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Kapitel: | 60 | |
Sätze: | 3.145 | |
Wörter: | 51.584 | |
Zeichen: | 306.919 |
1. Kapitel
Leide, meide, liebes Herz!
Leide deinen Teil im Stillen,
Meide deinen eig'nen Willen,
So besiegst du deinen Schmerz.
~ Benjamin Schmolck (1672 - 1737) ~
***
"Bald ist also wieder einmal ein Jahr um..."
Seufzend wandte sich das hochgewachsene, schlanke, blonde Mädchen von den hohen Fenstern ab, durch die es die dicken Schneeflocken beobachtet hatte, die bereits seit dem frühen Morgen vom Himmel fielen, und schaute zu einer anderen jungen Dame, die am Tisch in einem eleganten Stuhl saß und lächelnd eine dampfende, dunkle Flüssigkeit in zwei elegante Tassen goss.
"Die Zeit ist eine wahre Geißel", erklärte diese geduldig und stellte eine der Tassen auf den Platz vor dem unbesetzten Stuhl. "Kommt, Comtesse, Ihr solltet Euch von dem Einbruch des Winters nicht die Stimmung verderben lassen. Ein heiße Schokolade wird Euch auf andere Gedanken bringen."
"Ihr habt recht, Louise", gab das blonde Mädchen nach und gesellte sich zu ihr an den Tisch. "Aber es ist fast genau ein Jahr her, dass mein Vater starb. Er fehlt mir noch immer. Sein Verlust ist nicht zu ersetzen."
"Das verlangt auch niemand, Comtesse, vor allem, wenn man bedenkt, wie sehr Euer Vater und Ihr Euch nahe gestanden habt. Allerdings wäre Comte de Rochefort gewiss nie damit einverstanden gewesen, dass Ihr Euch vor aller Welt zurückzieht. Er wollte immer nur das Beste für Euch."
"Ja, ich weiß. Aber ich habe mir immer vorgestellt, dass Vater mich in die Gesellschaft einführt. Wer soll diesen Part nun übernehmen?"
"Wenn Ihr an Euren Vormund schreibt, wird er Euch sicherlich jemanden zur Seite stellen. Wir sollten nächstes Jahr unbedingt nach Paris fahren und es würde mich wundern, wenn Seine Eminenz eine andere Meinung in dieser Angelegenheit vertritt. Immerhin werdet Ihr nächstes Jahr 18 Jahre alt."
"Selbstverständlich ist mir bewusst, dass andere Mädchen meines Alters längst bei Hofe eingeführt wurden, aber da mein Vater letztes Jahr im November gestorben ist, fand ich es unpassend."
"Natürlich, dafür wird jedermann Verständnis haben."
"Mein Vormund hatte es und ließ mich Gott sei Dank in Ruhe", erwiderte das blonde Mädchen und seufzte erneut leise. Dann nahm sie einen Schluck aus ihrer Tasse, bevor sie diese wieder absetzte, und fuhr fort: "Vermutlich habt Ihr recht, Louise, und ich werde mich gleich im Januar wegen dieser Angelegenheit mit meinem Vormund in Verbindung setzen. Aber bis dahin möchte ich nichts mehr davon hören, bei Hofe eingeführt zu werden."
"Ganz wie Ihr wünscht, Comtesse."
Einen Moment später klopfte es zaghaft an die Tür.
"Ja bitte?!", fragte das blonde Mädchen.
Die Tür wurde geöffnet und eine junge Bedienstete trat mit einem kleinen Tablett in der Hand schüchtern herein.
"Verzeiht, Comtesse, aber soeben wurde eine persönliche Nachricht durch einen Eilkurier für Euch überbracht", meldete das Dienstmädchen.
Die Angesprochene winkte sie herbei, nahm das Schreiben vom Tablett und öffnete es. Rasch überflog sie es, wobei ihre Miene allmählich einen erschrockenen Ausdruck annahm. Danach sah die Comtesse zu ihrer Gesellschafterin auf und erklärte tonlos: "Mein Vormund ist gestern gestorben..."
"Wie bitte?!", entfuhr es Louise überrascht.
"Oh, Ihr habt die Nachricht richtig verstanden", bestätigte die Comtesse nochmals. "Kardinal Richelieu weilt seit gestern nicht mehr unter den Lebenden. Allerdings bat mich seine Nichte, davon abzusehen, an seiner Beerdigung teilzunehmen."
"Wie? Das verstehe ich nicht."
"Ich kann es ganz gut nachvollziehen. Schließlich habe ich Seine Eminenz niemals persönlich kennengelernt und er weiß lediglich durch meinen Vater von der Existenz einer Comtesse Marguerite de Rochefort, deren Vormundschaft er nur übernommen hat, weil mein Vater ihn darum bat."
"Aber was wird nun aus Euch? Ihr seid noch nicht volljährig."
"Keine Ahnung, Louise, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass weder mein Vater noch mein Vormund an diesen Fall gedacht haben. Sie haben sicherlich Vorsorge dafür getroffen, also beruhigt Euch."
"Und was wird aus uns?", wagte das Dienstmädchen schüchtern zu fragen.
Louise und Marguerite, die die Anwesenheit der Bediensteten für einen Moment vergessen hatten, blickten nun zu ihr.
"Du wirst vorerst Stillschweigen über die Neuigkeit bewahren", sagte die Comtesse. "Ich möchte keinerlei Unruhe im Haus! Geh jetzt!"
"Selbstverständlich", versprach die junge Dienerin, knickste leicht und verschwand eilig aus dem Raum. Marguerite blickte ihr nachdenklich nach, bevor sie sich wieder an ihre Gesellschafterin wandte: "Ihr könnt sicher sein, dass innerhalb kurzer Zeit der Tod Seiner Eminenz das Gesprächsthema in unserer Gesindeküche ist."
"Natürlich, aber die Dienerschaft wird sich schon zusammennehmen!"
"Das hoffe ich sehr!", seufzte Marguerite. "Ebenso wie ich hoffe, dass ich bald darüber informiert werde, wer mein nächster Vormund sein wird. Es ist für mein weiteres Leben von maßgeblicher Bedeutung."
"Vermutlich der Nachfolger Seiner Eminenz", meinte Louise. "Und wenn er es mit der Fürsorge ebenso hält wie der Kardinal, habt Ihr nichts zu befürchten."
"Wir müssen es hinnehmen, wie es kommt. Ändern können wir ja doch nichts", erwiderte die Comtesse traurig. "Jedenfalls scheint die dunkle Jahreszeit mir alles andere als wohlgesonnen zu sein. Letztes Jahr im November mein Vater, nun mein Vormund... Nein, ich habe wahrhaftig keinen Grund, die dunkle Jahreszeit zu mögen."
***
Das junge Dienstmädchen eilte schnurstracks in die Küche, wo einige Bedienstete sich wie fast jeden Tag zu einem nachmittäglichen Schwatz bei einem Becher Milch zusammengesetzt hatten. Dem Boten aus der Hauptstadt hatte man ebenfalls einen Becher Milch sowie eine kleine Mahlzeit vorgesetzt, um sich für die Rückreise zu stärken. Zum Dank informierte er das Gesinde gerade darüber, dass "die rote Robe" gestorben sei.
"Was denn, der Kardinal ist tot?", entfuhr es einem der männlichen Bediensteten überrascht.
"So wahr, wie ich hier sitze", bestätigte ihm der Kurier, ein kräftiger, junger Bursche, und nickte lebhaft. "Für den König endlich die Gelegenheit, das Zepter über Frankreich wieder selbst zu führen."
"Diese Worte sind gefährlich, wenn sie in die falschen Ohren gelangen", warnte ihn der Diener.
"Aber die meisten Leute in Paris denken so wie ich", erwiderte der junge Mann.
"Trotzdem solltest du vorsichtig sein, Junge. Man sagt auch, dass der König den Kardinal als Ratgeber immer sehr geschätzt hat."
"Abwarten, wie er spricht, wenn Seine Eminenz erstmal unter der Erde ist."
Die Köchin schüttelte leicht den Kopf über den Burschen, ehe sie sich dem jungen Dienstmädchen zuwandte.
"Nun, Linette, was hat unsere Comtesse zu der Hiobsbotschaft gesagt?", erkundigte sie sich.
"Sie war nicht besonders erfreut, aber doch ziemlich gefasst", antwortete das Mädchen.
"Was wird jetzt wohl aus ihr?", sinnierte einer der Stallburschen.
"Irgendjemand erhält die Vormundschaft über sie", gab die Köchin ungeduldig zurück. "Die Frage ist nur, wer das sein wird."
"Hat die junge Dame denn keinerlei Verwandtschaft mehr?", wollte der Bote wissen.
"Unser alter Herr, der Comte de Rochefort, Gott hab ihn selig, hat sehr zurückgezogen hier auf seinem Landsitz mit seiner Tochter gelebt, nachdem er aus dem Dienst der Kardinalsgarde ausgetreten war und mit allen Ehren ausgezeichnet wurde, die Seine Eminenz zu vergeben hatte", erklärte die Köchin. "Viele seiner Freunde sind gefallen und Verwandte hat er auch keine mehr, bis auf... bis auf seine Schwester, die Comtesse Adrienne. Aber nachdem sie geheiratet hat, pflegte sie nur noch wenig Kontakt mit unserem Herrn und hat sich schließlich gar nicht mehr gemeldet. Vermutlich weiß sie nicht einmal, dass sie eine Nichte hat."
"Was ist mit der Mutter der Comtesse?"
"Darüber sprach der Herr niemals ein Wort. Er kam nur eines Tages mit einem Säugling und einer Amme hierher auf das Landgut, informierte uns alle darüber, dass dieses Kind seine Tochter Marguerite sei und übertrug mir für einige Zeit die Obhut über die Kleine, bis er eine passende Kinderfrau gefunden hatte."
"Und auch später gab er niemals preis, wer die Mutter seines Kindes ist?", fragte der Kurier ungläubig.
"Nein, niemals. Aber nach ein paar Jahren erkannte der König das Mädchen als legitime Tochter unseres Herrn an, so dass er sie zu seiner Erbin machen konnte. Und da Comte de Rochefort immer ein sehr gründlicher Mann war, der seine Tochter über alles liebte, hat er vermutlich testamentarisch bis ins Kleinste festgelegt, wie man für Comtesse Marguerite zu sorgen hat, so lange sie noch minderjährig oder unverheiratet ist."
"Und wie alt ist die junge Dame jetzt?"
"Sie wird nächstes Jahr siebzehn und wir alle gehen fest davon aus, dass man sie bald bei Hofe einführen wird. Die Hochzeit dürfte nicht allzu lange auf sich warten lassen."
"Na, ich weiß nicht", meinte der Bote zweifelnd. "Die hohen Herren in Paris wollen sicherlich wissen, wer die Mutter von Comtesse de Rochefort ist."
"Wen interessiert so etwas denn, wenn er ein gebildetes, adliges Fräulein von untadeligem Ruf und Schönheit zur Frau gewinnen kann?", tat die Köchin es ab.
"Einige der adligen Herrschaften interessiert so etwas sehr", gab der junge Bote zurück.
"Dann fehlt es Ihnen eindeutig an Verstand", kommentierte die Köchin es ärgerlich.
"Nein, nein, es ist nur so, dass es bei Hofe sehr auf die richtigen Verbindungen ankommt", erklärte der Jüngling und schaute die rundliche Frau mit treuherzigen Augen an.
"Zunächst einmal müssen wir abwarten, welche Pläne der neue Vormund mit unserer Comtesse hat", mischte sich der alte Diener wieder ein. "Womöglich will er sie selbst zur Frau nehmen?"
"Ach, so ein Unsinn! Der König würde zu so etwas sicherlich seine Zustimmung verweigern. Wie man hört, ist er ein Mann, der sehr viel Wert auf Anstand und Sitte legt."
"Man merkt schon, dass ihr einfache Leute vom Lande seid", meinte der junge Kurier nachsichtig. "Seine Majestät meint es gut, das ist wahr, aber leider... leider neigt er oft dazu, sein Ohr den falschen Leuten zu leihen und darüber hinaus auf sie zu hören... ich hoffe nur für Eure junge Herrin, dass sie einen ehrenhaften Mann zum Vormund erhält."
Der Bursche erhob sich und setzte sich seinen Hut wieder auf.
"Vielen Dank für die gute Mahlzeit und eure Gesellschaft. Aber jetzt muss ich wieder zurück nach Paris und wenn ich mich beeile, schaffe ich es noch vor Einbruch der Dunkelheit. Auf Wiedersehen."
"Auf Wiedersehen", sagte das Gesinde fast gleichzeitig und beobachtete ihn dabei, wie er seine Jacke zuknöpfte, seinen Gürtel enger zog und dann zur Tür hinausstapfte. Kaum war er draußen, wandte sich Linette in ängstlichem Ton an die Köchin: "Glaubst du, er hat recht mit seiner Befürchtung?"
"Ich hoffe nicht - und wenn, dann werde ich schon dafür sorgen, dass diesem neuen Vormund die Mahlzeiten schwer im Magen liegen", grummelte die rundliche Frau ärgerlich.
2. Kapitel
Hochmut ist eine Art von Verachtung der Menschen - die eigene Person ausgenommen.
Theophastors von Eresos (ca. 390 - 287 v. Chr.)
~~~~~
Zwei Tage später weilte Marguerite gerade allein in der Bibliothek, als einer ihrer Dienstboten ihr erneut ein Schreiben überbrachte, dessen Absender Monsieur Cayot, der Anwalt ihres verstorbenen Vaters, war. In der Gewissheit, endlich zu erfahren, wer die Vormundschaft über sie erhalten hatte, brach sie rasch das Siegel und las:
> Sehr verehrte Comtesse de Rochefort,
mit Bedauern hörte ich vor wenigen Tagen die traurige Nachricht, dass Euer Vormund, Kardinal de Richelieu, gestorben ist. Über diesen, gewiss nicht nur für Frankreich, großen Verlust möchte ich Euch meines herzlichen Beileids sowie meines Mitgefühls versichern... <
Marguerite überflog die anderen Kondolenzwendungen rasch, wobei sie den Kopf über die übertriebenen Ausdrücke schüttelte.
"Cayot tut gerade so, als ob Seine Eminenz mir besonders nahe gestanden hätte. Dabei weiß er doch, dass ich dem Kardinal nie begegnet bin", dachte das blonde Mädchen irritiert, während ihre Augen die weiteren Zeilen überflogen und endlich die Stelle erreichte, die die für sie wichtigste Information enthielt:
> ... jedenfalls hat Euer Herr Vater in weiser Voraussicht einen Zusatz in seinem Testament vermerkt, dass - sollte Seine Eminenz das Zeitliche segnen, während Ihr das 21. Lebensjahr noch nicht erreicht habt oder noch nicht verheiratet seid - Eure Tante Adrienne, die seit ihrer Heirat Baronesse de Lebrunne heißt, die Vormundschaft über Euch erhält. Euer Einverständnis vorausgesetzt habe ich mir erlaubt, die Baronesse davon schriftlich in Kenntnis zu setzen, da sie Eure noch einzig lebende Verwandte ist und Ihr sie gewiss gerne kennenlernen wollt. Vermutlich wird sich Eure Tante in naher Zukunft bei Euch melden.
Gott schütze Euch und die Euren, Comtesse.
Ergebenst Ihr
Albert Cayot <
"Ich habe noch eine Tante?", wunderte sich Marguerite, nachdem sie den Brief gelesen hatte, und wusste nicht, was sie davon halten sollte. Vater hatte in all den Jahren kein einziges Wort darüber verloren, dass er noch eine Schwester besaß. Und warum hatte ihre Tante nie den Kontakt zu Vater gesucht? Das war schon recht seltsam. Ob es zwischen Vater und seiner Schwester einen Streit gegeben und sie sich im Zorn voneinander getrennt hatten?
Die junge Comtesse überlegte, wer im Schloss ihr etwas darüber erzählen könnte. Louise konnte sie davon gleich ausnehmen, war diese doch erst ins Haus gekommen, nachdem Vater ihre alte Gouvernante entließ. Aber wie stand es mit Berthe, der betagten Köchin? Sie diente ihrer Familie bereits unter ihren Großeltern und wusste gewiss das eine oder andere, was sich früher mal hier im Schloss abgespielt hatte. Doch war es richtig, sich in einer so intimen Familienangelegenheit an eine Bedienstete zu wenden, von der jedermann wusste, dass sie äußerst schwatzhaft war?
Marguerite verwarf den Gedanken, die alte Berthe nach ihrer Tante auszufragen, obwohl sie die Köchin und ihre Kunst sonst überaus zu schätzen wusste. Nein, ihr würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als abzuwarten, bis Tante Adrienne und deren Ehemann sich bei ihr meldeten. Letzterer war also ein Baron, verfügte womöglich selbst über einen Landsitz... vielleicht wollten die de Lebrunnes sie auch zu sich ins Haus holen und dann galt es, von ihrem liebgewonnen Zuhause Abschied zu nehmen. Welch ein schrecklicher Gedanke!
"Oh, warum gefällt es dem Schicksal, mich durch den Tod Seiner Eminenz in solch eine Bedrängnis zu bringen", fragte sie sich nervös, wusste sie doch, dass sie sich dem Wunsch ihrer Verwandten nicht widersetzen konnte, falls diese sie tatsächlich bei sich haben wollten.
Die Befürchtungen Marguerites erwiesen sich als hinfällig, denn noch am gleichen Nachmittag, als sie mit Louise im kleinen Salon zusammensaß, eine Tasse heiße Schokolade trank und ihr von den Neuigkeiten des Monsieur Cayot berichtete, wurde ihr eine Depesche durch Linette überbracht, auf der der Absender Baronesse A. de Lebrunne deutlich sichtlich prankte.
"Eure Tante verliert keine Zeit, wie es scheint", bemerkte Louise und lächelte ein wenig spöttisch.
"Sie wird mich bestimmt kennenlernen wollen", meinte Marguerite, schon wieder ein wenig zuversichtlicher, nachdem sie sich ihrer Gesellschafterin anvertraut hatte. Gespannt öffnete sie das Schreiben und richtete in froher Erwartung ihren Blick auf die spitz nach oben verlaufenden Schriftzüge:
> Meine liebe Nichte,
mit Bedauern erfuhr ich vom Tode deines Vaters im letzten Jahr durch einen Brief seines Anwaltes. Es ist ungeheuerlich, dass man mich nicht vorher davon in Kenntnis setzte. Nun, dieses Versäumnis ist nicht zu ändern, ebenso wie die Tatsache, dass man mir jetzt die Vormundschaft für dich übertrug.
Dieser Umstand zwingt meinen Gemahl, Baron des Lebrunne, und mich geradezu, unverzüglich zum Stammsitz unser Familie, den du - wie Monsieur Cayot mir mitzuteilen beliebte - einst erben wirst, aufzubrechen.
Das Dienstpersonal soll separat zwei große Räume, einen für meinen Gemahl und einen für mich, herrichten, in denen wir für die Zeit unseres Aufenthaltes auf dem Stammsitz derer von Rochefort zu wohnen gedenken.
Wir werden am 7. Dezember gegen Abend eintreffen. Lass uns darum ein herzhaftes Wildbret mit dazu passenden Beilagen und einem guten Tropfen aus dem Weinkeller deines Großvaters zum Abendessen servieren, das mein Gemahl und ich zusammen mit dir einzunehmen wünschen. Danach möchte ich ein Gespräch unter vier Augen mit dir führen. Wir haben viel zu besprechen.
Auf bald.
Adrienne de Lebrunne <
"Der 7. Dezember... das ist ja schon heute!", entfuhr es Marguerite.
"Eure Tante scheint es sehr eilig zu haben, auf den Familienstammsitz zurückzukehren", bemerkte Louise, die sich nichtsdestotrotz erhob und rasch zur Tür schritt. Dort drehte sie sich noch einmal zu der jungen Comtesse um und sagte: "Keine Sorge, ich kümmere mich schon darum, dass alles nach den Wünschen Eurer Tante hergerichtet wird."
"Danke", erwiderte Marguerite und lächelte ihrer Gesellschafterin zu, ehe diese sich entfernte. Dann widmete sich die junge Frau erneut dem Schreiben ihrer Tante. Der Ton, in dem diese die Depesche verfasste, war ganz und gar nicht dazu angetan, Sympathie für sie zu entwickeln. Außerdem stand kein erklärendes Wort darin, warum die de Lebrunnes zu Lebzeiten ihres Vaters nichts von sich hören ließen; ja, die Tante schien nicht einmal verwundert zu sein, dass sie - Marguerite - existierte. Wusste sie am Ende etwas, das man ihr, seit sie denken konnte, verschwiegen hatte? War dieses Geheimnis möglicherweise der Grund, warum Tante Adrienne den Kontakt zu Vater abgebrochen hatte?
Eine irrationale Hoffnung erfüllte das Herz der jungen Comtesse. Konnte es sein, dass ihre Tante wusste, wer ihre Mutter war und ob sie noch lebte? Vater hatte zwar vor ein paar Jahren behauptet, dass Maman seit langem in einer 'besseren Welt' weilte, aber es konnte ja sein, dass er in diesem Fall nicht aufrichtig war, um sie - seine Tochter - zu beschützen. Schließlich war es nicht normal, ein kleines Kind ohne seine Mutter aufzuziehen und es wäre interessant, etwas über die Gründe dafür zu erfahren. Dieser Gedanke versöhnte Marguerite etwas mit der baldigen Ankunft ihrer Tante, aus deren Schreibstil deutlich ihre herrschsüchtige Art herauszulesen war...
***
Gegen halb acht trafen der Baron und die Baronesse de Lebrunne mitsamt zwei großen Reisekoffern ein und wurden bereits von einigen Bediensteten in der Empfangshalle erwartet.
"Wünscht Ihr etwas zu trinken, während Ihr Euch frischmacht und für das Abendessen umzieht?", erkundigte sich der langjährige Kammerherr des verstorbenen Comte de Rochefort höflich bei den Besuchern.
"Nein, danke! Das ist nicht nötig!", fuhr ihn die Baronesse sofort an. "Lasst unser Gepäck auf unsere Zimmer bringen! Der dunkle Koffer gehört meinem Gemahl. - Und nun führt uns zu meinem Mündel! Ich will sie sofort sehen!"
"Ganz wie Ihr wünscht!", erwiderte der alte Kammerherr, verneigte sich etwas und winkte eines der Dienstmädchen heran. "Führe die Herrschaften zu der Comtesse."
Die Bedienstete knickste vor dem adligen Paar, schaute sie eingeschüchtert an und meinte dann in zaghaftem Ton: "Wenn Ihr mir bitte folgen würdet."
"Natürlich!", herrschte die Baronesse sie an. "Nimm deine Beine in die Hand, Mädchen."
Die dermaßen Zurechtgewiesene nickte und ging schnellen Schrittes voraus, ohne sich zu wagen, sich noch einmal umzudrehen. Sie führte die Besucher direkt in den großen Salon, wo Marguerite und ihre Gesellschafterin das Ehepaar bereits erwarteten. Die Comtesse erhob sich, nachdem das Dienstmädchen die Tür geöffnet und Baron und Baronesse de Lebrunne gemeldet hatte.
"Willkommen", begrüßte Marguerite ihre bis vor kurzem unbekannte Verwandtschaft und zwang sich zu einem Lächeln, obwohl der Anblick ihrer Tante ihre Einschätzung über deren Person bestätigte. Adrienne de Lebrunne, obwohl recht ansehnlich, konnte man kaum eine Schönheit nennen. Sie besaß zwar große, haselnussbraune Augen und kunstvoll hochgesteckte Haare von derselben Farbe, aber ihre Nase war lang, dünn und spitz, die Brauen sah man kaum und ihr Mund wurde von zwei schmalen Lippen umrahmt. All dies ließ ihre dünne, hochgewachsene Gestalt unansehnlich erscheinen, obwohl sie in einem hübschen, grünschimmernden Taftkleid steckte, welche von einem wärmenden Umhang aus Fuchspelz umrahmt wurde.
"Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise hierher?", erkundigte sich die Comtesse höflich.
"Oh ja", versicherte der Baron und schenkte ihr ein Lächeln.
"Was redet du da für einen Unsinn, Roger?!", widersprach ihm seine Frau, die ihm kurz einen wütenden Blick zuwarf, ehe sie sich wieder an Marguerite wandte. "Unsere Reise war keineswegs angenehm, mein Kind, das versichere ich dir. Wir kamen wegen des Schnee's nur langsam voran und eigentlich wären wir gar nicht erst aufgebrochen, wenn man mir nicht die Pflicht auferlegt hätte, für dich zu sorgen."
"Es tut mir leid, dass Eure Reise unangenehm war, liebe Tante. Bitte, setzt Euch einen Augenblick an den Kamin, um Euch aufzuwärmen. Ich werde Euch sofort einen Chateau l'Avergne servieren lassen, der Eurem Gemahl und Euch gewiss mundet."
"Danke, sehr freundlich von dir, Kind", erwiderte Adrienne herablassend und ließ sich auf den Diwan vor dem Kamin nieder. Ihr Gemahl, der Marguerite ein entschuldigendes Lächeln schenkte, gesellte sich gleich an ihre Seite. Offensichtlich tat er alles, was seine Frau von ihm verlangte.
