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Hinter den Horizonten der Welt

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14.09.17 12:31
6 Ab 6 Jahren
Fertiggestellt
Hinter den Horizonten der Welt





Das Jahr 120 des Vierten Zeitalters

Die Glocken klangen dumpf in seinen Ohren wieder. Jeder ihrer Schläge ließ sein Herz vibrieren. Es war ein andächtiger Takt, eine kraftvolle Weise. Ihr Klingen brachte Erinnerungen.

Gimli fühlte sich alt an diesem Tag. Schwer stützte sich seine Hand auf den Stock, der sein Gewicht trug. Schritt um Schritt spürte er die Jahre auf seinen Schultern, die so stolz gestrafft waren, wie es einem Krieger seines Stammes gebührte. Den Kopf hielt er hoch erhoben, obgleich der Kummer beständig an seiner Gestalt zerrte. Er fühlte sich nicht danach, in der Menge zu gehen und wie so oft von hunderten Augenpaaren gemustert zu werden, als sei er eine Gestalt entsprungen aus Liedern und Märchen. Ehrfurcht und Erstaunen lag in den Blicken der Menschen. Doch das erste Mal seit jeher glaubte der Zwerg auch so etwas wie Mitleid in ihnen zu erkennen. Unmittelbar straffte Gimli seinen Rücken.

Der Zug der Menschen führte Ring um Ring höher in die Weiße Stadt. Ehrfürchtige Stille herrschte. Doch Gimli vermochte die Schwere jener Stille genau auf seinem Herzen liegen zu spüren. Er ging mit den Menschen, jung und alt, Lampenmacher und Wirt, Soldat und Wache, Edelmann und Maid, Prinzessin und Fürst, und fühlte sich doch einsam. Dunkel war ihr Zug, dunkel und schweigsam.

Das letzte Geleit.

Gimli ging hinter dem Prinzregenten Eldarion und seinen Schwestern. Mit dem folgenden Morgen würde der Mensch die silbern schimmernde Krone des Wiedervereinten Königreichs von Arnor und Gondor auf seinem Haupte führen. Viel zu schnell war aus dem Knaben von einstmals ein Mann von stattlicher Größe geworden. Schneller als Gimli es wahrhaben wollte. Und viel zu jäh war ihm sein hoher Vater von der Seite gewichen. Es war ein Jammer.

So jung Eldarion war, so galant und wortgewandt wusste er sich in den politischen Kreisen seines Reichs zu bewegen. Anders als sein Vater war er ein leidenschaftlicher Mann der Ränkespiele innerhalb der Fürstenhäuser. Auch hatte er sich in vielen Kriegen und Scharmützeln des neuen Zeitalters als glorreich erwiesen. Ein Stratege nach Gimlis Geschmack; geradeheraus und rechtschaffend. Er würde seine Bürde mit Stolz und Verantwortung tragen. Und doch war es dem Zwerg so, als sei es viel zu früh für den Prinzen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.

Gimli strich durch seinen ergrauten Bart und schnaufte tief. Diese marmornen Stufen – durch das ihm geliebte Mithriltor der Stadt hindurch, über die belebten Ebenen der Stadt, hinauf zur Zitadelle des Königs – hatte er einst mit leichtfüßiger Schnelligkeit genommen. Selten hatte er einen längeren Blick für die Pracht von Minas Tirith übrig gehabt. Zu eilig zog es ihn hinauf, wo er die heiteren Stunden mit seinen teuren Freunden bei Speis und Trank in den Hallen des Königs verlebte.

Aragorn war nun aber nicht mehr unter ihnen; seine Sonne war hinter die Horizonte der sterblichen Reiche gezogen. In den Hallen des Königs erwarteten ihn nunmehr Kälte und peinigende Erinnerungen.

Gimli fiel der Abschied schwer.

Doch das Licht des Königs mochte weiterhin brennen. Bei den naugrim hieß es, dass eine Seele nach dem Vergehen des Leibs so lange weiter existierte, wie die Erinnerung an eine Person in den Herzen der Völker widerhallte. Die lange Ruhe war das, was hernach folgte.

In die Vergessenheit geraten.

