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Kapitel: | 6 | |
Sätze: | 1.022 | |
Wörter: | 14.339 | |
Zeichen: | 83.623 |
▬ Sommer 1980 – in einem kleinen Dorf irgendwo im Nordwesten Irlands ▬
Zögerlich linste ein junger Knabe in den zinnernen Kessel, der vor ihm über dem offenen Feuer hing. Die Farbe des Trankes war kristallblau, genau so, wie es im Buch, das aufgeschlagen auf dem Boden lag, beschrieben stand. Nachdenklich kratzte er sich an der Stirn, als er sich auf die Knie fallen ließ und die nächste Aufgabe hoch konzentriert las, die das Buch ihm mitteilte.
Er musste ein noch glühendes Ei einer Aschwinderin in den Trank geben. Mit zusammengezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn dachte er über die kurze Anweisung nach, als er zu dem kleinen Behälter schielte, der auf dem Tisch stand. Leise Zischgeräusche entkamen. Seine Mutter hatte ihm ausdrücklich davor gewarnt, niemals glühende Eier für einen Trank zu verwenden. Er selbst wusste auch durch die vielen Bücher, die er gelesen hatte, dass nur gefrorene Eier zu dem gewollten Effekt eines Trankes führten. Wieso also verlangte das Buch dies?
Mit zittrigen Knien erhob er sich und ging langsam auf den Tisch zu. Die Vibrationen des Bodens teilten dem Tier in dem Behälter mit, dass etwas passieren würde. Der Junge nahm vorsichtig den Deckel ab. Ein Schaudern überkam ihn, als er in die blutroten Augen der Schlange sah, die sich in einer der hinteren Ecken befand und ihn genau beobachtete. Seine Augen suchten die komplette Box nach einem Ei ab, doch ehe er es fand, begann der Kessel hinter ihm zu fauchen. Erschrocken drehte er sich dem Trank zu. Diesen Moment der Unaufmerksamkeit nutzte die Schlange sofort aus und schoss nach vorne.
Nur ein Aufschrei des Jungen ließ erahnen, was in dem kleinen unterirdischen Raum vor sich ging, doch hören konnte ihn niemand. Mit seinen kleinen Füßen trat er nach der Schlange, die sich auf dem Boden windete. Sie züngelte und fauchte, ebenso der Kessel, aus dem dunkle Nebelschwaden empor stiegen. Er musste das Ei noch glühend in den Trank bekommen, doch mit der Aschwinderin auf dem Boden würde ihm das nicht gelingen. Irgendetwas musste er unternehmen.
Hastig sah er sich im Raum um, jedoch ohne das Tier aus den Augen zu verlieren. Er wusste, dass Aschwinder-Schlangen alleine innerhalb einer Stunde starben. Es war also nur noch eine Frage der Zeit, ehe sie wieder zu Asche zerfallen würde, doch das Ei würde in dieser Zeit Feuer fangen und sofort danach abkühlen. Auf einem Regal, etwa drei Schritte entfernt, entdeckte er plötzlich den verzierten Griff eines Zauberstabes. Es konnte nur jener seiner Mutter sein. Ohne über das, was er im Stande war zu tun, nachzudenken, überbrückte er die wenigen Schritte und schnappte sich den hölzernen Stab. Die Schlange wandte sich unter dem Tisch.
„Vipera Evanesca!“
Mit einem lauten Knall flog das Tier in die Luft und rieselte als Ascheflocken wieder hinab auf den Boden und bedeckte seine Schuhe. Mit einer Gänsehaut am ganzen Körper besah er sich den Zauberstab, den er in der Hand hielt. Natürlich hatte er ihn schon öfters gesehen und berührt, doch dies war das erste Mal, dass er auch einen Zauberspruch damit ausgeführt hatte. Ein leises ‚wow‘ entkam ihm, als zeitgleich der Kessel heftig zu vibrieren begann.
Ohne weiter zu zögern war der Junge wieder am Tisch und sah in den Behälter. Das Ei lag dort, wo zuvor die Schlange gelegen hatte. Er griff danach, was wieder ein dummer Fehler war. Fast hätte er es fallen lassen, so heiß war es. Die Drachenlederhandschuhe lagen nach wie vor unberührt neben dem Behälter und er hätte sich selbst in diesem Moment ohrfeigen können. Er hatte sie doch extra der Schlange wegen mitgenommen. Kurz besah er sich die Bissspuren des Tieres, entschied jedoch, dass der Trank wichtiger war. Schnell zog er sich die Handschuhe über, nahm das Ei wieder hoch und begab sich damit zum Kessel.
Die Farbe hatte sich nicht verändert. Nach wie vor schimmerte der Trank im schönsten Blau, das er jemals gesehen hatte. Mit einem weiteren Blick in den Kessel ließ er langsam das Ei in der Schöpfkelle hineinsinken. Einen Augenblick lang geschah nichts, bis sich die Farbe doch schlagartig änderte und sich der Raum in Sekundenschnelle mit schwarzem, stinkendem Rauch füllte.
Hustend tastete er blind nach dem Buch. Als er es gefunden hatte, murmelte er ein leises ‚Lumos‘, woraufhin sich eine kleine Lichtkugel am Ende des Zauberstabs formte. Mit flinken Handbewegungen suchte er das Kapitel des Zaubertranks und las den Rest der Anleitung. Doch mit jedem weiteren Wort, das sein Gehirn aufnahm, überkam ihn ein ungutes Gefühl.
Er hatte das gemahlene Pulver eines Grabhorn-Horns heiß aufgegossen, danach den Saft von sieben Drachenbaumbeeren eingerührt. Auch die dreieinhalb Zweige von einem wilden Flussazalee hatte er, nachdem der Trank exakt dreizehn Minuten geköchelt hatte, hinzugegeben und viermal gegen den Uhrzeigersinn gerührt. Danach kam das glühende Ei der Aschwinderin.
Mehrmals überflog er den Text des Rezepts. Bis jetzt hatte er doch alles richtig gemacht, wieso aber hatte der Trank nun diese giftige Farbe angenommen, von der kein Wort geschrieben stand? Gedanklich ging er die Zutatenliste mehrere Male durch und hakte alles ab. Bis ihm etwas einfiel. Mit angehaltenem Atem blätterte er wild durch die Seiten, bis er die vorletzte Seite erreicht hatte. Und genau dort stand jener Satz, den er gefürchtet hatte.
Sollte das glühende Ei einer Aschwinderin nicht innerhalb von drei Minuten hinzugefügt werden, sobald sich der Trank kristallblau gefärbt hat, wird der gegenteilige Effekt des Trankes auftreten.
„Nein, nein, nein!“
Er ließ den Zauberstab fallen, woraufhin das Licht erlosch. Die Dampfbildung hatte sich in den verstrichenen Minuten von selbst gestoppt, doch der Trank besaß nach wie vor die falsche Farbe. Seine Mutter würde ihn umbringen. Er durfte nicht an ihre teuren und seltenen Zutaten rangehen, geschweige denn, sie benutzen. Nicht ohne ihre Erlaubnis und ihr Beisein. Er würde ihr erklären müssen, was er im Schilde geführt hatte, doch das wollte er nicht. Sie würde ihn nicht verstehen.
Mit dem Gesicht in den Händen ließ er sich nach hinten fallen, wobei er gegen den alten Holzschreibtisch stieß. Ein Einmachglas, das gefährlich nah an der Kante stand, wackelte und fiel letztlich um. Der Inhalt, ein einzelnes Blatt, sank wiegend hinab und landete lautlos im Kessel. Der Junge bekam davon nichts mit. Er saß weinend da und hatte den Kopf zwischen Knien und Händen vergraben. Nur wenige Sekunden später, als der Inhalt des Kessels wieder zu zischen und blubbern begann, sah er auf. Durch die verweinten Augen konnte er nicht viel erkennen. So auch nicht den kleinen Tropfen des Gebräus, der in seine Richtung flog. Ein Fauchen war zu hören, als die Flüssigkeit auf die gerötete Wange des Jungen traf, doch ehe er reagieren konnte, verschwamm der Raum vor ihm und etwas zog ihn nach unten.
***
Er lag auf etwas. Es war nass und matschig. Schreie drangen an seine Ohren und ließen ihn langsam wieder zu Bewusstsein kommen. Leicht blinzelnd versuchte er sich zu bewegen, was ihm nach einem kurzen Augenblick auch gelang. Er konnte die Hände befreien, die unter seinem Körper gepresst waren. Als er blind umhertastete, bemerkte er, dass das, worauf er lag, sich gefährlich nach Lebewesen anfühlte. Ohne an das grelle Licht zu denken, riss er erschrocken die Augen auf.
Es regnete. Der Himmel war übersät mit schwarzen Wolken, die Unheil ankündigten. Ein Blitz erschien am fernen Horizont, als er den Kopf leicht anhob und geradeaus sah. Vor ihm lag eine weite Landschaft, doch etwas an diesem Anblick verstörte ihn. Es waren die unzähligen leblosen Körper gefallener Männer.
Sie lagen überall. Auch unter ihm, wie er angeekelt und panisch feststellen musste, als er sich weiter umsah. Der Mann war offenbar durch einen gezielten Kopfschuss durch das rechte Auge gestorben. Fleischfetzen bedeckten das Gesicht des Toten. Er wollte seinen Blick abwenden, doch es gelang ihm nicht. Hektisch rappelte er sich auf und stolperte dabei über das Gewehr, das der Tote in der Hand hatte. Eine Schuhspitze bohrte sich in seinen Rücken, woraufhin er sich angsterfüllt umdrehte. Als er sah, dass auch dort hunderte von Leichen lagen, beugte er sich zur Seite und übergab sich auf eine kleine freie Fläche Wiese, die von Blut durchtränkt war.
Er fühlte sich schwach. Hilflos. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Nach wie vor drangen Schreie an seine Ohren, doch er konnte nicht ausmachen, woher sie kamen. Sein Blick wanderte an seinem eigenen Körper hinab. Er war mit nichts weiter bekleidet, als Shorts, Schuhen und kaputtem Arbeitshemd. Wenn er nicht bald wieder einen Weg zurück oder einen trockenen Unterschlupf finden würde, würde er womöglich erfrieren.
Immer noch mit einem flauen Gefühl in der Magengegend erhob er sich auf seine zittrigen Beine und wischte sich die nasse Erde vom Hintern. Er musste ganz dringend pinkeln. Ein sehr ungünstiger Moment, wie er feststellen musste. Das Schlachtfeld erstreckte sich in alle Himmelsrichtungen und nirgendwo war ein Baum oder Gebüsch zu sehen. Nur nicht in die Hose machen, ermahnte er sich selbst, als er einen großen Schritt über den leblosen Körper eines weiteren Mannes machte.
Sie lagen wie aneinandergereiht da, die Blicke gen Himmel gerichtet. Und sie alle hatten Waffen bei sich. Es handelte sich um Soldaten, das war ihm klar, doch in welchem Krieg er gelandet war, konnte er nicht sagen.
Als er bereits einige Minuten über das tote Land gelaufen war, stolperte er über etwas, das sich in seinem Schuh verfing und ihn auch nicht mehr losließ. Kalte Nässe drang durch sein Hemd an seinen Bauch. Er versuchte sich zu befreien, was ihn jedoch einiges an Kraft kostete, die er kaum besaß. Das klumpige Teil löste sich schlussendlich von ihm und er konnte es genauer betrachten. Es war spitz und als er den Schlamm grob beseitigt hatte, sah es für ihn aus wie ein Zahn. Langsam und nachdenklich drehte er es in der kleinen Hand herum. Es könnte tatsächlich ein Reißzahn sein. Von einem Raubtier. Kurzerhand steckte er den gefundenen Gegenstand ein und machte sich weiter auf die Suche nach einem Rückweg.
Er hatte sich verirrt. Das musste er sich nach rund fünf Kilometern Fußmarsch eingestehen. Doch wie sollte er sich verirrt haben, wenn weder links noch rechts, weder nördlich noch südlich, etwas zu sehen war? Noch immer befand er sich auf dem Schlachtfeld, das offenbar einst eine Weide gewesen war, denn hier und da standen Holzbauten, die nach Tierunterschlüpfen aussahen. Einen Schritt vor dem anderen setzend, fasste er den Entschluss, rechts langzugehen.