"Geh in die Küche und hol den Wein für meine Gäste!", befahl Marguerite der Bediensteten, die sofort davoneilte, um den Auftrag zu erledigen. Danach richtete die Comtesse ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Tante und deren Ehemann, während sie mit einer Geste auf ihre Gesellschafterin, die sich ebenfalls während des Eintritts der de Lebrunnes erhoben hatte und immer noch abwartend dastand, wies und erklärte: "Darf ich Euch meine Gesellschafterin, Mademoiselle Louise Lefevre, vorstellen?"
Adrienne nickte der jungen Frau mit kühlem Blick zu, während ihr Gemahl erneut lächelte. Dann wandte sich die Baronesse an ihre Nichte: "Es wäre mir lieb, wenn wir uns unter vier Augen mit dir unterhalten könnten, Kind. Daher fände ich es überaus angebracht, wenn Mademoiselle Lefevre uns jetzt allein lassen würde."
Marguerite empfand die Worte ihrer Tante gegenüber ihrer vertrauten Freundin als sehr unhöflich und ihr trat vor Scham eine leichte Röte ins Gesicht. Dennoch schaute sie zu Louise und bat: "Wärt Ihr wohl so freundlich, der Bitte meiner Tante Folge zu leisten?"
"Selbstverständlich, Comtesse", antwortete die Gesellschafterin, offensichtlich unbeeindruckt von der taktlosen Art der Baronesse. "Wenn Ihr erlaubt, würde ich mich für heute Abend gern zurückziehen."
"Natürlich, Louise. Ich wünsche Euch eine angenehme Nachtruhe."
Die Angesprochene nickte ihr lächelnd zu und verließ dann den Raum, ohne (noch) ein weiteres Wort an die Besucher zu richten. Einen Moment später servierte ein Diener zwei Gläser des gewünschten Weines und verschwand genauso lautlos, wie er gekommen war.
"Ein überaus edles Tröpfchen", lobte der Baron, nachdem er einen Schluck davon gekostet hatte. "Man merkt sofort, wie es das Blut erwärmt."
"Genug der Höflichkeiten", unterbrach seine Frau ihn ungeduldig und ließ ihren Blick erneut zu ihrer Nichte wandern, die sich mittlerweile auf den Diwan ihnen gegenüber gesetzt hatte. "Wir sind schließlich nicht zum Vergnügen hier, sondern um unsere Pflicht zu erfüllen. Auch wenn uns die Bürde, die das Testament meines Bruders und qua Gesetz der König mir auferlegte, noch so schwer zu tragen ist. Schließlich bist du die einzige Verwandte, die mir blieb."
"Dasselbe kann ich auch von Euch behaupten, Tante."
"Es kränkt mich, dass du mich nicht gleich nach dem Tode deines Vaters verständigt hast, Kind. Ich wäre doch sofort hergekommen, um dir beizustehen. Ein unnötiges Ansinnen, Seine Eminenz darum zu bitten, die Vormundschaft für dich zu übernehmen. Was hat sich mein Bruder bloß dabei gedacht?"
"Die letzte Frage kann ich unmöglich beantworten, da sich auch mir oft die Beweggründe meines Vaters entzogen. Wenn ich etwas von Eurer Existenz gewusst hätte, wärt Ihr die Erste gewesen, die ich von seinem Ableben in Kenntnis gesetzt hätte."
"Was? Er hat dir nie von mir erzählt?!", entfuhr es der Baronesse ungläubig.
"Nein, tut mir leid. Glaubt mir, ich wäre Euch gern schon viel früher begegnet, Tante."
"Was sagst du dazu, Roger?", fragte Adrienne ihren Ehemann. "Kannst du das glauben, was das Kind mir soeben erzählte?"
"Oh ja, da ich die Gelegenheit hatte, deinen Bruder recht gut kennenzulernen", erwiderte der Baron in heiterem Ton. "Gilbert liebte seine kleinen Geheimnisse, wie du selbst sehr genau weißt. Mach also der Kleinen keine Vorwürfe. Bestimmt hat dein lieber Bruder vor ihr auch noch so manch anderes verborgen."
"Aber Kardinal Richelieu kannte unsere Familie gut", entgegnete seine Frau ärgerlich und blickte wieder zu ihrer Nichte. "Sag mir, Kind, hat Seine Eminenz denn kein Wort über mich verloren?"
"Nein, er schrieb mir lediglich nach Vaters Tod einen sehr freundlichen Brief, in dem er mich seines Wohlwollens, seines Beistandes und seiner Fürsorge versicherte. Schade, dass ich ihn nicht persönlich kennengelernt habe."
"Wie? Seine Eminenz ist nicht zur Beerdigung deines Vaters erschienen?"
"Nein, Tante, er entschuldigte sich, da er viele Regierungsgeschäfte zu erledigen hatte."
"Und du? Warst du denn niemals in Paris zu einer Audienz beim Kardinal?", fragte Adrienne ungläubig. "Ich meine... schließlich warst du alt genug, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden."
"Das ist richtig, aber ich fand es unpassend, da mein Vater gestorben war. Seine Eminenz akzeptierte meine Entscheidung. Ihr müsst wissen, dass er mich im Sommer nach Paris zum Hofball einlud."
"Dann bist du also niemals in Paris gewesen und auch noch nicht bei Hofe eingeführt?"
"Nein, Tante."
"Das ist vielleicht auch ganz gut so..."
"Wie meint Ihr das?"
"Wenn... wenn die Gerüchte über deine Mutter stimmen..."
"Meine Mutter?", entfuhr es Marguerite sofort und sie starrte ihre Tante erwartungsvoll an, während sie spürte, wie ihr Herz plötzlich heftiger schlug. "Wisst Ihr, wer sie ist?"
"Nein, mir kamen lediglich Gerüchte zu Ohren. Sollten diese allerdings der Wahrheit entsprechen, wäre es besser für dich, niemals am Hofe zu erscheinen", gab Adrienne zögernd zurück. "Mon Dieu! Allein die Vorstellung, es könnte wahr sein... solch eine Person die Mutter seines Kindes! Der Himmel bewahre mich davor jemals zu erfahren, ob es stimmt."
"Wer... wer soll denn meine Mutter sein?", fragte Marguerite erneut. "Bitte! Ihr müsst es mir sagen!"
"Nein! Nein, nein, nein! Meine Lippen sind versiegelt!", stieß ihre Tante hervor und schüttelte unwillig den Kopf. "Besser, wir verlieren nie wieder ein Wort über diese Angelegenheit! Gerüchte müssen nicht der Wahrheit entsprechen."
"Es stellt sich allerdings die Frage, warum dein Bruder dann nicht die Mutter seines Kindes geheiratet hat?", bemerkte der Baron süffisant, während er nachdenklich das halbgefüllte Weinglas gegen das Licht des Kaminfeuers hielt und es betrachtete.
"Was weiß denn ich? Vielleicht war sie von niedrigem Stand oder ist bei der Geburt gestorben. Jedenfalls entzog sich Gilbert nicht seiner Pflicht wie so viele andere Männer dies zu tun pflegen", entgegnete Adrienne in giftigem Ton, wobei sie ihren Ehemann mit einem zornigen Blick bedachte.
"Ungeachtet Eurer Bedenken bitte ich Euch, mir zu erzählen, wer den Gerüchten nach meine Mutter sein soll", wandte sich Marguerite, deren Anwesenheit von dem adligen Ehepaar scheinbar für einen Moment vergessen worden war, an ihre Gäste. "Man könnte sicherlich nachprüfen, ob es der Wahrheit entspricht. Wie heißt diese Dame?"
"Oh bitte, Kind, wer soll diese Überprüfung vornehmen? Etwa Monsieur Cayot?", meinte Adrienne und verzog ihre dünnen Lippen leicht zu einem verächtlichen Lächeln.
"Na ja, warum nicht? Er ist schließlich unser Familienanwalt und lebt in Paris."
"Diese Kleine ist wirklich zu niedlich!", entfuhr es dem Baron und er fing an zu lachen. Seine Frau verzog ihren Mund ebenfalls zu einem breiten Grinsen.
"Hör mal, Marguerite - so ist doch dein Name, nicht wahr?"
"Ja, Tante."
"Monsieur Cayot ist zwar Anwalt, aber auch ein unfähiger Idiot. Das einzige, was er kann, ist vor den Obrigkeiten zu buckeln, Gesetze zu überprüfen und Papiere durchzuarbeiten. Doch ein Gerücht zu überprüfen - und noch dazu eins, dass den Ruf seines einstigen Klienten, den Comte de Rochefort, einen hochdekorierten Offizier aus der Kardinalsgarde Richelieus, beschmutzen könnte - gehört weder zu seinen Fähigkeiten noch zu den Dingen, die er für Geld zu erledigen bereit sein wird."
"Demnach ist dieses Gerücht also ziemlich schlimm?"
"Die besagte Dame hatte einen gewissen Ruf, war zu Lebzeiten jedoch eine geachtete Person und ging bei Hof ein und aus. Dennoch gibt es einige aus dem engeren Umkreis Seiner Majestät, die sie selbst jetzt noch verachten, obwohl sie schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilt", erklärte der Baron geduldig. "Es wäre wirklich besser, wenn du den Stammsitz deiner Familie nicht verlässt. Auf diese Weise bleibst du für die Hofschranzen ein Kind, durch das sich niemand bedroht fühlt."
"Bedroht? Warum sollte sich jemand von mir bedroht fühlen?", fragte Marguerite irritiert.
"Aufgrund der Gerüchte, kleine Comtesse, nur darum", antwortete de Lebrunne in heiterem Ton.
"Wie dem auch sei, ich wünsche keine weiteren Gespräche mehr über dieses unerfreuliche Thema", mischte sich Adrienne nun wieder in die Unterhaltung ein. "Erzähl mir lieber etwas über deine Gesellschafterin, diese Mademoiselle Lefevre. Wie lange ist sie schon hier auf dem Landsitz?"
"Seit etwa drei Jahren, als Vater fand, dass ich keiner Gouvernante mehr bedarf."
"Kommt diese Louise aus einer anständigen Familie?"
"Ich denke schon, es gibt nichts Gegenteiliges über sie zu berichten. Jedenfalls hat sie gute Referenzen, darum hat Vater sie eingestellt. Er meinte, dass ich etwas Gesellschaft brauche, da das Landleben für junge Mädchen doch recht eintönig werden kann. Außerdem schickt es sich nicht, ohne Begleitung auszufahren, zu reiten oder spazierenzugehen."
"Nun ja, die Gründe deines Vaters kann ich gut nachvollziehen. Deshalb darf Mademoiselle Lefevre bleiben. Schließlich wollen wir dir nicht gleich zu viele Änderungen zumuten."
"Änderungen? Welche Änderungen?"
"Oh, ich bin überzeugt, dass hier nicht alles so läuft wie es sollte", erklärte Adrienne. "Seine Eminenz hat sich nicht selbst ein Bild von deinem Leben hier gemacht, da er offenbar tatsächlich keine Zeit dazu fand, und nicht einmal jemand anderen hergeschickt, um nach dem Rechten zu sehen. Vermutlich macht das Personal hinter deinem Rücken, was ihm gefällt. Aber keine Sorge, mein Kind, ich werde Zucht und Ordnung schon wieder herstellen, um das Gesinde daran zu erinnern, wer hier die Herrschaften sind. Du wirst mir eines Tages noch dankbar dafür sein."
Die Comtesse bedachte ihre Tante mit einem zweifelnden Blick, zog es jedoch vor zu schweigen. Allerdings schwante ihr bei den Ausführungen der Baronesse nichts Gutes...
3. Kapitel
Es gibt kaum ein zäheres Gewächs als die Missgunst
und eine zuverlässigere Zuneigung als jene zu materiellen Besitzgütern.
Rosemarie Tscheer (*1930)
~~~~~
Der Morgen war bitterkalt und ein dunkler Nebel hüllte die weite, schneeverhangene Hügellandschaft ein, die zum Anwesen des Stammsitzes der Rocheforts gehörte. Dennoch waren zwei junge Damen bereits gleich nach Sonnenaufgang allein ausgeritten, um 'frische Luft' zu schnappen, obwohl der Stallmeister ihnen davon abriet. Doch Comtesse Marguerite de Rochefort wollte davon nichts wissen und ihre Gesellschafterin war wie immer stets an ihrer Seite.
Die junge Adlige trieb ihren weißen Hengst zunächst in leichtem Trab voran und verlangsamte das Tempo erst, als Louise und sie außer Sichtweite des Herrenhauses waren.
"Endlich wieder einmal ein Stück Freiheit", seufzte Marguerite und atmete in tiefen Zügen die kalte Luft ein. "Die letzten Tage waren einfach unerträglich und ich weiß nicht, wie lange ich es noch mit meinen Verwandten aushalten kann."
"Eure Tante führt in der Tat ein strenges Regiment und hat gnadenlos mehrere Dienstboten entlassen", bestätigte Louise die Ausführungen ihrer Herrin. "Seid Ihr sicher, dass der Baronesse so etwas gestattet ist?"
"Sie ist nun einmal zu meinem Vormund ernannt worden, was mir durch ein offizielles Schreiben des Hofes noch einmal bestätigt wurde", erwiderte Marguerite resigniert. "Demnach ist sie dazu befugt, alle Entscheidungen für mich oder über mich zu treffen, ohne dass ich etwas dagegen tun kann, bis zu dem Tag meiner Eheschließung oder meiner Volljährigkeit. Parbleu, was hat sich Vater nur dabei gedacht, dieser grässlichen Frau die Vormundschaft für mich zu übertragen?!"
"Wahrscheinlich ging der Comte davon aus, dass Blut dicker ist als Wasser und seine einzige Schwester, Eure Tante, nur Eurer Wohl im Auge haben würde."
"Ja, das behauptet sie auch immer wieder! Und sie kontrolliert mich, wo sie kann! Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob nicht einige unserer alten Bediensteten mich im Auftrag meiner Tante bespitzeln. Deshalb sind wir jetzt hier, damit wir uns unterhalten können, ohne befürchten zu müssen, dass jemand uns belauscht."
"Aber warum sollte die Baronesse unsere Gespräche belauschen, Comtesse? Wie Ihr selbst sagtet, ist sie doch momentan die Herrin im Hause und sollte vor Euch nichts zu befürchten haben."
"Ich spüre, dass sie mir gegenüber nicht ehrlich ist. Außerdem haben ihr Mann und sie ja angedeutet, dass meine Mutter eine Frau von zweifelhaftem Ruf sein könnte und mir davon abgeraten, jemals eine Einladung an den Hof anzunehmen."
"Klingt geradeso, als ob die beiden verhindern wollten, dass Ihr einen potenziellen Ehemann findet", meinte Louise nachdenklich. "Dennoch solltet Ihr Euch von dem Geschwätz Eurer Verwandten nicht davon abhalten lassen, Euch nächstes Jahr in die Gesellschaft einführen zu lassen. Wenn Ihr tatsächlich einen angenehmen Mann mit guter Reputation kennenlernt und er Euch heiratet, verliert Eure Tante ihre Vormundschaft über Euch und Ihr könnt das Erbe Eures Vaters antreten."
"Ein guter Vorschlag, aber er hat einen gewaltigen Haken, liebe Freundin: Bevor ich heiraten darf, muss mein zukünftiger Ehemann bei meiner Tante um meine Hand anhalten - und sie hat das Recht, ihn abzuweisen."
"Das ist allerdings wirklich ein Problem", gab Louise zu. "Mir scheint, Euch wird nichts anderes übrig bleiben, als Eure Tante vor vollendete Tatsachen zu stellen."
"Und das heißt?"
"Ihr müsst Eure Tante glauben machen, dass Ihr gezwungen seid, Euren Auserwählten zu heiraten."
"Na schön, gesetzt den unwahrscheinlichen Fall, dass ich wirklich einen Mann bei Hofe kennenlerne, dem ich meine Hand geben will - wie soll ich meine Tante davon überzeugen, dass eine Heirat unerlässlich ist und sie einwilligen muss?"
"Nun, Eure Tante mag ja recht herrisch sein, aber sie ist doch sehr auf den guten Ruf der Familie bedacht, nicht wahr? Und da Ihr durch den König als legitime Tochter Eures Vaters anerkannt worden seid, muss sie Euch notgedrungen als Nichte und zukünftige Erbin ihres Bruders akzeptieren. Aus diesem Grund wird sie gewiss ihre Zustimmung zu einer Heirat geben, wenn Ihr ihr andeutet, dass Ihr guter Hoffnung seid."
"Wie bitte? Louise, ich bin ein ehrbares Mädchen! Und ich würde nie vor einer Heirat mit einem Mann... ! Nein, das werde ich auf keinen Fall tun!"
"Oh, ich habe nicht gesagt, dass Ihr das tun sollt - Ihr müsst nur Eure Tante Glauben machen, dass Ihr es getan habt. Sobald Ihr verheiratet seid, interessiert das ohnehin niemanden mehr!"
"Ihr schlagt also vor, dass ich lügen soll, falls ich heiraten möchte?"
"Da die Dinge für Euch derzeit so fatal stehen, fürchte ich, dass Euch keine andere Wahl bleibt. Die Alternative wäre, bis zu Eurer Volljährigkeit unter der Fuchtel Eurer Tante zu verharren. Ihr müsst selbst entscheiden, was Euch lieber ist."
Marguerite starrte ihre Vertraute einen Augenblick lang konsterniert an, dann seufzte sie traurig und meinte: "Diese Entscheidung steht erst an, sobald ich einen passenden Heiratskandidaten gefunden habe. Bis dahin muss ich wohl die Vormundschaft meiner Tante über mich ergehen lassen."
"Der Baron de Lebrunne scheint ähnlich zu denken wie Ihr", bemerkte Louise spöttisch. "Er tut, was immer seine Frau von ihm verlangt und wagt kaum, ihr Widerworte zu geben. Ein äußerst eigenartiger Mann."
"Bestimmt ist er es leid, mit ihr Streitgespräch zu führen. Vergesst nicht, dass die beiden schon lange Jahre miteinander verheiratet sind und er sie besser kennt als jeder andere."
"Darum sucht er sich wohl auch zu trösten. Mir ist zu Ohren gekommen, dass er bereits einige der Dienstmädchen belästigt hat, sobald er allein mit einer von ihnen war."
"Wie bitte?!"
"Mit zweien hat ihn seine Madame erwischt. Warum, glaubt Ihr wohl, wurden die brave Linette und die zuverlässige Josephine so schnell entlassen?"
"Davon wusste ich gar nichts. Das ist wirklich die Höhe!"
"Ihr solltet Euer Zimmer des Nachts gut verschließen, Comtesse, ich tue das bereits seit der Ankunft des Barons. Sicher ist sicher."
Marguerite schluckte. Bisher hatte sie ihren Onkel als nicht sonderlich störend eingestuft, doch der Bericht von Louise warf jetzt ein völlig anderes Licht auf ihn. Und wenn sie es recht bedachte, gab es da diese eindringlichen Blicke, mit denen de Lebrunne sie manchmal bei Tisch musterte oder während sie im Salon am Cembalo spielte. Stets vermeinte sie, dass er lediglich neugierig war und sie aus Zwecken der Charakterstudien beobachtete, doch man konnte es auch anders interpretieren und nachdem, was sie gerade durch Louise erfahren hatte, war es wohl besser, auf den Rat ihrer Freundin zu hören. Dabei wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie sich einmal nicht mehr im eigenen Haus sicher fühlen konnte. Gewiss war Vater bei der Abfassung seines Testaments davon ausgegangen, dass seine Schwester und deren Gemahl so viel Ehre und Anstand besaßen, dass sie sich um ein Mitglied der eigenen Familie gut kümmern würden, sonst hätte er sie bestimmt nicht Tante Adrienne anvertraut.
"Ach, wenn es doch nur einen Weg gäbe, mich von der Kuratel meiner Tante zu befreien", seufzte die Comtesse. "Monsieur Cayot wüsste das sicher, aber Tante Adrienne lässt mich gewiss nicht nach Paris fahren."
"Vielleicht werden wir in der Bibliothek fündig?", schlug Louise vor. "Vergesst nicht, Euer Vater war ein überaus gebildeter Mann mit vielen Interessen. Bestimmt gibt es in der Bibliothek auch einige Bücher über unsere Gesetzgebung und deren Auslegung. Womöglich benötigen wir den Rat eines Anwaltes nicht, sobald wir diese Bücher studiert haben."
"Ja, das ist eine gute Idee", erwiderte Marguerite und schaute ihre Freundin hoffnungsvoll an. "Wir sollten gleich heute Vormittag damit beginnen. Zum Glück findet meine Tante, dass es einer jungen Dame wie mir nicht schadet, mich durch Lektüre weiterzubilden. Dies müssen wir nutzen, um einen Ausweg aus der derzeit misslichen Lage zu finden."
*
Als Marguerite mit ihrer Gesellschafterin eine halbe Stunde später ins Haus zurückkehrte, meldete ihr ein Bediensteter sogleich, dass die Baronesse bereits nach ihr gefragt habe.
"Meine Tante ist zu so früher Stunde wach?", wunderte sich die Comtesse und zog eine Augenbraue hoch.
"Ja, und sie erwartet Euch im Esszimmer", erklärte der Diener demütig.
"Na schön, sie soll sich noch etwas gedulden, bis ich mich umgezogen habe", gab Marguerite zurück und wandte sich dann an Louise. "Wir sehen uns gleich im Esszimmer, meine Liebe."
Die Gesellschafterin neigte leicht ihren Kopf, bevor die Comtesse sich von ihr abwandte und in ihr Zimmer eilte. Eine ihrer Kammerzofen erwartete sie bereits, um ihr beim Umkleiden und Frischmachen zu helfen.
"Wie ist die Stimmung meiner Tante, Anne?", erkundigte sich Marguerite, während ihr das Mädchen aus ihrem Reitkostüm half.
"Oh, sie scheint heute mit dem falschen Fuß aufgestanden zu sein", erklärte die Zofe in leisem Ton. "Die übelste Laune, glaubt mir, und als sie hörte, dass Ihr mit Mademoiselle Louise ausgeritten seid, ohne sie darüber informiert zu haben, ließ sie den Stallmeister kommen und machte ihm Vorwürfe, dass er Euch allein mit Eurer Gesellschafterin ohne männliche Begleitung ausreiten ließ."
"Hat er meiner Tante denn nicht erklärt, dass wir das bereits zu Lebzeiten meines Vaters taten? Wir reiten doch nur in der Nähe unseres Stammsitzes aus, wo es nichts zu befürchten gibt."
"Der Stallmeister sagte ihr dies, doch das interessierte die Baronesse nicht! Sie machte ihm sehr deutlich klar, dass sie jetzt die Verantwortung für Euch trage und daher nicht mehr das gelte, was vordem war. Und wenn der Stallmeister Euch noch einmal ohne ihre Erlaubnis und ohne männliche Begleitung ausreiten lässt, kann er gehen."
"Die Baronesse übertreibt es wirklich!", murrte Marguerite ärgerlich. "Wie kann sie es wagen, einen Mann, der meinem Vater seit Jahren treu diente, auf diese Weise zu maßregeln? Der Stallmeister ist nur ein einfacher Bediensteter, der seiner Herrschaft zu gehorchen hat. Und ich bin immer noch seine Herrin, selbst wenn ich noch nicht volljährig bin. Aber ich habe Vater versprochen, für den Stallmeister bis an sein Lebensende zu sorgen. Dieser Mann stand ihm in all den Jahren seines Dienstes in der Kardinalsgarde treu und loyal zur Seite, sogar während der Belagerung von La Rochelle. Meine Tante hat nicht das Recht, ihm mit Entlassung zu drohen oder es gar zu tun."
"Ach, Comtesse, sie ist Euer Vormund und ich fürchte, dass sie doch Leute maßregeln und entlassen darf. Bereits zwei Dienstmädchen mussten gehen!"
"Ja, davon habe ich gehört. Es ist eine Schande, dass meine Tante nicht denjenigen zur Verantwortung zieht, der die peinliche Situation, in die Linette und Josephine gerieten, verursacht hat. Sag, ist er auch dir zu Nahe getreten?"
"Zum Glück nicht, weil ich ihm wohl nicht gefalle - und darüber bin ich sehr froh, Comtesse."
"Ich werde ein ernstes Wort mit meiner Tante darüber reden", versprach Marguerite.
"Seien Sie bloß vorsichtig bei der Baronesse", wisperte Anne. "Mir scheint, sie führt etwas gegen Euch im Schilde. Sie ist eine Frau, der man nicht trauen kann."
"Ja, diese Ansicht teile ich mittlerweile auch", erwiderte die junge Adlige. "Dennoch kann sie nicht einfach mit mir machen, was sie will. Sie hat nur die Vormundschaft für mich, doch sie ist nicht meine Herrin."
"Mag sein, Comtesse. Dennoch führt sich die Baronesse so auf. Vermutlich glaubt sie das sogar, schließlich ist sie hier aufgewachsen. Die Köchin erzählte uns, dass sie sie als junges Mädchen kannte und dass sie ein recht verwöhntes, ungezogenes Kind war, das seinen Vater um den Finger wickeln konnte. Sie erhielt von ihm alles, was immer sie sich wünschte."
