieden war, dann konnte ich ja zumindest versuchen das von anderen ein bisschen positiv beeinflussen. Ein weiteres Mädchen, das ich aus dem Praktikum kannte, Melli, wollte mir bei meinem Vorhaben helfen.
In den darauffolgenden Wochen haben Melli und ich immer sorgfältig darauf geachtet, Carmen und Le nie zu trennen. Also haben wir immer dafür gesorgt, dass die beiden in Vorlesungen nebeneinander sind oder dass sie nebeneinander laufen, wenn wir alle zusammen zur Mensa laufen oder ähnliches. Dieser Teil des Plans hat echt funktioniert. Die beiden haben pausenlos gequatscht, so extrem, dass Pauli, Tris und Jan sich irgendwann von uns abgewendet haben, weil sie so genervt von dem Lautstärkepegel waren. Mir hat das nicht viel ausgemacht, im Gegenteil, ich fand es eigentlich sogar ziemlich süß. Wenn die beiden mal zufällig nicht nebeneinander saßen, haben sie pausenlos miteinander geschrieben, also Aufpassen in den Vorlesungen haben sie in der Zeit verlernt.
Nebenbei hatten wir ein weiteres Praktikum, zum ersten Mal mit Laborpartnern. Und obwohl man jetzt denken könnte, dass Le und Carmen Partner waren, war das nicht der Fall. Er und ich hatten im ersten Semester ausgemacht, das Praktikum zusammen zu machen und da das so unglaublich gut funktioniert hat, haben wir uns die Hand drauf gegeben, von da an in jedem Partnerpraktikum zusammen zu arbeiten.
Leider hat es sich aber so ergeben, dass Pauli, Tris und Jan irgendwann nicht mehr bei uns waren und wenn sie mal was unternommen haben, wurden wir nie eingeladen. Zusätzlich dazu war Melli auch nur selten bei uns, sie hatte noch einen anderen Freundeskreis aus dem ersten Semester. Also blieben wir nur zu viert, Le, Carmen, Tian und ich. Und da Le und Carmen alles und jeden um sich vergessen konnten, hatte ich mit Tian zu tun. Er war das anstrengendste Geschöpf, das diese Welt je gesehen hat, wusste nicht wie man sich benimmt, hat immer das Falsche zum falschen Zeitpunkt gehabt und war Alles in Allem einfach komisch. Trotzdem haben wir vier jeden Mittwoch gegrillt und irgendwie hat es trotzdem funktioniert.
Aber ein großes Problem hatte ich dennoch: Meine Neurodermitis. Ich dachte eigentlich, dass sie nach dem Winter besser wird, aber das Gegenteil war der Fall. Zusätzlich zu meinen sowieso schon komplett aufgekratzten und blutenden Beinen kamen nun auch noch die Arme und teilweise das Gesicht dazu. Ich habe mir eine Ernährungsexpertin genommen, die fälschlicherweise eine Glutenintoleranz festgestellt hat. Ein bisschen haben ihre Tipps zwar trotzdem geholfen, aber heilen konnten sie nicht. Und jedes Mal, wenn ich bei Lionel oder er bei mir war, kam ein neuer Schub, da die Beziehung nicht besser geworden ist. Ich hatte das Gefühl, dass er immer mehr testen wollte, wie weit er bei mir gehen kann und irgendwann hat er mir bei Allem widersprochen und war nie mit mir einer Meinung. Und als wir dann im Juli endlich Schluss gemacht haben, habe ich schon lange keine Gefühle mehr für ihn gehabt.
Aber bis Juli ist natürlich noch einiges anderes passiert. Irgendwann habe ich die Kuppelversuche sein lassen, weil sie nicht mehr nötig waren. Es war total offensichtlich, dass Carmen in Le verliebt war. Selbst wenn er nicht da war, hat sie pausenlos von ihm geredet und immer mit ihm geschrieben. Aber immer wenn man mit ihr darüber reden wollte, hat sie alles abgestritten. Dass sie überhaupt nicht auf ihn stehen würde, dass er zu jung ist, gar nicht ihr Typ, dass sie nicht zusammen passen und und und. Das war irgendwie komisch. Ob er auch Gefühle für sie hatte, wusste ich erst nicht, bis er mir aber etwas in der Art gesagt hat. Er meinte, dass er nichts mit ihr anfangen will, weil das im Studium nicht gut ist. Wenn man dann Schluss macht und im Streit ist, würde das die Freundschaft von uns Dreien ruinieren, weil ich mich dann zwischen den beiden entscheiden müsste und er dann wohl alleine dastehen würde. Damals habe ich es ihm zwar nicht gesagt, aber wenn etwas in der Art geschehen würde, würde ich mich immer für ihn entscheiden, weil Carmen und ich zu verschieden sind. Sie hat mir immer zu viel geredet (was zum Glück immer Le abbekommen hat) und war insgesamt ein lauter Mensch, wobei man selbst nie zu Wort kommt. Da war Le meiner Meinung nach die angenehmere Person.
