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Kapitel: | 2 | |
Sätze: | 171 | |
Wörter: | 2.311 | |
Zeichen: | 13.154 |
Ich habe lange überlegt, ob ich das Folgende niederschreiben soll, denn was ist damit gewonnen? Der, um den es geht, ist schon lange tot. Er kann sich zu all dem also nicht mehr äußern. Und über mich wird man schnell ein Urteil fällen: Hier schreibt sein Günstling, eine Frau, die es ohne ihn nie soweit geschafft hätte. Nun will sie ihm posthum eine weiße Weste bescheren. Ich weiß, dass es sinnlos ist, doch möchte ich an dieser Stelle betonen, dass alles, was zwischen Erwin Schrödinger und mir geschehen ist, nicht dazu diente, mich in irgendeiner Weise zu protegieren. Ich selbst befragte ihn einmal genau dazu. Wir standen uns in seinem Büro in Wien gegenüber. „Marie“, sagte er, „denkst du, ich hätte dich zu meiner Assistentin gemacht, wenn ich den geringsten Zweifel an deiner Begabung hätte?“
„Und hättest du mich auch genommen, wenn wir uns zuvor nicht in dieser Weise begegnet wären?“
Er lächelte, weil er verstand. Dann kam er mir näher, berührte mich an den Schultern und sah mir lange in Augen. „Natürlich“, sagte er schließlich – ruhig, so, wie es seine Art war. „Wenn ich das Vergnügen gehabt hätte, dich in einem Wiener Café-Haus zu treffen, wir ins Gespräch gekommen wären und du mir deine Sicht auf die Welt erklärt hättest.“ Er unterbrach sich, wurde ernst und fuhr sich räuspernd fort: „Aber ich bin glücklich, dass wir uns auf andere Weise haben kennenlernen dürfen.“ Er schloss kurz die Augen, setzte dann nach: „Sehr glücklich.“
Ich erinnere mich daran, dass er mir einmal sagte, er suche nach Reinheit. Ich erinnere mich auch daran, wie oft er meine Hand hielt, während er, tief über den Tisch geneigt, Formeln aufs Papier schrieb. Und wenn er fertig war, sah er auf und sagte: „Du bist die Einzige, die mich versteht.“ Nur ich könne mich von ihm durchdringen lassen. Ich sei sein Raum, mit dem er in Resonanz trete. Ja, so sagte er und legte meinen Finger auf seine Gleichungen.
„Fühlst du sie?“, fragte er mich, während ich wie eine Blinde übers Papier zu tasten begann. Mir war dabei tatsächlich so, als betrete ich sie wie durch eine Tür. Ich sah sie nicht als Variablen, sondern als Haus mit vielen hellen Zimmern, in denen Wellen statt Menschen aufeinandertrafen. Sie schwangen, überlagerten sich. Manchmal meinte ich, einer Kakophonie zu lauschen, manchmal war’s mir auch so, als wirbelten zwei Wellen umeinander herum, vereinten sich zu einer, trennten sich wieder, um erneut aufeinander zuzuschwingen. Wenn ich’s ihm sagte, zog mich auf seinen Schoß, setzte seine Brille ab und barg sein Gesicht an meinem Hals. Ich spürte dann seinen Atem, der schneller ging, und ich fuhr ihm durchs Haar, um ihn zu beruhigen. „Ist gut“, flüsterte ich. „Ist ja gut.“
„Nein, nein“, erwiderte er dann und blinzelte mich an. „Ich freu’ mich nur so arg.“