"Nun, diese Zeiten sind schon lange vorbei und ich vermute, dass sie nach ihrer Heirat mit dem Baron nicht alles bekam, was sie wollte. Findest du es nicht auch merkwürdig, dass meine Tante und ihr Gemahl so rasch hierherkamen, nachdem sie die Vormundschaft über mich erhielt, anstatt mich zu sich auf den Landsitz ihres Mannes holen zu lassen?"
"Darüber habe ich noch nie nachgedacht", gab die Kammerzofe zu. "Ein einfaches Mädchen wie ich hat von derlei Dingen keine Ahnung."
"Schon gut, Anne, ich habe nur ein wenig lauter gedacht als sonst. Komm, hilf mir in das grüne Kleid, damit ich meiner Tante endlich vor die Augen treten kann, bevor sie vor Zorn wieder einmal ihre Selbstbeherrschung verliert."
*
Als Marguerite nach unten kam und den Gang in Richtung Esszimmer entlang schritt, erwartete Louise sie bereits vor der Tür. Die Comtesse nickte ihrer Gesellschafterin mit ernstem Gesicht zu, öffnete die Tür und trat als Erste ein. Adrienne de Lebrunne sah auf und begegnete dem Blick ihrer Nichte. Sofort zogen sich ihre Augenbrauen zusammen, sie erhob sich und begrüßte sie mit kühlen Worten: "Ah, das gnädige Fräulein bequemt sich doch noch, zum Frühstück zu erscheinen."
"Guten Morgen, Tante Adrienne", erwiderte Marguerite in höflichem Ton, ohne auf die Vorwürfe der Baronesse einzugehen. "Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Nachtruhe?"
Dann wandte sich das blonde Mädchen an den Baron und fuhr fort: "Auch Euch einen guten Morgen, lieber Onkel, habe Ihr gut geschlafen?"
"Oh ja, danke der Nachfrage, mein Kind", antwortete der Angesprochene jovial und lächelte sie breit an.
"Da dem Austausch von Höflichkeiten Genüge getan ist, sollten wir ein ernstes Wort über dein Verhalten heute Morgen sprechen", erhob die Baronesse daraufhin in strengem Ton die Stimme und sandte ihrer Nichte einen bösen Blick.
"Warum?", fragte Marguerite, tat so, als wüsste sie nicht, wovon ihre Tante sprach, und setze sich auf einen der bequemen, gepolsterten Stühle, die um den runden Tisch herum standen. Als Louise sich anschickte, sich auf den Platz neben ihrer Freundin niederzulassen, rief Adrienne laut: "Nein!"
Die beiden jungen Damen schauten erstaunt zu ihr auf und Marguerite fragte verständnislos: "Warum? Louise pflegt immer mit uns das Frühstück einzunehmen."
"Damit hat es jetzt ein Ende!", erklärte die Baronesse in hartem Ton und sah die Gesellschafterin ihrer Nichte nun ebenso böse an wie zuvor Marguerite. "Sagt mir, Mademoiselle Lefevre, hat mein Bruder Euch nicht eingestellt, damit Ihr ein wenig acht auf seine Tochter habt?"
"Unter anderem auch das", antwortete Louise sachlich und blickte Adrienne furchtlos ins Gesicht. "Und ich versichere Euch, dass ich stets an der Seite der Comtesse bin, was immer sie auch unternimmt."
"Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr meiner Nichte heute Morgen beim Ausreiten Gesellschaft leistetet. Entspricht das der Wahrheit?"
"Ja, Baronesse. Es war der Wunsch der Comtesse, am frühen Morgen auszureiten, und ich habe sie dabei begleitet."
"Obwohl es dunkel und neblig war?"
"Nun, es ist Winter und da ist es morgens meistens dunkel. Aber es schneite nicht mehr und es war auch nicht windig, sondern mild. Außerdem kennen die Pferde die Reitwege in- und auswendig, genauso wie Eure Nichte und ich. Es bestand kein Grund zur Sorge."
"Eure Meinung interessiert mich nicht, Mademoiselle Lefevre! Meiner Meinung nach wäre es Eure Pflicht gewesen, meiner Nichte diesen unsinnigen Ausflug auszureden, zumal ihr beiden ohne männliche Begleitung unterwegs wart."
"Wir pflegen seit Jahren zu jeder Jahreszeit auszureiten, wenn es uns beliebt, und wir bleiben immer auf dem Familienanwesen, wo nichts passieren kann. Der Comte de Rochefort hatte nie etwas dagegen."
"Und außerdem müssen die Pferde bewegt werden", mischte sich Marguerite in die Unterhaltung ein.
Adrienne beachtete ihre Nichte nicht, sondern hielt ihren Blick immer noch wütend auf Louise gerichtet, während sie nun wieder das Wort ergriff: "Mein Bruder, der Comte de Rochefort, lebt nicht mehr und mir scheint, er war gegenüber seiner Tochter und Euch stets zu nachsichtig. Aber ich bin nicht gewillt, Marguerites leichtsinniges Verhalten weiterhin zu dulden."
"Ihr übertreibt, Tante Adrienne!", protestierte die Comtesse. "Es gab überhaupt nichts zu befürchten! Auf unserem Anwesen kann uns nichts geschehen!"
"Schweig!", fuhr die Baronesse ihre Nichte an, ehe sie sich erneut an Louise wandte. "Mir scheint, dass Ihr keinen besonders wohltuenden Einfluss auf Marguerite habt und mein Bruder viel zu nachsichtig mit Euch war, Mademoiselle Lefevre! Darum seid Ihr ab sofort aus den Diensten der Comtesse entlassen!"
"Nein!", protestierte Marguerite und starrte ihre Tante nun böse an. "Das könnt Ihr nicht machen! Louise ist meine Gesellschafterin und ich wünsche, dass sie weiterhin in meinen Diensten bleibt! Wenn Ihr unbedingt jemanden bestrafen wollt, dann tut es mit mir!"
"Wir beide sprechen auch noch ein ernstes Wörtchen miteinander", entgegnete Adrienne. "Aber Mademoiselle Lefevre wird sofort ihre Habseligkeiten packen und sich überlegen, wohin sie geht. Eine unserer Kutschen bringt sie dann zu der nächstgelegenen Poststation, wo sie dann ihre Reise fortsetzt, wo immer sie sie hinführt."
Die Baronesse wandte sich erneut an Louise, die mit unbewegtem Antlitz dastand, den Blick immer noch furchtlos auf Adrienne de Lebrunne gerichtet: "Guten Tag, Mademoiselle Lefevre! Den Weg findet Ihr selbst hinaus!"
"Natürlich, Madame!", gab Louise ungerührt zurück, drehte sich auf dem Absatz um und verließ wortlos das Zimmer.
"Louise!", rief Marguerite aus und wollte ihrer Freundin nacheilen, doch ihre Tante hielt sie am Arm fest und zog sie zurück.
"Du wirst hierbleiben und dir anhören, was ich dir zu sagen habe!", zischte Adrienne das Mädchen an.
"Nein! Es gibt nichts, was Ihr mir sagen könntet!"
"Vorsicht, Mädchen, so spricht man nicht mit seinem Vormund!"
"Ihr habt Louise ohne Grund entlassen! Ebenso wie die beiden anderen Dienstmägde!", entfuhr es Marguerite in empörten Ton und sie sah ihre Tante mit einem Ausdruck von Wut an. Dann ließ sie ihren Blick kurz zu dem Baron schweifen und fuhr fort: "Wenn Ihr schon vermeint, jemanden bestrafen zu müssen, so solltet Ihr dies auch der Person angedeihen lassen, die die Ursache für ein Verhalten ist, das Euch missfällt!"
"Kind! Ich meine es nur gut mit dir!", tönte die Stimme Adriennes in vorwurfsvollem Ton zurück. "Du solltest mit vertrauen und dich nicht über etwas aufregen, wovon du nichts verstehst. Mademoiselle Lefevre hat nicht unbedingt dein Wohl im Auge und die beiden Mägde, auf die du anspielst, habe ich beim Stehlen erwischt."
"Das kann ich mir nicht vorstellen!"
"Dein Vater war schon immer blind für die Fehler der Dienstboten, die er sympathisch fand. Und in dieser Hinsicht gleichst du ihm völlig, Marguerite!", stellte Adrienne klar. "Ein hübsches Gesicht und freundliche Worte machen noch keine vertrauenswürdigen Personen aus Dienstboten. Du kannst mir glauben, dass es mir selbst nicht besonders gefällt, derart handeln zu müssen - aber mir bleibt keine Wahl!"
"Oh doch, Ihr habt eine Wahl!", widersprach das blonde Mädchen. "Mit Dienstboten kann man zwar streng, aber nicht ungerecht umgehen! Vater meinte immer, man muss eine Sache von allen Seiten betrachten."
"Glaub mir, Marguerite, das habe ich getan!", versicherte die Baronesse, die allmählich wieder ruhiger, aber nicht freundlicher wurde. "Man hat mir die Fürsorge für dich übertragen und diese Aufgabe nehme ich sehr ernst. Schließlich bist du das einzige Kind meines Bruders und meine noch einzig lebende Verwandte. Kannst du dir eigentlich vorstellen, welche Angst ich um dich ausgestanden habe, als ich heute Morgen hörte, dass du bei diesem widrigen Wetter allein mit deiner Gesellschafterin ausgeritten bist?"
"Wenn es so ist, dann tut es mir leid", sagte die Comtesse, obwohl sie ihrer Tante keine Sekunde lang glaubte, dass diese wirklich um sie besorgt gewesen war. Seit ihrer Ankunft hatte sie ihr kein liebevolles Wort angedeihen lassen, sondern immer nur an allem herumkritisiert und ihr Vorwürfe gemacht.
"Versprich mir, dass du nie wieder ohne meine Erlaubnis das Haus verlässt!", forderte Adrienne de Lebrunne.
Marguerite zögerte. Sie traute ihrer Tante nicht über den Weg und der Gedanke, von ihr völlig kontrolliert zu werde, gefiel ihr ganz und gar nicht.
"Warum sollte ich Euch solch ein Versprechen geben?", fragte das Mädchen. "Vertraut Ihr mir nicht, Tante?"
"Du bist wirklich sehr eigensinnig, Marguerite. Verstehst du denn nicht, dass ich für dich verantwortlich bin?"
"Ich bin kein kleines Kind mehr, Tante Adrienne, und bei meinem eigenen Vater, der meines Erachtens viel zu früh diese Welt verließ, musste ich mich nicht wegen jeder Kleinigkeit abmelden."
"Es interessiert mich nicht im Geringsten, auf welch leichtsinnige Weise mein Bruder deine Erziehung vernachlässigte."
"Vater hat mich nicht vernachlässigt und ich habe eine überaus gute Erziehung genossen."
"Und dennoch scheinst du keinen Respekt vor mir zu haben, obwohl ich nun für dich verantwortlich bin."
"Natürlich respektiere ich Euch, Tante Adrienne. Es gefällt mir nur nicht, von Euch wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Vergesst nicht, dass ich alt genug bin, um zu heiraten."
"Das ist richtig", gab die Baronesse in ärgerlichem Ton zu, wobei sich ihr Gemahl ein leichtes Grinsen nicht verkneifen konnte. "Allerdings bist du meines Erachtens noch nicht reif genug für die Ehe. Welcher Mann wünscht sich schon ein eigensinniges, verwöhntes Mädchen zur Gemahlin, das ihm Widerworte gibt?"
"Nun, nun, Adrienne, jetzt scheinst du mir doch ein wenig zu streng über die Kleine zu urteilen", mischte sich der Baron ein. "Marguerite benimmt sich derzeit gewiss nur so eigensinnig, weil sie deine Handlungsweise nicht versteht. Und außerdem wirkt das arme Kind noch sehr durcheinander wegen des Todes ihres Vaters. Offensichtlich hat sie dies noch nicht verwunden, da sie so oft von ihm spricht."
"Oh ja, ich bedaure sehr, dass Vater nicht mehr unter den Lebenden weilt", gab die Comtesse unumwunden zu. "Dann hätte es diese vielen Entlassungen von Dienstboten, die uns seit Jahren treu gedient haben, nicht gegeben. Er hätte das niemals gebilligt!"
"Dein Vater ist nicht mehr hier, Marguerite!", herrschte Adrienne ihre Nichte hart an. "ICH bin jetzt diejenige, die hier im Hause bestimmt und du, mein Kind, solltest dich damit abfinden! Alles, was ich tue, hat einen Sinn und du solltest auf mich hören, anstatt gegen mich zu opponieren."
"Mit Eurer Handlungsweise bin ich ganz und gar nicht einverstanden!", entgegnete das Mädchen. "Und ich fordere Euch auf, die Entlassung von Louise Lefevre auf der Stelle zurückzunehmen!"
"Uneinsichtiges, törichtes Kind!", schrie Adrienne daraufhin voller Zorn. "Es ist wohl besser, wenn du jetzt auf dein Zimmer gehst und dort den ganzen Tag bleibst, um über dein respektloses Verhalten mir gegenüber nachzudenken! Meinst du, ich habe mich darum gerissen, die Vormundschaft für dich zu übenehmen?! Weißt du, welch eine Belastung das für mich darstellt?!"
"Oh, ich bin überzeugt, dass man gern eine andere Person mit dieser Aufgabe betrauen wird, wenn Ihr offiziell erklärt, dass Euch diese Bürde zu schwer ist", erwiderte Marguerite ironisch. Fassungslos starrte die Baronesse sie daraufhin an, dann gab sie ihr plötzlich eine Ohrfeige und schrie wie von Sinnen: "Geh mir aus den Augen, du undankbarer Wurm!"
"Mit dem größten Vergnügen", antwortete die Comtesse, drehte sich um und verließ eilig das Zimmer. Als sie die Tür laut hinter sich zuschlug, blickte Adrienne ungläubig darauf.
"Was sagst du dazu, Roger? Dieses freche, kleine Ding wagt doch tatsächlich, sich mir zu widersetzen!", zischte sie dann zornig.
"Hast du etwa erwartet, dass das Comtess'chen jubiliert, wenn du ihre Freundin entlässt?", murmelte ihr Gemahl, wobei ihm das Grinsen immer noch ins Gesicht stand. "Musstest du gleich so schwere Geschütze auffahren, ma Cherie? Diese Louise scheint doch ganz vernünftig zu sein und hat sicherlich die meiste Zeit dazu beigetragen, dass deine süße, kleine Nichte bisher nicht aufmuckte. Aber jetzt, fürchte ich, wird Marguerite ziemlich aufsässig und schwer im Zaum zu halten sein."
"Hast du etwa Mitleid mit dem Bastard meines Bruder?", fragte Adrienne empört. "Es ist ein Skandal, dass Richelieu durch seine Fürsprache beim König dafür sorgte, dass dieses Mädchen als Gilberts legitimes Kind und Erbe anerkannt worden ist. Dabei steht das Vermögen und die Besitzungen unserer Familie einzig und allein mir zu, einer wirklich geborenen Comtesse de Rochefort."
"So viel ich weiß, hat dein Vater dir dein Erbteil bei unserer Hochzeit ausgezahlt, liebste Adrienne, und du hast unterschrieben, dass du auf weitere Zuwendungen verzichtest."
"Damals waren andere Zeiten und ich hätte mir niemals träumen lassen, dass mein Herr Gemahl so dumm sein würde, sich die Feindschaft Richelieus sowie Seiner Majestät zuzuziehen, weil er den Bruder und die Mutter des Königs bei ihren konspirativen Umsturzplänen unterstützte und deshalb seine sämtliche Besitzungen und sein Vermögen einbüßte. Dass du noch lebst, hast du einzig und allein der Tatsache zu verdanken, dass ich eine geborene Rochefort und die Schwester eines seiner loyalsten Offiziere bin, die bei Richelieu um Gnade für dich flehte, Roger! Und jetzt, wo ich durch den unerwarteten Tod Seiner Eminenz plötzlich die Vormundschaft über den Bastard meines Bruders erhalten habe, werde ich meine Chance nutzen, um wieder ein schönes Leben zu führen."
"Wie willst du das denn anstellen, Adrienne? Deine Nichte ist ein hübsches Ding und findet ganz sicher eine Menge Verehrer, sobald sie bei Hofe eingeführt wird. Mit ihrer Heirat endet deine Vormundschaft und Marguerites Mann wird dich rasch aus dem Haus jagen. Darum fände ich es besser, wenn du die Kleine nicht gegen dich aufbringst, sondern sie zu deiner Freundin machen würdest."
"Freundin? Ich soll die Freundin dieses verwöhnten, frechen Fratzes werden? Vergiss es, Roger! Und was eine mögliche Heirat Marguerites betrifft, so lass dir gesagt sein, dass wir alles tun müssen, um ihr Debüt bei Hofe zu verhindern! Außerdem muss ich als Vormund erst meine Einwilligung zu einer möglichen Eheschließung geben und ich finde sicherlich bei jedem Kandidaten etwas, das gegen ihn spricht - egal wie gut sein Leumund oder dein Vermögen auch ist."
"Und wenn schon, ma Cherie, eines Tages wird Marguerite 21 Jahre alt und tritt das Erbe an."
"Wer sagt denn, dass sie dieses Alter erreicht, Roger?"
Nachdem diese Worte den Mund seiner Gattin verlassen hatte, erbleichte der Baron und sein Grinsen verschwand augenblicklich.
"Was soll das heißen, Weib?", fragte er tonlos.
"In ein paar Jahren kann allerhand passieren", erwiderte Adrienne leichthin. "Marguerite könnte krank werden und einen Unfall erleiden oder..."
"Was soll das, Adrienne?"
"Wenn ihr etwas passieren sollte - und das ist bei ihrem eigensinnigen Wesen nicht ausgeschlossen - , stehe ich als legitime Tochter meines Vaters, des alten Comte de Rochefort, in der Erbfolge an nächster Stelle. Wäre es nicht schön, wieder ein eigenes, angemessenes Heim für uns zu haben und genügend Geld, um sorgenfrei bis zuletzt leben zu können? Ein stilles Leben auf dem Lande, weitab von den politischen Intrigen bei Hofe, wäre genau das Richtige für uns beide, findest du nicht auch?"
"Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Adrienne? Mir gefällt der Gedanke nicht, das junge Mädchen einfach..."
"Vielleicht müssen wir gar nichts tun außer abzuwarten. Bei Marguerites aufsässigem Wesen ist zu erwarten, dass sie selbst sich in Gefahr bringt. Doch bis dahin denke ich nicht daran, mir von dem ungezogenen Fratz alles bieten zu lassen. Womöglich wird sie ja auch endlich zahm, wenn ich sie von vielem isoliere, was ihr lieb ist. Zunächst wird diese Mademoiselle Lefevre verschwinden, dann verbiete ich ihr allein auszureiten oder auszufahren. Außerdem wird sie lernen, mich bei allem, was sie vorhat, um Erlaubnis zu fragen... mal sehen, ob sie am Ende nicht doch klein beigibt."
Anmerkungen der Autorin:
Im Gegensatz zu den Büchern sind hier die drei Ältesten der Volturi ohne Gefährtinnen.
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4. Kapitel
Auch in der Stunde der Verzweiflung - bleibt nicht im Grunde des Herzens
doch eine winzig kleine schwelende Hoffnung?
Alexandre Dumas, der Jüngere (1824 - 1895)
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In einer der nördlichen Provinzen Frankreichs glitt an diesem nebelverhangenen Morgen ein prunkvoller Ausfahrtsschlitten kurz vor Sonnenaufgang über die glatte Fläche des gefrorenen Bodens, kutschiert von einem schweigsamen Mann in Livree-Uniform mit unbewegtem, blassen Gesicht. Im hinteren Teil des imposanten Gefährtes saßen drei Männer, ebenso bleich wie der Kutscher, und blickten mit gelangweilten Mienen über die Landschaft, die rasch an ihnen vorbeiglitt.
"Ein Morgen ganz nach meinem Herzen", bemerkte einer der drei Männer, dessen schwarzes, glattes Haar über dem Kragen seines zurückgeschlagenen, dunklen Samtumhanges lag. "Allerdings frage ich mich ernsthaft, was wir in Paris sollen, Marcus? Jedes Mal, wenn wir dort einen Besuch machten, überkam mich das Gefühl unendlicher Langeweile. Egal zu welcher Epoche, egal welcher Regent herrscht, sie faseln immer denselben Unsinn. Es ist ermüdend."
"Nun ja, irgendwo müssen wir uns schließlich für eine Zeitlang niederlassen, solange es einem der eifrigen Inquisitoren Roms gefällt, Hexen in Volterra zu jagen", gab der Angesprochene, ein hagerer, hochgewachsener Mann mit ebenso langem, dunkelbraunem Haar gleichmütig zurück. "Also lassen wir das immer gleiche Gefasel ruhig an herabgleiten, hier ist es ebenso gut wie anderswo. Außerdem bemerkt zu dieser wunderbar undurchsichtigen Jahreszeit niemand, dass wir regelmäßig auf die Jagd gehen und Nahrung zu uns nehmen. Bis man unsere Beute findet, wird eine Menge Zeit vergehen."
Der jüngste der drei, ein blonder Mann mit einem harten Zug um den Mund, lächelte nun grimmig und auch der Schwarzhaarige verzog seine Lippen leicht amüsiert.
"Einer der wenigen Vorteile, wenn wir uns schon auf einer angeblichen Bildungsreise befinden", gab er dann zu. "Wollen wir hoffen, dass der Hofball dieses Mal nicht wieder so langweilig wird wie das letzte Mal, als wir dort waren."
"Und wenn doch, Aro, finden wir gewiss den einen oder anderen Appetithappen", erwiderte der hagere Mann in mildem Ton und lächelte jetzt ebenfalls. "Wie lange ist es her, dass wir Neuzugänge bei uns begrüßen konnten?"
"Damit hat es keine Eile", wandte der Blonde sofort vehement ein. "Neugeborene kosten Zeit und es ist viel zu riskant, sie in einer Stadt wie Paris zu erschaffen."
"Ruhig, Bruder", erwiderte Aro. "Marcus meinte ganz gewiss nicht, dass wir ausgerechnet in Paris jemanden verwandeln sollten. Doch es spricht nichts dagegen, sich nach potenziellen Kandidaten umzusehen, nicht wahr? Neben dem Stillen unseres Durstes gibt es schließlich noch andere Bedürfnisse, nach denen sich nicht nur die Menschen sehnen."
"Dafür muss man kein Weib verwandeln", widersprach der blonde Mann. "Wir können uns auch so mit ihnen vergnügen und sie nachher als Dessert genießen."
"Bitte, Caius, sei doch nicht so ungalant. Hast du dich nie gefragt, ob dein Dasein erträglicher wäre, wenn du eine Gefährtin hättest?"
"Nein, Aro, ich verspüre ganz und gar nicht das Bedürfnis, mich an ein Weib zu binden. Ich komme auch so ganz gut auf meine Kosten. Allerdings wäre es schön, bald wieder nach Volterra zurückzukehren. Diese Europareise beginnt allmählich, mir auf die Nerven zu fallen. Bildungsreise? Dass ich nicht lache. Kaum jemand kennt die europäische Geschichte so gut wie wir."
"Ich merke schon, dass du unbedingt Abwechslung brauchst, mein Lieber", meinte der Schwarzhaarige und lächelte nachsichtig. "Wie ich hörte, wird in Paris demnächst wieder eine Oper aufgeführt. Ah, ich liebe derlei kulturelle Veranstaltungen, vor allem, wenn dabei hübsche Sängerinnen schöne Lieder vortragen und einige niedliche Tänzerinnen im Hintergrund sich dazu bewegen. Eine wundervolle Form der musikalischen Darbietung, nicht wahr?"
"Wie ich sehe, hat sich deine Laune erheblich verbessert", stellte Marcus zufrieden fest.
"In der Tat. Es gibt schließlich nicht nur den Hof, sondern auch noch andere Abwechslungen in einer Großstadt wie Paris."
"Appetitlich anzusehende, ungeschminkte Frauen und dunkle Gassen", kommentierte Caius die Bemerkung Aros sarkastisch. "Dann ist es nicht unbedingt notwendig, nachts in den Wäldern heimlich auf die Jagd zu gehen."
"Ganz recht, Bruder, wenn wir vorsichtig sind, können wir eine Zeitlang recht gut in Paris leben."
***
Marguerite eilte nach der Ohrfeige, die ihr ihre Tante verabreicht hatte, nach oben und suchte sofort die Kammer ihrer Gesellschafterin auf, der sie weinend um den Hals fiel.
"Ihr dürft mich nicht verlassen, Louise", schluchzte sie, während sie sie fest an sich presste.
"Bitte, beruhigt Euch, Comtesse", versuchte die junge Dame ihre Herrin zu beschwichtigen. "Eine Weile werde ich wohl noch hier sein, bis ich eine neue Stellung gefunden habe."
"Ich will, dass Ihr bleibt!"
Louise schob Marguerite ein wenig von sich und sah ihr ernst in die Augen.