Die Glocken von Minas Tirith klangen über dem Trauerzug für die letzte Ehre des Königs. Ein blaues Banner wehte im Wind. Der weiße Baum war darauf gestickt und schmiegte sich in voller Größe an den Sarg an. Von sechs Gondorern wurde er getragen. Ihre Spitzhelme schimmerten silbernhell im Licht der Sonne. Zuvorderst gingen sie und trugen ihren König durch die Stadt, welche einst durch seine Hilfe wieder zur wahren Stärke herangewachsen war. Das Volk trug Trauer und zeigte Schmerz. Weiße Blüten pflasterten ihren Weg, Klagerufe wallten ihnen entgegen.

Gimli trug seine schwere Kriegsaxt an der Seite. Wo sie früher seinen Gang bestimmte, mit ihrem Gewicht seine Schritte lenkte, fühlte sie sich nun an wie Ballast. Sie behinderte seinen Marsch und er schwankte wie nach einer ordentlichen Zecherrei. Es ließ ihn trotzig werden. So viele Kämpfe hatten sie gemeinsam bestanden, da war dieser Aufstieg doch ein Leichtes!

Seine Waffe war seine Grabgabe. So wie es bei den naugrim üblich war, würde Gimli seine Waffe in des Königs letzte Ruhestatt geben, um die lange Reise seines Freundes ins Reich der Toten mit Schutz und Zuversicht zu wappnen.

Eine zweite Waffe würde an der Seite seiner Kriegsaxt dem Begründer der Sippe Telcontar Beistand auf der letzten Wanderung leisten. Es schmerzte Gimli zu wissen, dass der Träger dieser Waffe nicht an seiner Seite ging. So führte die jüngste Tochter des Königs den eleganten Jagdbogen an ihrer Seite. Ihr war die Aufgabe übertragen worden, ihn zusammen mit Gimli in das Grab zu legen.

Die Glocken von Minas Tirith klangen laut für König Elessar Telcontar.

Gimli hob den Blick und glaubte auf dem hohen Glockenturm, den sie passierten, eine schattenumhüllte Gestalt ausmachen zu können. Für einen Moment sahen seine Augen goldenes Haar im Wind wehen. Doch sein Blick musste ihn trügen. Er war nicht gekommen. Zu schlimm wog es in den Herzen der Elben, wenn jemand von ihnen ging, der ihnen teuer war. Zu unerträglich wäre es aus diesem Grunde für ihn, hier zu sein. Gimli hatte seine Zeit benötigt, dies zu akzeptieren. Doch auch die hohe Königin der Menschen, die Elbenfrau Arwen, hatte es vorgezogen, nicht am Trauerzug teilzuhaben.

So fühlte sich Gimli mit den langen Blicken, die ganz gebannt auf ihm lagen, als letzter Teil der alten Welt, der noch wagte, frei in Minas Tirith zu wandeln.

Ein letzter Hauch der Magie.

Die Gemeinschaft des Ringes war schon lange gebrochen und heute war auch die Hoffnung der alten Zeit für ein letztes Mal aufgeflammt.

Der Zwerg fühlte sich alt.


 

~*~*~




Das Wasser schimmerte in der Sonne wie tausende winzige Diamanten vom feinsten Schliff. Der Anduin zog eine breite Schneise aus Silberglanz in das Grün des alten Mondlandes. Der Süden Ithiliens war seit jeher prächtig anzusehen gewesen. Wälder und Auen, liebevoll gehegte Gärten mit sprudelnden Quellen erfüllten das Land mit blühendem Leben.

Auch wenn Zwerge das Werk Yavannas für gewöhnlich nicht so sehr schätzten wie das ihres Gatten, so hatte Gimli dieses Reich zu lieben gelernt.