So fand er nach kurzer Zeit eine Horde von Soldaten, die sich noch immer gegenseitig bekämpften. Sie schrien sich Dinge zu, die er nicht verstand trotz seines guten Gehörs. Sein Blick wanderte auf und ab, als ein Mann nach dem anderen tot umfiel. Schüsse hallten über die Wiese zu ihm und ließen wieder die Angst, die er in den letzten Minuten, Stunden verdrängt hatte, in ihm aufkommen. Wie konnte er nur vergessen, was hier geschah? Natürlich! Er hatte nur Leichen gesehen, aber keine aktiven Soldaten.
Der Ruf eines Mannes erklang und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Diese tiefe Stimme war ihm doch vertraut! Wie von selbst setzten sich seine Beine in Bewegung, die Arme hingen schlaff an den Seiten seines Körpers. So marschierte er zielstrebig über das Feld. Die kämpfenden Männer um ihn herum schien er kaum noch wahrzunehmen. Er wollte nur diese Stimme finden, die ständig rief.
Je näher er der Stimme kam, umso besser konnte er verstehen, was sie sagte, ihm entgegenrief. Es war sein Name. Énna. Doch wieso sollte hier jemand seinen Namen kennen? Er war doch nur aus Zufall hier gelandet. Oder etwa nicht?
Eine Gewehrkugel zischte nur wenige Zentimeter an seinem Gesicht vorbei und schlug hinter ihm ein. Übelkeit stieg wieder in ihm auf, als er stehenblieb und dem Schützen in die Augen sah. Da, wo die Pupillen hätten sein müssen, befand sich ein weißer Kreis. Schwarz, weiß, schwarz. Der Mann vor ihm sagte etwas, doch er verstand es nicht. Es war … eine andere Sprache. Keine menschliche Sprache.
„Énna.“
Wieder erklang die Stimme, doch dieses Mal war sie näher bei ihm. Es schien so, als würde der Besitzer der Stimme direkt hinter dem Schützen stehen, doch da war niemand. Aus den Augenwinkeln sah er, wie wenige Meter neben ihm etwas aufblitzte. Er sah sich kurz in alle Himmelsrichtungen um, doch außer den Soldaten konnte er niemanden erkennen. Jedoch schien sich dieser nicht mehr zu bewegen. Würde er ihn erschießen, wenn er sich bewegte? Langsam, ohne den Schützen aus den Augen zu lassen, setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er sich sicher war, dass der Mann ihm nicht gefährlich werden konnte, denn der Blick war nach wie vor starr nach vorne gerichtet. Ohne den merkwürdigen Schützen also weiter zu beobachten, begab er sich schnellen Schrittes zu dem merkwürdigen Objekt hin.
Es lag auf einem Stein. Klein, glänzend. Mit einem Edelstein versehen. Es war ein Ring, wie sich nach näherer Betrachtung herausstellte. Und als er ihn anzog, passte er wie angegossen. Doch etwas veränderte sich.
Er wusste plötzlich, wo er war.
Er war in Irland im Jahre 1759.
„Papa?“
Seine Stimme klang klein in der großen Weite, in der er sich befand. Der Krieg um ihn herum schien aufgehört zu haben. Wie aus dem Nichts. Wie konnte das nur möglich sein?
„Papa!“
Tränen rollten über seine Wange und er schniefte leise, als er sich panisch umsah. Er wollte wieder nach Hause. Er wollte wieder zurück in das kleine Häuschen am Waldrand, in dem er und seine Mutter lebten. Zurück in den Sommer neunzehnhundertachtzig. Er wünschte es sich so sehr.
Weinend brach er in sich zusammen und sank auf das nasse Gras. Den Ring hatte er wieder abgezogen. Fest umklammerte er ihn und seine Augen hatte er geschlossen. So bekam er auch nicht mit, dass der kleine Edelstein in seiner Hand leicht zu schimmern begann. Binnen weniger Sekunden wurde er wieder nach unten gezogen, während sich alles um ihn herum zu verändern begann. Er bemerkte den muffigen Geruch des Labors seiner Mutter und riss die Augen auf.
Sein erster Gedanke war, ob dies vielleicht ein Traum gewesen sein konnte, doch als er an sich hinabsah, fing er an, dies zu bezweifeln. Seine Kleidung war voller Matsch und komplett durchnässt. Zudem hatte er den Ring noch in der Hand, dessen Schein gerade wieder erloschen war.
„Énna!“
Beim Klang der Stimme seiner Mutter stoppten die Tränen und er sah auf. Er hatte ganz vergessen, dass er die Tür abgesperrt hatte, sodass niemand hereinplatzen konnte. Das Schloss knackte leise, als es mit einem Zauber geöffnet wurde.
„Mama.“
▬ Sommer 1984 – in einem kleinen Dorf irgendwo im Nordwesten Irlands ▬
Gähnend strich er sich die lange Haarsträhne aus dem Gesicht, ehe er gelangweilt mit dem Löffel Kreise durch seinen Haferbrei zog. Er liebte dieses Gericht, doch die Tatsache, dass er in wenigen Minuten auf der Weide sein und mit den Schafen helfen musste, drängte ihn dazu, so langsam wie nur möglich zu essen.
Natürlich war ihm bewusst, dass er und seine Mutter das Geld brauchten, jedoch hatte er, an einem regnerischen Tag wie heute, nur selten Lust, nach draußen zu gehen. Lieber würde er die Zeit im Labor totschlagen oder lesen. Leider würde ihnen das aber teuer zu stehen kommen.
Als seine Mutter nach wenigen Minuten die Küche betrat, hatte er kaum die Hälfte des Breis gegessen, was die junge Frau eine Augenbraue anheben ließ. Sie stellte einen Korb mit frisch gepflückten Kräutern auf den Tisch, was ihn dazu verleitete, sich danach zu strecken.
„Nein, Énna, vergiss es.“
Leicht klopfte sie ihm auf die Finger, ehe er sich murrend zurücklehnte und sich wieder seinem Frühstück widmete, das mittlerweile gänzlich kalt geworden war. Er suchte die Apfelstücke raus und reihte sie nacheinander auf, sodass sie einen Kreis bildeten. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, doch seine Mutter war weniger begeistert davon, dass ihr Sohn mit dem Essen spielte.
„Énna, wenn du keinen Hunger mehr hast, dann stell die Schüssel dem Hund runter, aber spiel nicht damit rum.“
„Aber ich esse doch noch“, nuschelte er, als seine Mutter eine Hand nach der Schüssel ausstreckte, um zu prüfen, ob es noch warm war.
„Es ist eiskalt. Na los. Stell es runter.“
Ohne noch etwas darauf zu erwidern, schob er sich drei Stücke des Obstes auf den Löffel und nahm diesen in den Mund. Während er noch kaute, stand er auf und stellte die Schüssel auf den Webteppich, der in einer Ecke lag und als Fressbereich diente. Den Löffel ließ er in das Spülbecken fallen.
„Kann ich nicht heute zuhause bleiben und dir helfen?“ Er sah sie flehend an, doch sie schüttelte den Kopf.
„Du weißt, wir brauchen das Geld und solange nur ein paar Hexen und Zauberer im Dorf meine Tränke zu würdigen wissen, musst du, so leid es mir tut, auf der Weide helfen.“
Ihre Antwort war freundlich wie immer, wenn sie mit ihm sprach, doch er merkte, dass sie ebenso wenig wollte, dass er die Arbeit auf der Weide verrichtete, wie er. Sie wusste, wie geschickt er beim Brauen der Tränke war und wie sehr es ihm gefiel, doch ohne dem Geld würden sie sich nichts zum Essen leisten können.
„Du könntest doch einfach“, begann Énna zu sprechen, jedoch ahnte seine Mutter genau, worauf er hinaus wollte. Sie richtete sich auf und sah ihn streng an.
„Du weißt, dass wir das niemals tun werden!“
„Aber Mama, es würde uns so viel ersparen.“
„Es wäre Diebstahl, Énna“, erwiderte sie und sah ihn aus ihren blassblauen Augen an. „Niemals werden wir etwas stehlen. Hast du mich verstanden?“
„Ja, Mama“, murmelte der Junge leise und begab sich zur Hintertür. „Wir sehen uns wieder am Nachmittag.“
Er zog die Tür hinter sich ins Schloss und sah hinauf in den wolkenverhangenen Himmel. Alles über ihn schrie förmlich nach Gewitter, dennoch setzte er langsam einen Fuß vor den anderen und machte sich dran, den Hügel vor ihm zu erklimmen. Dahinter würde ihn seine Arbeit erwarten, auf die er nur leider keine Lust hatte.
Einen Kieselstein ständig nach vorne kickend, war er wenige Minuten später am Weidezaun angekommen, doch von der Schafherde war weit und breit nichts zu sehen. Mit zusammengekniffenen Augen stieg er durch die elektrischen Bänder hindurch und lief zur Mitte der Koppel. Zuerst dachte er, dass er zu früh dran war, aber der Mann, der am anderen Fuße des Hügels etwas zu vergraben versuchte, erweckte in ihm den Verdacht, dass etwas nicht stimmte. Ohne darüber nachzudenken, lief er über die Wiese, bis er nur knapp vor dem Mann zu stehen kam.
„Hallo.“
„Na, du Jung‘. Was führt di‘ her“, kam es prompt von dem zahnlosen Greis, der ihn schief lächelnd ansah.
„Wo sind die Schafe“, fragte er mit kindlicher Neugier und sah zu, wie der Mann sich über die verschwitzte Stirn wischte.
„S‘e kommen nimmer.“
„Wieso sollten sie nicht mehr kommen? Sie leben doch hier.“ Der Ältere lachte leise und rau und wandte sich letztlich ganz zu ihm um.
„Der al‘e Peaton ist gestorben letzt‘ Nach‘, mei‘ Jung‘. D’e Schaf‘ waren schnell‘r weg, als du glaub‘ magst.“
„Aber meine Arbeit und mein Lohn“, kam es leise von ihm, als der Mann wieder nach der Schaufel griff.
„Na, Jung‘. Da kann i‘ nich’s machen. I‘ werd‘ für mei‘ Arbeit hier au‘ nich‘ bezahlt. So läuf’s nun ma‘.“
Frustriert wandte sich Énna ab, die Fäuste tief in den Hosentaschen vergraben. Wie sollte er das bloß seiner Mutter sagen? Ob sie ihm das glauben würde nach den ganzen Ausreden, die er sich hatte einfallen lassen, um nicht arbeiten zu müssen? Sein Blick ging hoch in die Ferne, als eine kühle Windbrise über die Weide zog. Es roch nach Regen. Seufzend lief er wieder den Hügel hinauf und auf der anderen Seite hinab Richtung Haus.
„Mama!“
Er öffnete die Tür und spähte hinein, doch in der Küche war niemand zu sehen und auch Antwort kam keine. Er zog sich die Schuhe von den Füßen und stellte sie aufrecht an der Hauswand entlang auf. Dann trat er ein. In der Ecke, die vorhin noch leer gewesen war, fand er den Hund vor, der gerade an einem kleinen Reisig kaute. Kurz wurde dieser gekrault, ehe ein Vogel auf dem Fensterbrett seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Als er das Tier richtig in Augenschein nahm, fiel ihm die Kinnlade runter. Es war eine Eule. Und sie hatte einen Brief im Schnabel.
Freudestrahlend sprang er auf das Fenster zu und öffnete es. Reingeflogen kam etwas, das man auch gut für eine Baumrinde hätte halten können. Die Eule landete auf dem Küchentisch und ließ kurz aufschreiend den Umschlag fallen. Sofort riss der Junge ihn an sich. Sie war endlich da! Seine Einladung. Doch noch konnte er sie nicht lesen. Zuerst musste er dem schönen Vogel etwas zum Knabbern geben und dann sollte er seine Mutter suchen, die bestimmt - hoffentlich - im Labor war.
Als das Federteil weggeflogen war, machte Énna sich auf den Weg nach unten in den Keller. Kaum jemand wusste von diesem versteckten Raum, selbst jene Hexen und Zauberer, die ihre Tränke kauften, hatten dieses Labor noch nie gesehen. Es war ihr Heiligtum. Niemand durfte es unerlaubt betreten. Die Tür war geschlossen, als er am Treppenende ankam, weswegen er leise klopfte. Nur eine Sekunde später schwang sie knarrend auf. Die junge Frau, die über einen Kessel gebeugt stand, sah auf.