"Ihr wisst, dass ich nicht bleiben kann, nachdem mich Eure Tante aus dem Dienst entlassen hat, Comtesse", erklärte sie ihr dann in ruhigem Ton. "Die Baronesse ist leider Gottes nun Euer Vormund und hat damit das Recht, mir zu kündigen. Wenigstens besitzt sie so viel Anstand, um mich nicht sofort an die frische Luft zu setzen."
"Oh, ich bestehe darauf, dass meine Tante Eure Entlassung zurücknimmt. Sie hat überhaupt keinen Grund, Euch zu entlassen!"
"Leider befürchte ich, dass die Baronesse nur auf einen Grund gewartet hat, um mich rauszuwerfen, da sie offensichtlich annimmt, ich besäße einen großen Einfluss auf Euch."
"Ihr seid mir mit den Jahren eine liebe Freundin geworden, die ich nicht missen möchte."
"Dasselbe kann ich auch von Euch sagen, Comtesse, aber wir müssen vorsichtig sein und sollten alles vermeiden, um Eure Tante zu reizen, denn ich fürchte, sie wird es Euch spüren lassen."
"Oh, ich habe keine Angst vor ihr!", sagte Marguerite in heftigem Ton. "Mag sie mir nur so viele Ohrfeigen verabreichen, wie sie will, sie wird meinen Willen nicht brechen können!"
"Was? Sie hat Euch geohrfeigt?!", entfuhr es Louise entsetzt und sie starrte die Comtesse ungläubig an.
"Ja, aber das könnte vielleicht ein Grund sein, Ihr die Vormundschaft über mich zu entziehen?", meinte Marguerite hoffnungsvoll. "Möglicherweise gelingt es Euch, Kontakt mit Monsieur Cayot aufzunehmen, sobald Ihr in einer anderen Stellung seid. Ich werde heimlich einen Brief an ihn aufsetzen und bitte Euch, diesen gut zu verbergen."
"Natürlich mache ich alles, was Ihr wünscht, Comtesse", versprach Louise. "Allerdings könnte es ein wenig dauern, ehe ich eine neue Stellung habe."
"Wie sehr wünschte ich, dass Ihr bei mir bliebet", sagte Marguerite traurig. "Oh, meine Tante ist verabscheuungswürdig. Wie konnte Vater ihr nur vertrauen?"
"Mag sein, dass sich die Baronesse im Laufe der Jahre verändert hat", meinte Louise. "Doch nun halte ich es für besser, wenn Ihr geht. Es wird Eurer Tante gewiss nicht passen, wenn sie hört, dass Ihr zu lange bei mir wart."
"Also schön, aber meine Tante kann nicht verhindern, dass ich Euch nachts heimlich aufsuche. Wenn sie glaubt, dass ich mich durch ihr Verhalten einschüchtern lassen, befindet sie sich in einem großen Irrtum."
*
Allein in ihrem Zimmer beruhigte sich Marguerite allmählich und überlegte, was sie nun tun sollte. Ihre Tante hatte ihr zwar aufgetragen, den Rest des Tages dort zu bleiben, aber das Mädchen erinnerte sich daran, dass es in der Bibliothek nach Büchern über das französische Recht suchen wollte. Es schien ihr nun eine gute Idee, um sich ein wenig von der Ungerechtigkeit ihrer tyrannischen Tante abzulenken und wenn sie Glück hatte, fand sie ein juristisches Schlupfloch, damit die Schwester ihres verstorbenen Vaters die Vormundschaft über sie wieder entzogen bekam.
Vorsichtig erhob sich Marguerite von ihrem Bett, eilte zur Tür und lugte hinaus. Der breite Korridor des Ganges war menschenleer, so dass sie heraustrat und leise wieder nach unten in den östlichen Flügel eilte, in dem sich die Bibliothek befand, neben der das Arbeitszimmer ihres verstorbenen Vaters lag.
Auch hier hielt sich momentan keine Menschenseele auf und außerdem war es nicht geheizt. Nichtsdestotrotz machte sich Marguerite auf die Suche nach dem Regal, in dem sich die Gesetzbücher am wahrscheinlichsten befanden. Versteckt in der zweiten Reihe unter den drei vollen Regalen mit Geschichts-, Strategie- und Wappenlehre entdeckte sie die juristischen Bücher und zog das erste davon hoffnungsvoll aus dem Regal. Mit zitternden Händen schlug sie es auf und überflog das Inhaltsverzeichnis. Doch es handelte sich durchweg um Auslegungen der Rechtsprechung über Landesverrat, Kriegs- und Militärrecht. Enttäuscht stellte die Comtesse das erste Buch wieder zurück und zog das zweite hervor. Aber auch hier ging es um alles andere als um Familienrecht. Erst bei dem dritten Band hatte sie Erfolg, allerdings nicht im Hinblick auf das, was sie sich erhoffte. Die Vormundschaft über ein Mündel konnte nicht so leicht entzogen werden, es sei denn, man könne dem Vormund nachweisen, dass er zum Schaden des ihm anvertrauten Minderjährigen handelte oder gar dessen Leben bedrohe. Das Letztere konnte sich Marguerite nicht vorstellen. Tante Adrienne mochte zwar eine Tyrannin sein und sie zu unterdrücken versuchen, aber der leiblichen Tochter ihres eigenen Bruders würde sie doch nicht nach dem Leben trachten wollen? Was hätte das schließlich für einen Sinn, zumal ihre Tante testamentarisch überhaupt nicht bedacht worden war. Und was die Sache betraf, dass sie zum Nachteil für sie handelte, war es fast unmöglich, dies Tante Adrienne nachzuweisen. Jeder würde ihr glauben, wenn sie erklärte, einige Dienstboten nur deswegen entlassen zu haben, weil sie stahlen oder sie keinerlei Aufgaben für sie hätte und mit dem Geld rechnen müsse.
Dabei wusste Marguerite, dass ihr Vater ihr genügend Geld hinterlassen hatte, um ein gutes Leben mit ausreichend Dienstpersonal zu führen und außerdem den Familiensitz instand zu halten.
"Trotzdem wird mich wohl niemand ernst nehmen, wenn ich meine Tante deshalb verklage, weil sie zu meinem Schaden handelt. Schließlich habe ich keinerlei Beweise dafür in der Hand und alle werden glauben, dass es mir an Nichts mangele, da Tante Adrienne klug genug ist, mich nicht hungern zu lassen oder mich in anderer Hinsicht zu vernachlässigen", überlegte das blonde Mädchen. "Außerdem würde alle Welt Verständnis für ihre Strenge mir gegenüber haben, wenn sie erklärt, dass ich eigensinnig und schlecht erzogen sei. Es scheint aussichtslos für mich zu sein, mich von ihrer Kuratel zu befreien. Vermutlich bleibt mir tatsächlich nichts anderes übrig, als mir einen ehrbaren Mann als Gemahl zu suchen und meiner Tante dann genau die Lüge zu erzählen, wie Louise es mir geraten hat. Aber wie soll ich das bloß anstellen, so lange ich hier festsitze? Ich muss unbedingt bei Hofe eingeführt werden, sonst drehe ich noch durch."
Resigniert stellte die Comtesse das Buch wieder an seinen Platz zurück und verließ mit gesenktem Haupt die Bibliothek. Auf dem Weg zurück in ihr Zimmer wäre sie beinahe mit dem Baron de Lebrunne zusammengestoßen, weil sie in Gedanken versunken zu Boden geblickt hatte.
"Na, na, in welchen Gefilden schweifen denn Eure Gedanken, liebe Nichte?", erkundigte sich der Gemahl ihrer Tante freundlich.
"Natürlich bin ich betrübt, weil Eure Gemahlin meine Gesellschafterin entließ", gab Marguerite beinahe patzig zurück. "Louise hat überhaupt nichts getan, dass solch eine Vorgehensweise ihr gegenüber rechtfertigt."
"Darin stimme ich Euch durchaus zu, liebes Kind", gab de Lebrunne ihr Recht und beobachtete mit Genugtuung, wie das junge Mädchen ihn erstaunt musterte. "Hört mal, ich bin nicht Euer Feind und verstehe selbstverständlich, wie wichtig Euch die Freundschaft mit Mademoiselle Lefevre ist. Allerdings konnte ich meine Frau bisher nicht umstimmen, die Entlassung Eurer Gesellschafterin zurückzunehmen."
"Dann wollt Ihr also auch, dass Louise bleibt?", erkundigte sich die Comtesse fassungslos.
"Aber natürlich", behauptete der Baron und lächelte sie breit an. "Es macht mir wahrlich kein Vergnügen, Euch mit so trauriger Miene zu sehen, und ich kann selbstverständlich nachvollziehen, dass Ihr Euch erst einmal an die Art meiner Gemahlin gewöhnen müsst. Doch ich versichere Euch, dass sie es im Grunde nur gut mit Euch meint."
"So, wirklich?", fragte Marguerite und musterte de Lebrunne misstrauisch.
"Ganz gewiss, mein liebes Kind. Habt doch ein wenig Vertrauen zu uns."
"Ich muss zugeben, dass mir das tatsächlich schwer fällt. Aber da Ihr einem Gespräch nicht abgeneigt seid, verratet mir bitte, warum Ihr und Eure Frau mich nicht einfach in Euer Refugium geholt, sondern zu diesem Landsitz gekommen und Euch wohnlich eingerichtet habt?"
"Eure Tante Adrienne hat natürlich Sehnsucht nach ihrem Vaterhaus, schließlich gehört es seit Generationen den Rocheforts und sie möchte eine Zeitlang hier leben."
"Dann habt Ihr also vor, nach einer gewissen Zeit in Euer eigenes Haus zurückzukehren, wohin ich Euch dann begleiten soll?"
"Nun ja, darüber denken wir noch nach. Im Augenblick halten meine Gemahlin und ich es für das beste, Euch nicht aus Eurer vertrauten Umgebung herauszureißen, Marguerite, und ich hoffe, dass wir eines Tages ein überaus gutes, sehr enges Verhältnis zueinander haben werden", erklärte der Baron und sah die Comtesse zwar immer noch mit diesem breiten Lächeln, aber mit so hungrigen Augen an, dass sie sich überaus unbehaglich fühlte.
"Warten wir es ab", meinte Marguerite daraufhin. "Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, Onkel?"
"Selbstverständlich, mein liebes Kind. Wo wart Ihr eigentlich?"
"Oh, ich habe nur ein Buch in die Bibliothek zurückgebracht. Danke der Nachfrage", log die Comtesse und schritt dann eilig von dannen, bevor der Baron sie in ein weiteres Gespräch verwickeln konnte.
Als sie ihr Zimmer erreicht und die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete das junge Mädchen erleichtert auf. Obzwar der Gemahl ihrer Tante freundlich gewesen war, empfand sie das Zusammensein mit ihm allein als äußerst unangenehm. Er hatte etwas Schmieriges an sich, dass sie abstieß, und selbstverständlich glaubte sie ihm kein Wort von dem, was er soeben gesagt hatte. Sie war davon überzeugt, dass der Baron zu seiner Ehefrau stand, egal wie oft er sie gegenüber Tante Adrienne in Schutz nahm. Vermutlich gehörte es zu dem Schauspiel, dass die de Lebrunnes vor aller Welt zur Schau stellten, um die Menschen zu täuschen.
"Aber mich täuscht ihr nicht", dachte Marguerite entschlossen und warf einen Blick auf ihren kleinen, weißen Sekretär. Sie würde keine Zeit verlieren, an Monsieur Cayot zu schreiben und ihn um Hilfe zu bitten. Zwar hatte sie in den juristischen Büchern nichts ausmachen können, dass ihr weiterhalf, aber ein Anwalt kannte die Gesetze und deren Auslegung viel besser als sie und womöglich fand er einen Ausweg...
5. Kapitel
Freundschaft ist die Verbindung der Seelen.
Voltaire (1694 - 1778)
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Seit dem Tag, an dem Louise durch die Baronesse entlassen worden war, wurde kein Wort mehr über diesen Vorfall gewechselt. Marguerites Gesellschafterin durfte so lange auf dem Gut der Rocheforts bleiben, bis sie eine neue Stellung gefunden hatte, musste allerdings ihre Mahlzeiten auf ihrem Zimmer einnehmen, während Adrienne de Lebrunne ihre Nichte zwang, gemeinsam mit ihr und ihrem Gemahl im Esszimmer zu speisen. Marguerite fügte sich dem allerdings nur deshalb widerspruchslos, weil Louise ihr dazu geraten hatte. Ansonsten achtete die Baronesse penibel darauf, dass ihre Nichte und deren Gesellschafterin nicht einen Augenblick allein waren.
Jedoch musste Adrienne es widerwillig dulden, dass Mademoiselle Lefevre mit der Familie am sonntäglichen Gottesdienst teilnahm, um erst gar kein Gerede in der Gemeinde aufkommen zu lassen. Und so traf es sich, dass am nächsten Sonntag, dem zweiten Advent, Marguerite mitsamt ihrer Gesellschafterin und ihren Verwandten in einem Pferdeschlitten zur Kirche fuhr, während dichte Flocken vom Himmel herabrieselten. Die junge Comtesse tauschte dabei einen, von ihrer Tante unbemerkten, amüsierten Blick mit Louise aus, weil Adrienne de Lebrunne wegen des Schnee's ein saures Gesicht zog.
Als der Schlitten vor der Kirche hielt, wandte sich die Baronesse in leisem, strengen Ton an Louise und murmelte ihr unfreundlich zu: "Ihr werdet selbstverständlich nicht mit uns im Familiengestühl sitzen, sondern Euch einen Platz innerhalb der Sitzbänke suchen."
"Natürlich, Madame!", erwiderte die Gesellschafterin in kühlem, sachlichen Ton, wobei sie wieder einmal auf die formelle Anrede gegenüber der Baronesse verzichtete und Adrienne so tat, als ob sie dies nicht gehört hätte.
Vor der Kirche standen einige Leute plaudernd beisammen, verstummten jedoch, als die Baronesse de Lebrunne mit ihrem Mann ausstieg und mit hochmütiger Miene den Weg zum Eingang entlangschritt, vor dem der Pfarrer bereits wartete, um einige seiner höher gestellten Gemeindemitglieder persönlich zu begrüßen. Marguerite schritt hinter ihren Verwandten her, lächelte jedoch nach links und rechts in die ihr vertrauten Gesichter und nickte ihnen zu. Die Leute lächelten zurück, einige zogen den Hut vor der jungen Comtesse und verneigten sich leicht oder knicksten, alles Gesten, die man der hochmütigen Baronesse und ihrem blasiert dreinblickenden Gemahl nicht zuteil werden ließ.
"Willkommen in der Gemeinde Rochefort", begrüßte der Pfarrer das Ehepaar de Lebrunne.
"Vielen Dank, Hochwürden", erwiderte der Baron und seine Frau, einen Arm in seinen eingehängt, nickte dem Geistlichen herablassend zu. "Ihr solltet den Himmel um besseres Wetter ersuchen."
"Wir müssen alles hinnehmen, wie es dem Herrn gefällt", gab der Pfarrer ergeben zurück und verneigte sich etwas. Dann wandte er sich Adrienne zu: "Wie ich hörte, hat man Euch die Vormundschaft für die Comtesse übertragen?"
"Das ist richtig", antwortete die Baronesse knapp.
"Wie schön, wenn eine Familie nach langer Zeit endlich wieder vereint ist und man sich umeinander kümmert", fuhr der Geistliche in jovialem Ton fort und wagte es, die de Lebrunnes anzulächeln.
"Es gehört zu unserer Pflicht und wir kommen dieser selbstverständlich nach", erwiderte Adrienne kühl und zog ihren Mann mit sich in die Kirche hinein, ohne den Pfarrer noch eines Blickes zu würdigen.
Marguerite, die das abweisende Verhalten ihrer Verwandtschaft miterlebt hatte, wandte sich nun in entschuldigendem Ton an den Pfarrer: "Bitte, verzeiht das Benehmen meiner Tante, Hochwürden. Anscheinend hat sie durch ihr langes Leben in der Stadt die Grundregeln der Höflichkeit verlernt."
"Eure Tante war durchaus höflich", meinte der Angesprochene in immer noch gleichbleibend freundlichem Ton. "Und natürlich verzeihe ich ihr, denn Taktgefühl und Liebenswürdigkeit ist nicht jedem in die Wiege mitgegeben. Wie geht es Euch, Comtesse?"
"Wie Ihr bereits gegenüber dem Baron de Lebrunne angedeutet habt, müssen wir unser Schicksal hinnehmen, wie es dem Herrn gefällt", sagte Marguerite. "Doch vielleicht könnt Ihr etwas für Mademoiselle Lefevre tun? Meine Tante ist der Meinung, dass ich ihre Dienste nicht mehr benötige und hat ihr deshalb nahe gelegt, sich um eine neue Stellung zu kümmern. Da Ihr so viele Menschen kennt, wärt Ihr wohl so freundlich, Euch zu erkundigen, wer aus unserer Gemeinde eine Gouvernante oder Gesellschafterin sucht?"
"Das kann ich gerne tun, Comtesse."
"Vielen Dank, Hochwürden, Ihr seid sehr freundlich."
Louise, die direkt hinter Marguerite stand und alles mit angehört hatte, schenkte dem Geistlichen ein dankbares Lächeln und er nickte ihr wohlwollend zu, ehe die beiden Mädchen die Kirche betraten. Marguerite sah ihre Freundin entschuldigend an, ehe sie sich zu ihren Verwandten in das Familiengestühl der Rocheforts gesellte. Louise hingegen bewegte sich auf die vorderen Sitzreihen zu, als ihr eine ältere Dame zuwinkte, die zum Bekanntenkreis des alten Comte de Rochefort gehörte und früher hin und wieder zu Besuch gekommen war. Die Gesellschafterin ließ sich nicht zweimal bitten, sondern ging zu ihr und setzte sich neben sie.
"Guten Morgen, Madame de Colignon, wie geht es Euch?", begrüßte Louise die ältere Dame. "Es ist schon lange her, seit wir uns gesehen haben."
"Das liegt einfach daran, dass ich eine lange Zeit bettlägerig war", erklärte Madame de Colignon.
"Oh, das tut mir leid, Madame. Hoffentlich seid Ihr jetzt wieder vollkommen wohlauf?"
"Es geht mir sehr viel besser, Mademoiselle Lefevre. Aber warum sitzt Ihr heute hier und nicht wie üblich im Familiengestühl der Rocheforts?"
"Nun, wie Ihr gewiss gehört habt, übertrug man Baronesse de Lebrunne, der Schwester des verstorbenen Comte de Rochefort, nach dem Tod Seiner Eminenz die Vormundschaft für die Comtesse. Und nach Auffassung der Baronesse hat eine Angestellte nichts im Familiengestühl zu suchen."
"Aber der verstorbene Comte betrachtete Euch doch als zweite Tochter und für die Comtesse seid Ihr sehr viel mehr als eine bloße Angestellte."
"Leider will Baronesse de Lebrunne davon nichts wissen", erklärte Louise. "Außerdem hat sie mich von meinem Dienst als Gesellschafterin der Comtesse entlassen und ich muss mir eine neue Stellung suchen."
"Das ist wirklich unerhört!", entfuhr es Madame de Colignon leise und sie schüttelte fassungslos den Kopf. "Ihr seid doch eine der wenigen Personen, die Comtesse Marguerite ein wenig Halt geben."
"Ich denke, genau deshalb wurde ich entlassen", wisperte Louise ihrer Sitznachbarin zu und warf einen kurzen Blick in das Familiengestühl, in dem sich Adrienne de Lebrunne auf dem Platz des Familienoberhauptes, den all die Jahre Gilbert de Rochefort inne hatte, breit machte.
Madame de Colignon war dem Blick der jungen Gesellschafterin gefolgt und nahm die Baronesse nun genauer in Augenschein.
"Offensichtlich eine sehr stolze Frau", murmelte sie dann, ohne den Blick von Adrienne zu nehmen.
"Euer Eindruck täuscht Euch nicht", bestätigte Louise.
"Hochmut kommt vor dem Fall", fuhr Madame de Colignon ungerührt fort. "Comtesse Marguerite wirkt auf mich hingegen sehr unglücklich."
"Wenn ich nur wüsste, wie ich ihr helfen kann", flüsterte Louise besorgt. "Ihre Verwandten scheinen sie von jeglicher Gesellschaft abschotten zu wollen und sind sogar dagegen, dass sie bei Hofe vorgestellt wird. Dabei ist das längst überfällig."
"Gehe ich recht in der Annahme, dass die Vormundschaft der Baronesse bei einer Heirat unserer kleinen Comtesse endet?", erkundigte sich Madame de Colignon interessiert.
"Genau so verhält es sich."
"Nun, dann ist es wohl an der Zeit, dass ich mich der Baronesse nach dem Gottesdienst persönlich vorstelle und ein wenig mit Comtesse Marguerite plaudere."
"Darüber wird sich die Comtesse sicherlich freuen. Sie benötigt unbedingt etwas Aufmunterung, vor allem, wenn ich das Haus verlassen habe."
"Hm, wenn ich es mir recht überlege, ist eine Gesellschafterin genau das, was mir noch fehlt", sinnierte die ältere Dame und schaute Louise an. "Habt Ihr nicht Lust, in meine Dienste zu treten?"
Die junge Frau blickte ihre Sitznachbarin überrascht an, dann glitt allmählich ein ungläubiges Lächeln über ihre Züge.
"Natürlich...", stammelte sie. "Mit dem größten Vergnügen, Madame."
"Auf diese Weise könnt Ihr Kontakt mit Eurer Freundin halten, denn die Baronesse kann nichts dagegen haben, wenn Ihre Nichte eine alte Bekannte besucht, nicht wahr?"
"Leider fürchte ich, dass Ihr die Tante miteinladen müsst, sonst lässt sie die Comtesse nicht aus dem Haus."
"Kein Problem! Ich bin schon mit ganz anderen Damen, die ihre Nase zu hoch trugen, fertig geworden."
***
Aro stand am Fenster des luxuriös eingerichteten Wohnzimmers in dem stattlichen Haus, welches er zusammen mit seinen beiden Freunden für ein halbes Jahr gemietet hatte, und starrte neugierig auf die Straße hinaus, in der trotz des heftigen Schneefalls ein breites Treiben der Bevölkerung von Paris herrschte. Da ihr sogenanntes Hôtel, wie diese prachtvollen Mietshäuser bezeichnet wurden, in dem erst kürzlich errichteten Nobelviertel Saint-Germain stand, war es hier nicht ganz so schmutzig wie in anderen Bezirken dieser Großstadt, deren Einwohnerzahl stetig wuchs. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie klein Paris im Mittelalter gewesen war, zu jener Zeit, als die Pest hier wütete... für seine Freunde, seine Dienerschaft und ihn ein Festschmaus, bei dem sie sich sogar gnädig vorkommen konnten, weil sie die von der Krankheit Befallenen oft erlösten, ehe sie ein langer, qualvoller Tod dahinraffte. Ja, manchmal konnten sogar Wesen wie er ein gutes Werk tun, wie makaber das auch immer klang.
Es klopfte leise an die Tür, wodurch sich die Aufmerksamkeit Aros vom Fenster löste und auf die Tür richtete.
"Ja, bitte?!", rief er in herrischem Ton.
Vorsichtig öffnete sich die Tür und einer seiner Dienstboten kam demütig herein, wobei er ein Tablett in den Händen trug, auf dem ein rotversiegeltes Schreiben lag.
"Komm ruhig näher, mein guter Francois", forderte Aro den Bediensteten auf und richtete interessiert seine dunkelschimmernden Augen [1] auf den Brief. Der mit Francois angesprochene bleiche Mann, etwa vor drei Jahren erschaffen, folgte der Aufforderung seines Meisters und hielt ihm das Tablett hin.
"Dann wollen wir mal sehen, was es Neues gibt", murmelte der schwarzhaarige Vampir, nahm das Schreiben an sich, roch genießerisch daran und wandte sich dann an seine beiden Freunde, die auf einem breiten, blumengemusterten, bequem gepolsterten Sofa vor einem brennenden Kamin saßen, Marcus ein Buch in der Hand und Caius schweigend in die Flammen starrend.
"Ein sehr schweres, teures Parfüm, Brüder", erklärte Aro dann lächelnd, ehe er das Siegel brach und den Brief durchlas, wobei sich ein Schmunzeln auf sein Gesicht stahl. Dann sah er auf und fuhr fort: "Na bitte, kaum hat es sich in Paris herumgesprochen, dass die Conte's Di Volturi angekommen sind, folgt prompt eine Einladung. Was glaubt ihr, von wem diese hier ist?"
"Offensichtlich brennst du darauf es loszuwerden", erwiderte Marcus in müdem Ton. "Also sprich!"
"Eine Einladung zum Hofball in den Palais du Luxembourg", klärte Aro ihn auf.
"War ja zu erwarten", meinte Caius gelangweilt und drehte seinen Kopf nun in Aros Richtung. "Wollen wir hingehen?"
"Warum nicht? Wir müssen ja nicht lange bleiben", gab der schwarzhaarige Vampir zurück. "Zumindest sollten wir uns ein paar der Appetithappen anschauen. Vielleicht sind einige hübsche Exemplare dabei."