Ich war nicht die einzige, der er das sagte. Und ich glaube, dass mir das auch schon damals bewusst war. Nicht, weil er gut aussah, nicht, weil er charmant war. Nein, er suchte nach Unberührtheit. Nach mädchenhafter Anmut, die sich gerade anschickte, zur Frau zu werden. Ihn dürstete danach wie eine Biene nach der Blüte, nach vielen Blüten. Er freute sich darüber, dass ich seine Gleichungen zu verstehen begann – die Beziehungen, die er in ihnen auszudrücken versuchte. Einmal notierte er mir sogar eine, die unser Beisammensein beschrieb: „Der eine kann nur am anderen werden.“ Aber all das aber genügte ihm nicht. Es widersprach seinem leidenschaftlichen Wesen. Er musste weiter, immer auf der Suche nach jungen Frauen, in denen er die Quelle seines Denkens und Fühlens zu erkennen meinte: Unberührtheit, Unbeflecktheit – er nannte es Reinheit des Geistes, des Wesens, eine unbekümmerte Verspieltheit, die ihm, während er seine Gleichungen erdachte, wie eine ungestüme Windböe durchs Haar fuhr. Doch wäre es zu kurz gegriffen, ihm zu unterstellen, diese jungen Frauen nur als Projektionsschirm benutzt zu haben. Denn indem er sie an seinen Gedanken teilhaben ließ, unterwies er sie. Mag er auch ihre Emanzipation nicht unmittelbar im Blick gehabt haben, so trug er doch dazu bei, dass sie sich in einer ihnen nicht gerade zugetanen Welt als denkende Wesen wahrzunehmen lernten. Freilich tat er ihnen dabei auch weh, wenn er sich von ihn trennte oder sie feststellen mussten, dass er über sie in seinen Tagebüchern schrieb. Sehr ausführlich schrieb und manchmal sogar so deutlich wurde, dass sie, für die er doch romantische Gefühle entwickelt hatte, blank und nackt vor ihm standen. Ja, in seinem Mühen, die Momente mit ihnen festzuhalten, um sie wieder und wieder durchleben zu können, löste er sie in Geräusche, Gerüche und Geschmack auf. So schrieb er einst über mich: „Nach meinem Kusse – ich nannte es ihr zuliebe Kuss – verlangend, schwang mir ihr zuckender Leib entgegen. Er schmeckte wie der einer Frau und war doch der eines Mädchens.“ Und darunter: „Ich war der erste, der sie dies Zucken spüren ließ. Ich glaube, sie liebt mich dafür.“
In dem Moment, da ich es las, fühlte ich mich auf eine Weise benutzt, die ich nicht in Worte fassen konnte. Ich war 17 Jahre alt und natürlich verliebt in ihn. Ich spürte nur, wie meine Hände zu zittern begannen. Und dann übermannte mich der Wunsch, mich – ich schreibe mich! – aus diesem Buch und auch aus seinem Gedächtnis zu löschen.
Ich weiß nicht, ob er je begriff, was er den Frauen angetan hatte. Er selbst schrieb – bereits in hohem Alter: Die armen Frauen, mit denen ich geschlafen habe …
Ich betrachte mich nicht als Opfer und möchte auch von niemandem so betrachtet werden. Ich widme mich diesen Aufzeichnungen auch nicht, um Mitleid zu erwirken. Ich schreibe, um zu verstehen – auch, dass ich ihn geliebt habe und ihn vermisse.
Dies sind meine Erinnerungen an ihn.
Ich war 15, fast 16, als ich Erwin Schrödinger zum ersten Mal begegnete. Es war im Garten meiner Eltern. Mein Vater hatte ihn eingeladen. Er war frisch aus Wien zu uns gekommen und sollte ab dem kommenden Herbst neben meinem Vater Theoretische Physik an der Universität unterrichten. Er kenne doch hier noch niemanden und da sollten wir ihm doch helfen, hatte uns mein Vater gesagt. Meine Mutter – sehr verhalten, meist schüchtern wirkend und Neuem durchaus nicht zugetan –, hatte dieser Einladung nur widerwillig zugestimmt.
„Aus Wien kommt er?“, hatte sie naserümpfend gefragt. „Na ja, da weiß man ja …“ Dazu hatte sie sich an den Rock gefasst und ihn leicht gelüftet.
„Was weiß man?“, unterbrach sie Emil, mein kleiner Bruder.
Meine Mutter erwiderte nichts, winkte nur ab.
„Papa, was weiß man?“, wandte sich Emil hierauf an meinen Vater. Er war ein wissbegieriger Junge von 12 Jahren und wollte immer schon alles durchdringen.