„Énna, was machst du hier?“
„Mama, ich weiß, dass ich oft nach Ausreden suche, um nicht arbeiten zu müssen, aber Peaton ist gestorben letzte Nacht“, erzählte er seiner Mutter, als er die Tür leise wieder hinter sich schloss. Den Brief hatte er beim Hinabsteigen unter dem Pullover versteckt. „Ich hab an der Hütte einen alten Mann getroffen, der hat mir das erzählt. Außerdem waren keine Schafe da.“
„Énna.“ Sie zog seinen Namen in die Länge und musterte ihn abschätzend.
„Ich verspreche es dir, es ist die Wahrheit. Du kannst gerne selbst nachsehen.“
„Nun gut, wenn es stimmen sollte, werden wir es morgen auf dem Markt bestimmt erfahren.“
Ja, das würden sie mit Sicherheit, denn der Markt bot jede Woche die Möglichkeit, den neuesten Tratsch zu erfahren. Wer geheiratet hatte, wer auf die andere Seite gewechselt war, wer den Radieschen nun von unten beim Wachsen zusah. Man erfuhr einfach alles. Egal, ob es sich um die Muggle-Welt handelte oder um ihre Welt, die der Hexen und Zauberer.
„Du, Mama“, begann Énna wieder zu sprechen, während er auf seinen Zehen nach vor und zurück schaukelte.
„Ja, mein Liebling?“
„Kam heute schon die Post?“
„Das weiß ich nicht, mein Kleiner“, erwiderte sie, als sie sich einem alten Regal zuwandte und dort nach etwas suchte.
„Wenn ich nach Hogwarts kommen sollte, welches Haus würdest du für mich wählen?“
„Dieses Gespräch führen wir jedes Jahr, Énna. Du kennst die Antwort bereits.“
Sie hatte ein Lächeln auf den Lippen, was ihren Sohn dazu brachte, sie zu umarmen. Völlig überrumpelt davon ging seine Mutter in die Hocke und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Sie umarmten sich viel zu selten, fiel Énna in diesem Moment auf, als er die Arme der jungen Frau auf seinem Körper spürte. Dies musste er unbedingt ändern, jetzt, wo er nach Hogwarts kam.
„Ich hab meinen Brief bekommen, Mama.“
Er löste sich langsam von ihr und holte den Umschlag hervor, der noch genauso glatt war, wie er ihn von der Eule bekommen hatte. Seine Mutter nahm ihm das Papierstück aus der Hand und betrachtete es von allen Seiten. Der Schulstempel mit dem Wappen war schön zu sehen.
„Was für eine Eule hat ihn gebracht“, wollte sie interessiert wissen, was Énna stark nachdenken ließ.
„Ich … weiß es nicht. Sie sah aus wie ein fliegender Baum.“
„Dann war es wohl eine Zwergohreule.“
„Aber die sind in Irland und Großbritannien doch gar nicht heimisch“, antwortete der Junge prompt und sah seine Mutter skeptisch an.
„Das mag sein, aber Hogwarts hütet viele verschiedene Tierarten. Und jetzt mach endlich den Umschlag auf.“
Breit grinsend entriss er ihr den Brief und öffnete ihn. Wenn er eines über seine Mutter wusste, dann war es die Tatsache, dass sie mindestens genauso neugierig war, wie er selbst. Demnach war die Frage, von wem er seinen Wissensdrang hatte, wohl beantwortet.
„Sehr geehrter Mr Driú“, begann er zu leise vorzulesen. „Wir freuen uns Ihnen mitteilen zu können, dass Sie an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei aufgenommen sind. Beigelegt finden Sie eine Liste aller benötigten Bücher und Ausrüstungsgegenstände. Das Schuljahr beginnt am ersten September. Wir erwarten Ihre Eule spätestens am einunddreißigsten Juli.“
Sein Blick wanderte hoch zu seiner Mutter. Ihr war die Freude genauso sehr anzusehen, wie ihm, doch ein leiser Gedanke schlich sich irgendwo im hintersten Winkel seines Kopfes ein, der ihn nicht mehr losließ. Was würde seine Mutter tun, wenn er nicht mehr da war? Sie brauchte das Geld, jedoch war es unvorteilhaft, sich jetzt, so kurz vor Schulbeginn, eine neue Arbeit zu suchen. Doch sie mussten auch seine neuen Schulsachen besorgen. Dinge, die er all die Jahre zuvor nie gebraucht hatte, da er alles, was er konnte und wusste, von seiner Mutter gelernt hatte.
„Mama, was wird aus dir, wenn ich nicht mehr da bin?“
Der Ausdruck in ihren Augen wurde traurig und für einen kurzen Moment kam es ihm so vor, als würde sich eine Dunkelheit darin einschleichen. Nachdem sie geblinzelt hatte, war sie jedoch wieder weg. Hatte er sich das eben nur eingebildet?
„Mach dir um mich keine Sorgen, mein Liebling“, sagte sie lächelnd und strich ihm über die Wange. „Ich werde hier bleiben und weiter meine Tränke brauen, während du deine Zeit in Hogwarts genießt. Genauso wie ich früher.“
Er nickte nur, antworten konnte er nicht. Sie hatte recht. Seine Mutter würde hier bleiben und so weiter leben wie bisher. In den Ferien würde er sie besuchen kommen, sofern sie das wollte. Vielleicht fand er Freunde in Hogwarts. Er hatte noch nie welche, schloss man den Hund und einen schüchternen Porlock, der im Wald lebte, aus.
„Ich denke, das Beste wäre, wenn wir nächste Woche in die Winkelgasse reisen. Genug Flohpulver sollten wir dafür noch haben“, kam es nachdenklich von seiner Mutter, die wieder in ihren Kessel blickte. Sie seufzte zufrieden und griff nach dem Kochlöffel. „Wenn du dich für heute noch nützlich machen willst, dann hack bitte die Teufelsschlinge klein, die auf dem Tisch liegt.“
Hastig lief er um den Kessel herum und stellte sich voller Freude an das hölzerne Möbelstück. Man konnte erahnen, wie alt dieses bereits war. Eines der vier Tischbeine war vor einigen Monaten abgebrochen, weil es so morsch war. Seine Mutter hatte kurzerhand ein neues dran gezaubert. Irgendwann, so dachte er, würde er dies auch können. Und dann würde er seine Mutter mit seinen Zauberkräften und Brautalenten stolz machen.
Eines Tages. Wenn sie wieder alle zusammen sein würden. Er, seine Mutter und sein Vater, den er wieder finden würde. Ja, genau so würde es eines Tages sein.
Tiocfaidh a lá.
Sein Tag wird kommen.
▬ Sommer 1984 – irgendwo in der Winkelgasse ▬
Nervös drehte er den Ring an seinem linken Zeigefinger hin und her. Er stand auf einem Sockel, während ein magisches Maßband jeden noch so kleinen Abstand an ihm maß. Mal war es die Distanz zwischen den beiden Ohren, dann plötzlich war es jene zwischen den kleinen Zehen und zu guter Letzt waren es noch die Millimeter zwischen seinen Nasenhöhlen. Es war schrecklich absurd, aber auch faszinierend. Er war schon öfters in der Winkelgasse gewesen, doch Madam Malkins Roben für alle Anlässe hatte er bislang nur von außen betrachtet. Umhänge hatte er bis jetzt nie gebraucht.
„So, mein Lieber. Du kannst da wieder runterkommen“, drang die Stimme der Ladenbesitzerin an sein Ohr.
Hastig sprang er vom Sockel runter und begab sich zum Tresen. Seine Mutter hatte ihm vorhin ein paar Galleonen zugesteckt, nachdem sie Gringotts verlassen hatten. Ihren Worten nach, sollte er damit alles bezahlen können, was er im Schneiderladen brauchte. Dies würden seine drei neuen Umhänge, sowie die Drachenhauthandschuhe und eine Packung selbstklebende Namensetiketten sein.
„Weißt du denn schon, in welches Haus du kommen wirst“, wurde er gefragt, als Madam Malkin die Stoffe mit der Spitze des Zauberstabs antippte, damit das Werkzeug zu arbeiten begann.
„Meine Mutter war in Hufflepuff, aber sie meinte, ich würde mich hervorragend für Ravenclaw eignen“, gab Énna nachdenklich als Antwort. Er selbst würde nach Ravenclaw wollen, doch er wusste, dass beide Häuser Vor- und Nachteile zu bieten hatten.
„Zu meiner Zeit war ich ebenfalls in Hufflepuff, zusammen mit Professor Sprout.“
„Sie unterrichtet Kräuterkunde, nicht wahr?“
„Das ist richtig. Wir sind auch heute noch gut miteinander befreundet und treffen uns in den Ferien oder den Hogsmeade-Wochenenden öfters im Drei Besen“, erzählte Madam Malkins lächelnd, während sie aufmerksam beobachtete, was die magische Nähmaschine zusammennähte.
„War Professor McGonagall nicht auch zu Ihrer Zeit in Hogwarts? Ich glaube mich daran zu erinnern, dass meine Mutter mir das gesagt hat“, fragte Énna interessiert nach. Den Ring an seinem Finger hatte er noch immer nicht losgelassen.
„Minerva war ein paar Stufen über uns. Sie verließ Hogwarts, als wir in das dritte Schuljahr kamen, aber es hat nicht lange gedauert, bis sie als Lehrerin zurückkehrte.“
Énna nickte ihre Worte interessiert ab, als hinter ihm die Ladenglocke bimmelte. Als er sich umdrehte, sah er zwei rothaarige Jungs den Raum betreten. Einer von ihnen war groß gebaut und hatte, wie er auch, längere Haare, der andere hingegen war eher schmächtig, das Gesicht war verziert mit unzähligen Sommersprossen und die Haare konnten gar nicht unordentlicher sein. Sie sahen sich kurz um, ehe der Größere der beiden Madam Malkin und ihn entdeckte.
„Guten Morgen“, wurden sie von ihm gegrüßt, als er, den anderen Jungen am Arm hinter sich herziehend, zu ihnen trat.
„Guten Morgen, Mr Weasley. Heute in Begleitung, wie ich sehe“, erwiderte die Hexe freundlich und richtete ihren Blick auf den Jüngeren. „Ihr Bruder?“
„Ja, Madam. Er kommt dieses Jahr auch nach Hogwarts.“ Man sah förmlich, wie stolz er darauf war, dies sagen zu können. Énna dachte kurz nach. Weasley. Der Name kam ihm doch bekannt vor.
„Na, sowas. Dann haben wir hier ja zwei Erstklässler“, strahlte sie und sah zwischen ihm und dem jüngeren Bruder hin und her.
„Ach“, entgegnete der ältere Weasley grinsend. „Sieh mal, Charlie, dein neuer Mitschüler.“
Doch Charlie hatte kein sonderlich großes Interesse daran, neue Mitschüler kennenzulernen. Er stand schüchtern hinter seinem Bruder und hatte die Hände in der Jackentasche vergraben. Was Énna sofort auffiel, war die Tatsache, dass sie ebenfalls Mugglekleidung trugen, wie er auch. Doch er war kein Muggle und soweit er wusste, waren es die Weasleys ebenfalls nicht. Oder vertauschte er diese Familie gerade mit jener namens Wesley? Er runzelte die Stirn und musterte den Jungen namens Charlie.
„Hallo.“ Er streckte ihm eine Hand hin, die zuerst in Augenschein genommen wurde. Erst nach einem längeren Blickwechsel mit seinem Bruder schlug der Rotschopf ein.
„Hi.“
„Weißt du schon, in welches Haus du kommst“, wollte Énna wissen, doch anstelle von Charlie antwortete sein Bruder.
„Unsere Familie ist seit Generationen im Haus Gryffindor untergebracht und Charlie wird da keine Ausnahme sein. Hoffe ich zumindest.“
Der letzte Teil des Satzes war ziemlich genuschelt, doch Énna hatte kein Problem damit, zu verstehen, was der Ältere gesagt hatte. Und er konnte die Sorge, sein Bruder könnte in ein anderes Haus kommen, gut nachvollziehen. Er wollte seine Mutter ebenfalls nicht enttäuschen, doch Hufflepuff, das wusste er, war nicht das Haus, in das er wollte und solange es nicht Slytherin war, war ihm auch Gryffindor recht.