"Was bringt das, Bruder?", murrte der blonde Vampir. "Es ist viel zu gefährlich, eine adlige Dame zu beißen, und wir waren uns doch einig, dass wir vorsichtig sein und in dieser Stadt keine Neugeborenen erschaffen wollen."
"Ob wir hier herumsitzen oder uns einige hübsche Gesichter bei Hofe anschauen, ist doch gleich", mischte sich Marcus nun in das Gespräch ein. "Vielleicht könnten wir ein paar nützliche Bekanntschaften machen? Es wäre jedenfalls viel zu auffällig, wenn wir ausgerechnet eine Einladung zum königlichen Hofball ausschlagen würden. Wie unser Bruder ganz richtig bemerkte, müssen wir ja nicht lange bleiben, wenn es allzu langweilig ist. - Wann, sagtest du, findet dieser Ball statt, Aro?"
"Ein rauschendes Fest zum Jahresende", antwortete der Angesprochene. "Und man trug mir kürzlich zu, dass einige Debütantinnen dazu eingeladen worden sind."
"Junge Mädchen, auch das noch", stöhnte Caius genervt. "Alberne Gänse, die ständig kichern."
"Sie sind doch nicht alle so", meinte Aro gut gelaunt. "Außerdem solltest du es ihnen gönnen, wenigstens in ihrer Jugend ausgelassen und fröhlich zu sein. Den meisten dieser Mädchen wird das Lachen spätestens dann vergehen, wenn sie an sehr viel ältere Männer verheiratet werden."
Caius starrte den schwarzhaarigen Vampir an, dann glitt ein gemeines Lächeln über seine hübschen Züge und er erwiderte: "In diesem Fall wäre es doch besser, wir lassen es gar nicht erst dazu kommen."
"Musst du ständig ans Essen denken?", stöhnte Aro und wirkte jetzt seinerseits genervt.
"Da man sich mit albernen, jungen Mädchen kaum vernünftig unterhalten kann, bleibt mir nicht viel anderes übrig", höhnte Caius und wandte seinen Blick wieder den rotglühenden Flammen zu. "Am liebsten würde ich allerdings nach Volterra zurückfahren und dort auf die Jagd nach dem dreckigen Hundesohn von Inquisitor gehen, der gerade einige unserer Beutetiere als Hexen denunziert und hinrichten lässt. Was für eine Verschwendung!"
"Mit diesen Pfaffen sollten wir uns nicht anlegen!", rief ihn Marcus streng zur Ordnung. "Wenn einer verschwindet, schickt der Vatikan gleich zwei neue dieser Sorte. Nein, nein, wir sollten Felix und Dimitri vertrauen, die ihn auf andere Weise aus dem Verkehr ziehen werden. Wie sie das tun, ist ihre Entscheidung. Wird Zeit, dass der Nachwuchs mal zeigt, wie hinterlistig er sein kann. Nach 50 Jahren bei uns können wir das ruhig von ihnen erwarten."
"Oh, ich bin überzeugt, dass es funktioniert. Die beiden Jungs wirken auf mich sehr vielversprechend", meinte Aro zuversichtlich. "Wenn sie diese Bewährungsprobe bestehen, winkt ihnen ein höherer Rang als sie ihn nun innehaben."
"Dieses Herumsitzen und Abwarten macht mich ganz krank!", schimpfte Caius.
"Komm, Bruder, beruhige dich", sprach Aro jetzt beschwichtigend auf seinen blonden Freund ein. "Heute gegen Mitternacht machen wir beide einen kleinen Ausflug zum Hafen. Es haben wieder einige Schiffe angelegt und wir dürfen uns sicherlich auf den einen oder anderen Matrosen freuen, der betrunken aus einer Spelunke in die nächstbeste dunkle, menschenleere Gasse wankt. Das wird deine Laune bestimmt wieder heben."
"Einverstanden!", sagte der jüngere Vampir und grinste ein wenig.
"Und für dich...", richtete Aro das Wort nun an Francois, der immer noch wartend an der gleichen Stelle stand wie zuvor, "... für dich wird es selbstverständlich auch einen Leckerbissen geben. Du darfst uns heute Nacht begleiten."
"Danke, Meister", antwortete der Diener und verneigte sich. Als Aro ihm mit einer Geste seiner Hand zu verstehen gab, sich zu entfernen, gehorchte Francois. Marcus blickte ihm nach und schaute dann Aro an: "Wie lange sollen wir den eigentlich noch ertragen, Bruder? Er ist ein wenig schwerfällig im Denken, findest du nicht?"
"Was solls?", tat der schwarzhaarige Vampir diesen Einwand ab. "Wir brauchen Personal und Francois ist wenigstens loyal und zuverlässig."
"Aber er taugt nicht dazu, diskrete Erkundigungen für uns einzuziehen", seufzte Marcus.
"Dafür haben wir andere Leute", erwiderte Aro. "Darf ich erfahren, über wen speziell du diskrete Erkundigungen einzuholen beabsichtigst?"
"Das prachtvolle Haus uns gegenüber gehört einer angesehenen, älteren Dame und ich möchte mehr über sie erfahren. Womöglich wünsche ich, ihre Bekanntschaft zu machen", erklärte Marcus und ließ seine braunen Augen sehnsuchtsvoll zu einem der Fenster wandern, die in Richtung Straße gingen.
"Bruder, ich hatte ja keine Ahnung, dass du ernsthaft an Frauenbekanntschaften interessiert bist", meinte Aro und wirkte überrascht. Marcus lächelte milde und sagte: "Nun ja, wenn wir schon einmal in der Stadt der Liebe sind, sollten wir die Chancen wahrnehmen, die sich uns vielleicht bieten, nicht wahr?"
Aro lächelte breit und nickte, während Caius' Miene sich noch mehr verfinsterte. Er fühlte sich nicht wohl in dieser Stadt, sondern gefangen und unterdrückt, doch seine beiden Freunde hatten ihn quasi dazu gezwungen, sich zusammenzunehmen und den beiden unerfahrenen Jüngelchen Felix und Dimitri die Aufgabe übertragen, den von Rom geschickten Inquisitor auszuschalten. Voller Zorn erinnerte er sich daran, dass Aro und Marcus die jungen Vampire dazu anhielten, listig vorzugehen, damit die Pfaffen vom Vatikan keine Veranlassung dazu sahen, weitere Hexenjäger nach Volterra zu schicken. Nein, der Papst und sein Hofstaat sollten davon überzeugt werden, dass es in ihrer Heimatstadt weder Hexen noch Zauberer gab. Diese Umstände waren seiner Meinung nach vollkommen unnötig. Was hinderte den mächtigen Volturi-Clan eigentlich daran, erst den Hexenjäger zu erledigen und dann die gesamte Priesterschaft im Vatikan-Palast? Diese Geheimhaltung über die Existenz von Vampiren war einfach lächerlich!
***
Nach dem Gottesdienst ergriff Marguerite die Gelegenheit, zuerst mit dem Pfarrer über seine Predigt zu sprechen und danach draußen mit einigen ihrer Bekannten aus der Gemeinde zu plaudern. Auch erkundigte sie sich bei den Bauern und Pächtern, ob alles in Ordnung sei und ermunterte sie darin, sich bei etwaigen Problemen an den Rochefort'schen Verwalter zu wenden.
Adrienne beobachtete ihre Nichte missmutig, hielt sich aber zurück, da sie wusste, dass es sich für eine Adlige und zumal der Erbin eines großen Besitzes gehörte, sich um ihre Untergebenen zu kümmern. Dagegen war nichts zu sagen und wenn Marguerite ihre eigene Tochter wäre, würde sie stolz auf sie sein. Aber leider war Roger, ihr Gemahl, aufgrund seiner Intrigen verarmt und sie selbst hatte durch eigene Dummheit ihre Stellung als Hofdame der Königin verloren. Warum nur ließ sie sich auch darauf ein, Ihre Majestät für Richelieu auszuspionieren? Wer hätte denn ahnen können, dass Königin Anna innerhalb ihres überaus intriganten Hofstaates tatsächlich ein paar ihr treu ergebene, loyale Hofdamen besaß, die ihr zutrugen, für wen Adrienne de Lebrunne heimlich arbeitete. Natürlich fiel sie daraufhin sofort in Ungnade und wurde aus dem Dienst entlassen. Und genau wegen dieser unglücklichen Umstände wollte die Baronesse sich nicht mehr bei Hofe blicken lassen. Wer wusste schon, was die Königin dann tat, um sich an ihr zu rächen? Doch hier in Rochefort war sie weitab von Paris und könnte ein unbeschwertes Leben mit Roger führen, von den Hofschranzen vergessen, wenn es da nicht Marguerite gäbe, die mit 21 Jahren ihr Erbe antreten sollte. Aber sie würde schon dafür sorgen, dass es nicht soweit kam.
"Baronesse de Lebrunne", wurde Adrienne plötzlich durch eine weibliche Stimme aus ihren dunklen Gedanken gerissen, und blickte erstaunt auf. Louise Lefevre kam in Begleitung einer elegant gekleideten, älteren Dame auf sie zu und neigte ein wenig das Haupt vor der Baronesse, ehe sie das Wort an sie richtete: "Darf ich Euch Madame de Colignon vorstellen? Sie wohnt im Herrenhaus, etwa drei Meilen südlich vom Rochefort'schen Anwesen entfernt, und war eine gute Freundin Eures Bruders."
Adrienne zwang sich zu einem Lächeln und nickte der älteren Dame zu.
"Sehr erfreut, Madame Colignon. Dies hier...", die Baronesse wies auf ihren Mann, der die Unbekannte interessiert musterte. "... ist mein Mann, Baron Roger de Lebrunne."
"Freut mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen, Baron und Baronesse de Lebrunne", erwiderte Madame de Colignon lächelnd und neigte ihrerseits nun auch ein wenig das Haupt. "Wie ich höre, seid Ihr erst kürzlich in Rochefort angekommen."
"Sehr richtig."
"Wie gefällt es Euch?"
"Nun, ich bin auf dem Landgut aufgewachsen und muss sagen, dass mein Bruder kaum etwas verändert hat. Allerdings musste ich einige Dienstboten entlassen, das war unumgänglich."
"Dafür hattet Ihr gewiss Eure Gründe, Baronesse."
"Erfreulich, dass es wenigstens eine vernünftige Person gibt, die mich versteht", meinte Adrienne und lächelte nun freundlich. "Sicherlich kennt Ihr meine Nichte, die Comtesse, nicht wahr?"
"Oh ja, von klein auf. Sie war der ganze Stolz Eures Bruders", bestätigte Madame de Colignon. "Habt Ihr selbst auch Kinder, Baronesse?"
"Leider ist uns dieses Glück versagt geblieben", antwortete Adrienne, wobei sie einen kurzen, vorwurfsvollen Blick auf ihren Mann warf. "Und wie steht es mit Euch, Madame de Colignon?"
"Mein Mann und mein Sohn sind in La Rochelle gefallen und ich vermisse sie jeden Tag schmerzlich,"
"Demnach seid Ihr also Witwe?"
"Ja, leider. Nachdem ich Mann und Sohn verloren habe, tröstete mich Euer Bruder so gut er es vermochte. Wenigstens sind die beiden für König und Vaterland gefallen und bekamen ein ehrenvolles Begräbnis", erzählte Madame de Colignon. "Dennoch versteht Ihr sicher, dass ihr Verlust eine große Lücke in meinem Leben hinterlassen hat. Aus diesem Grunde gab es eine Zeit, in der ich mich viel um Eure Nichte kümmerte. Sie war damals natürlich noch ein Kind, aber ohne die Fürsorge für Marguerite wäre mir das Leben unerträglich geworden. Mich um seine Tochter zu kümmern, während Euer Bruder damals für einen längeren Zeitraum dem Haus fernblieb, um seinen Dienst als Offizier in der Kardinalsgarde zu versehen, gab meinem Leben wieder einen Sinn. Der Comte de Rochefort verstand das und vertraute mir, er war ein so guter Mann."
"Ja, das war er wohl", meinte Adrienne. "Bedauerlicherweise versäumte man es, mich darüber zu informieren, als er starb, sonst wären mein Gemahl und ich selbstverständlich zu seiner Beerdigung gekommen."
"Eurer Bruder ist im Frieden mit sich und der Welt gestorben", sagte ihre Gesprächspartnerin. "Sein letzter Gedanke galt nur dem Wohlbefinden seiner Tochter. Für Comtesse Marguerite war es ein schwerer Verlust, was bei einem so jungen Mädchen nur allzu verständlich ist."
"Aus Eurer Erzählung schließe ich, dass Ihr das Vertrauen meiner Nichte genießt und sicherlich einen gewissen Einfluss auf sie habt, Madame. Dürfte ich Euch darum um einen Gefallen ersuchen?"
"Gern, wenn ich helfen kann."
"Bitte führt doch ein ernstes Gespräch unter vier Augen mit meiner Nichte und macht ihr dabei klar, dass ich bei allem, was ich tue, nur ihr Wohl im Auge habe. Momentan glaubt sie nämlich, dass meine notwendigen, strengen Maßnahmen ungerecht seien, und weigert sich partout anzuerkennen, dass dies nur zu ihrem besten geschieht."
"Natürlich kann ich zu einer ruhigen Stunde, die Ihr bestimmt, die Comtesse einmal zu mir nach Hause einladen und ein Gespräch mit ihr führen."
"Das würdet Ihr also wirklich für mich tun?"
"Aber ja, warum denn nicht? Ich hatte ohnehin vor, Eure Nichte demnächst einmal zu mir einzuladen, und ich würde mich freuen, wenn Euer Gemahl und Ihr die Comtesse begleitet."
Adrienne schenkte Madame de Colignon ein breites Lächeln und der Baron grinste ebenfalls, enthielt sich jedoch eines Kommentars.
"Da wäre dann noch eine Sache, Baronesse", ergriff die ältere Dame das Wort. "Wie ich hörte, habt Ihr Mademoiselle Lefevre aus ihrem Dienst als Gesellschafterin entlassen?"
Adriennes eben noch breites Lächeln schwand ein wenig und sie versteifte sich etwas, als sie zögerlich sagte: "Ja, das ist wahr. Meine Nichte bedarf keiner Gesellschafterin mehr, da ich mich um sie kümmere."
"Ausgezeichnet", gab Madame de Colignon zurück. "Dann habt Ihr gewiss nichts dagegen, wenn ich Mademoiselle Lefevre als meine Gesellschafterin einstelle?"
Ein Ausdruck der Erleichterung glitt der Baronesse über das ganze Gesicht und ihr Lächeln kehrte zurück, bevor sie antwortete: "Aber nein! Ich freue mich, dass Mademoiselle Lefevre so schnell eine neue Aufgabe gefunden hat. Wenn Ihr wünscht, wird mein Kutscher sie noch heute Nachmittag zu Euch bringen. Das wäre sicherlich im Interesse aller."
"Einverstanden, meine Liebe", sagte die ältere Dame und strahlte sie an, ehe sie sich an Louise wandte. "Dann erwarte ich Euch heute Nachmittag bei mir."
"Danke, Madame, ich werde da sein."
"Und nun entschuldigt mich bitte, Baronesse", fuhr Madame de Colignon in freundlichem Ton fort und schickte sich an zu gehen. "Wenn Ihr erlaubt, möchte ich noch ein paar Worte mit Eurer Nichte wechseln."
"Selbstverständlich! Marguerite wird sich gewiss freuen, eine so gute Nachricht zu hören."
Die ältere Dame nickte den de Lebrunnes zu und ging dann gemessenen Schritte auf die Comtesse zu, gefolgt von Louise. Als Marguerite ihre Nachbarin und Freundin des Vaters erblickte, streckte sie lächelnd die Hände nach ihr aus und umfasste diejenigen von Madame de Colignon, als diese sie ihr reichte.
"Es freut mich, Euch endlich einmal wiederzusehen", begrüßte das blonde Mädchen sie. "Wie ich hörte, wart Ihr lange krank und wolltet auch keinen Besuch empfangen. Geht es Euch ein wenig besser?"
"Ach, es sind nur die Zipperlein des Alters, deren Anblick ich niemandem zumuten möchte, liebes Kind. Macht Euch um mich nicht allzu viele Gedanken, es geht mir recht gut. Aber Ihr, meine Liebe, scheint betrübt zu sein und Mademoiselle Lefevre hat mir schon einiges über die Gründe dafür angedeutet."
"Ja, die Vormundschaft meiner Tante ist mir unerträglich, doch scheinbar kann ich nichts dagegen tun. Stellt Euch vor, sie hat sogar Louise entlassen, obwohl diese sich nichts zuschulden kommen ließ!"
"Ja, ja, ich weiß und ich bin hier, um Euch ein wenig zu beruhigen. Mademoiselle Lefevre wird ab heute ihren Dienst als neue Gesellschafterin bei mir antreten, damit Eure Tante sie nicht weiter demütigen kann. Außerdem brauche ich jemanden, der sich ein wenig um mich kümmert."
"Oh, ich bin so froh, dass Ihr Euch meiner Freundin annehmt, Madame de Colignon, auch wenn das bedeutet, dass ich dann allein mit meiner Tante und ihrem Mann bin. Hattet Ihr schon Gelegenheit, die beiden kennenzulernen?"
"Louise hat mich mit Ihnen bekannt gemacht und die Baronesse scheint so entzückt von mir zu sein, dass sie mich bat, mit Euch ein ernstes Gespräch unter vier Augen zu führen."
"Wie bitte?!", entfuhr es Marguerite ungläubig und sie starrte zuerst von Madame de Colignon zu ihrer Freundin und dann wieder zurück. "Wie habt Ihr denn das bewerkstelligt?"
"Oh, meine Erfahrungen als junge Hofdame bei der Königinmutter waren mir in meinem Leben immer recht nützlich gewesen", erklärte die ältere Dame mit schelmischem Lächeln. "Ohne Diplomatie hätte man unter der Regentschaft der damaligen Königin nicht lange bei Hofe überlebt."
"Alles, was ich über das Hofleben erfahre, weckt nicht gerade das Verlangen in mir, dort mein Debüt zu geben."
"Aber das müsst Ihr, Marguerite! Anders entkommt Ihr nicht der Unterdrückung durch Eure Tante. Doch darüber lasst uns ein anderes Mal sprechen, wenn wir unter uns sind. Erwartet also in den nächsten Tagen eine Einladung zu mir und nehmt sie an. Wundert Euch jedoch nicht darüber, dass diese Einladung auch Eure Verwandten mit einschließt, das gehört zur Diplomatie und verstärkt das Vertrauen, das Eure Tante in mich setzt. Und seid unbesorgt! So, wie ich die Baronesse und ihren Mann einschätze, legen sie keinen hohen Wert darauf, Euch zu mir zu begleiten. Eine alte Witwe ist nicht gerade die amüsanteste Gesellschaft, nicht wahr?"
"Nun, wir sollten zumindest meine Verwandten in diesem Glauben lassen", bestätigte Marguerite und grinste ein wenig, wobei ihr der Schalk aus den Augen schaute. "Wie sehr freue ich mich, dass Ihr wieder wohlauf seid und Euch meiner Freundin annehmt."
"Ich werde mich auch Eurer annehmen, liebes Kind. Seid versichert, dass Ihr nicht völlig allein steht, sondern in mir eine treue Freundin und Verbündete habt."
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[1] Man möge mir verzeihen, aber mit roten bzw. rötlichen Augen würden die Vampire innerhalb der menschlichen Gesellschaft zu sehr auffallen. Da diese übernatürlichen Wesen den Mythen nach über ungewöhnliche Kräfte verfügen, wäre doch denkbar, dass sie die Verfärbung ihrer Augen unter Kontrolle halten können. Für diese Selbstkontrolle allerdings sollten sie bei Kräften bleiben, weshalb sie sich regelmäßig ernähren müssen.
6. Kapitel
In einem Streit geht fast nie um den Gegenstand des Streites,
sondern darum, wer mehr Macht hat.
Nadine Pomes (*1977)
~~~~~
Adrienne de Lebrunne und ihr Mann saßen einige Tage danach am späten Vormittag im Esszimmer und frühstückten zusammen, als einer der Diener hereinkam und sie bat, ihm in das Arbeitszimmer des verstorbenen Comte de Rochefort zu folgen.
"Was soll das nun wieder?", fragte die Baronesse irritiert und blickte den Bediensteten auffordernd an.
"Die Comtesse erwartet Euch dort zu einem Gespräch unter vier Augen", richtete der Diener aus.
"Worum geht es?"
"Tut mir leid, Baronesse, das entzieht sich meiner Kenntnis."
Adrienne tauschte einen schnellen Blick mit ihrem Ehemann aus, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Dann richtete sie das Wort erneut an den Diener und sagte: "Schon gut, ich werde meine Nichte gleich aufsuchen."
"Sehr wohl, gnädige Frau, dann werde ich dies der Comtesse sofort melden."
Ärgerlich schaute die Baronesse dem Bediensteten hinterher, als er den Raum wieder verließ, bevor sie sich ihrem Gemahl zuwandte: "Eigentlich hatte ich angenommen, dass es mit der Aufsässigkeit der Kleinen ein Ende hat, sobald diese Lefevre aus dem Haus ist, aber offensichtlich habe ich mich geirrt. Neuerdings gefällt sich meine Nichte darin, kleinere Machtspielchen mit mir auszufechten. Bin mal gespannt, was sie sich heute wieder ausgedacht hat."
"Du hättest Mademoiselle Lefevre lieber hierbehalten sollen", gab der Baron zurück. "Ich bin überzeugt, dass die junge Dame einen beruhigenden Einfluss auf Marguerite hatte. Deine Strategie, die Kleine zu isolieren, scheint nicht aufzugehen, ma Cherie."
"Mit der Zeit wird sie schon zahm werden, Roger, wart's nur ab! Diesem Sturm im Wasserglas werde ich bald abgeholfen haben", erklärte Adrienne entschlossen und erhob sich, um den Raum zu verlassen und sich auf den Weg zum Arbeitszimmer neben der Bibliothek zu machen, in dem sie früher immer zu ihrem Vater zitiert worden war, wenn sie als kleines Mädchen etwas angestellt hatte. Damals konnte sie Papa leicht um den Finger wickeln und kam meist ohne Strafe davon, wenn sie ihn mit großen Hundeaugen und einem Schmollmund ansah. Doch diese Strategie würde bei ihrer eigenwilligen Nichte nichts nützen. Der kleine, zum legitimen Erben ernannte Bastard ihres Bruders ging ihr gehörig auf die Nerven! Was fiel diesem blonden Biest ein, sie wie eine Angestellte zu sich zu zitieren? Schließlich war immer noch sie Marguerites Vormund und damit das Oberhaupt im Herrenhaus!
Voller Wut drückte Adrienne die Klinke der Tür herunter und trat mit festem Schritt in das Arbeitszimmer ein, den Blick zornerfüllt auf die schlanke Gestalt in dem hellblauen Samtkleid gerichtet, welche hinter dem mächtigen Schreibtisch aus schwerem Nussbaumholz saß und sie mit eindringlichem Blick ansah.
"Schön, dass du so rasch Zeit für ein Gespräch mit mir gefunden hast, Tante", sagte Marguerite in ernstem Ton und deutete auf mehrere Stühle vor dem Schreibtisch. "Bitte, setz dich doch, ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen."
"Erstens steht es dir nicht zu, mich durch einen Diener hierher zu nötigen, und zweitens hast du hinter dem Schreibtisch überhaupt nichts zu suchen!", fuhr Adrienne das Mädchen an.
"Das sehe ich völlig anders", gab die junge Adlige in leicht hochmütigem Ton zurück und reckte ihr Kinn in die Höhe, wobei sie ihrer Tante einen kühlen Blick zuwarf. "Als zukünftige Herrin Rocheforts wird das eines Tages mein Platz sein, also setz dich bitte!"
Die selbstverständliche Ruhe, mit der Marguerite dies vorbrachte, verblüffte die Baronesse dermaßen, dass sie sich endlich niederließ, ihrer Nichte dabei aber giftige Blicke zuwarf. Das Mädchen beachtete dies nicht und fuhr sachlich fort: "Das Weihnachtsfest steht in wenigen Wochen vor der Tür und es ist seit Jahren Tradition bei uns, am Heiligen Abend in der Empfangshalle alle, die im Gut wohnen und arbeiten, zu einem ausgiebigen Mahl einzuladen. Wir müssen uns nur noch auf Vorspeise, Hauptspeise und Dessert einigen, damit das Personal in der Küche alle Vorbereitungen für das Festessen treffen kann. Darüber hinaus wird jeder unserer Pächter eine kleine Zuwendung erhalten. Du musst dich dabei um nichts kümmern, da wir dies seit Jahren so handhaben, dass sich der Verwalter um diese Angelegenheit kümmert."
"So, so? Es wird also seit Jahren so gehandhabt?", fragte Adrienne in lauerndem Ton.
"Ja, es ist Tradition, seit ich denken kann", erklärte Marguerite.
"Dann wird es Zeit, mit dieser Tradition zu brechen", entgegnete ihre Tante mit harter Stimme und erhob sich wieder vom Stuhl, wobei sie ihren Blick unheilverkündend auf dem jungen Mädchen ruhen ließ. "Es kommt natürlich überhaupt nicht in Frage, dass wir ein Festessen an Heiligabend für das ganze Gesinde geben werden, und die Zuwendungen für unsere Pächter sind auch gestrichen!"