Doch erfüllte Sorge sein Herz, als er den Blick die große Böschung entlangführte. Auf seinen Stock gestützt humpelte der Zwerg über den Schotter und lauschte dem Rauschen des Flusses. Wohlwissend, dass sein Kommen längst bemerkt worden war, hob er nur leise die Stimme, in der besorgter Tadel schwang: „Die Elbenart also …“

Legolas wandte sich um. Auf seinen Lippen lag ein beinahe wohlwollendes Lächeln. Seit vielen Jahren übte der Elb diese Geste an ihm. Gimli wusste instinktiv, dass dies etwas mit seinem Alter zu tun haben musste. Elben wussten nicht mit solchen Dingen umzugehen. Altern, sterben … Es war ihnen fremd. Und wenn der schleichende Prozess des Siechens für Gimli langsam gekommen war, so für Legolas schnell und plötzlich. Mit seinen ausgemergelten Gliedern und den tiefen Falten um die Augen wirkte Gimli mehr denn je um ein Vielfaches älter als sein Kampfgefährte. Dabei war es der zeitlos wirkende Elb, der die Jahrhunderte seines Lebens zählte.

Gimli hatte seinen Freund seit der argen Nachricht vom Tode des Königs nicht mehr zu Gesicht bekommen. In der Elbensiedlung hieß es, der Elbenherr habe sich aus der Gesellschaft zurückgezogen. Seit Tagen sollte er an den Ufern des Anduin einer Arbeit nachgehen, die nicht zu fassen für den Zwerg war.

„Ein Boot?“, raunte Gimli. „Warum ein Boot?“

Die Hellhölzer auf dem Böschungsufer waren einschlägig bearbeitet worden. Lange Planken waren zu einem walnussförmigen Gebilde zusammengeführt worden. Die große Schale war aufgebockt auf Baumstämmen, die besudelt von großen Pechflecken waren. Ein besonders grade gewachsener Stamm wartete gerade darauf, dass Legolas sich ihm erneut widmete. Der Elb war dabei gewesen, eine lange Strebe querlaufend daran anzubringen. Die weiten Stoffbahnen und Trossen daneben wiesen auf einen Mast samt Takelage hin. Der Geruch von Sägespänen und Harz wehte dem Zwerg entgegen.

Was bei Aule ritt diesen Elb, sich für Wochen abzuschotten, um ein Boot zu erbauen?

Ein unruhiges Gefühl ergriff Gimli. Oft hatte Legolas vom Ruf der Seemöwen berichtet, wenn die Sehnsucht nach dem Meer zu groß wurde. Dass diese Sehnsucht nach den Gefilden seiner Vorväter nun aber so groß geworden war, wunderte den Zwerg doch. So unmittelbar nach dem Tode Aragorns …

„Der Westen ruft mich, mellon nín“, entgegnete Legolas, nun ernster als zuvor. „Mich hält nichts mehr hier. Meine Zeit … sie ist gekommen. Ich wünschte, du könntest es verstehen.“

„Das geht mir ebenso“, grummelte Gimli in seinen Bart hinein. Die Worte trafen ihn. Der Zwerg verlagerte sein Gewicht auf dem Stock unter seiner Hand und hob das Kinn, sodass sein licht gewordenes Haar nur so wackelte: „Nichts, das dich hier hält … soso.“

Der Elb ließ es sich nicht nehmen, eine spöttische Braue zu heben. Gimli erkannte aber die dunklen Schatten unter den sonst so lebendigen Augen seines Freundes. Er wirkte fahrig, unstet. Auch die Haltung von Legolas wollte nicht recht zu dem Lebensmut passen, mit dem er bisweilen durch Mittelerde geschritten war. Es war, als hätte man ihm die Leichtigkeit des Seins genommen.

Gimli kannte dieses Gefühl zu gut. Das hohe Alter brachte dies mit sich. Schon viele geliebte Seelen hatte er sterben sehen. Wo er den Trost im Wissen suchte, dass die Dinge sich nun einmal so verhielten, war Verlust eine niederschmetternde Sache für Legolas. Eine Wunde, die schwerlich zu heilen vermochte. Seinen Freund so zu sehen, bereitete Gimli Pein. Das Licht dieses Elben war schon so oft ein Wegweiser in seinem Leben gewesen und auch wenn er es immer noch ungern zugab, so war Legolas das Letzte, was er als Familie bezeichnen konnte.