„Deine Mutter meint, dass …“, setzte mein Vater an, kratzte sich am Kopf und sah kurz zu ihr hinüber. „Sie meint, dass man in Wien das Leben liebt.“
„Und was ist daran verkehrt?“, wollte Emil wissen.
„Nichts, das ist es ja“, erwiderte mein Vater, die Brauen hochziehend.
„Pah“, brummte meine Mutter übellaunig. „Und wenn gerade keiner zuhört, dann liebt man auch den Nächsten.“
Ich musste lachen, weil ich zu verstehen meinte. Und gerade das steigerte meine Neugier auf den fremden Gast ins Unermessliche. Ich spürte mein Herz schneller schlagen, meine Hände wurden feucht. Wann verirrte sich schon einmal ein Wiener in unsere Stadt?
Erwin war Anfang 30, schlank, fast knöchern und für einen Mann nicht unbedingt groß. Groß war an ihm nur seine Nase. Sie stach gebogen aus seinem schmalen Gesicht hervor. Auf ihr saß eine runde Brille, die seine Augen betonte und den Anschein des westlichen Gelehrten unterstrich. Dem aber widersprachen seine wild vom Kopf abstehenden blonden Haare. Er bemerkte meinen Blick, hob eine Augenbraue. Ich tat es ihm gleich und verstieg mich zu der Frage: „Trägt man das so in Wien?“
„Wie?“ Er legte den Kopf leichte schrägt.
„Das Haar“, platzte es aus mir heraus. Ich blies die Wangen auf, begann zu schielen und griff mir an den Kopf.
„Marie!“, schalt mich meine Mutter und auch mein Vater räusperte sich vernehmlich. „Sie müssen verzeihen. Sie ist …“
„Nein, nein“, unterbrach ihn Erwin in leisem, fast sachtem Tonfall, der den breiten Wiener Dialekt kaum verbergen konnte. „Das ist schon eine berechtigte Frage. Zumal sie mir von einer so reizenden jungen Dame gestellt wird, die auf ihrer Wange als Zierde einen kecken Flecken trägt.“ Er lächelte mich liebenswürdig an, doch in seinem Blick erkannte ich etwas, das ich erst später zu deuten wusste. In dem Moment durchzuckte es mich nur und ich errötete. Beschämt senkte ich den Blick und griff mir an mein Muttermal.
Erwin war zum Kaffeetrinken gekommen. Es hatte Buchteln mit Powidl, Kipferl und Buttergebäck gegeben. Und Dobostorte, die ich so sehr mochte. Gottlob war ich bereits fertig, denn ich hätte keinen Bissen mehr hinuntergebracht.
Meine Mutter versuchte die Situation zu retten, indem sie die feine Hausdame spielte.
„Wie schön, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind“, sagte sie und neigte sich zu Erwin hinüber. Sein Blick ruhte noch immer auf mir. Ich sah nicht auf, spürte es nur.
„Herr Professor Schrödinger“, kam’s wieder von meiner Mutter. „Darf ich Ihnen noch etwas von der Torte anbieten?“
Dazu lachte sie freundlich. Nur, wer sie kannte, hörte das leise Keckern heraus. Es zeugte davon, dass sie sich verstellte. Obwohl ich ihre Art abstoßend fand, kam ich doch nicht umhin, sie für ihre Professionalität zu bewundern.
Späterhin zog sie sich zurück und die beiden Männer nahmen im Schatten unserer alten Linde Platz. Zwischen ihnen ein kleines, weißes Gartentischchen, das mein Vater selbst gedrechselt hatte. Auf ihm stand eine Karaffe mit einer alkoholisierten Limonade. Erwin, so sah ich, hatte die Beine übereinandergeschlagen, mein Vater streckte seine aus. Beide hielten ein Glas in der Hand, stießen an – ich hörte das leise Klirren.
„Nochmals vielen Dank für die Einladung.“
Es war ein schwülarmer Tag, aber nicht so stechend heiß wie an den vorangegangenen. Dennoch war es klüger, sich im Schatten aufzuhalten. Ich holte tief Luft und atmete die süße Frische der Linde. Das gleichmäße Summen der Hummeln und Bienen umgab mich, ehe ich den Schläger hob, den Ball in die Luft warf und nach ihm schlug. Mein Bruder und ich spielten Federball.