"Das ist doch wohl nicht dein Ernst, Tante!", fuhr die Comtesse heftig auf. "Es ist unsere Pflicht, für unsere Bediensteten zu sorgen!"
"Gut und schön, aber das bedeutet nicht, Geld zum Fenster rauszuwerfen!"
"Für das Fest und die Zuwendungen wird immer extra Geld vom Gewinn unserer erwirtschafteten Erträge, die das Gut abwirft, beiseite gelegt, so dass dies keine unnötige Ausgabe darstellt", erklärte Marguerite. "Außerdem hat Vater immer gewünscht, dass wir wenigstens einmal im Jahr unseren Bediensteten eine Anerkennung in Form eines Festessens zu Weihnachten zukommen lassen. Und unsere Pächter können eine kleine Zuwendung am Jahresende auch gut gebrauchen. Es spricht also nichts dagegen, diese Tradition im Sinne meines Vaters auf die übliche Weise fortzuführen."
"Dein Vater war schon immer viel zu sentimental mit dem Personal", höhnte Adrienne. "Vermutlich hängt das damit zusammen, dass er seit seiner Jugend einen starken Hang zu Mägden hatte."
"Ich glaube, Ihr verwechselt meinen Vater mit Eurem Gemahl, Tante", gab Marguerite in frechem Ton zurück und erntete daraufhin wieder einmal eine Ohrfeige. Ihre Wange lief rot an und sie legte eine Hand auf die schmerzende Stelle, doch sie hielt ihre Tränen zurück und starrte die Baroness voller Hass an.
"Niemand, aber auch NIEMAND spricht so über meinen Mann!", brüllte Adrienne los, wobei ihr Kopf feuerrot anlief. "Der Baron hat einen hervorragenden Leumund, den ich auch von dir nicht beschmutzen lassen werde! Wage es also nie wieder, in solcher Weise über meinen Mann zu sprechen!"
"Tut mir leid, Tante, aber es entspricht nun einmal der Wahrheit, dass Euer Gemahl dazu neigt, das weibliche Dienstpersonal zu belästigen und Eure Reaktion darauf die Entlassung dieser Mädchen ist."
Erneut holte die Baronesse aus, um ihre Nichte zu ohrfeigen. Doch diesmal duckte sich Marguerite rechtzeitig und die Hand ihrer Tante traf voller Wucht das schwere, große Tintenfass mit dem Erfolg, dass die schwarze Farbe herausspritzte und nicht nur den Schreibtisch beschmutzte, sondern auch den Teppich und vor allem das blassgelbe Taftkleid Adriennes.
Konsterniert starrte die Baronesse an sich herunter, sah ungläubig, wie ihr hübsches Gewand sich dunkel verfärbte, sandte danach ihrer Nichte einen zornigen Blick, drehte sich dann abrupt auf dem Absatz um und verließ lautstark das Zimmer. Marguerite hörte nur noch, wie sie draußen in ohrenbetäubender Weise nach dem Personal schrie und ihre Stimme allmählich verstummte, je weiter sie sich entfernte. Das Mädchen vermutete, dass Tante Adrienne sich in ihr Gemach zurückgezogen hatte, um die Kleider zu wechseln, was eine Weile dauern würde. Zeit genug, um von hier zu verschwinden!
Die Comtesse lief aus dem Arbeitszimmer, eilte in ihr eigenes Refugium, warf sich den schweren Winterumhang um, den Kopf in die dichte Kapuze gehüllt, wechselte rasch ihre bequemen Schuhe mit den Winterstiefeln, verließ dann wieder ihr Zimmer, raste die Treppe hinunter und aus dem Haus hinaus, direkt in den Stall.
"Sattelt meinen Schimmel!", befahl sie einem der Stallburschen, der sie bei ihrem Eintritt überrascht anstarrte. "Los! Wirds bald?!"
"Sehr wohl, Comtesse", gab der junge Mann zurück und tat, was sie von ihm verlangte. Danach stieg sie auf und stürmte auf ihrem Hengst in schnellem Galopp vom Gut...
***
In Paris war es immer noch frostig und schneite nach wie vor, während die drei Volturi-Brüder, die eigentlich nicht miteinander verwandt, sondern lediglich befreundet waren, auf den beiden Sofas am Kamin saßen. Aro widmete sich einigen Flugblättern, die er interessiert studierte, Caius hatte sich das >Malleus maleficarum< [1] besorgt und war darin vertieft, während Marcus mit undurchdringlicher Miene den Blick wie gebannt auf die Flammen im Kamin gerichtet hielt. Keiner der beiden anderen ahnte, wie sehr er sich danach sehnte, endlich jene Witwe kennenzulernen, die die Besitzerin des Hauses gegenüber war. Es handelte sich dabei um eine Amelie de Colignon, der man trotz ihres Alters noch eine gewisse Schönheit nachsagte. Man erwartete sie kurz nach Weihnachten in Paris, da sie ihr Personal in der Stadtwohnung davon in Kenntnis gesetzt hatte, am Hofball teilnehmen zu wollen. Vielleicht handelte es sich bei ihr um eine gebildete Dame, mit der er ins Gespräch kommen und so die ermüdende Gesellschaft eines Balls besser ertragen konnte. Er hoffte, dass Madame de Colignon keine Lust zum Tanz verspürte und einige Interessen mit ihm teilte, denn es fehlte ihm an Anregung. Die Gesellschaft seiner beiden Freunde, so sehr er sie auch schätzte, konnte nicht die Sehnsucht nach einer adäquaten Gefährtin in ihm ersetzen, welche ihm die Unsterblichkeit etwas angenehmer zu machen imstande sein würde. Jedenfalls hatte er die Hoffnung darauf, solch eine Partnerin zu finden, noch nicht aufgegeben, auch wenn er seit Jahrhunderten vergeblich Ausschau nach einer ihm verwandten, weiblichen Hälfte hielt.
Nachdenklich ließ er seinen Blick zu seinen beiden Freunden schweifen. Aro schien gut mit seinem Dasein zurechtzukommen, obwohl er wesentlich älter als er war, jedoch in jungen Jahren verwandelt wurde und immer noch das Antlitz eines Mannes von Mitte zwanzig besaß. Darüber hinaus war sein schwarzhaariger Freund von je her vielseitig interessiert und es amüsierte ihn teilweise sehr, sich unter Menschen aufzuhalten, sie zu beobachten und zu studieren. Außerdem fand er Gefallen an den sterblichen Frauen und Marcus zweifelte keinen Augenblick daran, dass Aro sich binden würde, wenn er eines Tages einer Frau begegnete, die ihn faszinierte und eine innige Verbundenheit mit ihm besaß.
Bei Caius allerdings verhielt es sich völlig anders. Seit Marcus den blonden Vampir kannte, war dessen Wesen stets schnell aufbrausend. Hinzu kam eine innerliche Unruhe und ein Zorn, dessen Ursache ihm schleierhaft war. Ja, manchmal kam es dem älteren Vampir so vor, als ob Caius selbst sich nicht im Klaren über die Ursache dieses inneren Zornes war, der ihn umtrieb. Der Jüngere handelte oft sehr impulsiv, ohne nachzudenken, so dass er manchmal gefährlich nahe an die Grenze kam, um ihr Geheimnis zu offenbaren. Sollte dies eines Tages tatsächlich geschehen, wären Aro und er leider gezwungen, ihren hitzköpfigen Weggefährten zu eliminieren. Ein Gedanke, der Marcus nicht sonderlich gefiel.
In diesem Moment blickte Aro von einem der Flugblätter auf, welches er soeben gelesen hatte, und sah Marcus direkt in die Augen. Das amüsierte Grinsen, das der Schwarzhaarige dabei im Gesicht trug, verlor sich jedoch sofort, als er die Miene seines Gegenübers bemerkte.
"Was ist mit dir, Bruder?", fragte er stirnrunzelnd. "Dich scheint etwas zu bedrücken."
"Nein, nein, es ist nichts", tat der älter aussehende Vampir es ab und zwang sich zu einem kleinen Lächeln. "Ich habe nur gerade ein wenig über das Dasein sinniert."
"Du solltest Philosoph werden und dicke Wälzer über deine tiefen Gedanken verfassen", bemerkte Caius ironisch, während er die Augen weiterhin auf das Buch in seinen Händen gerichtet hielt. "Es wäre bestimmt viel fundierter und klüger als das, was dieser schwachsinnige Idiot hier geschrieben hat. Er behauptet doch allen Ernstes, durch einen Stich in ein Muttermal eindeutig eine Hexe identifizieren zu können. Dabei ist doch egal, wohin man in einen Menschen sticht, er blutet immer. Und solch ein Unsinn wird als Beweis gewertet. Es ist nicht zu fassen!"
"Du weißt, dass Menschen nicht über so viel Wissen verfügen wie wir und dass gerade in den letzten Jahrhunderten viele wissenschaftliche Erkenntnisse, die man im Altertum längst gewonnen hatte, wieder vergessen oder vernichtet wurde, da man sie als heidnisch und damit als teuflisch abwertete", erklärte Aro geduldig. "Wenn sie die Wahl haben, ziehen Menschen oft die Dummheit und den Aberglauben wissenschaftlichen Fakten vor. Darüber sollte man sich weder wundern noch aufregen!"
"Es ist jedenfalls überaus freundlich von dir, mir mehr zuzutrauen als dem Verfasser jener Schrift, die du gerade liest, Caius", sagte Marcus lächelnd. "Dabei ist dieses Werk immer noch durch den Vatikan als Leitfaden zur Hexenjagd anerkannt und wer an der Richtigkeit der Aussagen von Institoris zweifelt, gerät rasch selbst in Verdacht, Hexerei oder Zauberei auszuüben. So schwachsinnig sind die Ausführungen des fanatischen Autors also nicht. Fast alles kann man als Zeichen für einen Pakt mit dem...", nun ließ der sonst stets gelassene Marcus ein leicht sarkastisches Lächeln erkennen und sprach das folgende Wort überaus langsam, deutlich und fast genießerisch aus: "... T e u f e l ...", wieder machte der melancholisch wirkende Vampir eine kleine Pause, bevor er seinen Satz vollendete: "...deuten. Ein normaler Sterblicher hat gegen die Inquisition nicht die geringste Chance."
"Welch eine Verschwendung!", schnaubte der blonde Vampir, der nun zu seinen Freunden aufsah und äußerst empört wirkte. "Warum unternehmen wir eigentlich nichts gegen diese verlogenen Pfaffen? Sind wir nicht mächtiger als sie?"
"Beruhige dich", mischte sich Aro nun erneut ein und machte eine beschwichtigende Geste in Richtung seines aufgebrachten Freundes. "Du weißt ganz genau, dass unsere Art, wenn man sie einmal erkannt hat, von den Menschen gejagt würde und gegen deren Übermacht kaum eine Chance hätte, auch wenn unsere Kräfte stärker sind als ihre. Die Menschheit im Allgemeinen mag zwar ignorant sein, aber es gibt unter ihnen Exemplare, die überaus erfindungsreich und listig sind, genauso wie einige von uns. Darum steht zu befürchten, dass - wenn sie sich gegen uns zusammentun - sie etwas finden werden, womit sie unsere Art endgültig vernichten. Darum ist es besser, sie im Glauben zu lassen, dass Vampire und andere übernatürliche Geschöpfe, von denen sie aus Erzählungen ihrer Ahnen wissen und es später schriftlich in Mythologien festgehalten haben, lediglich den Ängsten und Phantasien ihrer Vorfahren entsprungen sind. Die Aufklärung war das beste, was uns jemals passieren konnte. Du siehst ja, dass wir heutzutage unbehelligt mitten unter Menschen leben können und keiner vor uns Angst hat, obwohl..."
Aro hielt das Flugblatt hoch und flatterte damit ein wenig hin und her, ehe er fortfuhr: "...tja, obwohl sie inzwischen die Überbleibsel unserer letzten Nahrung gefunden haben."
"Wie denn das?!", entfuhr es Caius ungläubig und er starrte den Schwarzhaarigen irritiert an. "Wir haben ein Loch in das Eis geschlagen, ehe wir die drei Matrosen in die Seine versenkten und wenn mich nicht alles täuscht, sind die Temperaturen seitdem noch mehr gesunken. Mittlerweile vermeiden es die meisten Menschen, bei dieser Kälte überhaupt rauszugehen."
"Gelangweilte oder abenteuerlustige Adlige und junge Leute aller Gesellschaftsschichten lassen sich durch eisige Temperaturen keineswegs davon abhalten, ihr Vergnügen beim Eislaufen zu finden. Dabei überquerte ein Pärchen just in dem Moment die gefrorene Bahn, als eine der drei Leichen aufstieg und gegen die Eisdecke schlug, was die Frau sofort bemerkte und dies auch laut kundtat. Daraufhin wurden einige Soldaten der königlichen Garde gerufen, die das Eis aufschlugen und die drei Leichen bargen." [2]
"Warum müssen Weiber immer solch ein Gekreisch um alles machen?", knurrte Caius missmutig und zog seine Augenbrauen ärgerlich zusammen. "Was nun, Aro?"
"Nichts, mein Lieber, gar nichts", erklärte der Angesprochene und erneut stahl sich ein amüsiertes Grinsen auf sein Gesicht. "Man kam zu dem Schluss, dass die Seeleute im Alkoholrausch in die Seine gestürzt und ertrunken sein müssen. Das ist alles!"
Caius schüttelte nur den Kopf und murmelte: "Schwachsinnig, absolut schwachsinnig! Als wir uns an den drei Kerlen labten, war die Seine doch bereits durch eine dicke Eisschicht bedeckt. Sie können also gar nicht - selbst nicht in volltrunkenem Zustand - in die Seine gefallen sein."
"Die Menschlein haben keine andere Erklärung dafür und wir sollten uns darüber freuen", meinte Aro belustigt. "Welch ein Glück, gerade in einem so strengen Winter in einer Großstadt leben zu dürfen."
"In Volterra ist es mit Sicherheit inzwischen auch sehr kalt", gab Caius schlecht gelaunt zurück. "Lasst uns nach Hause zurückkehren und dafür sorgen, dass der Hexenjäger und seine Helfershelfer vermeintlich auch dem Winter zum Opfer fallen."
"Nein, lieber Bruder, diese Aufgabe haben wir unseren beiden jungen Adepten übertragen. Vielleicht haben sie ja ähnliche Ideen wie du sie anscheinend hegst, um die Störenfriede in unserer Heimat auszuschalten."
"Was, wenn die beiden Jungen scheitern?", fragte der blonde Vampir lauernd.
"Falls dieser äußerst unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, werden wir uns zu gegebener Zeit darum kümmern, doch nicht jetzt!", stellte Aro in strengem Ton klar und Marcus nickte bekräftigend zu diesen Worten. "Vergiss nicht, dass es in unserer Familie üblich ist, dem Nachwuchs unserer Leibgarde die Gelegenheit zu geben, sich an schwierigen Aufgaben zu bewähren. Dimitri und Felix sind ehrgeizig und brennen darauf, diese Herausforderung zu meistern, um uns ihre Kräfte und ihre Loyalität zu beweisen. Also hör endlich auf, an den beiden zu zweifeln, denn ich tue es nicht! Meinst du, ich habe die beiden ohne Grund ausgewählt, Teil unserer Familie zu werden?" [3]
"Nein, natürlich nicht!", räumte Caius ein und blickte zu Boden. Er kochte innerlich vor Zorn und glaube, es kaum noch ertragen zu können. Einen Moment lang hielt er inne, dann sprang er vom Sofa auf, sagte: "Entschuldigt mich!" und verließ das Zimmer.
Marcus und Aro blickten ihm nach.
"Sein unbeherrschtes Wesen könnte uns eines Tages noch einmal in große Schwierigkeiten bringen", meinte Marcus dann und sah mit einem leichten Ausdruck von Besorgnis in die dunklen Augen seines Freundes. Aro hingegen lächelte nur und erwiderte: "Spürst du denn gar nicht, was mit Caius los ist, lieber Bruder? Er ist auf die beiden Nachwuchs-Wächter eifersüchtig. All seine Worte und sein ganzes Gehabe verraten mir, dass er liebend gern selbst die Aufgabe übernehmen würde, die wir den Jungen übertragen haben."
"Aber die Angelegenheit ist zu delikat, um sie allein durch Gewalt zu lösen, so wie Caius es gerne zu tun pflegt."
"Alles, was unser kleiner Bruder braucht, ist eine Abwechslung. Für Frauen scheint er nicht viel übrig zu haben. Ich frage mich, ob wir es mal mit einem hübschen Jüngling versuchen sollten?"
Marcus lachte verhalten auf und schüttelte den Kopf.
"Ich fürchte, du machst dir in dieser Hinsicht etwas vor, Aro, weil du selbst gerne und oft flirtest und Freude an der Gesellschaft liebreizender, weiblicher Wesen hast. Aber Caius scheint sich weder für das eine noch für das andere Geschlecht zu interessieren, schließlich ist er oft genug überaus attraktiven Frauen und Männern begegnet, die ihn alle kalt ließen. Offensichtlich hegt er tief verborgene Rachegelüste und sehnt sich danach, diese auch auszuleben. Das Einzige, was ihn daran hindert, ein Blutbad unter Menschen anzurichten, ist der Respekt vor uns."
"Respekt? Du meinst wohl, er hat Angst."
"So könnte man es auch ausdrücken - vor allem hat er Angst vor dir, seinem Schöpfer und Lehrer!"
"Das will ich ihm auch geraten haben", brummelte der Schwarzhaarige ein wenig verärgert. "Bedauerlich, dass die Kinder nicht immer nach einem selbst geraten."
"Ja, das ist überaus bedauerlich", seufzte Marcus und richtete seinen Blick wieder auf das brennende Feuer im Kamin, das eine beruhigende Wirkung auf ihn ausübte. Er war froh, endlich mit Aro über seine Befürchtungen bezüglich Caius gesprochen zu haben und hoffte, dass der Ältere nun vermehrt auf diesen achten würde...
***
Nachdem sich Adrienne mit Hilfe einer Kammerzofe neu eingekleidet hatte, eilte sie zurück in das Esszimmer, wo sich ihr Gemahl immer noch aufhielt und sich gerade ein letztes Stück Kuchen in den Mund schob.
"Roger! Du musst auf der Stelle mitkommen und das kleine Biest festhalten, damit ich ihr eine Tracht Prügel verabreichen kann!", schrie Adrienne, wobei sich ihre Stimme beinahe vor Zorn überschlug.
Erstaunt blickte der Baron sie an und fragte: "Warum? Was hat das kleine Mädchen dir denn getan, dass du so mit ihr verfahren willst? Ist sie nicht etwas zu alt dafür, übers Knie gelegt zu werden?!"
"Das ist mir egal!", rief seine Frau empört aus und berichtete ihm danach von dem Gespräch im Arbeitszimmer des Hauses. Als sie damit zu Ende war, lachte er ein wenig und meinte dann in mildem Ton: "Komm, ma Cherie, reg dich ab! Das ist doch alles halb so schlimm! Ich verstehe wirklich nicht, was du dagegen hast, dass deine Nichte die Traditionen weiter pflegen will. Es ist allgemein üblich, am Weihnachtsabend für das Gesinde ein Festessen zu veranstalten, an dem auch die Herrschaften teilnehmen. Kein Grund, deshalb gleich die Fassung zu verlieren!"
"Du verstehst es einfach nicht, was?!", herrschte Adrienne ihn an. "Hier geht es um das Prinzip! Dem kleinen Bastard steht es nicht zu, sich hier als Hausherrin aufzuspielen und mir zu sagen, was ich zu tun habe. ICH bin ihr Vormund und sie muss sich MIR fügen!"
"Meiner Meinung nach übertreibst du es", gab ihr Mann ungeduldig zurück. "Wärst du von Anfang an ein bisschen netter zu der Kleinen gewesen, wäre sie jetzt fügsam und wir hätten keinerlei Probleme mit ihr. Beruhige dich und lass das Mädchen in Frieden. Im Grunde bist du eigentlich der Auslöser für all die Streitigkeiten im Hause!"
"Oh, sei du nur ja still!", entgegnete die Baronesse wütend. "Wer hat sich denn zu konspirativen Verschwörungen gegen König und Kardinal mit Herzog de Orleans getroffen? War ich das etwa?!"
Roger, der gerade seinen Mund geöffnet hatte, um seiner Frau Widerworte zu geben, verschluckte, was ihm auf der Zunge lag, und starrte sie wie ein getretener Hund an.
"Ja, da fehlen dir die Worte, nicht?", giftete seine Frau ihn an und ergriff dann eine Glocke, die auf dem Tisch lag, um zu läuten. Einen Moment später erschien ein Dienstmädchen im Flur und fragte: "Ja, was wünscht Ihr, Baronesse?"
"Ich will die Comtesse sprechen!", befahl Adrienne mit harter Stimme.
"Sehr wohl", gab die Bedienstete zurück und verschwand. Etwa zehn Minuten später trat sie wieder ins Zimmer und meldete: "Ich kann Comtesse de Rochefort nirgendwo finden."
"Sie war zuletzt im Arbeitszimmer ihres verstorbenen Vaters. Hast du dort nachgesehen?"
"Ja, gnädige Frau."
"Und in ihrem Gemach?"
"Da bin ich zuerst hingegangen, aber die Comtesse hielt sich dort nicht auf."
"Womöglich ist sie im großen Salon, wo das Cembalo steht, auf dem sie so gern stundenlang herumklimpert", meinte der Baron, aber das Dienstmädchen schüttelte bekümmert den Kopf.
"Nein, Monsieur, ich war überall, wo sich die Comtesse aufhalten könnte, aber sie scheint wie vom Erdboden verschluckt worden zu sein."
Der Baron schaute zu seiner Frau und meinte ärgerlich: "Dann ist sie bestimmt ausgeritten, um deinem... ähm...", er unterbrach sich und wandte sich der jungen Bediensteten zu. "Es ist gut, mein Kind, du kannst gehen."
Das Mädchen knickste und entfernte sich.
"Wenn sie tatsächlich ausgeritten sein sollte, ohne mich um Erlaubnis zu fragen...", zischte Adrienne leise, wobei sich ihre Wangen dunkelrot verfärbten. "Und der Stallmeister kann seine Sachen dann auch gleich packen und verschwinden! Ich habe ihn extra angewiesen, meine Nichte weder ausreiten noch ausfahren zu lassen, bevor er mich nicht um Erlaubnis gefragt hat."
"Man kann es deiner Nichte nicht einmal verdenken, dass sie vor dir Reißaus genommen hat", erwiderte ihr Mann süffisant. "In deinem Zornanfall verwandelst du dich tatsächlich in eine solche Furie, dass man es mit der Angst zu tun haben könnte. Und bevor du noch weitere Phantasien darüber spinnst, was du alles mit Marguerite anzustellen gedenkst, wenn du sie wieder in deine Finger bekommst, solltest du lieber überprüfen, ob die Kleine tatsächlich den Gutshof verlassen hat. Sollte das der Fall sein, musst du sofort eine Suchmannschaft zusammenstellen, um sie ausfindig zu machen. Hast du dir schon einmal überlegt, dass deiner Nichte bei diesem heftigen Schneetreiben etwas zustoßen könnte?"
Adrienne starrte ihren Mann an, der Mund stand ihr offen und einen kurzen Augenblick wirkte sie tatsächlich erschrocken. Doch dann schlossen sich ihre Lippen wieder und ein hämisches Lächeln glitt über ihre verhärmten Züge.
"Nein, mein lieber Roger, diese Möglichkeit ist mir noch nicht in den Sinn gekommen", schnurrte sie plötzlich sanft wie ein Kätzchen, das sich wohlfühlte. "In diesem Fall... sollten wir uns Zeit lassen nachzuprüfen, wohin meine Nichte... verschwunden... ist... Ja, du hast ganz recht, mon Cherie, dieses Schneetreiben ist wirklich schrecklich. Da jagt man doch keinen Hund vor die Tür..."
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[1] "Malleus maleficarum" (dt. "Der Hexenhammer") von Heinrich Kramer (lat. Henricus Institoris) war ein etwa 1486 in Speyer entstandenes Buch, das die Hexenverfolgung und damit die Inquisition legitimierte.
[2] Es gab zur damaligen Zeit noch keine Gendarmerie.
[3] Mit "Familie" meint Aro den weitgefassten Familienbegriff, wie er im antiken Rom galt: "Familia" beinhaltete alle, die in einem Haushalt zusammenlebten, ohne dass sie miteinander verwandt sein mussten. Der "Volturi-Clan" ist eine solche Gemeinschaft, deshalb gelten diejenigen, die durch einen der drei Ältesten verwandelt wurden bzw. alle, die sich entschließen, bei den Volturi zu bleiben und/oder ihnen zu dienen, als Familienmitglieder.
7. Kapitel
Fersengeld geben nützt nicht, wenn einem die Strafe bereits auf dem Fuße folgt.
