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Ein oder fünftausend Gedanken

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14.01.20 01:41
6 Ab 6 Jahren
Fertiggestellt

Als ich die Strasse hochlaufe, machen meine Beine irgendwie nicht mit.

«Schwingen meine Arme zu schnell?»
«Ist mein Atem zu laut?»

«Ich glaube ich hinke ein bisschen.»

 

Psst, ruhig jetzt. Tief durchatmen.

«Laufe ich zu schnell?»

«Habe ich etwas im Gesicht?»

 

Noch einen tiefen Atemzug. Mein Herz wird ruhig, aber mein Blick schneller. Ich wechsle zwischen links, rechts, oben und unten. Meistens schaue ich auf den Boden, weil ich so glaube unsichtbar zu sein und das rede ich mir den ganzen Weg so ein bis ich angekommen bin. Ich setz mich hin.
«Wieso sitzt die alleine? Die hat bestimmt keine Freunde»

 

Ist sowieso ironisch, denn ich fahre Tram. Ist doch scheissegal, ob man alleine sitzt, weil alle viel zu beschäftigt sind, um auch nur etwas zu bemerken. Alle schauen auf ihr Smartphone, schauen auf die Zeitung, schauen auf ihre Freunde. Ich schaue aus dem Fenster.

«Hört man meine Musik?»
«Muss ich für eine ältere Dame aufstehen?»

«Wieso guckt dieser Typ alle zwei Sekunden hier rüber? Ach ne, der schaut mich gar nicht an. Niemand schaut dich an, denn niemand interessiert sich für dich. Du bist sowieso allen-»

 

Psst, ruhig jetzt. Meine Gedanken sind wie die Achterbahn im Europapark vor fünf Jahren. Alle wollen sie ausprobieren, nur du hast eigentlich tierische Höhenangst, aber da du niemandem den Spass verderben willst, fährst du mit und lächelst für das Foto und lächelst danach immer noch und erzählst allen, wie toll es ja war während du hoffst nicht aufzufliegen.

«Scheisse, habe ich meine Haltestelle verpasst?»

 

Nein, aber in zwei Stationen muss ich raus. Während dieser Zeit studiere ich den Satz «Entschuldigung, aber ich muss jetzt aussteigen» bis zur Perfektion ein. Ich rücke meine Tasche zurecht, räuspere mich, bringe den Satz halbwegs raus, stehe auf und stelle mich vor die Tür.

«Wieso steht die so behindert vor der Tür?»

«Habe ich etwas vergessen?»

 

Manchmal vergesse ich mich. Ich vergesse mich irgendwo hin und blende alles um mich herum aus. Dann bin ich in meinen Gedanken versunken, so dass ich mich selber nicht mehr wahrnehme. Aber plötzlich nehme ich mich wahr und, oh je, wie ich mich wahrnehme. Daraufhin nehme ich jedes kleinste scheiss Detail an mir wahr. Dann nehme ich wahr, wie ich kleine Fältchen unter den Augen habe. Dann nehme ich wahr, wie unförmig meine Finger aussehen. Dann nehme ich wahr, dass mein Bauch viel komischer aussieht als der von anderen Frauen. Dann nehme ich wahr, dass mein Mantel viel zu gross ist und mich wahrscheinlich alle lächerlich finden, als wäre ich wieder ein kleines Kind, dass darauf wartet in die Kleider der älteren Schwester zu wachsen.

 

«Scheisse, die findet mich doch bestimmt total hässlich»

«Sind meine Haare zu viel? Bin ich zu viel?»
«Was mache ich hier? Jetzt einfach mal so grundsätzlich. Wieso studiere ich das, was ich studiere? Warum studiere ich nicht etwas richtiges wie Medizin oder was weiss ich, dann würde auch was Richtiges aus mir werden. Vielleicht aber nur vielleicht wäre dann mein Vater-»

 

Ne, dieses Kapitel lassen wir mal schön zu. 

«Habe ich eigentlich die Rechnung der Krankenkasse bezahlt? Oh, eigentlich sollte ich noch einen Arzt anrufen, aber nicht hier, hier ist zu öffentlich. Sonst gucken alle komisch und ich hasse sowieso Leute, die in der Öffentlichkeit telefonieren. Okay, aber wo muss ich jetzt eigentlich hin?»

 

Ich schaue verwirrt auf die Anzeigetafel. Gleis 3. Alles klar.

«Laufe ich zu langsam?»

«Stehe ich jemandem im Weg?»

 

Ich setz mich wieder hin. Alleine. Diesmal ist es mir aber egal, was andere von mir denken, denn der Zug ist leer und es gibt niemanden hier der überhaupt etwas von mir denken könnte. 

«Was mache ich, wenn ein Kontrolleur vorbeikommt?»

«Habe ich ein Ticket gelöst?»

«HABE ICH EIN TICKET GELÖST?»

 

Psst, ruhig jetzt Ja, ich hab’ ein Ticket gelöst. Ich hab’ es schon siebenmal kontrolliert. Nur ich bleibe unkontrolliert.

«Was soll ich heute kochen?»

 

Als ich zu Hause ankomme, kann ich meine ganze Hülle fallen lassen. Alle Anstrengungen, die ich unternommen habe, lege ich mitsamt meinem schweren Mantel ab. Ich setz mich hin.

«Du bist allein und wirst auch immer alleine bleiben.»

«Eigentlich mag dich gar niemand. Darum meldet sich auch niemand bei dir, weil-»

 

Psst, ruhig jetzt. Für einen kurzen Moment können wir auch Frieden schliessen.

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