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Kapitel: | 10 | |
Sätze: | 106 | |
Wörter: | 2.033 | |
Zeichen: | 12.576 |
Brief von Katharina an Richard Feynman (geschrieben auf kariertem Papier, mit kleinen Kaffee- und Tintenflecken)
Sehr geehrter Professor Feynman,
ich habe heute Ihre Vorlesung über Quantenmechanik gehört. Na ja, nicht gehört im wörtlichen Sinne – ich bin in Berlin, und Sie sind… nun ja… nicht. Aber ich habe ein Video gesehen, und es war vermutlich das unterhaltsamste physikalische Chaos, das ich je miterlebt habe.
Ich bin Studentin der Philosophie mit einer gewissen Affinität zu Dingen, die man nicht versteht, und nachdem ich Ihre Erklärung zur Zwei-Spalt-Interferenz „verstanden“ habe (also: ich habe an der richtigen Stelle gelacht), fühle ich mich innerlich verpflichtet, Ihnen zu schreiben.
Zwei Fragen:
1. Wenn ein Elektron weiß, dass es beobachtet wird – weiß es das wirklich, oder ist das nur ein sehr physikalischer Weg zu sagen: „Schäm dich, du wurdest erwischt“?
2. Haben Sie Ihre Hemden absichtlich nicht gebügelt, um uns unterbewusst zu zeigen, dass Ordnung eine Illusion ist?
Herzlich verwirrt und auf seltsame Weise inspiriert,
Katharina P. Berlin, ungefähr auf Höhe von Planck
Antwort von Richard (auf kariertem Collegeblock, mit Diagramm am Rand)
Liebe Katharina,
Ihre Fragen sind herrlich – besonders die über Hemden. Ich werde nie wieder eines bügeln, aus Prinzip. Vielleicht lässt sich sogar eine Gleichung daraus ableiten.
Zum Elektron: Nein, es weiß nichts. Es ist nicht beleidigt, es hat kein Tagebuch und plant keine Revanche. Es reagiert einfach nur – wie ein sehr schüchterner Partygast.
Aber ich kann Ihre Verwunderung gut nachvollziehen. Ich selbst bin regelmäßig davon fasziniert, wie wenig wir über alles wissen. Und das macht die Sache spannend, finden Sie nicht?
Schreiben Sie mir ruhig wieder. Ihre Philosophie hat Schwung.
Mit quantenhafter Herzlichkeit,
R.F. (P.S.: Anbei ein Elektron mit Hut.)
Katharina an Richard (inzwischen leicht aufgedreht)
Lieber Herr Feynman,
danke für Ihre Antwort – Sie haben mein Vertrauen in das Prinzip des physikalischen Humors gestärkt.
Ich habe Ihre Zeichnung des Elektrons sehr bewundert. Es sah aus wie ein schlecht gelaunter Muffin mit Bewusstsein – also exakt so, wie ich mir Teilchen seit jeher vorgestellt habe.
Übrigens: In meiner Kant-Seminargruppe wurde heute über Determinismus diskutiert. Ich habe behauptet, dass ein Elektron bestimmt kein kategorischer Imperativ sei. Niemand hat gelacht. Aber innerlich, glaube ich, war ich auf einem Quantensprung ins Glück.
Darf ich Sie fragen, ob Sie Musik hören, wenn Sie zeichnen? Ich stelle mir vor, dass Ihre Diagramme bei Miles Davis entstehen.
Herzlich spekulativ,
Katharina
Richard an Katharina (auf Papier mit leichten Bongo-Spuren)
Katharina,
Sie liegen goldrichtig: Miles Davis, ein bisschen Bach, und gelegentlich... Schweigen. Da tanzen die Ideen nämlich lauter.
Ihr Kant-Witz hat mich gerettet – ich hätte ihn vermutlich auf den Lehrstuhl graviert, wären da nicht schon Bohr’s Schriften eingeritzt.