Peter E. Schumacher (1941-2013)
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Nach der Zurechtweisung seines Freundes und Meisters Aro hielt es Caius nicht mehr im Hôtel aus. Geschützt in seinem langen, wärmenden Umhang aus dickem, schwarzen Samt, das Gesicht unter der Kapuze verborgen, verließ er das Gebäude in der Absicht, Paris für eine Weile den Rücken zu kehren und in den Wäldern Frankreichs auf die Jagd zu gehen. Dabei war es ihm gleich, ob seine Beute ein Mensch oder ein wildes Tier war. Eine innere Wut zerriss ihn fast und er musste sie dringend ausleben, um das Inkognito seiner Art zu schützen. Dafür würden Aro und Marcus sicherlich Verständnis haben, denn es lag keineswegs in seiner Absicht, ihre Autorität in Frage zu stellen oder sie in Gefahr zu bringen, nur weil er die Selbstkontrolle über seine grausame Seite zu verlieren drohte. Er benötigte unbedingt Bewegung, um seinen inneren Zorn abzureagieren.
Solange er sich noch innerhalb der Stadt befand, versuchte er, eine normale, menschliche Gangart beizubehalten und brauchte deshalb fast zwei Stunden, bis er eines der Stadttore erreichte und Paris verließ. Zwar glotzten die Torwächter Caius bestürzt an, als er mit einem stummen Kopfnicken an ihnen vorüberschritt, aber es interessierte den Vampir nicht weiter. Sobald er sicher war, aus ihrem Blickfeld entschwunden zu sein und keiner weiteren Menschenseele mehr zu begegnen, begann er, mit rasender Geschwindigkeit über die weiße, weite Landschaft zu preschen. Die wirbelnden Schneeflocken peitschten ihm dabei ins Gesicht, was ihm jedoch keinerlei Schmerz bereitete. Ganz im Gegenteil empfand er eine fast wahnsinnige Freude dabei, fühlte er sich doch frei. Endlich war er raus aus diesem Pariser Mietshaus, das ihm wie ein Gefängnis vorgekommen war. Natürlich musste er spätestens vor Beginn dieses königlichen Silvesterballs wieder dorthin zurückkehren, seine beiden Freunde erwarteten dies, aber das war noch eine Weile hin. Zeit genug, um sich in der Wildnis Frankreichs auszutoben. Danach würde es ihm wieder besser gehen und er würde sich in Gegenwart der Sterblichen zusammennehmen können, was ihn angesichts des verlockenden Blutes, das durch ihre Adern pulsierte, durchaus Anstrengung kostete. Doch darüber machte er sich jetzt keine Gedanken. Bisher hatte er es geschafft, seine Tarnung und Selbstbeherrschung aufrechtzuerhalten.
Ohne irgendeinen konkreten Plan sprintete Caius einfach immer weiter und spürte nach einem sicherlich für Menschen sehr langen Dauerlauf, bei dem er mehrere Meilen zurückgelegt haben mochte, dass sein innerer Zorn fast verraucht und er wieder in der Lage war, vernünftig zu denken. Als er einen dichten, großen Wald erblickte, rannte er dort hinein und ließ sich auf einem umgefallenen, dicken Stamm nieder. Dabei sog er genießerisch das Odeur des ihn umgebenden nassen Holzes der verschiedenen Baumarten ein, welches sich mit dem Geruch von frischgefallenem Schnee vermischte. In diesem Moment fühlte sich der blonde Vampir einfach nur frei und glücklich und hätte sicherlich eine Weile dort verharrt, wenn ihm nicht ein leichter, feiner Duft aus einem Gemisch von Rosen, Flieder und Veilchen in die Nase gestiegen wäre, der immer intensiver wurde. Caius konnte es kaum glauben, aber das deutete darauf hin, dass in dieser einsamen Gegend und bei solch heftigem Schneetreiben tatsächlich noch ein Mensch unterwegs war, der sich verirrt haben musste.
Rasch erhob sich der blonde Vampir und suchte im Schatten einer dicht zusammenstehenden Baumgruppe Schutz, wobei er auszumachen versuchte, aus welcher Richtung sich das sterbliche Wesen näherte. Ein leiser Durst begann in ihm zu brennen und er wartete gespannt auf die unverhoffte Mahlzeit, die er alsbald zu genießen trachtete. Und dann sah er sie... oder vielmehr eine schlanke, in einen ebenso dicken Samtmantel mit Kapuze gehüllte Gestalt wie er es war, nur dass es sich bei der auf einem weißen Pferd daherkommenden Person um ein weibliches Wesen handelte...
Caius freute sich über seine bevorstehende Mahlzeit, die nicht mehr weit von ihm entfernt war, beobachtete aufgeregt, wie ihr Pferd plötzlich stehenblieb und sie begann, mit sanften, leisen Worten auf das Tier einzureden. Ein Umstand, der den drängenden Durst des blonden Vampirs schlagartig vertrieb und einer inneren Ruhe Platz machte, ohne dass in ihm wieder jene Zornes- und Rachegefühle hochstiegen, die sein Inneres so oft quälten. In seiner Brust breitete sich ein seltsam warmes Empfinden aus, das er als äußerst wohltuend wahrnahm und es auf jene angenehm melodiöse Stimme der unbekannten Reiterin zurückführte, die sehr jung klang. Caius fragte sich gerade, wie wohl das Antlitz aussehen mochte, das zu einer solch lieblichen Stimme gehörte, als sich ihm plötzlich ein weiterer Geruch von kaltem Schweiß und Alkohol aufdrängte, der ihm gar nicht behagte. Irritiert wandte er sich in die Richtung, aus der dieser Gestank kam, und sah einen in abgewetzten Kleidern gehüllten, vor Dreck starrenden Mann, welcher ihn seinerseits noch nicht bemerkt hatte. Und dieser Kerl zog jetzt eine Pistole aus seinem Gürtel, ehe er aus dem Wald trat...
*
Seit Marguerite das Rochefort'sche Landgut in rasendem Tempo verlassen und ihren Hengst in Richtung des Landhauses von Madame de Colignon gelenkt hatte, kam es dem jungen Mädchen so vor, als ob der Wind, der das seit Tagen unaufhörliche Schneetreiben begleitete, noch stärker geworden war. Die Flocken peitschten ihr während ihres schnellen Ritts schmerzhaft ins Gesicht, aber Marguerite war fest entschlossen, ihr Vaterhaus nicht mehr zu betreten, so lange ihre grässliche Tante sich dort aufhielt und sich als Herrin des Guts aufspielte. Die Comtesse beabsichtigte, Madame de Colignon zu bitten, sie eine Zeitlang bei sich aufzunehmen, hoffte inständig, dass ihre mütterliche Freundin dazu ja sagte und ihr außerdem dabei half, einen Brief an Monsieur Cayot zu übermitteln, in dem sie dem Anwalt den Auftrag erteilte, Baronesse Adrienne de Lebrunne die Vormundschaft über sie zu entziehen. Gehörte es sich denn für einen Vormund, zumal aus der eigenen Blutsverwandtschaft, sein Mündel zu quälen, zu demütigen und zu schlagen? Wenn sie das gegen ihre Tante vorbringen würde, müsste man dem doch Gehör schenken und sofort Abhilfe schaffen!
Plötzlich blieb der Schimmel stehen und wollte partout nicht weitergehen. Marguerite beugte sich ein wenig zu ihm hinunter und flüsterte: "Was ist mit dir, mein guter Blanchett? Bist du erschöpft?"
Ein leichtes Schnauben des Pferdes antwortete ihr. Sie tätschelte dem Hengst liebevoll den Hals und murmelte bittend: "Komm, noch ein kleines Stück, dann sind wir an unserem Ziel. Bitte, du darfst auch ruhig im Trab gehen, mein treuer Freund. Denk doch nur an den warmen Stall, der dich erwartet."
Aber Blanchett schien keine Lust mehr zu haben weiterzugehen. Ein Umstand, der Marguerite verwunderte, war ihr Pferd doch sonst ein gehorsames Tier.
"Was hast du denn nur?", fragte sie leise und tätschelte den Schimmel erneut sanft.
Plötzlich wieherte der Hengst ängstlich und machte Anstalten, sich umzudrehen, aber Marguerite hielt die Zügel fest und sprach beruhigend auf das Tier ein: "Ho - ho, Blanchett, alles ist gut. Komm, du warst mit mir doch schon oft bei Madame Colignon. In ihrem Stall kannst du dich ausruhen und bekommst auch etwas zu fressen. Bitte, beruhige dich."
Der Schimmel hielt tatsächlich inne, blickte jedoch immer noch nervös auf den Weg vor sich. Und dann erschien der Grund, weshalb ihr Pferd nicht weitergehen mochte. Ein mit einem schäbigen Umhang bekleideter Mann trat aus dem Wald hervor, stellte sich ihr in den Weg und hielt ihr eine Pistole entgegen.
"Heute muss mein Glückstag sein", sagte der Wegelagerer amüsiert und musterte ohne jegliches Schamgefühl die Gestalt der jungen Reiterin von oben bis unten. "Nun, gnädiges Fräulein, Ihr habt Euch ganz bestimmt bei diesem Sauwetter verirrt, nicht wahr?"
"Nein, keineswegs!", entgegnete Marguerite mit fester Stimme, obwohl der Anblick des Räubers sie im ersten Moment erschreckt hatte. Doch sie fing sich gleich wieder, fest entschlossen, sich von dem Kerl vor ihr nicht einschüchtern zu lassen. Langsam zog sie ihre Gerte aus der dafür vorgesehen Vorrichtung des Damensattels, ohne den Mann vor sich aus den Augen zu lassen.
Ihr solltet bei diesem Wetter besser auch machen, dass ihr ein Dach über den Kopf bekommt!", riet sie dem noch immer mit einer Pistole, die er auf sie gerichtet hielt, bewaffneten Mann.
"Ganz recht, kleines Fräulein, deshalb steigt jetzt bitte ab und übergebt mir die Zügel Eures Gauls", forderte der Wegelagerer sie mit einem schmierigen Lächeln auf. "Danach werden wir zu meinem Quartier im Wald gehen, wo Ihr Euch zuerst Eures Schmucks entledigt und ich mich dann mit Euch zu vergnügen gedenke. Hätte niemals im Leben zu hoffen gewagt, vor Weihnachten noch so ein hübsches Geschenk zu bekommen."
"Das schlagt Euch gefälligst aus dem Kopf!", entgegnete Marguerite in hochmütigem Ton. "Und nun geht mir aus dem Weg oder ich bin gezwungen, Euch weh zu tun!"
Der Räuber lachte laut auf und fragte dann höhnisch: "Ihr wollt mir weh tun, kleines Fräulein? Womit denn?"
"Wollt Ihr mir nun aus dem Weg gehen oder nicht?!", fragte sie lauernd, während ihre Finger die Gerte noch fester umklammerten.
"Ganz bestimmt nicht, dafür musste ich schon zu lange auf ein Weib verzichten", erklärte ihr Gegenüber und begann, sich ihr zu nähern, wobei er immer noch die Pistole auf sie richtete. Als er seine Hand langsam ausstreckte, um sie am Arm zu fassen und vom Sattel herunterzuziehen, schlug sie ihm mit der Gerte plötzlich hart ins Gesicht und trieb ihr Pferd durch ein lautes Schnalzen mit der Zunge an, endlich loszurennen, während der Wegelagerer das Gleichgewicht verlor und auf dem Boden landete. Blanchett, der ohnehin die ganze Zeit nervös gewesen war, wieherte jetzt laut auf und lief dann in schnellem Galopp davon. Verdattert starrte der Räuber dem Pferd mitsamt seiner Reiterin nach, setzte sich halb auf und rieb sich vorsichtig über die Wange.
"Verdammtes Weibsstück", murmelte er und betrachtete sich die Hand, mit der er eben über die schmerzende Stelle gestrichen hatte. Als er Blut sah, stieß er einen lauten Fluch aus. Danach schaute er nochmals in die Richtung, in die das Mädchen verschwunden war. "Na warte, kleines Biest, ich finde dich schon und dann wirst du für diese Schmach bezahlen."
Er traf Anstalten, sich zu erheben, als er plötzlich zwei schwarze, hohe Schaftstiefel vor sich erblickte.
"Wer, zum Teufel...?", fragte er, wurde jedoch von einer süßlich klingenden, leicht höhnischen Stimme unterbrochen: "Der Teufel hat heut keine Zeit für dich. Dafür bin ich jetzt da!"
Erschrocken blickte der Räuber auf und sah in das Gesicht eines jungen, gut aussehenden Mannes, der ihn böse anlächelte. Ahnungsvoll schluckte der Mann etwas, dann fragte er kleinlaut: "Monsieur... wie kommt Ihr hierher?"
"Wie bitte?!"
"Ich... ich meine... ich habe Euch gar nicht bemerkt."
"Nein, ganz gewiss nicht, du Lump, denn sonst hättest du es nie gewagt, dich der jungen Dame, die eben hier entlangritt, in den Weg zu stellen, sie mit diesem lächerlichen Blecheisen zu bedrohen und sie mit deinem unsittlichen Ansinnen zu beleidigen!"
"Aber... aber, Monsieur, das war doch alles gar nicht ernst gemeint...", stotterte der Räuber und ließ seinen Blick verstohlen auf die Pistole fallen, die immer noch im Schnee lag. Caius bemerkte dies, schritt auf die Waffe zu und stieß sie mit dem Fuß weit weg. Dann wandte er sich wieder dem Mensch zu, der ihn ängstlich beäugte.
"Ich habe jedes Wort gehört, das du zu der jungen Dame sprachst, Lumpenkerl!", fuhr Caius ihn ärgerlich an. "Natürlich muss dir klar sein, dass ein solch ehrloses Verhalten, wie du es gerade an den Tag gelegt hast, bestraft wird!"
"Es tut mir wirklich leid, gnädiger Herr, aber... aber ich ahnte ja nicht, dass die junge Dame unter Eurem Schutz steht."
"Was spielt das für eine Rolle? Du hast kein Recht jemanden zu bedrohen, der hier des Weges kommt, Kerl!"
"Sehr wohl, gnädiger Herr... Ihr habt vollkommen recht... ich... ich habe... verstanden! Ich werd's nie wieder tun! Nie wieder, Herr, darauf gebe ich Euch mein Wort!"
"Nicht nötig!", erklärte der blonde Vampir höhnisch und schenkte dem Mann erneut ein fieses Lächeln. "Denn ich werde dafür sorgen, dass du es nie wieder tust! Ich bin der Vollstrecker deiner Strafe..."
***
Marguerite war erleichtert, als sie vor sich das Herrenhaus von Madame de Colignon erblickte, und redete wieder sanft auf ihr Pferd ein.
"Schau mal, Blanchett, nur noch ein kurzes Stück und wir haben unser Ziel erreicht."
Der Hengst schien sie zu verstehen und trabte nun völlig ruhig auf das Haus von Madame de Colignon zu. Vor der Tür hielt die Comtesse an, stieg vom Pferd und pochte heftig daran. Einen Augenblick später wurde ihr geöffnet und ein Bediensteter sah sie erstaunt an.
"Comtesse de Rochefort, Ihr hier?", fragte er verdutzt.
"Ja, und ich bin heilfroh, unbeschadet angekommen zu sein", erwiderte das Mädchen. "Bitte, ich muss Madame dringend sprechen. Würdet Ihr mich bitte bei Ihr melden?"
"Natürlich, aber tretet doch erst einmal ein, Comtesse."
"Danke, Ihr seid sehr freundlich. Jemand müsste auch noch um mein Pferd versorgen, es ist ein wenig erschöpft."
"Ich kümmere mich sofort darum", versprach der Diener und rief dann laut: "Charles! Es gibt etwas für dich zu tun!"
Etwa zwei Minuten später erschien ein kräftiger Mann von gedrungener Statur, der seiner Kleidung nach einer der Stallburschen sein musste.
"Versorg doch bitte das Pferd von Comtesse de Rochefort", sagte der Diener, der Marguerite empfangen hatte. "Es muss völlig durchfroren sein."
"Natürlich, ich werde mich gleich um Ihren Schimmel kümmern und dafür sorgen, dass er abgerieben wird, eine warme Decke und etwas Heu bekommt", versicherte der mutmaßliche Stallbursche und eilte sofort aus der Tür zu Blanchett, auf den er beruhigend einsprach, ihn dann an den Zügeln ergriff und mit sich führte.
Währenddessen hatte der andere Bedienstete die Tür wieder geschlossen und wandte sich freundlich an Marguerite: "Bitte, folgt mir, Comtesse. Madame erklärte mir kürzlich, wie sehr sie sich über einen Besuch von Euch freuen würde."
Das Mädchen war über diese Worte sehr erleichtert und ihre Zuversicht, die nach dem Zwischenfall mit dem unverschämten Wegelagerer ein wenig geschwunden war, kehrte zurück. Sie ging hinter dem Diener her, der sie in den großen Salon des Hauses führte. Hier saßen Madame de Colignon und Louise auf einem Sofa beisammen und tranken Tee.
"Madame, Comtesse de Rochefort bittet, von Euch empfangen zu werden", meldete der Diener und die Herrin des Hauses schaute überrascht auf. Als gleich darauf Marguerite den Raum betrat, erhoben sich sowohl sie als auch Louise.
"Du lieber Himmel, Kind, seid Ihr etwa bei diesem Schneesturm unterwegs gewesen?", erkundigte sie sich besorgt und kam auf das blonde Mädchen zu. Marguerite nickte, worauf Madame de Colignon sofort anordnete: "Noch ein Teegedeck bitte und dann weise Albertine an, ein heißes Bad für die Comtesse einzulassen."
"Sehr wohl, Madame."
"Meine Güte, Ihr müsst völlig durchgefroren sein, Marguerite. Setzt Euch erst mal!", forderte die ältere Dame sie auf, bevor sie sich an Louise wandte: "Seid so gut und nehmt der Comtesse den schweren Umhang ab!"
Die Gesellschafterin beeilte sich den Auftrag auszuführen. Danach brachte sie das Kleidungsstück hinaus, während die Herrin des Hauses ihren Gast zum Sofa geleitete, wo sich beide niederließen. Kurz darauf wurde das Teegedeck gebracht und Louise erschien auch wieder, wobei sie sich gleich daran machte, ihrer Freundin heißen Tee einzugießen. Dankbar nahm Marguerite die Tasse, führte sie zum Munde und nahm vorsichtig einige Schlucke des aromatischen Getränks zu sich.
"So, mein Kind, und nun erzählt mal, warum Ihr bei einem solchen Unwetter ausgeritten seid", bat Madame de Colignon. "Kein Wunder, dass Ihr Euch dabei verirrt habt. Zum Glück kennt Euer Pferd den Weg zu meinem Haus, so dass nichts Schlimmeres passiert ist."
"Ich habe mich keinesfalls verirrt, sondern wollte zu Euch", gestand Marguerite und setzte die Tasse wieder auf dem Tisch ab. "Bitte, Madame, ich möchte Euch ersuchen, mich für eine Zeitlang bei Euch im Haus aufzunehmen. Denn es ist mir unmöglich, nach Hause zurückzukehren."
"Aber, aber, was ist denn nur vorgefallen?", erkundigte sich Madame de Colignon beunruhigt.
Daraufhin erzählte ihr Marguerite von dem Gespräch mit ihrer Tante und deren Weigerung, die weihnachtlichen Traditionen fortzuführen, obwohl das in gut situierten Adelskreisen Gang und Gäbe war. Sie verhehlte auch nicht, dass die Tante ihren Vater beleidigt und sie dann geohrfeigt hatte, nur weil sie sie auf das unsittliche Verhalten des Barons hinwies.
"Dabei entspricht dieser Vorwurf der Wahrheit!", erklärte die Comtesse. "Sein unmögliches Benehmen wurde mir bereits mehrfach von verschiedenen Seiten heimlich zugetragen. Aber meine Tante tut so, als ob nichts wäre. Stattdessen beleidigt sie meinen Vater, obwohl Papa sich in dieser Hinsicht wirklich nie etwas zuschulden kommen ließ!"
"Natürlich ist es nicht recht von Eurer Tante, einem Toten etwas Schlechtes nachzusagen", bestätigte Madame de Colignon den letzteren Einwand Marguerites. "Und ich verstehe durchaus, dass Ihr es nicht einfach hinnehmen wollte, grundlos von ihr gezüchtigt zu werden. Darüber muss ich mit der Baronesse wirklich einmal ein ernstes Wort sprechen. Allerdings war es sehr leichtsinnig von Euch, ohne nachzudenken einfach das Haus zu verlassen und Euch allein zu Pferd auf den Weg hierher zu machen. Gerade bei diesem Wetter könnte sich Lumpenpack in den Wäldern herumtreiben, die in Höhlen Schutz vor dem Winter finden. Meine Güte, wenn ich daran denke, was alles hätte passieren können. Mein liebes Kind, ich bin so froh, dass Ihr wohlbehalten bei mir angekommen seid."
Marguerite war ein wenig blass geworden, als ihre mütterliche Freundin von den Halunken sprach. Sie war sich selbst darüber im Klaren, welch großes Glück sie gehabt hatte, dass der Wegelagerer, der sie mit seiner Pistole bedrohte, nicht damit rechnete, von ihr einen Streich mit der Gerte zu bekommen. Nur durch diesen Überraschungsmoment war es ihr gelungen, dem Dreckskerl zu entfliehen. Aber es war sicher besser, niemandem davon zu erzählen, um ihre Gastgeberin und Louise nicht noch zusätzlich zu beunruhigen. Es war wohltuend, endlich wieder mit Menschen zusammen zu sein, denen etwas an ihr lag.
"Bitte, Ihr schickt mich doch nicht etwa zu meiner Tante zurück?", erkundigte sich die Comtesse besorgt und sah Madame de Colignon mit einem flehenden Ausdruck in den Augen an.
"Nein, vorerst wohl nicht, da ich davon ausgehe, dass dieser Schneesturm noch einige Tage lang wüten wird", versicherte ihr ihre Gastgeberin und lächelte nun etwas. "Dennoch bin ich gezwungen, Eurer Tante eine schriftliche Nachricht über Euren Verbleib und Euer Wohlergehen zu senden, sobald es einem meiner Dienstboten möglich ist, unbeschadet zu Eurem Anwesen zu gelangen."
"Muss das unbedingt sein?", fragte Marguerite, die davon alles andere als begeistert war.
"Ja, die Baronesse hat immer noch die Vormundschaft über Euch und muss davon in Kenntnis gesetzt werden, wo Ihr Euch aufhaltet und wie es Euch geht", erklärte Madame de Colignon geduldig und tätschelte nun beruhigend eine Hand ihres ehemaligen Schützlings. "Aber sie hat sicher nichts dagegen, wenn Ihr ein paar Tage unter meiner Obhut verbringt."
"Das hoffe ich!"
"Sie wird Ihr Einverständnis dazu geben, liebes Kind, denn immerhin ist es mir gelungen, das Vertrauen Eurer Tante zu gewinnen. So lange sie glaubt, dass ich auf ihrer Seite bin, kann ich Euch helfen."
"Dann gibt es da noch einen Gefallen, um den ich Euch bitten müsste."
"Darüber können wir morgen sprechen, Marguerite. Himmel, Eure Hand ist ja eiskalt! Ihr müsst dringend ein Bad nehmen und begebt Euch danach sofort ins Bett. Es fehlte noch, dass Ihr Euch eine Erkältung einfangt!"
"Danke, Madame, ich bin so froh über Euren Beistand."
"Louise, bitte kümmert Euch um die Comtesse und sorgt dafür, dass sie nach dem Bad eine warme Mahlzeit und noch eine Kanne heißen Tee erhält."
"Sehr wohl, Madame."
Marguerite trank den Rest des Tee's aus, erhob sich dann und folgte ihrer Freundin, die sie in eines der Gästezimmer führte. Dort half sie ihr aus ihren Kleidern und Unterröcken und begleitete sie in das durch eine Seitentür mit dem Raum verbundene Bad, in dem bereits dampfendes Wasser in einen großen Holzbottich gefüllt worden war...
*
Nachdem Caius sich an dem Wegelagerer gesättigt und seinen Mund von den Blutspuren mit Schnee gereinigt hatte, nahm er wieder Witterung nach dem lieblichen Parfüm des jungen Mädchens auf, welches sich selbst durch ihre mutige Abwehr des sie bedrohenden Halunken gerettet hatte. Caius fand es höchst beeindruckend, wie selbstsicher und stolz sie diesem Haderlumpen Widerpart geboten hatte. Und mit welcher Kraft sie die schlanke Gerte über das Gesicht des Mannes gestrichen hatte, der nun tot im Schnee lag und bald davon bedeckt sein würde.
Caius warf noch einmal einen verächtlichen Blick auf sein letztes Opfer, bevor er dem Parfüm folgte, das ihn unwiderstehlich anzog. Er sehnte sich danach, die schöne Stimme noch einmal zu hören, die ihm zum ersten Mal nach langer Zeit einen inneren Frieden geschenkt hatte, und er war nun sehr froh darüber, das junge Mädchen verschont zu haben. Solch eine Sterbliche war viel zu schade, um lediglich den Durst eines hungrigen Vampirs zu stillen.