„Hier sind deine fertigen Umhänge, mein Lieber“, vernahm er Madam Malkins Stimme hinter sich, die sich wohl in den letzten paar Minuten abgewandt hatte, um seine Kleidung fertigzustellen. „Zusammen mit den Handschuhen und den Etiketten macht das elf Galleonen.“
Sie ließ alles magisch in einer Tüte verschwinden, die gleich darauf fertig auf dem Tresen stand. Während er das Geld aus seiner Hosentasche zählte, wurde Charlie gebeten, auf den Sockel zusteigen. Sofort begann das Maßband mit derselben Arbeit, wie auch zuvor bei ihm. Der ältere Weasley besah sich währenddessen die Krawatten, die hinter Madam Malkins Arbeitstisch aufgehängt waren und sprach leise mit sich selbst.
„Ob Dad diese gefallen würde? Eine neue Krawatte für die Arbeit wäre sicher nicht schlecht.“
Er schien wirklich sehr in Gedanken versunken, weswegen er auch nicht merkte, dass Énna sich bei ihm und seinem Bruder verabschiedete. Lediglich Charlie lächelte ihn leicht an, als er, mit der Tüte in der Hand, den Laden verließ. Zwei komische Vögel, dachte er bei sich, als er langsam den Weg entlang ging, um zur Magischen Menagerie zu gelangen. Dort, hatte seine Mutter gesagt, würde sie auf ihn warten. Danach würden sie gemeinsam zu Ollivanders gehen und seinen Zauberstab kaufen. Er war schon richtig aufgeregt. Sein erster eigener Zauberstab. Wie er wohl sein würde? Ob er einen Zauberstab mit einem Kern aus Einhornhaar bekommen würde? Oder würde sich Drachenherzfaser besser für ihn eignen?
Völlig mit den Fragen in seinem Kopf beschäftigt, achtete er nicht, wohin er ging. Erst dann, als er die Stimme seiner Mutter hörte, realisierte er, dass er bereits viel zu weit gegangen war. Er war schon fast wieder vor Gringotts. Peinlich berührt machte er auf der Stelle kehrt und sprang seiner Mutter in die Arme.
„Ich hab alles bekommen bei Madam Malkin“, erzählte er stolz seiner Mutter, als diese bereits ein paar Schritte weitergegangen war. „Als ich fertig war und nur noch meine Umhänge geschneidert werden mussten, kamen zwei Jungs in den Laden. Ich meine mich daran zu erinnern, dass du mal etwas über diese Familie erzählt hast. Die Weasleys.“
„Tatsächlich? Dann war es wohl Bill mit seinem kleinen Bruder Charlie. Da frage ich mich doch, ob er nicht dieses Jahr auch nach Hogwarts kommt.“
„Ja, das tut er. Er scheint mir aber nicht der gesprächigste Typ zu sein“, gestand Énna, als sie vor Ollivanders zu stehen kamen. „Ollivanders. Gute Zauberstäbe seit dreihundertzweiundachtzig vor Christus. Aber sag, Mama, wer sind diese Menschen vor dem Eingang?“
Interessiert musterte er die drei Personen, deren Erscheinung mindestens genauso ungewöhnlich war, wie das Seine. Er trug Mugglekleidung, schlicht und einfach ein Hemd und Shorts. Viele Kinder schienen hier so herumzulaufen, wie ihm aufgefallen war, doch der Junge vor dem Zauberstabladen trug sämtliche Kleidungsstücke in schwarz. Stiefel, Jeans, Jacke. Selbst der Umhang hatte keinen einzigen Farbfleck.
„Amerikaner.“
„Was?“
Erstaunt darüber, dass Amerikaner in die Winkelgasse nach London kamen, konnte er den Blick nicht von den dreien nehmen. Sowohl die Frau als auch der Mann trugen merkwürdige Mäntel mit Stehkragen, doch im Gegensatz zu ihrem Sohn, waren sie farbenfroher bekleidet. Sie schienen sich zu unterhalten, doch sie standen zu weit weg, um etwas hören zu können. Als sie sich dazu aufmachten, zu apparieren, spürte Énna den Blick des Jungen auf sich. Er erwiderte diesen und blickte geradewegs in ein Paar grüner Augen, die ihn zu fesseln schienen.
„Nun komm schon, Liebling. Dein Zauberstab wartet auf dich.“
Kurz schüttelte er den Kopf, ehe er seiner Mutter nachlief, die bereits an der Tür auf ihn wartete. Im Inneren des Ladens war es stickig und dunkel. Der Geruch von Zauberstäben war allgegenwärtig. Die junge Frau betätigte die Klingel, die am Tresen stand, und kurz darauf ertönte auch schon das Rauschen von Rollen, ehe ein weißhaariger Mann um die Ecke lugte.
„Ah, Mrs Driú.“ Leichtfüßig sprang er von der Leiter und kam auf sie zu. „Lang, lang ist’s her. Einhornhaar, zehn dreiviertel Zoll, Erdbeerbaum, nicht wahr?“
„Als müsste ich diese Frage beantworten, Mr Ollivander“, erwiderte seine Mutter und lachte leise, als er ihre Hand ergriff.
„Ja, ja. Ein irischer Baum für exzellente Braukünste.“ Sein Blick wanderte an ihrer Seite entlang und blieb schließlich bei ihm hängen. „Doch heute suchen wir einen neuen Zauberstab, nicht?“
„Das ist Énna, mein Sohn. Können Sie …“
„Und ob ich das kann“, kam prompt die Antwort des Zauberstabmachers, als er Énna wahrlich interessiert musterte. „Er kommt sehr nach seinem Vater.“
„Das stimmt allerdings.“ Sie strich ihm über die Haare. „Aber das Talent für Zaubertränke hat er von mir.“
Er war verwirrt, doch er ließ sich das nicht ansehen. Mr Ollivander kannte ihn? Woher? Noch nie zu vor hatte er einen Schritt über diese Ladenschwelle gemacht. Natürlich wusste er, wer Garrick Ollivander war. Dies nicht wissen zu können, obwohl man in Großbritannien oder Irland als magisches Kind zuhause war, war unvorstellbar für ihn.
„Ich denke“, sagte der Ladenbesitzer, der bereits in irgendeiner Reihe zwischen Zauberstäben verschwunden war, „dass dieser Stab hier bestens geeignet ist für den jungen Mr Driú.“
Ollivander kam mit einer kleinen Schachtel zurück und öffnete diese vor ihm. Zum Vorschein kam ein dunkler Zauberstab, der im Vergleich zu dem seiner Mutter, länger war. Nachdem seine Mutter ihm zugenickt hatte, ergriff er diesen vorsichtig. Ihm war bewusst, dass der Zauberstab sich den Zauberer suchte, doch offenbar war der greise Mann vor ihm der Ansicht, er wäre unpassend.
„Nein, nein, nein. Versuchen wir es mit dem hier.“
Eine weitere Schachtel wurde ihm vorgehalten. Das Holz war dieses Mal heller, doch die Länge war dieselbe. Seine Finger zitternden, als er sie um den Griff schloss. Er wartete und erwartete, dass etwas geschah, doch wieder fühlte er nichts. Mr Ollivander verzog nachdenklich die Miene, ehe er mitsamt der Schachtel erneut verschwand.
Während der Mann seine Regale absuchte, sah sich Énna im Laden um. Er war vollgestopft mit länglichen Verpackungen, die allesamt den Namen des Machers trugen. Weder war angegeben, welches Holz verwendet wurde, noch die Länge oder der Kern, der enthalten war. Unmöglich konnte der alte Zauberstabmacher tatsächlich jedes Detail über jeden Stab in diesem Raum wissen und doch schien es genau so zu sein.
Neugierig zog er eine Schachtel hervor, die sorglos in ein Regal gesteckt wurde. Er drehte sie in den Händen, fand jedoch nirgendwo Angaben zum Inhalt. Selbst Ollivanders Name stand nicht drauf. Bedacht nahm er den Deckel ab und öffnete das Seidenpapier. In der Vertiefung, die von rotem Samt umgeben war, lag ein braunroter Zauberstab. Der Griff war gleichmäßig in den Stab eingearbeitet und schwarze Verzierungen in Form von Schlingen zogen sich über die gesamte Länge bis zur Spitze hinweg.
Er konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen, weswegen er vorsichtig nach dem Zauberstab griff. Seine Finger schlossen sich um das kühle Material, als ein wärmendes Gefühl in seinem Körper hochstieg. War das jenes Gefühl, das gemeint war? So schnell wie sie gekommen war, so schnell verschwand die Wärme auch wieder, doch das Staunen auf seinem Gesicht blieb. Selbst als Ollivander neben ihn trat und ihn überrascht, aber auch besorgt ansah, strahlte er.
„Normalerweise würde ich nun sagen, dass dieser Zauberstab nicht zum Verkauf steht, doch da er offenbar seinen Besitzer gefunden hat, bleibt mir keine andere Wahl.“
Der Unterton in seiner Stimme ließ die junge Frau, die sich die letzten paar Minuten ebenfalls umgesehen hatte, aufsehen. Zügig war sie bei ihnen angelangt und blickte zwischen ihrem Sohn und dem Ladenbesitzer hin und her.
„Was meinen Sie damit?“
„Nun ja“, begann Ollivander zu sprechen, als er Énna den Stab aus der Hand nahm. „Dieser Zauberstab wurde mir erst vor wenigen Tagen gebracht, in der Hoffnung, er würde hier seinen Besitzer finden. Dieser ist besonders, sehr besonders. Es gab keinen jungen Zauberer und auch keine junge Hexe in den Vereinigten Staaten, der oder die für diesen Stab geeignet war. So wurde es mir berichtet. Ich sollte ihn untersuchen und ins Zaubereiministerium bringen, doch ich fürchte, das hat sich nun erledigt.“
„Wissen Sie vielleicht noch etwas über den Zauberstab?“
„Nur sehr wenig, was ich bedaure. Der Kern besteht aus einer Donnervogelschwanzfeder, ein seltenes Geschöpf. Das Holz hingegen wurde von einer Eibe gewonnen. Weder weiß ich, wer der Macher ist noch bin ich bewandert in den Eigenschaften des Donnervogels. Doch der Eibe sagt man nach, sie würde niemals mittelmäßige und schüchterne Besitzer auswählen. Es ist ein starkes und selten benutztes Material für Zauberstäbe. So bleibt es auch dem Zauberer überlassen, für welche Art der Magie, ob hell oder dunkel, man sie benutzt. Wir können in diesem Fall nur hoffen, dass der junge Mr Driú sich für die richtige Seite entscheidet.“
Sowohl Ollivanders Blick, als auch der seiner Mutter, schienen ihn zu durchbohren, doch er achtete schon nicht mehr auf sie. Viel zu begeistert war er von seinem offenbar einzigartigen Zauberstab. Er konnte das neue Schuljahr und all das, was er erleben würde, kaum noch erwarten. Mit diesem mächtigen Zauberstab war es ihm bestimmt, seinen Vater zu finden und zurückzuholen. Dessen war er sich sicher.
▬ Sommer 1984 – irgendwo an einem Bahnsteig in London ▬
Vorsichtig und mit zittrigen Fingern strich er über die Wand. Er wusste, dass ihm nichts passieren konnte, wenn er in wenigen Augenblicken gegen sie lief, dennoch saß die Angst in seinem Nacken. Seine Mutter stand ein paar Schritte entfernt von ihm und sah auf ihre Taschenuhr. Sie vertraute den Muggleuhren nicht, was er jedes Mal aufs Neue lustig fand. Doch so war sie eben.
„Mama“, sagte er in ihre Richtung, als eine Gruppe Schüler vorbeimarschierte, von denen ihm einige schiefe Blicke zuwarfen. Er sah sie ebenfalls interessiert an und fragte sich, wie sein Leben wohl aussehen würde, hätte er keinen Tropfen magisches Blut in sich. Die ersten Kinder stiegen in eine schwarze Lok ein und denen folgten nach und nach die anderen. Ein Mädchen, das zum Schluss einsteigen wollte, stolperte, konnte sich aber gerade noch an der Lokstufe abfangen. Mit einem schnellen Blick zu seiner Mutter, die nach wie vor beschäftigt war, lief er auf das Mädchen zu und reichte ihm seine Hand.
Sie bedankte sich leise und strich ihren Rock glatt. Es brachte ihr jedoch nicht viel, da er ohnehin völlig zerknittert war. Er half ihr galant beim Einsteigen und schloss die Tür dann hinter ihr. Das Fenster war einen kleinen Spalt offen, durch den sie nach seinem Namen fragte.