Apropos Teilchen: Ich beginne ernsthaft zu glauben, dass Konversationen wie diese in irgendeinem Paralleluniversum Nobelpreise gewinnen. Leider nur dort.
Falls Sie sich demnächst nach Pasadena verirren, geben Sie rechtzeitig Bescheid. Ich führe Sie gern durch mein Chaos – mit oder ohne Bongo.
Es grüßt Sie mit leicht verbeultem Diagramm,
Richard
Katharina an Richard (geschrieben mit einem Füller, der manchmal aussetzt, wie ein unsicheres Herz)
Lieber Richard,
Ihre Einladung, mich nach Pasadena zu verirren, war vermutlich die schönste Formulierung für einen Ortswechsel, die mir je begegnet ist. Ich habe sofort meine Landkarte gesucht – die analoge, versteht sich – und dabei entdeckt, dass mein Globus Staub angesetzt hat.
Ich frage mich, ob Ihre Bongo-Trommel staubfrei ist. Ich stelle mir vor, wie Sie abends darauf spielen, während Elektronen in Ihrer Küche imaginäre Bahnen tanzen.
Manchmal denke ich, Physik ist ein bisschen wie Flirten – es geht viel um Wahrscheinlichkeiten, nie um Gewissheit, und wenn man hinsieht, verändert sich alles.
Herzlich aus dem philosophischen Zwielicht,
Katharina
von Richard an Katharina (leicht zerknittert, mit Teekringel unten rechts)
Liebe Katharina,
Ich habe Ihren Vergleich zwischen Flirten und Quantenmechanik laut vorgelesen – dem Staubsauger. Er hat nicht geantwortet, aber ich glaube, er stimmt Ihnen zu.
Was Ihre Reise nach Pasadena betrifft: Verirren Sie sich ruhig – die besten Entdeckungen beginnen damit, dass man nicht genau weiß, wo man ist. (Ich selbst habe die Hälfte meiner Erkenntnisse im Zustand des „Wo war ich nochmal?“ gewonnen.)
Und ja, ich spiele manchmal Bongo. Meist, wenn mir ein Elektron zu unhöflich erscheint oder ein Student behauptet, „Teilchen“ seien langweilig.
Ihre Briefe lassen mein Schrödinger-Herz gleichzeitig lachen und philosophieren – ein Wunder, dass ich sie nicht sofort in Versuchsanordnungen verarbeite.
Mit freundschaftlicher Unschärferelation,
Richard
(P.S.: Ich bügle immer noch keine Hemden. Ein Rest Anstand muss bleiben.)
Katharina an Richard (leicht zerknittertes Papier, Spuren von Teeflecken, ein kleiner Tintenklecks in der Ecke)
Lieber Richard,
ich habe neulich versucht, meinem Bruder Ihr Doppelspalt-Experiment zu erklären. Er sagte nur: „Also du meinst, Teilchen benehmen sich wie du auf Dates?“ Ich war erst empört, dann ein bisschen stolz.
Ich frage mich, ob Wissenschaftler wie Sie nicht manchmal einsam sind – mit all den Formeln, die mehr Ordnung haben als Beziehungen. Oder ist das eine romantisierte Vorstellung von jemandem, der selbst selten weiß, ob er sich gerade in einen Menschen oder in dessen Bibliothek verliebt hat?
Sollte ich tatsächlich einmal in Kalifornien stranden (versehentlich, natürlich), dann würde ich gerne sehen, wie Sie die Welt erklären – nicht nur mit Gleichungen, sondern mit Bongo und Blicken.
Herzlich-neugierig und ein kleines bisschen nervös,
Katharina
von Richard an Katharina (auf dickem Papier, mit einer kleinen Skizze: ein Elektron, das rot wird)
Liebe Katharina,
ich glaube, es ist fast unausweichlich, dass man sich manchmal näher mit seiner Kreide verbunden fühlt als mit den Menschen um einen herum. Aber dann kommt ein Brief wie Ihrer – und plötzlich ist da Resonanz, keine Formel, aber ein kleines Zittern, das mir verdächtig menschlich vorkommt.