Die beiden sind also nicht zusammen gekommen, weil Le es erstens nicht unbedingt wollte und zweitens von Carmen nie direkte Zeichen bekommen hat, dass sie es wollte, es hat ihn zusätzlich ziemlich unsicher gemacht, dass sie alles so abgestritten hat.
Kurz nachdem dann bei mir mit meinem Freund Schluss war, war ich da auch froh drum, weil spätestens dann wäre ich alleine da gestanden mit einem nervenden Tian, der aber schon wieder neue Freunde gefunden hatte, mit denen er mehr Zeit verbracht hat, was keinen von uns anderen gestört hat. So waren wir dann eben zu dritt, was okay war. Außerdem war sowieso Klausurenphase, und die hat alles geändert.
Während ich alle Klausuren ziemlich gut bestanden habe und Le sogar mit Bestnoten, ist Carmen durch jede einzelne Klausur durchgefallen, was ihr sehr zu schaffen gemacht hat. Ferien hatten wir in dem Sommer kaum, nur eine Woche frei zwischen der letzten Klausur (für Le und mich) und dem nächsten Praktikum.
In besagtem Praktikum standen Le, Carmen, Melli und ich zu viert nebeneinander, was weniger gut geklappt hat. Während bei Le und mir alle Versuche am Anfang total gut geklappt haben, hat Carmen in den ersten zwei Tagen nicht einen einzigen Versuch bestanden. Deswegen und wegen ihren Klausuren war sie unglaublich mies drauf und ist (vor Allem Le gegenüber) total zickig geworden, was ihn nach spätestens zwei Tagen echt genervt hat. Sie ist dann total pessimistisch geworden und hat ihre schlechte Laune an allen anderen ausgelassen, was echt genervt hat. Dagegen waren Le und ich wie zwei Geschwister, haben den ganzen Tag Späßchen gemacht, meistens ist es in einer Wasserschlacht geendet und wir waren komplett nass, als wir nach Hause gefahren sind.
Und dann hat sich noch etwas Weiteres verändert. In den ersten beiden Semestern ist Le für mich eine Art Bruder geworden. Wir beide haben uns blind miteinander verstanden, auch wenn man das meistens gar nicht auf dem ersten Blick gesehen hat, wenn Carmen dabei war. Da ich aber nun seit einem knappen Monat single war und es echt auffällig war, dass Carmen Le mit ihrer zickigen, pampigen Art so abgestoßen hat, dass er keine Gefühle mehr für sie hatte, habe ich den großen Fehler gemacht, ein klein wenig auf ihn zu stehen. Es war nicht so, dass ich in ihn verliebt war oder so, es war nur so ein kleiner Hintergedanke. Außerdem war ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass Carmen nicht mehr in Le verliebt war, weil sie scheinbar von allem, was er getan hat, genervt war.
In den zwei freien Wochen nach dem Praktikum haben wir ab und zu mal was mit einer neuen Gruppe Leuten, die wir im Praktikum kennen gelernt hatten, unternommen. Das waren die Art Leute, mit denen man auch mal feiern gehen kann. An diesen Abenden hatten Le und ich immer mehr Spaß als Le und Carmen, und wir haben uns immer besser verstanden. Aber an einem Abend hat Carmen dann bei mir übernachten und dabei hat sich herausgestellt, dass die noch voll in ihn verliebt ist und ein komplett veraltetes Bild von ihm hatte. Sie war offensichtlich der Meinung, dass wir alle sie noch mit ihm verkuppeln wollen, was nicht mehr so war, und sie war auch der Meinung, dass er ihr bester Freund ist und dass er das ähnlich sieht, was zu dem Zeitpunkt auch nicht mehr so war.
An einem Abend, als wir mal ohne Carmen feiern waren und Le und ich danach noch zwei Stunden auf die ersten Busse warten mussten, habe ich ihm erzählt, was Carmen mir erzählt hatte. Er war davon nicht begeistert und hat mir da zum ersten Mal gesagt, dass er nichts mehr von ihr will und dass sie es sich mit den Aktionen im letzten Praktikum verkackt hat. Daraufhin war ich etwas im Zwiespalt. Da wir kurz darauf in den Urlaub gefahren sind (Le, Carmen, eine Freundin von ihm und ich), hatte ich echt Angst dass die Situation mit ihr eskaliert, weil Le und ich uns zu dem Zeitpunkt besser verstanden hatten als sie und er. Dazu kam, dass ich, auch wenn ich es erfolgreich verdrängen konnte, doch auch ein bisschen auf ihn gestanden habe, was es auch nicht leichter gemacht hat.
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