Eine starke Hand legte sich auf seine Schulter, die knochig von den Jahren geworden war: „Das Boot bietet genug Platz für zwei.“

Es waren nur sieben Worte und doch vermochten diese es, einen wahren Sturm in ihm auszulösen. Sollte das bedeuten: „Ein Zwerg auf einem Boot, das in die westlichen Gestade segelt? Legolas Grünblatt, der Verstand ist dir abhanden gekommen! Nie und nimmer würde …“

Gimli verlor seine Sprache. Schon auf der letzten Seepassage, im fernen letzten Ringkrieg, war ihm die kurze Reise auf einem Schiff zuwider erschienen. Das Schaukeln, das Wasser … Nein, Wasser war nicht des Zwergen Element und würde es auch nie werden. Es war tückisch, unsicher und …

„Du würdest die Herrin Galadriel wieder sehen“, sinnierte Legolas mit unbestimmter Melodie in der Stimme. „Und den Herrn Elrond. Bilbo, Frodo, Sam und auch Mithrandir…“

„Du meinst das, wie du es sagst“, stellte Gimli fest und erstarrte. Aman. Das Segensreich der Elben – und der Valar. „Die Hallen des Aule liegen dort. Sie zu sehen … der Gedanke allein erfüllt mich mit Unglauben. Ein Zwerg in Aman … nein, Legolas. Dies erscheint mir unmöglich.“

Ein spitzbübisches Lächeln erschien auf den ausgezerrten Zügen des Elben: „So unmöglich wie die Freundschaft zwischen Zwerg und Elb?“

Zwischen zwei schweren Atemzügen ließ sich Gimli auf das Kiesbett der Böschung sinken und strich sich über die schweißnasse Stirn. Dieses Spitzohr hier draußen aufzuspüren war nicht so leicht gewesen, wie er zunächst zu hoffen wagte. Ach, es war ein Graus! „Du weißt, mir bleiben nicht mehr viele Jahre … eine solche Reise… zu welchem Zweck, mein Freund?“

Legolas‘ Miene war unleserlich. Nur in seinen grauen Augen war ein Schatten zu erkennen, der es offenbar werden ließ, wie hart es für den Elben war, über dieses Thema zu sprechen. Nach all dem Leid und all dem Tod im Leben seines Freundes hatte seine Seele noch immer die Unschuld bewahrt, die den Erstgeborenen so eigen war.

Gimli beobachtete aus trüben Augen, wie Legolas sich neben ihm in den Schotter sinken ließ. „Mir ist klar, dass für dich eine lange Lebensspanne verging und du dem Ende entgegensiehst, oder glaubst, dies zu tun. Ich sehe es in deinem Gesicht – das Bedauern. Du sehnst dir deine Jugend zurück und zeitgleich versuchst du zu akzeptieren, dass ein sterbliches Leben endlich ist. Ich kann nicht behaupten, die Herzen der Sterblichen für mich ergründet zu haben, doch dieses geflügelte Wort, das nach den Kriegen in aller Munde lag, gab mir zu denken. Zur Ruhe kommen. Für mein Verständnis liegt in der Bedeutung dieser Worte so etwas wie Friede oder aber Bestimmung? In den Gefilden meines Volks gibt es für so einen Lebensweg keine Bezeichnung oder gar eine Bedeutung.“

„Es bedeutet“, dachte Gimli laut, „sich niederzulassen, eine Familie gründen. Glück und Zufriedenheit. Der Stellenwert davon ist bei den Meinen in der Tat sehr hoch.“

Gimli war sich sehr wohl bewusst, dass die Kunst der schönen Worte, wie die Elben sie pflegten, keine Begabung von ihm war. Auszudrücken, was er fühlte und dachte war seit jeher rein unbewusst und manches Mal auch unbedacht geschehen. Seine Antwort war wohl kaum zufriedenstellend.

Legolas lächelte aber und griff einen dunklen Kiesel vom Ufer: „Das Schürfen nach Gold und Mithril, das Fertigen von Geschmeide und die Bearbeitung eurer wertvollen Kristalle – ein Suchen nach Glück also?“

Gimli nickte: „Wohlstand, um dieses Glück aufzubauen.“

„Ich sah dich nie dabei, wie du etwas aufgebaut hast, das allein deinem Glück bestimmt war.“ Legolas warf den Kiesel in den perlenden Fluss. „Du hast dir nie eine Braut gesucht.“

„Nein“, gestand Gimli ein und fühlte eine Woge der Dunkelheit in sich aufwallen.