„Énna“, antwortete er, „und wie lautet deiner?“
„Avis. Avis Verney.“
Er wollte ihr noch sagen, dass er ihren Namen schön fand, doch just in diesem Moment setzte sich die Lok mit einem schrillen Pfeifsignal in Bewegung, was ihn dazu brachte, einen Schritt zurückzutreten. Sie winkte ihm zu, während er ihr nur nachsah. Der Zug fuhr aus dem Bahnhof hinaus, als ihm aus den Augenwinkeln etwas auf dem Boden auffiel. Langsam ging er darauf zu. Es war ein Armband, wie er überrascht feststellte.
„Énna, wo bist du?“
„Ich bin hier“, antwortete er prompt und griff nach dem Armband. Dieses in die Hosentasche gleiten lassend, lief er eilig zurück zu seiner Mutter, die mit dem Gepäckwagen bereits vor dem Tor wartete.
„Du darfst nicht vergessen, dass dich niemand sehen darf.“
Der Junge nickte hastig und stellte sich hinter den Karren, auf dem sein Gepäck abgestellt war. Die Hand seiner Mutter lag auf seinem Rücken, als er vorsichtig auf die Wand zuging. Er wusste, dass es besser war, wenn er laufen würde, aber es waren zu viele Menschen um ihn herum. Der Wagen war nur noch wenige Meter von der Mauer entfernt. Er blieb stehen und wartete. Es war nur ein kleiner Augenblick später, als er die Luft für rein hielt und einen Satz nach vorne machte. Im Normalfall hatte er einen Aufprall erwartet, doch es wurde lediglich schwarz und ruhig um ihn herum, ehe er wieder Stimmen und Umrissen erkennen konnte.
Er entfernte sich ein paar Schritte vom Durchgang und wartete auf seine Mutter, die sogleich hinter ihm erschien. Zusammen machten sie sich auf den Weg zum Bahnsteig, an dessen Seite, auf den Gleisen, eine große schwarz-rote Lok stand.
„Wow!“
„So viele Jahre sind vergangen und sie sieht immer noch aus, wie zu meiner Zeit“, entgegnete seine Mutter genauso überwältigt. „Wie gerne würde ich mit dir tauschen, mein Liebling.“
„Vergiss es, Mama, du hattest deine Chance“, erwiderte Énna grinsend und schob den Wagen weiter.
Es waren unzählige Menschen anwesend. Die Meisten standen in Gruppen, egal ob Erwachsene oder Kinder, doch sie alle schienen sich zu freuen auf das neue Schuljahr. Diese Tatsache brachte Énna wiederum dazu, sich zu seiner Mutter umzudrehen und ihr eine Frage zu stellen.
„Du, sag mal, Mama. Wenn ich in Hogwarts bin, wirst du mich dann vermissen?“
„Natürlich werde ich dich vermissen, mein Liebling. Es wird kein Tag vergehen, an dem ich nicht an dich denken werde.“
Sanft legte sie eine Hand auf seinen Kopf, was ihn zum Lächeln ermutigte. Es gab seit langer Zeit nur sie beide. Sie waren mittlerweile ein eingespieltes Team, was das Zaubertrankbrauen betraf, doch nun würde er tatsächlich bloß noch zwei, drei Monate im Jahr zuhause sein. Aber dies würde er überstehen und sie auch.
„Wir sollten näher rangehen, meinst du nicht“, kam es von seiner Mutter, die ihn bestimmend nach vorne drückte.
Er hatte eigentlich keine Lust, sich näher in die Menschenmenge begeben zu müssen, doch er erbarmte sich und setzte sich wieder in Bewegung. Um niemanden zu verletzten, schob er den Gepäckwagen langsam vor sich her, bis er, blind wie er in seinen Tagträumen nun mal war, gegen etwas stieß.
„Autsch!“
„Oh, entschuldige bitte. Ich war … in Gedanken“, entschuldigte Énna sich sofort, ehe er erkannte, wer da vor ihm stand. Es war der Junge, den er bereits, zusammen mit seinem Bruder, in Madam Malkins Laden gesehen hatte. „Du bist doch Charlie, nicht wahr?“
„Ja“, antwortete er kurz und knapp, als er wieder hochsah. „Und du bist …“
„Énna“, stellte er sich vor, als ihm einfiel, dass sein Gegenüber seinen Namen noch gar nicht kannte.
„Freut mich“, erwiderte Charlie und warf einen Blick über seine Schulter.
Offenbar war es dem Jungen unangenehm, mit ihm zu sprechen und Énna konnte das sehr gut nachvollziehen. Er selbst sprach auch nur ungern mit Menschen, die er nicht kannte, doch es war gut, schon jemanden zu kennen. Vielleicht würden sie sogar in dasselbe Haus kommen. Énna verwarf diesen Gedanken schnell wieder, als ihm die Worte des älteren Bruders in der Winkelgasse einfielen. Er wollte nur zähneknirschend nach Gryffindor gehen.
„Deirdre.“
Überrascht, den Namen seiner Mutter zu hören, sah er sich um und entdeckte einen rothaarigen Mann, der einige Meter entfernt stand. Vor ihm zu sehen war seine Mutter, die einen freudigen Ausdruck im Gesicht hatte.
„Arthur Weasley.“
„Wie schön, dich wiederzusehen nach all den Jahren“, kam es von dem Mann, der allen Anschein nach der Vater des Jungen vor ihm sein musste. „Du siehst gut aus.“
„Immer noch derselbe Charmeur wie damals, nicht wahr?“
„Das ist wahr“, erwiderte nun eine Frau, die langsam auf die beiden zukam. „Deirdre.“
„Molly. Wie schön!“
„Aber sag, was machst du hier?“
Énnas Mutter lächelte und warf einen Blick in seine Richtung. Er konnte erkennen, wie stolz sie auf ihn war. Dafür musste sie nichts sagen. Der Ausdruck auf den Gesichtern der beiden Weasleys - zumindest dachte er, dass sie verheiratet waren - war überrascht und erfreut zugleich.
„Ist das dein Sohn“, wollte Charlies Vater wissen, der seinen Blick kaum von ihm nehmen konnte. Hatte er etwas im Gesicht oder wieso wurde er gerade so angestarrt?
„Ja, das ist er.“
Sie winkte ihren Sohn zu sich, der sich widerwillig dazu aufmachte, sich zu ihnen zu gesellen. Doch nur wenige Sekunden, nachdem er den Arm seiner Mutter auf den Schultern hatte, kam auch Charlie hinzu. Die beiden Jungs sagten kein Wort.
„Ich wusste gar nicht, dass du einen Sohn bekommen hast, Deirdre“, sagte die Frau namens Molly verwundert, während sie ihn lächelnd musterte. „Wo ist sein Vater?“
„Er ist leider wenige Jahre nach Énnas Geburt verstorben.“
„Er ist nicht tot!“
Er drängte sich von seiner Mutter weg und sah wütend zu ihr hoch. Wie konnte sie es nur wagen, zu sagen, sein Vater wäre tot? Er wusste, dass er noch lebte. Irgendwo.
„Énna“, versuchte seine Mutter den Satz zu beginnen, doch ihr Sohn unterbrach sie.
„Du weißt, dass er nicht tot ist. Also, hör auf das zu sagen!“ Tränen bildeten sich in seinen Augen, als er mit geballten Fäusten langsam kleine Schritte nach hinten machte. „Er wird zurückkommen! Ich werde ihn finden und zurückbringen. Er ist nicht tot!“
Nach diesen letzten Worten an seine Mutter gerichtet, lief er zurück zu seinem Gepäckwagen, den er wenige Meter entfernt, stehen gelassen hatte. Er schnappte sich seinen Koffer, sowie einen Rucksack mit Kleinkram und begab sich damit zum Einstieg des Hogwarts-Express.
***
Er hatte sich in einen der hinteren Abteile des Zuges verschanzt und sah aus dem Fenster, als es an der Glastür leise klopfte. Er sah auf und erblickte einen roten Haarschopf, dessen restlicher Körper offenbar gerade im Begriff war, die Tür zu öffnen.
„Hallo. Ich wollte fragen, ob ich mich zu dir setzen darf?“
Énna machte eine gleichgültige Bewegung, was sein neuer Mitschüler als Aufforderung aufnahm, das Abteil zu betreten. Der Gleichaltrige verstaute sein Gepäck auf seiner Seite der Sitze und nahm dann, ihm gegenüber, Platz. Charlie lächelte leicht, als er sich an die Wand lehnte.
„Freust du dich schon“, fragte er an Énna gewandt, der gelangweilt die vorbeiziehende Landschaft betrachtete.
„Teilweise.“
Charlies Blick wurde nachdenklich und, so kam es Énna jedenfalls vor, traurig. Doch das leichte Lächeln auf den blassen Lippen blieb.
„Deine Mutter hat geweint“, sagte der Rotschopf leise, als eine Schar älterer Schüler an ihrem Abteil vorbeiliefen. „Sie war traurig darüber, dass du dich nicht von ihr verabschiedet hast.“
Er erwiderte nichts darauf. Was hätte er sagen sollen? Natürlich tat es ihm leid, doch in seiner Wut hatte er nicht auf die Gefühle seiner Mutter geachtet. Er liebte sie, das stand außer Frage, jedoch liebte er seinen Vater, der nach wie vor am Leben sein musste, genauso sehr. Er wusste es einfach. Es konnte nicht anders sein.
„Macht es dir was aus, wenn ich das Fenster öffne? Es ist echt stickig hier drinnen“, meinte Charlie nach einer kurzen schweigsamen Pause. Ohne auf Énnas Antwort zu warten, stand er auf und klappte die Glasscheibe auf. Sofort kam eine kühle Brise ins Innere geströmt. „Besser.“
„Wie viele Geschwister hast du?“
„Was? Wer? Ich?“
„Nein, deine Eule“, erwiderte Énna sarkastisch und musste sich ein Grinsen verkneifen. Er wollte nach dieser Verabschiedung seiner Mutter nicht jetzt schon wieder lachen.
„Ich hab sechs Geschwister, wovon ich der Zweitälteste bin.“ Der Rotschopf grinste. „Bill ist der Älteste. Er war mit mir bei Madam Malkin.“
Das war also Bill, dachte sich Énna, als er den Kopf wieder gen Landschaft wandte. Er hatte nett ausgesehen und war es zudem ebenso gewesen. Ob sie wohl eine reinblütige Zaubererfamilie waren? Oder gab es auch Muggleblut in ihren Adern?
„Sag mal“, begann Charlie zu sprechen, als eine pummelige alte Frau mit einem Servierwagen an ihrem Abteil vorbeikam.
„Ihr Lieben, etwas vom Servierwagen?“
Sofort waren die beiden Jungs Feuer und Flamme für all die Süßigkeiten, die die Frau bei sich hatte, doch da weder Énna noch Charlie überwiegend viel Geld zur Verfügung hatten, kauften sie sich nur ein paar Schokofrösche und jeweils eine Packung Bertie Botts Bohnen. Sie ließen sich damit wieder auf ihre Sitze fallen und öffneten die ersten Schokofrösche.
„Sammelst du die“, wollte Énna wissen, als Charlie achtlos seine Karte von Artemisia Lufkin auf den Sitz neben sich schmiss.
„Ja, aber ich hab schon ziemlich viele. Es wird langsam schwer, nichts mehr doppelt zu bekommen“, antwortete sein Gegenüber mit vollem Mund.
„Fehlt dir noch Xavier Rastrick?“
„Ja.“
Charlies Augen wurden groß, als Énna ihm tatsächlich die Karte unter die Nase hielt. Er nahm sie freudestrahlend an und öffnete den nächsten Schokofrosch.
„Oh, Mist. Nicht schon wieder Dumbledore.“
„Man bekommt ihn relativ häufig“, merkte Énna an, als bei ihm ebenfalls das Gesicht des Schulleiters von Hogwarts zu sehen war.
„Kein Wunder. Wie stehts bei dir um Quong Po?“
„Drei Stück. Myron Wagtail?“
„Noch keine, danke“, erwiderte Charlie, als er sogleich besagte Karte im Schoss liegen hatte.
„Was wolltest du vorhin eigentlich fragen, bevor der Wagen vorbeikam?“
„Ach, ich wollte wissen, in welchem Haus deine Eltern waren“, erwähnte Charlie beiläufig.
„Meine Mutter war in Hufflepuff zu ihrer Schulzeit“, antwortete Énna und besah sich die doppelten Karten seines Gegenübers, von denen er selbst ebenfalls alle hatte. „Mein Dad ist ein Muggle.“
„Weiß er, dass deine Mum eine Hexe ist“, fragte Charlie interessiert nach.