Ich würde Ihnen gern meine Bibliothek zeigen. Auch die Bücher, die nur noch wegen der Teeflecken leben.
Falls Sie also irgendwann wirklich stranden – ich verspreche, Sie bekommen einen Kaffee (kein Instant), eine Bongo-Vorstellung und ein Versuchslabor, in dem alles außer der Schwerkraft leicht ist.
In freundlicher Schwingung,
Richard
Katharina an Richard (Postkarte mit Sternbild-Ornament, etwas zerknickt, geschrieben in einem Straßencafé in Santa Monica)
Lieber Richard,
ich habe es getan. Ich bin in Kalifornien. Nein, kein kosmisches Versehen – eine Konferenz, ein günstiger Flug, ein unvernünftig spontaner Impuls.
Morgen habe ich nichts vor. Außer vielleicht: in einer Bibliothek verlorenzugehen, auf einem Oszilloskop Linien nachzuzeichnen und mit jemandem zu reden, der das Wort „Unschärferelation“ nicht als Beziehungsratgeber versteht.
Sollte zufällig jemand wie Sie morgen Nachmittag in Pasadena sein – ich bin die Frau mit dem Notizbuch, dem nervösen Lächeln und dem Gefühl, in Ihrer Welt ein bisschen fehl am Platz und doch ganz richtig zu sein.
Herzlich und leicht orientierungslos,
Katharina
Statt eines Briefes steckt am nächsten Tag in ihrem Hotel eine schlichte, mit Bleistift beschriebene Notiz:
Ein Elektron kann nicht wissen, wo es ist, ohne sich zu verändern. Ein Mensch vermutlich auch nicht.
Ich bin um 15 Uhr im Botanischen Garten, unter der alten Platane. – R.
Sie trifft ihn unter der alten Platane sitzend. Er trägt ein leicht knittriges Hemd, sie hat Sand in den Schuhen und hält ihr Notizbuch viel zu fest umklammert. So sehen sie sich einen Moment lang schweigend in die Augen. Rascheln der Blätter ist zu hören.
Dann räuspert er sich. „Ich habe mir überlegt, ob ich heute lieber ein Experiment mit Magnetfeldern oder Menschen mache.“ Sie dreht sich halb zu ihm. „Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?“
Er sieht sie an, ein kleines Lächeln umspielt seine Mundwinkel. „Bei Menschen ist der Ausgang ungewiss. Das macht es aufregender – und furchteinflößender.“
Sie lacht leise. „Ich schlage vor, wir starten mit der Beobachtung. Ohne Störung des Systems.“
Für eine Weile betrachten sie nur die huschenden und ineinander verschmelzenden Schatten der sich im Sommerwind kräuselnden Blätter. Schließlich holt sie tief Luft, schlägt ihr Notizbuch auf, schreibt einen einzigen Satz und reicht es ihm hin:
Die Bahn eines Teilchens ist unvorhersehbar – es sei denn, es weiß, wo es sein will.
Er schaut sie lange an, dann legt er seine Hand ganz sacht auf ihre. Sie zuckt zusammen. Sein Herzschlag stolpert, doch neigt er sich vor und flüstert kehlig rau: „Das Teilchen flackert. Was meinst du?“
Wenn die Vergangenheit ein Teilchen ist, bewegt sie sich vielleicht noch.
Im hinteren Regal von Richards Bibliothek steht noch immer das Notizbuch, das sie ihm damals dagelassen hatte – mit halb übersetzten Zeilen und einer kleinen Zeichnung eines Elektrons, das ein Fragezeichen trägt.
Sie ist in Berlin, lehrt inzwischen selbst. In einem Seminar über Erkenntnistheorie zitiert sie gern aus seinen Briefen, ohne Namen zu nennen. Nur manchmal, bei besonders schwierigen Fragen, sagt sie: „Ich hatte mal eine Unterhaltung mit einem Mann, der meinte, ein Teilchen sei wie ein schüchterner Partygast.“ Die Studierenden lachen. Sie lacht mit – leicht.