„Reust du es?“

Der Zwerg biss die Lippen zusammen und verfluchte die Offenheit der elbischen Art. Natürlich reute er es. Familie war das höchste Gut in den Kreisen seines Volks. Einen Stamm zu gründen war eine Ehre, der nichts auf Arda gleichkam. Nicht einmal der Ruhm, den man in der Schlacht erringen konnte, wog mehr als das Heranziehen seiner Nachkommen.

Gimli schüttelte wortlos den Kopf.

„Dann hast du keinen Frieden gefunden?“ Die Frage des Elbs klang ganz ohne Hintergedanken. Er meinte sie wahrhaftig. Einmal mehr fühlte sich Gimli danach, Legolas die Welt und seine Dinge ganz neu erklären zu müssen. Obgleich sie mittlerweile mehr als hundert Jahre eine enge Freundschaft verband, waren sie sich noch immer fremd. Das Pulsieren ihrer Seelen, das Verstehen ihres Empfindens und das Fühlen ihrer Herzen waren auf zwei verschiedenen Seiten im Buch des Lebens geschrieben. Sie waren nicht verbunden, zu verschieden und doch gab es da ein gegenseitiges Verstehen, welches so rar in Mittelerde war, dass ihre Freundschaft einer Legende gleichkam.

Gimli hatte die Zwergenkinder reden hören, außerhalb seines Stollens in den Glitzernden Grotten. Respektvoll behandelte man ihn seit jeher, doch je enger sich das Band der Freundschaft zu Legolas zog, desto stärker rückte er in eine geradezu unerreichbare Position der Ehrwürdigung. Gimli war das unangenehm und so zog er sich mehr und mehr zurück, auf dass man ihm seine Ruhe ließ. Doch war dies Frieden?

„Nein.“ Gimli klang streng, strenger als beabsichtigt. Ausgeglichenheit war noch nie eine Stärke von ihm gewesen. Etwas versöhnlicher fügte er an: „Ich vermochte es nicht.“

„Es liegt an den Narben in deiner Seele“, führte Legolas so beständig in seiner Ruhe fort, dass es Gimli schauderte. „Mir geht es ebenso. Seit dem Ende des Ringkrieges ist dies so. Aragorn …“ Schmerz lag im Namen jenen Freundes, doch Legolas ging nicht weiter auf das Zögern ein. „Er hatte eine Aufgabe nach allem, eine Verantwortung. Seine Bestimmung. Gandalf hatte seine Aufgabe mit Glanz und Glorie erfüllt, als Sauron besiegt wurde, ganz so wie Frau Galadriel und Herr Elrond. Ihr Weg in Mittelerde fand sein Ende und aus ihrer Seelenstärke ziehen sie die Kraft für einen Neuanfang. Das Wesen der Hobbits ist leichter, ausgeglichener: Nach aller Unbill schüttelten sie das Grauen von sich ab und zogen ihrer Wege, um ohne Weh ihren Frieden zu finden. Bei uns ist das anders. Nach dem Sieg fehlten uns sowohl die Bestimmung und als auch das Wesen des Friedens – oder des Zufriedengebens? Wir verloren die Person, die wir vor dem Ringkrieg waren, und fanden nie zu ihr zurück. Rastlos und unstet sind wir seither – kein Edelstein und kein Baum vermag dies aufzuwiegen. Die Reiche, die wir in Ithilien und Aglarond errichteten … Ich bin mir nicht sicher, ob sie eine Flucht vor der unerreichbaren Vergangenheit oder eine Suche nach dem zielbringenden Neuem waren … ich bin mir nur sicher, dass hinter dem Meer das auf uns wartet, was unsere Gefährten längst fanden. Aman ist nicht nur das Reich meiner Vorväter, sondern auch ein Ort der Heilung. Die Wunden deines Wesens werden Linderung finden und vielleicht findest du im Segensreich noch mehr.“

Gimli dachte lange über das Gesagte nach. In seinem Reisebeutel suchte er nach etwas Tabak, den er sich bedächtig in den Mund schob. Bald wurden die bitteren Blätter zu einer zähen Masse, auf der er, in Gedanken versunken, herum kaute. Es beruhigte ihn. Seit er vom Pfeiferauchen zu argen Husten bekam, milderte der Priem seine Gelüste nach jenen friedvollen Momenten, die ihn klar denken ließen.