„Ja, sie hat es ihm erzählt, als ich etwa ein halbes Jahr alt war“, erwiderte Énna und sah wieder lächelnd auf. „Und wie sieht das bei dir aus?“
„Meine Eltern waren beide in Gryffindor, genauso auch mein Bruder. Natürlich erwartet nun jeder, dass ich ebenfalls in dieses Haus komme.“
„Willst du denn nach Gryffindor?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete der Rotschopf ehrlich und ließ seinen Kopf gegen die Zugwand sinken. „Natürlich wären Ravenclaw und Hufflepuff auch nicht schlecht, nur nach Slytherin will ich keineswegs. Und du?“
„Ich will meine Mutter stolz machen, indem ich nach Hufflepuff komme.“ Ein geknickter Unterton lag in Énnas Stimme, den Charlie bestens raushören konnte.
„Und wofür würdest du dich persönlich entscheiden?“
„Ravenclaw“, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen. „Ich bin schlau und wissbegierig. Ich liebe es, meine Hausaufgaben zu machen und zu lernen.“
„Also, das komplette Gegenteil von mir, aber du würdest dich bestimmt klasse mit Bill verstehen.“ Charlie sog scharf die Luft ein, als eben Besagter plötzlich vor ihrem Abteil erschien und die Tür öffnete. „Wenn man vom Teufel spricht.“
Bill zog eine Augenbraue nach oben, erwiderte jedoch nichts auf diese Aussage. Énna und Charlie kicherten lediglich und taten so, als wäre nichts gewesen. Als der älteste Weasley die Kartensammlung sah, legte sich ein Lächeln auf seine Lippen.
„Wie ich sehe, scheint ihr euch gut zu verstehen.“
Es war eine Aussage, die wohl zutraf. Bis jetzt sah er keinen Grund, Charlie nicht zu mögen, obwohl sie noch kaum etwas voneinander wussten. Auch Bill schien ihm sympathisch zu sein, was wahrscheinlich den langen Haaren zu verdanken war, die, anders als seine eigenen, in einem satten Rot waren.
„Ich wollte euch nur Bescheid geben, dass wir in gut zwei Stunden in Hogwarts ankommen.“
„Das bedeutet, wir haben noch massig Zeit“, murrte Charlie und betrachtete seinen älteren Bruder, der bereits seine Schuluniform angezogen hatte.
„Man kann sich nie früh genug darauf vorbereiten.“ Bill wandte sich wieder zum Gehen um, doch ehe er das Abteil verließ, sagte er noch abschließend: „Ich wünsch euch viel Glück bei der Auswahlzeremonie und Charlie, ich hoffe, du kommst nach Gryffindor.“
Als Bill verschwunden war, verdrehte Charlie die Augen und warf einen Blick nach draußen. Es wurde nach und nach immer dunkler. Dabei kam es Énna so vor, als wären sie gerade erst losgefahren. Wie schnell die Zeit doch verflog, wenn man sich auf etwas freute, dachte er bei sich. Seine Gedanken wurde unterbrochen, als Charlie leise nuschelte: „Hogwarts, wir kommen!“
▬ Sommer 1984 – irgendwo in den schottischen Highlands ▬
Wie sie die restliche Zeit totgeschlagen hatten, wusste keiner der beiden Jungs hinterher noch, doch das war egal. Gerade als sie sich die Umhänge überzogen, kam die Durchsage, dass sie das Gepäck im Zug lassen sollten. Voller Vorfreude warteten sie, bis der Zug in den Bahnhof Hogsmeades einfuhr. Er war bisher nur einmal in diesem Dorf gewesen und er wusste von seiner Mutter, dass es ab dem dritten Schuljahr erlaubt war, das Wochenende hier zu verbringen.
Charlie stolperte beinahe über seine eigenen Füße, als sie aus dem Zug sprangen. Sie sahen sich beide um, doch da sie keine Ahnung hatten, wohin sie mussten, blieben sie stehen und warteten auf weitere Anweisungen. Nach und nach stießen immer mehr verwirrt aussehende Schüler zu ihnen, die offenbar auch alles Neuankömmlinge waren. Es bildete sich eine kleine Schar von etwa fünfzehn Kindern, die zusammenzuckten, als plötzlich eine Stimme über die Menge donnerte.
„Erstklässler zu mir! Alle Erstklässler herkommen!“
„Damit sind wohl wir gemeint“, flüsterte Charlie an Énnas Ohr und zuckte mit den Schultern, als er dessen ängstlichen Blick erwiderte.
Langsam setzten sie sich in Bewegung, die anderen Schulanfänger im Schlepptau. Die Traube von Schülern nahm stetig ab, je näher sie an das Ende des Bahnhofs gelangten. Dort, inmitten tratschenden und schnatternden Jugendlichen, ragte ein gewaltiger Schatten hoch über sie. Bei näherer Betrachtung konnte Énna einen buschigen Bart erkennen, doch erst, als er direkt vor dem Mann stand, traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag.
Vor ihnen stand ein Riese.
„Sin‘ alle Erstklässler hier? Ja? Gut.“
Sie folgten dem Koloss eines Mannes ein kurzes Stück gen Norden. Das Licht der kleinen Laterne in der wuchtigen Hand spendete gerade genug Licht, um den Weg zu erkennen, der an einem See endete. Dort waren Boote aneinander gereiht, die offenbar dazu gedacht waren, sie an die andere Seite zu bringen.
Ihm wäre das Schloss, das vor ihnen auf einem Hügel lag, gar nicht aufgefallen, hätte Charlie ihn nicht mit dem Ellbogen darauf aufmerksam gemacht. Unzählige Lichter branden und ließen das Ebenbild des Schlosses auf dem See erscheinen. Es erschien ihm gespenstisch surreal endlich hier zu sein, doch wenn er sich reihum die Gesichter der anderen besah, schien es ihnen genauso zu gehen.
„In Vierergruppen auf die Boote aufteilen“, rief die tiefe Stimme ihnen zu und ehe Énna sich versah, saß er mit Charlie, sowie einem Mädchen und einem Jungen in einem Boot, das sich wie von selbst in Bewegung setzte. Von überall um ihn herum konnte er leise ‚oh‘ und ‚ah‘ hören und es wurde lauter, je näher sie dem Schloss kamen.
Die Boote brachten sie unter einer kleinen Höhle, die von einem Efeuvorhang verdeckt war, zu einer kleinen Anlegestelle, wo sie wieder auf Land trafen. Seine Knie zitterten und er fragte sich, ob es Charlie wohl genauso ging, doch er wagte es nicht, ihn zu fragen. Wer wusste denn auch schon, ob sie, wenn sie in verschiedenen Häusern landeten, noch befreundet sein würden?
Der Riese führte sie durch ein Tor ins Innere des Schlosses. Sofort umfing sie der Geruch eines Festmahls und auch ein Stimmgewirr drang an sie heran. Ein kalter Schauer kroch Énnas Rücken hoch, als er Charlie ganz dicht hinter sich spürte. Als er sich umwandte und ihn sein Gesicht sah, konnte er erkennen, dass dem Weasley genauso zumute war. Sie wussten beide nicht, was sie denken sollten oder was jetzt auf sie zukommen würde.
„Professor McGonagall“, ertönte wieder die Stimme des Riesen, doch dieses Mal schien er mit jemand anderem zu sprechen.
Énna sah auf und erkannte die schmale Silhouette einer Frau, die am Treppenabsatz stand und offenbar bereits ungeduldig auf sie wartete. Er musste schlucken, als sie ein paar Stufen hinabgestiegen und langsam auf sie zukam.
„Die Erstklässler, Professor.“
„Vielen Dank, Hagrid.“
Mit einem Nicken verschwand der Riese wieder und überließ die ängstliche Schar der Professorin, deren Blick genügte, um auch die letzten noch tuschelnden Schüler in Schweigen zu versetzen. Sie räusperte sich, während sie einen letzten prüfenden Blick über sie schweifen ließ.
„Willkommen in Hogwarts!“
Ihre Stimme klang alt, doch keinesfalls gebrechlich oder derartiges. Gefasst und streng, autoritär. Ein ungewohntes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit, als er daran dachte, dass sie bei dieser Frau womöglich Unterricht haben würden.
„Das Fest bezüglich Ihrer Auswahlzeremonie beginnt in wenigen Minuten. Ich werde euch in die Große Halle führen, wo der Sprechende Hut bereits auf euch wartet. Diesen setzt ihr auf, denn er wird euch eure Häuser zuteilen.“
Eisernes Schweigen lag über der gesamten Gruppe, die gebannt an den Lippen der neuen Professorin hing. Selbst Énna wagte es nicht, seine Gedanken in den Vordergrund geraten zu lassen. Gespannt auf das, was Folgen würde, lauschte er den Worten.
„Die Häuser sind Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw und Slytherin. Euer Haus wird zeitgleich auch eure Familie sein. Ihr werdet Punkte sammeln, um euer Haus zum Sieg zu führen. Solltet ihr jedoch Regeln brechen, werden euch Punkte abgezogen.“
Ihr strenger Blick musterte jeden einzelnen von ihnen, doch es kam ihm vor, als würden ihre Augen auf ihm und Charlie länger verweilen, als auf den anderen Anwesenden. Allmählich wurde ihm hier in diesem kahlen Raum kalt.
„Nun folgt mir. Wir sind für euch bereit.“
Sie wurden über eine hohe Treppe hinaufgeführt, ehe sie in einer übergroßen Eingangshalle zu stehen kamen. Sofort ging wieder ein Raunen durch die kleine Gruppe, denn egal wo man hinsah, man sah Rüstungen, Türen und Statuen. Eine große Treppe führte weiter nach oben, teilte sich jedoch nach links und rechts auf. Énna wollte nur zu gerne wissen, wohin all diese Wege und Türen führten, doch zuerst musste er diese Zeremonie über sich ergehen lassen.
Bevor sie die Große Halle betreten durften, mussten sie sich wieder sammeln und ruhig werden. Professor McGonagall ließ ihren Blick wieder über sie schweifen. Dann drehte sie sich der gewaltigen Doppeltür zu und öffnete diese. Mit Schwung wurde die dahinter liegende Räumlichkeit freigelegt. Als er jedoch sah, wie viele Schüler sich an diesem einzigen Ort befanden, wollte er am liebsten wieder umkehren. Er kam doch zuhause kaum mit Menschenansammlungen klar. Wie also sollte er das hier schaffen, fragte er sich selbst, als er, den Kopf nach links und rechts drehend, den Mittelgang entlang lief.
Die Decke über ihnen war behangen mit schwebenden Kerzen und ließ erahnen, wie der Himmel draußen in diesem Moment aussah. Er hörte, wie Charlie neben ihm tief durchatmete, ehe er dessen Hand auf der Schulter spürte. Der Rotschopf deutete mit der Nasenspitze nach vorne zum Podest, auf dem sich der Lehrertisch befand. Dort, neben einer Frau mit weißer Krankenschwesternhaube, saß Dumbledore und musterte interessiert die neuen Erstklässler. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Ich werde nun eure Namen vorlesen“, kam es wieder von Professor McGonagall, die bereits eine Rolle Pergament in der Hand hielt. „Ihr werdet nach vorne kommen und euch auf diesen Stuhl setzen. Der Sprechende Hut wird euch dann eurem Haus zuteilen.“ Mit einem letzten Blick zum Schulleiter, der nickte, sah sie auf die Rolle in ihrer Hand. „Aran Taylor.“
Ein Junge mit bleichem Gesicht und haselnussbraunen Haaren streifte beim Vorbeigehen Énnas Schulter. Es schien, als würde sein neuer Mitschüler gerade überall lieber sein, nur nicht hier. Ein wenig konnte er das Zittern, das durch den Körper des Jungen ging, als er sich gesetzt hatte, nachvollziehen, doch insgeheim freute er sich bereits darauf, selbst den Hut auf den Kopf gesetzt zu bekommen. Egal, wie nervös er vorhin noch war.
„Hufflepuff.“
Wie aus dem Nichts ertönte plötzlich ohrenbetäubender Lärm, woraufhin sich alle Erstklässler nach rechts drehten. Offenbar war dies der Tisch der Hufflepuff-Schüler, denn sämtliche Jugendliche dort standen nun und applaudierten dem Jungen namens Aran, als dieser sich freudestrahlend dort auf einen freien Platz setzte.