„Schon gut“, erwiderte mein Vater. „Sagen Sie mir lieber: Was gibt es Neues in Wien?“
Ich sprang nach dem Ball, den mir Emil zurückschoss. Sehr hoch, sehr weit. Ich spurtete ihm nach, direkt auf meinen Vater und Erwin zu, reckte mich, den Arm mit dem Schläger hochreißend. Ich verfehlte ihn, geriet ins Taumeln und wäre wohl gefallen, hätte mich Erwin nicht am Arm gepackt.
„Hopple“, sagte er und für einen Moment lang sahen wir uns in die Augen. Er lächelnd, ich erschrocken, ein „Danke“ hervorbringend. Mein Herz erhöhte seinen Schlag, mehr noch, als ich sah und spürte, wie er mir mit dem Daumen kurz übers Handgelenk strich. Schon hörte ich wieder meinen Vater: „Man vernimmt ja aus Wien nichts Gutes.“
„Wenn Sie die Physik meinen, mein lieber Birnbaum …“ Erwin gab meinen Arm frei und fuhr, an meinen Vater gewandt fort: „In Wien scheinen die Theorien selbst schon in die Luft zu fliegen – nicht alle landen heil.“
„Ja, der Krieg“, räsonierte mein Vater. „Noch haben wir ein Kaiserreich, aber es spricht schon mit fremdem Akzent.“
Der Ball war hinter die Gartenstühle gefallen. Mit zitternden Knien hob ich ihn auf und wollte gerade zu meinem Bruder hinüberrennen, als ich meinen Vater sagen hörte: „Aber bleiben wir bei der Physik. Die steht uns besser zu Gesicht. Aus Zürich vernimmt man ja seit einiger Zeit, dass der Äther nun gänzlich abgeschafft sei. Ich frage mich, ob man damit nicht das Fundament der Physik untergräbt.“
„Abgeschafft, ja – wie ein Möbelstück, das nicht mehr ins Zimmer passt“, entgegnete Erwin ruhig. Ich stand noch immer hinter den beiden. Kein Zweifel, es ging um Einstein und seine Theorie. Ich hielt den Atem an, spitzte die Ohren.
„Aber was“, so fuhr Erwin fort, „wenn Raum und Zeit selbst das neue Mobiliar sind?“
Einen Augenblick herrschte Stille, dann stieß mein Vater einen Pfiff aus. „Wenn Sie den Äther zum alten Mobiliar erklären, dann hoffe ich, Sie haben Ersatz für die Statik. Denn ein Raum ohne Trägermedium ist mir zu leer, um darin Wissenschaft zu betreiben – oder gar zu wohnen.“
„Aber Vater“, platzte es aus mir heraus und mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich, mit dem Ball in der Hand, neben Erwin trat. Augenblicklich wusste ich beider Blicke auf mich gerichtet. „Wenn der Äther fehlt“, fuhr ich dort, „bleibt doch nicht nichts – sondern wir erhalten dadurch die Möglichkeit, Raum und Zeit selbst zu verstehen. Vielleicht ist das Zimmer gar nicht leer, sondern endlich offen?“
Erwin sah mich an, dann stand er rasch auf und ergriff meine Hände. Ich zuckte leicht, ließ den Ball fallen und sah ihm ebenfalls in die Augen. Grau-blau waren sie. Er strahlte mich an. Ehrlich, unverstellt, fast wie ein kleiner Junge. „Sie sehen es. Sie sehen es wirklich“, rief er. „Ich dachte, ich sei allein mit dieser Unruhe.“
Ich war hochrot im Gesicht und ein leichter Schwindel hatte mich gepackt. Ich taumelte.
„Na, na, mein junger Freund“, hörte ich meinen Vater wie von Ferne sagen. „Ich hoffe, ihre Leidenschaft gilt einzig der Idee und nicht auch meiner Tochter.“
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