„Nun, Herr Elb“, donnerte er schließlich, mahnend und einnehmen. „Wie mir scheint, muss dieses Klappergestell von einem Boot noch einmal ordentlich verstärkt werden! Schließlich soll es nicht nur dich halbes Hemd über das große Meer tragen, sondern auch einen stämmig gewachsenen Zwerg in seinen besten Jahren!“

„Aí“, seufzte Legolas, „da beginnt er wieder, mein Sklavendienst bei Gimli Elbenfreund.“

Diese Worte vermochten nicht, Gimlis Hochstimmung niederzuschmettern. Mit Sticheleien wie diesen wollte der verflixte Elb doch nur über Unzulänglichkeiten hinwegtäuschen!

„Ein weiteres Abenteuer also“, stellte Gimli fest. „Ein letztes. Das klingt gut. Ein naug in den Gefilden der Eldar – Potzblitz, die werden Augen machen!“ In seinen Augen stand ein helles Funkeln, lebendig fühlte er sich und so freudig wie schon lange nicht mehr. Ihm war so, als sei all der Schmerz plötzlich bittersüß und um so vieles leichter zu ertragen. „Legolas Grünblatt, selbst auf meine alten Tage vermagst du mich noch zu überraschen!“

„Das kann ich nur zurückgeben, alter Freund.“ Legolas erhob sich und wandte sich den Bootsteilen zu. Der Elb wirkte nicht halb so erleichtert wie Gimli sich fühlte … „So wird also die Gemeinschaft des Ringes in Mittelerde sein Ende finden.“

Der Zwerg strich sich durch den grauen Bart und wunderte sich einmal mehr über die Eigenart der Elben: Da überzeugte ihn Legolas auf Gedeih und Verderb von diesem ausgemachten Unsinn und gab sich nach seinem Erfolg so wehmütig? „Sag mir, Legolas: Was erhoffst du dir von der Reise? Ganz konnte ich es nie verstehen, deine Rede von dem Ruf der Möwen… Weshalb zieht es dein Volk so dringlich in die westlichen Gestade?“

Legolas sprach in den Himmel, als er antwortete: „In gewisser Weise ist es mit unsereinen so wie mit den Sterblichen und doch völlig anders. Lass es mich so erklären: Einst befand sich das Licht der Welt in Aman und als unser Streben nach mehr – nach einer Bestimmung – übergroß wurde, suchten wir unser Glück in Mittelerde. Dort waren wir unsere eigenen Herren, zumindest glaubten wir dies. Doch lernten wir bitterlich, wie vergänglich das Glück in einem endlos währenden Leben ist. Nun besinnen sich unsere Herzen zurück auf das Licht, den Ursprung unserer Liebe zu Arda. In diesen Landen ist nun das Zeitalter der Menschen gekommen und wir fühlen, dass einzig die Gnade des Segensreichs uns die Möglichkeit bietet, an unseren Wesen festzuhalten. Das bedeutet Friede für uns.“

„Du sprichst so, als seist du zum Auszug der Elben aus Aman schon am Leben gewesen“, stellte Gimli erstaunt fest. Doch Legolas verneinte auf seine ganz eigene Weise: „Nach allem, was die Elbenvölker sich gegenseitig zufügten, kommt nun wohl viel zu spät die Erkenntnis für uns, dass nur ein gemeinsames Überleben das Leben jeden einzelnem Erstgeborenen wirklich schützt. All unsere Schicksale sind nun eins in Aman. Und dies bedeutet auch, dass unsere Vergangenheit ein und dieselbe ist.“

„Die Menschen würden euch hier nicht für lange dulden“, stellte Gimli fest. „Dies ist wiederum das Wesen der Zweitgeborenen. Auch wenn mir eine solche Zukunft noch weit entfernt scheint.“

Legolas nickte, schwieg aber. Für einen Elben war der Sohn Thranduils noch jung, doch sein Herz kannte bereits mehr Kummer als manch andere Seele im Greisenalter ertragen konnte. Auch er hatte keine Gefährtin in Mittelerde erwählt – was dieser Schritt für Elben hieß, vermochte Gimli nicht einmal zu erahnen. In Aman existierte eine Zukunft für seinen Freund und diese zu teilen war etwas, wonach sein Herz verlangte. Auch wenn dies bedeutete, als ein Sterblicher unter Unsterblichen zu leben.