„Bennett Knight.“
Wieder ging ein Junge an ihm vorbei, doch im Gegensatz zu Aran schien dieser sich darauf zu freuen, einem Haus zugeteilt zu werden. Vermutlich stammte er aus einer Zaubererfamilie, dachte sich Énna und er sollte Recht behalten, wie sich wenige Sekunden später durch Charlie herausstellte.
„Der Sohn von Abraham Knight. Er ist der Leiter für magische Strafverfolgung im britischen Ministerium.“
Énna nickte als Antwort, als Bennett ebenfalls nach Hufflepuff kam und die Professorin einen weiteren Namen aufrief, der zum ersten Slytherin des Abends wurde. Dann, nach einigen Sekunden, schoss Charlies Kopf in die Höhe, als er McGonagalls Stimme wieder hörte.
„Charles Weasley.“
Mit einem letzten Blick zu Énna ging Charlie, dessen Beine Wackelpudding gleichkamen, nach vorne zum Podest. Er stolperte beinahe über eine der Stufen, konnte sich aber gerade noch abfangen. Leises Gelächter erklang, als Charlie sich mit einem schiefen Grinsen im Gesicht auf den Stuhl fallen ließ. Gleich darauf wurde ihm der Sprechende Hut aufgesetzt und als dieser seine Krempe öffnete, wurde Énna bewusst, dass dieser den Rotschopf nach Gryffindor schicken würde. Und so kam es auch.
Der Sprechende Hut verkündete lautstark, in welchem Haus Charlie die nächsten sieben Jahre verbringen würde, woraufhin, noch ehe er das Wort zu Ende gesprochen hatte, der Gryffindortisch links neben ihnen in Jubelrufe ausbrach. Énna konnte Bill erkennen, der triumphierend seine Faust in die Luft streckte, während ein Junge neben ihm pfiff.
Charlie strahlte übers ganze Gesicht, doch als sein Blick dem Énnas begegnete, nahm seine Miene einen traurigen, aber auch neugierigen Ausdruck an. Énna lächelte ihn an und gratulierte ihm dazu, dass er in das Haus seiner Wahl gekommen war.
„Danke“, erwiderte er grinsend. „Ich hoffe, du hast genauso viel Glück. Aber um ehrlich zu sein, war das bei mir abzusehen.“
Als Professor McGonagall den nächsten Schüler aufrief, verabschiedeten sich die Jungs leise voneinander. Énna hoffte, dieser Kontakt mit Charlie würde weiterbestehen. Er mochte ihn und verstand sich augenscheinlich gut mit ihm. Zudem war er die erste Person, abgesehen von seinem Bruder Bill, die er auf den Weg nach Hogwarts kennengelernt hatte. Auch wenn sie vermutlich in zwei verschiedene Häuser kommen, so würde das doch kein Grund sein, diesen Kontakt nicht weiter auszubauen. Oder doch?
„Énna Driú.“
Ein Frösteln zog sich über seinen Körper, als es wieder still in der Halle wurde und er sich, wie von selbst, nach vorne bewegte. Er spürte die Blicke aller auf sich, selbst die der Lehrer. Dumbledore musterte ihn durch seine Halbmondbrille hindurch, lächelte ihn jedoch aufmunternd an. Langsam drehte er sich um und schloss die Augen, während er sich auf den Hocker setzte. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er neugierige und interessierte Gesichter vor ihm, die alle nur auf das Ergebnis warteten.
Professor McGonagall ließ den Sprechenden Hut auf seinen Kopf fallen, der sogleich auch über seine Augen rutschte. Er strich sich die hellbraunen Haarsträhnen aus dem Gesicht und schob den Hut etwas nach oben. Keine zwei Sekunden später, begann dieser leise mit ihm zu sprechen.
„Du bist etwas Besonderes“, hörte er die raue Stimme des alten Hutes in seinem Ohr. „Du wirst etwas Großes erreichen, doch ebenso viel Leid wird dir widerfahren. Ein kluges Köpfchen bist du auch. Ein junger Meister in Zaubertränke, sieh an. Der Drang, dich zu beweisen und deinen Freunden zu helfen, ist auch gegeben. Na, wenn da so ist, dann schicke ich dich wohl nach …“
Er umklammerte die Kante des Stuhls und presste die Zähne zusammen. Von unten betrachtet sah diese Haltung bestimmt lächerlich aus, doch er war zu angespannt, um sich jetzt entspannen zu können. Er wollte nach Ravenclaw, aber er wollte auch seine Mutter stolz machen, in dem er nach Hufflepuff kam.
Hufflepuff, jenes Haus, in dem die loyalen und hart arbeitenden Schüler wohnten, doch in Ravenclaw waren die Schlauen und Wissbegierigen untergebracht.
Er konnte sich doch selbst nicht entscheiden. Wie, also, sollte das dieser Hut bloß schaffen?
„Ravenclaw.“
▬ Sommer 1984 – irgendwo in Hogwarts ▬
Leicht legten sich allmählich die Sonnenstrahlen über die Ländereien und tauchten alles, was sie berührten, in einen sanften Goldton. Nichts ließ erahnen, dass sich hinter den alten Gemäuern des Schlosses, das hoch auf einem Hügel thronte, eine ganze Schar von Schülern in verschiedenen Klassenräumen saß und fleißig vor sich hin lernte. Wirklich nichts schien diese angenehme Stille zu durchbrechen. Nichts. Bis auf …
„Was zum Henker soll das werden, Sie trotteliger Nichtsnutz?“
Ein Kessel fiel klirrend zu Boden. Eine zähflüssige gelbgrünliche Substanz entleerte sich über das kalte Gestein und brachte jeden Einzelnen, der reihum sitzenden Schüler dazu, die Beine hochzuziehen. Einige lachten sich ins Fäustchen, während andere nur mitleidig ihre Mitschülerin musterten, die, den Kopf eingezogen, regungslos dastand und sich die verletzenden Worte ihres Lehrers anhörte.
„Was wollten Sie damit bezwecken? Ein Schleimmonster erschaffen? Uns alle in die Luft fliegen lassen?“
Mit eiserner Autorität stand Professor Snape dem Mädchen gegenüber und versuchte ihr zu entlocken, ob sie überhaupt zu irgendetwas imstande war. Énna hatte Mitleid mit ihr. Sein Trank köchelte langsam vor sich hin, genau so, wie es sein sollte. Auch hatte er die richtige Farbe angenommen, nachdem er den Flubberwurm gewaschen, bevor er zwei Tropfen Schleim reingetröpfelt hatte. Ob sie das ebenfalls getan hatte? Er wusste, dass Tränke durch Schmutz und andere Unreinheiten ruiniert werden konnten.
„E-es tut mir l-leid, Sir“, stammelte die Erstklässlerin verzweifelt und schloss die Augen.
„Zehn Punkte Abzug von Gryffindor. Und jetzt beseitigen Sie diesen Schweinestall!“
Ein leises Murren ging durch die Reihen der Gryffindors, doch niemand wagte es, das Wort gegen den Zaubertrankmeister zu erheben. Sie alle waren bereits darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass man sich besser nicht mit der Fledermaus anlegte. Selbst den Slytherinschülern verging oft das Lachen bei Snape, wie Énna von Bill, nach ihren ersten Zaubertrankstunden, erfahren hatte.
„Nehmt euch vor ihm in Acht“, hatte er ihn und Charlie gewarnt. „Er zieht jedem Hauspunkte ab, wenn nur eine Kleinigkeit nicht in Ordnung ist. Er bevorzugt natürlich die Slytherins, doch die haben es auch nicht immer einfach bei ihm.“
Ob dies jedoch stimmte, konnte Énna noch nicht sagen. Bis jetzt hatte er mit den Slytherins noch nicht viel zu tun gehabt. Lediglich Verwandlungen und Verteidigung gegen die Dunklen Künsten hatten sie gemeinsam, doch bei Professor McGonagall wurden die Schüler offenbar gleichberechtigt behandelt. Wie das jedoch bei Professor Hare aussehen würde, konnte er nicht sagen.
Seine Gedanken gelangten wieder zurück in die Gegenwart, als das Mädchen aus Gryffindor sich ihm gegenüber auf ihren Stuhl fallen ließ. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände, doch er hatte keine Ahnung, wie er sie aufmuntern sollte. Auch Charlie, der neben ihm saß, schien ratlos zu sein. So arbeiteten sie im Stillen weiter, während die Erstklässlerin versuchte, ihren Kessel sauber zu bekommen. Er konnte das nicht sonderlich lange mitansehen. All die Mühe, die sie sich machte, half nichts. Das schleimige Zeug blieb da, wo es entstanden war.
Als Snape wieder seine Runde zog und die Tränke der Gryffindors genauer als nötig unter die Lupe nahm, beugte sich Énna zu dem Mädchen.
„Hol‘ dir ein paar Blätter der Kirschdistel aus dem Vorratsraum, gieß sie mit heißem Wasser auf und lass das ein paar Minuten ziehen.“
Charlie, der neben ihm gerade fünf Löwenfischgräten abzählte, sah auf und hob eine Augenbraue an.
„Das wird doch verwendet, wenn etwas komplett dreckig ist, oder nicht? Meine Mum macht das hin und wieder, wenn etwas nicht sauber werden will.“
„Richtig“, erwiderte Énna, „aber man muss darauf achten, dass man das nicht zu lange ziehen lässt, sonst hat man später Tee.“
Das Mädchen nickte eifrig. Es erhob sich und verschwand für einen kurzen Augenblick in den kleinen Nebenraum. Als es wieder zurückkam, lächelte sie freudig.
„Wie lange muss ich das ziehen lassen“, fragte sie, als sie das letzte Wasser aus der Karaffe nahm und in ihren Kessel schüttete.
„Etwa sieben Minuten. Wenn es soweit ist, merkst du das an der Farbe“, erklärte er, als Snape auf den Weg zu ihnen war.
Die Flamme unter ihrem Kessel loderte wieder auf. Der Professor war nur wenige Schritte entfernt, als sie die Blätter ins Wasser fallen ließ. Ob er dies jedoch gesehen hatte, mochte Énna bezweifeln, denn er war gerade beschäftigt damit, einem Ravenclaw-Schüler energisch zu erklären, was er falsch gemacht hatte.
Charlie wollte gerade seinen Flubberwurmschleim über den Kessel zerdrücken, als Énna ihn mit einer Handbewegung davon abhielt. Fragend sah der Rotschopf seinen Freund an.
„Hast du ihn gewaschen?“
„Wieso sollte ich ihn waschen?“
„Du siehst doch, dass der Wurm komplett verdreckt ist, oder nicht“, hakte Énna nach und zeigte auf das eine Ende des Tieres, wo noch eine Grasnadel dranklebte.
„Da steht aber nichts von waschen“, murrte Charlie und auch das Mädchen pflichtete ihm bei.
„Und das wird wohl auch der Grund sein, wieso dein Trank daneben ging. Unreinheiten können einen Trank zerstören. Wasch den Wurm also zuerst!“
Sein Freund tat, wie ihm geraten, doch eben dies zog Snapes Aufmerksamkeit auf sich, als er hinter sie trat.
„Dürfte ich erfahren, was Sie hier treiben, Mr Weasley?“
„I-ich wollte nur …“, stammelte dieser und sah über seine Schulter zu dem Professor auf.
„Ja?“
„Er wollte nur den Flubberwurm waschen, Sir, damit kein Schmutz in den Trank kommt“, antwortete Énna, ohne aufzusehen. Er war gerade dabei, Honigwasser zu seinem eigenen Zaubertrank hinzuzufügen, bis dieser wieder türkis wurde.
„Und wie kommen Sie auf diesen Gedanken, Mr Driú?“
Snapes Stimme war eisig und er fragte sich, ob es wohl jemals einen Schüler gegeben hatte, der sich ihm entgegengestellt hatte. Er liebte das Brauen von Zaubertränken, doch er hatte definitiv nicht damit gerechnet, einen derart griesgrämigen Professor in diesem Fach zu bekommen. Dennoch ließ er sich davon nicht beirren. Énna wandte sich um und lächelte.
„Ein Zaubertrank verliert seine Wirkung, wenn zu viele Unreinheiten hinzukommen, Professor. In ganz seltenen Fällen bewirkt Schmutz sogar, dass der Trank seinen gegenteiligen Effekt erhält. Dies ist, unter anderem, beim Trunk der Nachtvisionen der Fall.“
Man hätte vermutlich eine Stecknadel fallen hören können, so mucksmäuschenstill war es im Klassenzimmer geworden. Niemand schien auch nur zu atmen. Davon völlig unbeeindruckt arbeitete Énna wie gehabt weiter. Er drückte eine Knallbeere über den Kessel aus und rührte. Ein kurzer Blick in das Textbuch sagte ihm, dass der Trank nun dreißig Minuten lang köcheln musste. War dies beendet, musste er von der Hitzequelle entfernt und abgekühlt werden. Zufrieden grinste Énna und legte den Kochlöffel zur Seite.