Richard denkt gelegentlich an sie, meist beim Bongo-Spielen oder wenn jemand ein Diagramm verzieht. Dann sagt er: „Ich kann das erklären – aber wahrscheinlich nicht besser als jemand, der Philosophie mit Mut trinkt.“
Keiner von beiden sagt je: es war Liebe. Aber in einer Fußnote, irgendwo zwischen Beobachtung und Möglichkeit, steht: Es hätte sein können.
Liebe Katharina,
heute habe ich die Tafel nicht gewischt. Dein Satz von damals – die Bahn eines Teilchens… – stand da so ruhig, so selbstverständlich, dass ich dachte: Vielleicht müssen manche Dinge einfach stehen bleiben.
Ich wollte dir nur sagen, dass ich seit deinem Besuch etwas häufiger an Menschen denke als an Modelle. Dass ich Musik höre, die keine Formeln braucht. Und dass ich manchmal lächle, wenn jemand mir widerspricht – aus Prinzip, weil du es immer so schön getan hast.
Sollte dieser Brief dich je erreichen, dann nur als Hypothese.
Immer mit einer gewissen Unschärfe – R.
Es ist merkwürdig, wie sich Dinge verändern, wenn sie nicht mehr beobachtet werden. Gefühle zum Beispiel. Oder Briefe. Manche klingen lauter, wenn man sie Jahre später wieder liest.
Ich weiß nicht, ob Richard je wusste, wie wichtig er mir war – oder ob das überhaupt entscheidend war. Vielleicht genügte es, dass es ihn gab, mit seiner Mischung aus Physik, Improvisation und Unwillen, Hemden zu bügeln.
Ich habe seitdem viele Briefe geschrieben. Keiner war wie diese. Sie waren... klar. Schwerelos.
Wenn ich ihn heute noch einmal anschreiben würde, stünde auf dem Umschlag nur ein Satz:
Die Bahn eines Teilchens ist unvorhersehbar – es sei denn, es weiß, wo es sein will.
Und darunter:
Ich war ganz kurz genau dort.
— K.P.
Die Konferenz ist fast vorbei. Katharina hat ihren Vortrag gehalten – ein wenig zu schnell, ein wenig zu leise. An der Rückwand des Raumes steht ein Mann mit zerzaustem Haar, das inzwischen fast ganz grau ist.
„Sie haben Kant zitiert“, sagt er beim Hinausgehen.
Sie wendet sich um und blinzelt zweimal.
Er grinst verlegen: „Ich war in der Stadt. Ich dachte, wenn Teilchen spontan auftauchen können, dann darf ich das vielleicht auch.“
Sie lacht so leise, dass es fast nur ihr Notizbuch hört. Dann reicht sie ihm eine Kaffeetasse. „Wenn Sie schon zufällig hier sind, könnten wir auch ganz absichtlich einen Spaziergang machen.“
Er nickt zaghaft. „Aber nur unter der Bedingung, dass wir die Bahn des Elektrons völlig unbeobachtet lassen.“
„Gut“, schmunzelt sie.
Sie gehen im Schatten der Lindenallee hinab. Die Luft ist schwülwarm. Er öffnet die oberen Knöpfe seines leicht knittrigen Hemdes. Sie sucht nach einem Taschentuch und tupft sich die Stirn. Über ihren Köpfen rauschen die Blätter der Bäume, als flüsterten sie miteinander.
Richard und Katharina schweigen. Kein Wort über das Damals. Kein Wort über das Später. Sie sehen sich nur kurz, fast scheu, in die Augen und fassen sich bei den Händen. Ihre Finger verschränken, so als gehorchten sie einem stummen Befehl.
Wieder sehen sie sich in die Augen – sie, leicht nuschelnd: „Küss mich.“
Er errötet, ein Lächeln spielt um seine Mundwinkel.
Zwei Menschen, die den Zufall ausreden lassen möchten. Für einen Augenblick lang — gemeinsam.
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