Schwerfällig erhob sich der Zwerg und humpelte zu Legolas hinüber. Beherzt griff er nach dem ausladenden Leinentuch und wog es in den Händen: „Wo ist denn hier Anfang und Ende …“

Ein Lachen erklang. „Mit dem größten Respekt, Gimli, was soll das bitte werden?!“

„Mit dem größten Respekt“, äffte der Zwerg und zerrte den Stoff empor, um einen Überblick zu erhalten. „Dir Bursche kann man sowas doch nicht zutrauen! Zwerge sind keine Schwimmer! Nun stell dir einmal vor, den Boot bekommt auf offener See plötzlich ein Leck … Einem Waldelb, der ein Boot baut, ist nicht zu trauen…“

Legolas hob eine zweifelnde Braue. „Und einem naug dagegen schon?“

Der Mund des besagten Zwergs stand weit offen: „Natürlich!“ Anklagend hob er seine Hände. „Da! Siehst du diese Finger? Die Schwielen eines Arbeiters, eines Kriegers!“ Wie um seine Worte zu bestätigen, grub er seine Hände erneut in den Stoff und suchte nach dem Saum des weißen Leinens. Als es schließlich etwas zu lange dauerte, um wirklich für einen Zwerg seines Schlags vertretbar zu sein, räusperte Gimli sich. „Du darfst mir zur Hand gehen, wenn du es unbedingt möchtest …“

Lächelnd kam Legolas seiner Bitte nach und sortierte den Stoff an der Länge des Masts neu. „Setz dich und lerne, naug.“

Ein empörtes Keuchen erklang: „Unverschämte Elbenmanier!“

Doch tatsächlich fühlte sich Gimli etwas ausgelaugt. Schwer verließ der Atem seine Lungen und schwer fiel ihm das Stehen plötzlich. Grummelnd schlurfte Gimli zurück auf seinen Platz an der Schotterbank. Der Tabak in seinem Mund war trocken geworden. Verstimmt spukte er ihn auf die Wiese über sich und hob sein Gesicht in die Sonne. Das war doch wieder typisch! Da wollte man helfen und wurde letztlich zum Nichtstun verdonnert …

Arrogante Elben hin oder her, dies war ein wundervoller Tag für ein Lied aus den Hallen seiner Vorfahren. Das neue Ziel in seinem Leben gab ihm so etwas wie Freude und Zuversicht, auch wenn Furcht sein Herz umgriffen hielt.

Zögernd erst stimmte er die alte Weise an, ehe volltönende Klänge seine Lippen verließen. Ein Zwerg in Aman, eine Passage über das Meer!  Davon würde man sich in Dekaden noch zu berichten wissen.

Welch ein gesegnetes Ende für ein gesegnetes Leben.
 

 

 

 





Sindarin – Deutsch

Naug – Zwerg

Naugrim – Zwerge/Zwergenvolk

Mellon nín – Mein Freund



Quenya – Deutsch

Telcontar – Schreiter, „Wanderer“ (hier: Streicher in Anlehnung an den Namen des Aragorn in Bree)

Elessar – Elbenstein, weiterer Name des Aragorn

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Sätze: 246
Wörter: 3.987
Zeichen: 23.225

Kurzbeschreibung

Die Magie weicht in den Jahren des Vierten Zeitalters von Mittelerde. Gimli spürt, wie sich die Zeit wandelt und weiß: auch er ist sterblich, selbst wenn Legolas dies nicht wahrhaben möchte. Doch wie spricht man mit einem Unsterblichen über das Sterben und wartet sein letztes Abenteuer nicht doch noch auf ihn? Oder wovon sprach Legolas, als er vom Ruf der Möwen berichtete?

Kategorisierung

Diese Fanfiction wurde mit Familie und Freundschaft getaggt.

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