„Wie lange möchten Sie noch hier stehen, Sir?“
Ein Schnauben entfuhr dem Professor, als er diese Worte vernahm. Was bildete sich dieser Rotzlöffel ein, dachte er sich und blickte mürrisch in den Kessel des Jungen. Er versuchte, etwas zu finden, das er kritisieren konnte, doch da war nichts. Der Trank war bis hierhin perfekt. Sollte dieser beim Abkühlen die Farbe beibehalten, so wäre der Erstklässler der Erste, seit ihm selbst, der einen perfekten Wiggenweld-Trank zustande gebracht hatte. Und das bereits in den ersten Stunden.
„Mr Driú, zügeln Sie Ihre Zunge. Andererseits …“
„Andererseits können Sie mir keine Hauspunkte abziehen, Sir. Mein Trank ist perfekt. Lediglich für mein vorlautes Mundwerk könnten Sie sich dazu hinreißen lassen“, beendete Énna den Satz, während er seinen Professor ansah. „Doch ich weiß, dass Sie das nicht tun werden. Ich kann mir vorstellen, wie schwierig es ist, junge Menschen zu unterrichten, die keinerlei Ahnung von Zaubertränke haben, Sir.“
Snape zog die Augenbrauen zusammen, erwiderte jedoch nichts darauf. Sein Mantel wehte, als er sich dazu aufmachte, in den Kessel des Gryffindor-Mädchens zu schauen. Dort, jedoch, fand er ein Gebräu vor, das ihn stutzig werden ließ.
„Was soll das sein, Mrs Morris?“
„Ich habe Kirschdistelblüten aufgegossen und nun ziehen sie“, erklärte sie leise. Sie wagte es nicht, aufzusehen, doch Énna lächelte sie ermutigend an. „Damit soll sich der Schleim besser lösen“, fügte sie noch hinzu.
„Und wie sind Sie auf diese Idee gekommen“, fragte Snape nach, auch wenn er vermutlich schon die Antwort wusste. Sein Blick wanderte wieder zu dem Ravenclaw-Schüler, der ruhig auf seinem Platz saß und dem Gespräch lauschte.
„Mr Driú meinte, es könnte mir helfen.“
Er richtete sich auf. Mit einem letzten Blick auf Énna verschwand er wieder zu seinem Schreibtisch, hinter dem er sich niederließ. Mehrere Rollen Pergament flogen, mit einer kurzen Handbewegung, auf ihn zu. Die Erste wurde von ihm aufgerollt und keine fünf Sekunden später war bereits mehr als die Hälfte des Aufsatzes rot durchgestrichen. Als ob sie ihn ärgern wollten und das seit nun mehr drei Jahren! Leises Geflüster drang an seine Ohren, doch als er aufsah, konnte er nichts Ungewöhnliches erkennen, außer diesen Ravenclaw-Jungen und Weasley, die sich unterhielten. Auch wenn er nichts verstehen konnte, so kam es ihm vor, als würde Driú dem Gryffindor helfen.
Die restliche Stunde Zaubertränke verging für Charlie und Énna wie im Flug. Da Énna kaum noch etwas zu tun hatte, half er Charlie und dem Mädchen, das mittlerweile ihren Kessel ganz gut vom Schleim gelöst hatte. Charlie hingegen war noch mit seinem Zaubertrank zugange, der, durch die Hilfe seines Freundes, wieder eine türkise Farbe angenommen hatte und nun ebenfalls vor sich hin köchelte. Später mussten sie nur noch den Trank in kleine Phiolen füllen.
Als es zum Stundenende klingelte waren sie gerade mit dem Reinigen ihrer Kessel fertig geworden. Sie schnappten sich ihre Taschen, doch ehe sie das Klassenzimmer verlassen konnte, rief Snape Énna, zurück. Fragend tauschten die drei Blicke aus, ehe er langsam auf den Schreibtisch zuging.
„Ja, Professor Snape?“
„Sie sollten besser darauf achten, wie Sie mit Lehrpersonal sprechen, Mr Driú“, gab Snape ihm knurrend zu verstehen. „Noch einmal derartige Aussagen und Sie werden bei mir einen ganzen Monat lang nachsitzen, haben Sie mich verstanden?“
„Natürlich, Sir. Tut mir sehr leid“, entschuldigte sich Énna leicht geknickt.
„Zwanzig Punkte für Ravenclaw und jetzt verschwinden Sie!“
Ein freudestrahlender Ausdruck erschien auf Énnas Gesicht, als er diese Worte hörte. Er nickte als Dank und machte dann kehrt, um zu seinen Freunden zurückzukehren, die vor der Tür warteten. Charlie begann als Erstes zu sprechen, als sein Freund grinsend aus dem Raum trat.
„Was ist passiert? Musst du nachsitzen?“
„Ich glaube nicht, dass er dann so grinsen würde“, erwiderte das Mädchen nachdenklich.
„Ich hab zwanzig Punkte für Ravenclaw bekommen.“
„Was?“
Charlie konnte es nicht glauben, selbst dann nicht, als Énna ihm sagte, was Snape ihm mitgeteilt hatte.
„Da frage ich mich doch, woher du das wusstest“, kam es von dem Mädchen, dessen Name er noch immer nicht kannte.
„Ich interessiere mich für Zaubertränke“, erwiderte er schulterzuckend, als sie langsam die Treppen hinaufstiegen.
„Ich bin dir jedenfalls sehr dankbar für deinen Tipp mit den Blüten.“
„Ach, nichts zu danken! Aber sag mal, wie ist eigentlich dein Name?“
Énna beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie schien schüchtern zu sein, doch das störte ihn nicht. Auch Charlie schien sie nett zu finden, immerhin hatten sie vorhin, während des Unterrichts, eine anregende Unterhaltung geführt, die beide zum Kichern gebracht hatte.
„Mein Name ist Tyler.“
***
Montags, dienstags und donnerstags hatten sie jeweils eine Stunde Geschichte der Zauberei vor dem Mittagessen, doch spätestens nach ihrer ersten Lektion hatte kein Erstklässler mehr Lust auf dieses Fach. Selbst Énna, der jedes Wort seiner Lehrer förmlich aufsog, schien es schwer zu fallen, aufrecht sitzen zu bleiben, als Professor Binns, ein milchiger Geist, der seinen Körper einst im Lehrerzimmer zurückgelassen hatte, monoton über den Gargoylestreik im Jahre neunzehnhundertelf berichtete.
Eigentlich hatten sie sich den Unterricht hier unterhaltsam und interessant vorgestellt, doch als Énna Charlie beim Mittagessen fragte, ob Binns bei ihnen genauso gelangweilt wäre, nickte dieser und meinte, Geschichte der Zauberei sei mit Abstand das lahmste Fach überhaupt. Dieses Thema damit abgeschlossen, füllte sich Énna ebenfalls seinen Teller und begann zu essen. Als Tyler zu ihnen stieß, sah sie den Ravenclaw-Schüler mit großen Augen an.
„Darfst du denn hier sitzen?“
„Wieso sollte er nicht“, erwiderte Charlie und hob seinen Kopf. „Wenn Romeo Woods als Slytherin bei den Hufflepuffs sitzen darf, darf Énna als Ravenclaw wohl auch am Gryffindortisch essen.“
Tyler zuckte mit den Schultern und ließ sich gegenüber Énna auf die Bank fallen. Sie hatte ein Buch aus der Bibliothek mitgebracht, das geöffnet vor ihr auf dem Tisch lag. Der Teller, auf dem ihr Mittagessen landen wollte, blieb bis zur letzten Minuten unberührt, was die beiden Jungs verwirrte.
„Hast du denn keinen Hunger“, wollte Charlie wissen, als dieser sich vollgefuttert streckte.
„Ich beginne nie vor zwei Uhr mit dem Essen“, erklärte sie, ohne auch nur vom Buch aufzusehen.
„Weil du um diese Zeit immer erst aufgestanden bist oder weil dein Magen sonst rebelliert“, war es nun Énna, der diese Frage stellte. Er kannte das Gefühl, nicht zu bestimmten Uhrzeiten essen zu wollen. Tat er dies doch, so wurde ihm übel.
„Ich bin das so gewöhnt.“
Mehr sagte sie darauf nicht.
Als sie die Große Halle zusammen verließen, verabschiedeten sich die beiden Gryffindors von Énna, der den Weg in den ersten Stock einschlug. Charlie und Tyler hatten mit den Hufflepuffs gemeinsam Verwandlungen, während die Ravenclaws und Slytherins nun zwei gemeinsame Stunden Verteidigung gegen die Dunklen Künste hatten und er war gespannt. Sehr gespannt sogar.
Énna sprang die letzten paar Stufen hoch und bog nach links in den Korridor ein. Vor einer dunklen Holztür standen bereits einige Schüler, die eher angespannt wirkten. Als er langsam auf zwei Jungs aus seinem Haus zuging, wurde er auf einen Slytherinschüler aufmerksam, der am Boden saß und auf seine Hände starrte. Er hatte ihn bei der Auswahlzeremonie gesehen. Wie war noch mal sein Name? Irgendwas mit M.
„Sputet euch ins Klassenzimmer. Na los“, ertönte hinter ihnen die raue Stimme Professor Hares, der zielstrebig auf sie zukam. „Was steht ihr hier so blöd rum? Die Tür ist doch offen.“
Er riss die Tür zum Raum auf und deutete ihnen, an ihm vorbei einzutreten. Kaum einer sah ihn an, doch er musterte jeden auf seinen dunklen Augen heraus. Énna warf ihm dennoch einen kurzen Blick zu, doch diesen quittierte Hare mit einem leisen Knurren. Verwirrt über dieses Verhalten ließ er sich in einer der mittleren Reihen neben dem Jungen aus Slytherin nieder, der ihm vorhin bereits aufgefallen war.
„Schlagt eure Bücher auf Seite dreiundsiebzig auf und beginnt zu lesen. In zehn Minuten sprechen wir darüber.“
„Alter Kröterich“, nuschelte der junge Slytherin und schlug sein Buch miesmutig auf. Er achtete nicht einmal darauf, dass Énna neben ihm saß und ihn hören konnte. Auch wenn dieser kurz grinste, so erwiderte er nichts auf die Aussage seines Sitznachbars, sondern begann den Text, der ihnen aufgetragen wurde, im Buch zu lesen.
Er war mitten im Absatz, als es schlagartig wieder anfing. Dieses Stechen in seinem Arm. Und es ließ nichts Gutes erahnen. Ihm blieb die Luft weg, als er den Unterarm gegen seinen Schoss drückte und die Augen zusammenpresste. Seit den letzten Tagen, die er noch zuhause verbracht hatte, hatte er diese Schmerzen nicht mehr gespürt und jetzt, während des Unterrichts, war es ein unsagbar blöder Moment. Würde er jetzt einfach so verschwinden, sich in Luft auflösen, würde ihn das in eine Erklärungsnot bringen.
Ob Hare ihn wohl auf die Toilette gehen ließ? Doch, wie sollte er diese Frage formulieren? Die anderen Schüler würden mit Sicherheit über ihn lachen, immerhin hatte er genügend Zeit gehabt, während der Mittagspause alles zu erledigen. Er könnte fragen, ob er auf die Krankenstation gehen dürfte, doch wie solle er dann erklären, wieso er doch nicht dort war?
„Hey, du.“ Der Junge neben ihm stieß ihn mit dem Ellbogen an. „Ist alles okay mit dir?“
Énna war nicht dazu in der Lage, eine Antwort zu geben, weshalb er nur mit dem Kopf schüttelte. Das brennende Gefühl in seinem Arm wurde stärker und er wusste, gleich würde es so weit sein. Nur noch wenige Augenblicke, dann würde er wieder in irgendeiner vergangenen Zeit landen und sich ein Versteck suchen müssen.
„Hast du Schmerzen?“
Er nickte.
„Soll ich fragen, ob du …“
Doch just in diesem Moment war Énna bereits verschwunden.
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Kapitel: | 6 | |
Sätze: | 1.022 | |
Wörter: | 14.339 | |
Zeichen: | 83.623 |
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