Bald hatte Caius die schlanke Gestalt auf dem weißen Hengst wieder im Blick, darauf achtend, nicht von ihr bemerkt zu werden. Er wollte auf jeden Fall sichergehen, dass sie wohlbehalten dort ankam, wohin sie anscheinend unterwegs war. Als dann endlich ein großes Herrenhaus auftauchte und die Kleine, deren Antlitz er immer noch nicht kannte, erneut mit ihrer lieblichen Stimme zu ihrem Pferd sprach, spürte Caius wieder die wohltuende Wärme in seiner Brust. Er schloss die Augen und genoss es, hörte dabei, wie das Mädchen weiterritt, an die Tür pochte und mit dem Titel "Comtess de Rochefort" angesprochen wurde. Aha, er hatte offensichtlich tatsächlich einem adligen Fräulein dabei geholfen, einen Widersacher loszuwerden, ohne dass sie etwas davon ahnte. Schade, dass er das junge Mädchen nicht persönlich kennenlernen würde, da sie hier auf dem Lande lebte und nicht in Paris.
"Die Glückliche", dachte er, froh darüber, dass sie nun in Sicherheit zu Hause war. "Sie muss wenigstens nicht auf diesen eintönigen Silvesterball und sich den schwachsinnigen Austausch von Höflichkeiten antun oder falsche Komplimente anhören. Wenn sie allerdings dabei wäre, würde ich mich freuen. So selbstsicher, mutig und stolz; und sie ließ sich nicht von überflüssigen Gewissenbissen davon abhalten, dem räuberischen Sittenstrolch einen wohlverdienten, tiefen Streich mit der Gerte über seine freche Visage zu ziehen, sobald er es wagte, seine Hand nach ihr auszustrecken. Gut gemacht, kleines Fräulein, bravo! Und wenn ich daran denke, wie lieblich ihre Stimme klingt, muss sie zudem auch noch ziemlich hübsch sein..."
Caius beschloss, dass es besser wäre, sich aus der Nähe des Herrenhauses und des Mädchens zu entfernen, das er gerne kennengelernt hätte. Aber da er niemanden verwandeln durfte, hatte es keinen Sinn, sich näher auf sie einzulassen. Wenigstens verdankte er ihrem Ausflug im Schneesturm ein aufregendes Erlebnis und eine gute Mahlzeit...
8. Kapitel
Gegen Schufte muss man mit List agieren, sonst ist man perdu.
Heinrich Heine (1797 - 1856)
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Bereits am nächsten Tag, nachdem der Schneesturm nachgelassen hatte und man es wagen konnte, einen Boten zu Pferd loszuschicken, erhielt Adrienne de Lebrunne, die sich zusammen mit ihrem Mann und einigen ihrer Bediensteten gerade im großen Salon aufhielt und darüber sprach, wie man die Suche nach ihrer Nichte am besten organisierte, die Nachricht von Madame de Colignon, dass Marguerite gestern bei ihr angekommen sei und man sich keine Sorgen machen müsse. Etwas, wodurch sich erneut Zornesfalten auf der Stirn der Baronesse abzeichneten. Mit leicht verärgerter Stimme wandte sie sich an die Bediensteten und erklärte: "Die Besprechung hier hat sich erübrigt. Soeben wurde mir mitgeteilt, dass die Comtesse wohlauf und eine Suche nach ihr nicht mehr nötig ist. Ich danke euch. Ihr dürft jetzt gehen."
Auf den Gesichtern des Personals konnte man deutlich die Erleichterung über diese Nachricht ablesen, was Adrienne und ihrem Mann nicht entging. Als das Ehepaar dann unter sich war, meinte die Baronesse an ihn gewandt: "Das kleine Biest hat es doch tatsächlich bis zum Haus von Madame de Colignon geschafft. Leider hat sie sich dabei eine Erkältung zugezogen, so dass mich unsere Nachbarin darum bittet, den kleinen Bastard einige Tage in ihrer Obhut zu belassen."
"Dieses Mädchen muss einen wirklich guten Schutzengel haben", erwiderte Roger und zuckte die Achseln. "Eigentlich ist das doch eine gute Nachricht, auch für dich. Stell dir vor, wenn deiner Nichte etwas passiert wäre, würde das Personal hier sicherlich bald in Umlauf bringen, dass du es gestern verabsäumtest, sofort Suchmannschaften zusammenzustellen, um Marguerite aufzuspüren. Meinst du, dass hätte unserem Ruf gut getan?"
"Gestern", ergriff seine Gattin sofort in heftigem Ton das Wort und blitzte ihn aus zornigen Augen an, "...gestern herrschte nach dem Verschwinden des kleinen Bastards meines Bruders ein so arger Schneesturm, dass es Wahnsinn gewesen wäre, Leute auf die Suche nach ihr auszuschicken. Jeder hätte das gut nachvollziehen können. Und ich bezweifle, dass ein anderer unserer Nachbarn seine Dienstboten der Gefahr ausgesetzt hätte, sich während eines solch heftigen Unwetters hinauszubegeben. Sie wären nicht weit gekommen und die Chance, ein junges Mädchen zu Pferd mit einem schwer einzuholenden Vorsprung bei einem solchen Schneetreiben zu finden, wäre äußerst gering gewesen. Niemand hätte mir einen Vorwurf daraus gemacht."
"Jedenfalls besitzt du ein überaus großes Talent dafür, dich gewandt aus allem herauszureden, ma Cherie", stellte der Baron mit leichtem Spott in der Stimme fest. "Schade, dass du nicht als Mann geboren wurdest. Aus dir wäre bestimmt ein guter Rechtsanwalt geworden."
"Immer noch besser als ein durch eigene Intrigen all seines Vermögens verlustig gegangener Adliger, der es nur der Fürsprache seiner Gattin verdankt, dass sein Kopf noch auf dem Hals sitzt!", gab Adrienne giftig zurück. "Anstatt mich hier zu maßregeln, solltest du mich lieber darin unterstützen, mir das Vermögen meiner Familie zurückzuholen."
"Unmöglich, fürchte ich", meinte Roger bedauernd und schüttelte den Kopf. "Deine Nichte wurde durch den König als legitimes Kind deines Bruders anerkannt, der ihr all sein Hab und Gut vermachte. Finde dich damit ab, dass Marguerite dich eines Tages aus dem Haus jagen könnte, es sei denn, du überwindest endlich deinen Stolz, bittest sie für dein bisheriges Verhalten um Verzeihung und versöhnst dich mit ihr. Das, liebste Göttergattin, ist der einzige Weg, damit deine Nichte uns auch nach ihrer Heirat oder Volljährigkeit weiterhin hier wohnen lässt."
"Du irrst dich!", widersprach die Baronesse. "Wenn sie durch irgendeinen Unfall oder durch eigenen Leichtsinn umkommt, dann bin ich laut Erbfolgevertrag als Nächste an der Reihe."
"Welcher Erbfolgevertrag? Dein eigener Vater zahlte dir bei unserer Eheschließung den Anteil deines Erbes aus. Erinnerst du dich, dass du damals eine schriftliche Vereinbarung darüber unterschriebst, teuerste Gemahlin? Eine Abschrift davon besitzen wir und die andere befindet sich gewiss bei diesem Cayot, dem Anwalt deines verstorbenen Bruders."
"Na und?! Wenn die einzige Erbin meines Bruders nicht mehr ist, steht mir als zuletzt übrig gebliebene Verwandte und geborene Rochefort das Vermögen meiner Familie zu."
Ihr Mann warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, dann nickte er langsam.
"Ich verstehe...", sagte er dann gedehnt in leisem Ton. "Dann willst du also an deinem Plan festhalten, dafür zu sorgen, dass Marguerite das 21. Lebensjahr nicht erreicht?"
"Etwas, das sich bestimmt bewerkstelligen lässt, ohne dass jemand Verdacht schöpft", murmelte seine Frau und lächelte nun böse. "Außerdem scheint es mir erspart zu bleiben, in dieser Hinsicht nachhelfen zu müssen. Du siehst ja, wie leichtsinnig das Mädchen ist. Kaum aus dem Haus, liegt sie schon mit einer Erkältung bei unserer Nachbarin. Eine, wie ich finde, höchst hoffnungsvolle Entwicklung der Dinge."
"Dann hast du also vor, der Bitte deiner Nachbarin nachzugeben und deine Nichte bei ihr zu lassen?", erkundigte sich Roger interessiert.
"Vorerst ja, damit ich mich nicht um sie kümmern muss. Vielleicht bekommt sie ja noch hohes Fieber und wenn sie das nicht überlebt, kann mir wenigstens keiner nachsagen, dass es an meiner mangelnden Krankenpflege lag."
"Marguerite könnte sich auch wieder erholen", gab der Baron zu bedenken. "Ihrer Mutter war seinerzeit nur schwer beizukommen und wenn sie nach ihr schlägt, wird sich die Kleine gewiss rasch von ihrer Erkrankung erholen."
"Wir wissen nicht, ob Mylady tatsächlich ihre Mutter war", erwiderte Adrienne ärgerlich. "Mein Bruder war kein Weiberverächter und hatte mehr als eine Affäre. Ihre Mutter könnte wer weiß wer sein."
"Unsinn, Adrienne, er hätte sicherlich niemals das Kind einer Frau als seines legitimieren lassen, wenn sie nicht zumindest aus niedrigem Adel stammen würde."
"Wie dem auch sei - momentan sieht es nicht so aus, als wäre das kleine Biest so zäh wie Mylady. Wollen wir also hoffen, dass das Schicksal es gut mit uns meint und dafür sorgt, dass das Rochefort'sche Vermögen auch weiterhin im Besitz einer echten Rochefort bleibt."
***
Marguerite erfreute sich indessen bester Gesundheit und stand nach einer Nacht erholsamen Schlafs erst am späten Vormittag auf. Neugierig warf sie einen Blick zum Fenster und war erfreut zu sehen, dass es nicht mehr schneite. Sie erhob sich aus dem Bett und lief barfuß dorthin, um sich zu vergewissern, ob ein Bote in der Lage sein könnte, einen Brief zu übermitteln. Die Landschaft rings um das Haus von Madame de Colignon war von einer blendend weißen Pracht überzogen, die durch trübes Sonnenlicht erhellt wurde und den Nebel vertrieben zu haben schien, der fast jeden Morgen seit dem Ausbruch des Winters bis zur Mittagsstunde zu sehen war.
Marguerite kehrte zum Bett zurück, setzte sich auf dessen Rand und zog an einer Kordel, die daneben hing, um ein Dienstmädchen herbeizurufen, welches ihr beim Ankleiden half. Danach erledigte sie ihre Morgentoilette im Bad, wobei ihr wieder einfiel, dass Madame de Colignon ihre Tante über ihren Aufenthalt informieren wollte, sobald das Wetter dies erlaubte. Das war der einzige Wermutstropfen ihres Aufenthaltes. Doch bis ihre Tante möglicherweise ihre Rückkehr nach Hause fordern würde, der sie sich so lange wie möglich widersetzen wollte, hatte sie genügend Zeit, um einen Brief an Monsieur Cayot zu schreiben.
Wenig später erschien ein Dienstmädchen im Gästezimmer, in dem sich Marguerite aufhielt, und fragte, was sie wünschte.
"Ich möchte mich ankleiden", erklärte die Comtesse.
"Natürlich helfe ich Euch gern dabei, aber Eure Kleidung wurde gestern auf Wunsch von Madame zum Reinigen abgeholt. Sie war ein wenig verschmutzt und nass und es dauert gewiss noch etwas, bis Ihr sie wieder anziehen könnt."
"Ja, das sehe ich ein. Nun, dann besorg mir doch bitte einen Morgenmantel. Schließlich kann ich nicht im Nachthemd durch das Haus gehen."
"Gut, Comtesse, ich werde sehen, was ich tun kann", versprach das Dienstmädchen und entfernte sich wieder. Marguerite war zuversichtlich, dass sie bald mit einem der seidigen Morgenröcke von Madame de Colignon wiederkehren würde, die beinahe wie ein echtes Kleid aussahen. Bis dahin blieb genügend Zeit, um mit dem Brief an den Anwalt beginnen.
Auf dem kleinen Sekretär in einer Ecke sah Marguerite Tintenfass und Feder und vermutete, dass sich in einer der Schubladen auch Papier und Siegelwachs befanden. Rasch setzte sie sich dorthin und schaute nach. Ihre Erwartung wurde nicht enttäuscht und sie zog vorsichtig einen Bogen heraus, legte ihn sorgfältig auf die Schreibunterlage, tunkte dann die Feder in das Tintenfass und fing zu schreiben an. Als sie den Brief bis zur Hälfte fertig hatte, klopfte es an die Tür. Marguerite wandte sich um und rief laut: "Herein!"
Louise erschien mit einigen Kleidungsstücken über einem Arm und lächelte sie an.
"Guten Morgen, Comtesse, ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Nachtruhe und es geht Euch wieder besser?"
"Ja, danke sehr. Ich habe lange nicht mehr so gut geschlafen. Und wie geht es dir, liebe Freundin? Fühlst du dich bei Madame de Colignon wohl?"
"Oh ja, Madame ist eine überaus liebenswerte Dame und behandelt mich sehr gut."
"Das freut mich für dich."
"Aber um Euch machen wir uns große Sorgen", meinte Louise. "Dass Ihr Hals über Kopf aufbracht, nur um Eurer Tante zu entfliehen, war sehr gefährlich."
"Das stimmt, aber es ist ja nichts passiert", tat Marguerite es ab und blickte einen kurzen Moment zu Boden, ehe sie sich wieder ihrer Freundin zuwandte. "Doch durch meinen Bericht gestern Abend können Madame und du gewiss nachvollziehen, wie unerträglich mir mein eigenes Heim geworden ist. Noch nie zuvor hat es jemand gewagt, mich zu ohrfeigen, aber meiner Tante scheint dies ganz leicht von der Hand zu gehen. Soll ich etwa warten, bis sie mich eines Tages totschlägt?"
"Dazu wird sie so schnell keine Gelegenheit bekommen. Madame de Colignon hat Ihr nämlich bereits geschrieben und mitgeteilt, dass Ihr erkältet seid und eine Weile hierbleiben müsst."
"Gesegnet sei Madame de Colignon!", entfuhr es Marguerite und sie fühlte, wie ihr eine Last von den Schultern fiel. "Wie ich sehe, hast du eine Lösung für mein Kleiderproblem gefunden?"
"Na ja, da Eure Kleidungsstücke noch trocknen müssen, wollte ich Euch einige von meinen Sachen anbieten. Sie sind zwar nicht so elegant wie Eure, aber frisch gereinigt."
"Das ist völlig in Ordnung, Louise, ich danke dir. Wärst du wohl so nett, mir beim Ankleiden zu helfen?"
"Selbstverständlich, Comtesse. Danach wünscht Madame de Colignon, Euch zu sprechen, denn sie möchte Euch einen Vorschlag unterbreiten."
"Ich höre mir gern alles an, was sie mir zu sagen hat."
***
Nachdem er Caius gestern im ganzen Haus nicht aufgefunden hatte und sein Freund bis jetzt immer noch nicht zurückgekehrt war, ahnte Aro, dass jener sich einige Tage lang außerhalb von Paris herumtreiben würde. Es war wie immer, wenn der innere Zorn seinen jüngeren Bruder übermannte und er seine Selbstkontrolle zu verlieren drohte. Der schwarzhaarige Vampir fand das ganz in Ordnung, diente es doch dem Schutz der Geheimhaltung ihrer Existenz und bedeutete, dass Caius sich vor Beginn des königlichen Hofballs wieder einfinden würde, um gemeinsam mit Marcus und ihm daran teilzunehmen. Aro hing seine ganze Zuversicht an diese Vorstellung, um der anderen Befürchtung, die er leise hegte, keine Nahrung zu geben. Aufgrund der Eifersucht auf Felix und Dimitri, die Caius gestern nur schwer verbergen konnte, bestand nämlich auch die Möglichkeit, dass sein jüngerer Bruder sich auf den Weg nach Volterra gemacht hatte, um die Aufgabe der beiden Nachwuchs-Wachen einfach an sich zu reißen. Und das war das Letzte, was Aro wollte. Damit wäre der Ärger nämlich vorprogrammiert, weil Caius in seinem Hass auf alles, was ihn irgendwie an Priester erinnerte oder gar mit ihnen zu tun hatte, keine Vorsicht walten lassen und somit erst recht die Aufmerksamkeit der römischen Inquisitionsbehörde auf sich ziehen würde. Damit wäre ihnen der Weg in ihre Heimat für mindestens zwei Generationen versperrt, damit die Menschen und auch die Katholische Kirche sich beruhigten und schließlich feststellen könnten, dass Volterra eine langweilige Stadt ohne irgendwelche übernatürlichen Wesen oder Menschen, die Magie praktizierten, war.
Porca miseria! [1] Hoffentlich drehte Caius jetzt nicht wirklich durch!
Aber halt! Was tauchte da plötzlich für ein Bild in seinem Kopf auf? Schnee, ein Sturm... ah, das musste eine telepathische Botschaft von Caius sein, damit er sich keine unnötigen Sorgen machte. [2] Offensichtlich war es seinem Freund gelungen, sich wieder zusammenzureißen. Doch was war das für eine seltsame Erinnerung? Ein Parfüm, eine liebliche Stimme... und da... es wurde ein Name genannt: Comtesse... Comtesse de... oh, es war zu undeutlich. Warum tauchten diese Sinneseindrücke jetzt so deutlich auf? Hatte Caius etwa eine Begegnung gehabt? Ja, natürlich, das musste es sein! Offensichtlich war ihm unterwegs eine Sterbliche begegnet, an der er seinen Durst stillen konnte. Warum sonst verschwendete sein jüngerer Bruder einen Gedanken an diese Comtesse, wo ihn die "Weiber", wie er unlängst selbst erklärte, ziemlich auf die Nerven fielen?
Nun ja, immerhin schien Caius vorsichtig gewesen und keine Aufmerksamkeit erregt zu haben und das war die Hauptsache. Sollte er sich ruhig noch ein paar Tage lang im Freien, fernab von menschlichen Ansiedlungen, austoben und auf die Jagd gehen. Dann wäre er bei seiner Rückkehr wenigstens gesättigt und in der Lage, mit unbewegter Miene und starker Selbstbeherrschung die Gesellschaft vieler Menschen, die er nicht antasten durfte, zu ertragen...
***
Madame de Colignon erwartete Marguerite im kleinen Salon, wo auf einem Tisch bereits ein Frühstücksgedeck für das junge Mädchen stand.
"Guten Morgen, mein Kind", begrüßte die ältere Dame ihren Gast.
"Guten Morgen, Madame", erwiderte die Comtesse und strahlte sie dankbar an.
"Bitte, setzt Euch und greift tüchtig zu! Ihr müsst nach Eurem abenteuerlichen Ritt durch den Schneesturm doch ziemlich hungrig sein."
Marguerite ließ sich das nicht zweimal sagen, setzte sich und schenkte sich aus einer Kanne heiße Schokolade in die Tasse.
"Ach, Madame, Ihr verwöhnt mich", bemerkte sie und sah wieder zu ihrer mütterlichen Freundin auf. "Ihr habt nicht vergessen, wie gern ich dies trinke."
"Es ist bei vielen Damen sehr beliebt, mein Kind", erklärte Madame de Colignon mit verständnisvollem Lächeln. "Eurer Tante habe ich bereits mitgeteilt, dass sie sich keine Sorgen um Euch zu machen braucht und dass es angebracht ist, wenn Ihr einige Tage hier verweilt."
"Louise erzählte mir bereits davon", gab Marguerite zu. "Hat meine Tante auf Euren Brief schon geantwortet?"
"Nein, bisher noch nicht. Aber ich gehe davon aus, dass sie mit meinem Vorschlag einverstanden ist."
"Dürfte ich mir nach dem Frühstück auch noch einen Boten von Eurem Dienstpersonal ausleihen?"
"Wohin wollt Ihr ihn denn schicken?"
"Nach Paris zu Monsieur Cayot, dem Anwalt meines Vaters."
"Wenn es unbedingt nötig ist, habe ich nichts dagegen."
"Danke, es ist ein sehr wichtiger Brief", sagte Marguerite. "Sobald ich mit dem Frühstück fertig bin, werde ich gleich wieder in mein Zimmer eilen, um ihn zu Ende zu schreiben. Wer weiß, wie lange das Wetter so ruhig bleibt?"
"Ich verstehe, mein Kind. Doch bevor Ihr irgendwelche übereilten Schritte macht, möchte ich Euch einen Vorschlag unterbreiten."
"Gern, ich höre."
"Gleich nach Weihnachten werde ich zusammen mit Louise nach Paris in mein Stadthaus fahren, da ich eine Einladung des Hofes zum Silvesterball erhielt. Hättet Ihr nicht Lust mitzukommen?"
Marguerite, die gerade ein Stück ihres Brötchen abgebissen hatte, verschluckte sich beinahe, als sie das hörte, und musste husten. Schnell nahm sie einen Schluck Schokolade zu sich und schlug sich leicht gegen die Brust, bis der Hustenanfall vorbei war.
"Oh je, offensichtlich habt Ihr Euch doch etwas verkühlt", meinte die Herrin des Hauses besorgt.
"Nein, nein, Madame, das ist es nicht", versicherte ihr Marguerite, die nun wieder zu sprechen in der Lage war. "Ich habe mich nur gerade verschluckt, weiter nichts."
Madame de Colignon wirkte wieder beruhigt und fragte: "Nun, was haltet Ihr von meinem Vorschlag?"
"Wirklich überaus großzügig von Euch. Aber verhält es sich eigentlich nicht so, dass man persönlich eine Einladung vom Hof bekommen muss, damit man an diesem Ball teilnehmen darf?"
"Nun, diese Einladung wird ganz gewiss in wenigen Tagen bei Euch zu Hause eintreffen", antwortete Madame de Colignon und lächelte verschmitzt. "Ich habe eine meiner Nichten, die in den Diensten der Königin steht, darum gebeten, Euch eine Einladung zum Silvesterball am königlichen Hof zu schicken. Viele Herrschaften des Hochadels werden dort erscheinen, nahezu perfekt für eine Debütantin. Es wäre mir ein Vergnügen, Euch höchstpersönlich bei Hofe einzuführen."
"In diesem Fall nehme ich Euren Vorschlag mit Freuden an."
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[1] Porca miseria = ital. "Verdammt"
[2] Da die drei Volturi-Ältesten schon seit mehreren Jahrhunderten über ihren Clan und Volterra herrschen, scheint es mir beinahe normal, dass sie auch telepathisch miteinander kommunizieren können, wenn sie es wollen.
9. Kapitel
Der Unterschied zwischen Enttäuschung und Überraschung ist der,
ob man im Vorfeld eine Erwartung hat oder nicht.
Tomasz Ogorek (*1976)
~~~~~
Mehrere Tage vergingen, an denen man außer der Nachricht der Baronesse de Lebrunne, die ihr Einverständnis zu einem Aufenthalt Marguerites bis zu ihrer Genesung bei Madame de Colignon gegeben hatte, nichts weiter hörte.
In dieser Zeit ließen es sich die junge Comtesse, deren Freundin und die Herrin des Hauses gut gehen. Sie musizierten, lasen, diskutierten über ihre Lektüre und die jungen Damen bekamen von Madame de Colignon viele gute Ratschläge, wie man sich bei Hofe am besten zu verhalten hatte. Außerdem übten Marguerite und Louise im großen Salon einige Tänze, um darin sicherer zu werden, denn Madame hatte beschlossen, ihre neue Gesellschafterin ebenfalls als Begleitung zum Ball mitzunehmen, auch wenn sie das Mädchen natürlich nicht offiziell dort einführen konnte. Aber niemand hätte etwas dagegen, eine weitere Tanzpartnerin zu diesem Fest am Jahresende dabei zu haben.
"Oh, ich bin ganz aufgeregt", verriet Louise. "Eigentlich habe ich ein bisschen Angst, da ich nicht von Adel bin und eigentlich nichts auf dem Silvesterball zu suchen habe."
"Das ist doch Unsinn!", meinte Marguerite aufmunternd. "In der Einladung an Madame stand ausdrücklich, dass sie und ihre Begleitung herzlich willkommen sind. Keiner verlangte, dass die Begleitung unbedingt von Adel sein muss."
Leider ging auch diese unbeschwerte Zeit vorbei und wenige Tage vor Weihnachten sprachen der Baron und die Baronesse de Lebrunne bei Madame de Colignon vor, um nach Marguerite zu sehen und sie wieder nach Hause mitzunehmen. Die ältere Dame empfing das Ehepaar freundlich, ließ ihnen Tee und Gebäck servieren und dann sprachen sie zunächst über die Neuigkeiten in der Gemeinde, ehe sie zu Marguerite kamen. Adrienne beklagte ihre Probleme mit ihr, hörte sich die diesbezüglichen Ratschläge der Hausherrin an und war schließlich bereit, sich mit ihrer Nichte auszusprechen. Daraufhin schickte Madame de Colignon nach dem Mädchen, das in wenigen Minuten im kleinen Salon erschien, innerlich auf einen erneuten Disput mit ihrer Tante vorbereitet.
"Marguerite", hörte sie dann mit Erstaunen die zuckersüße Stimme der Baronesse, die sich bei ihrem Eintritt erhoben und ihren Mund zu einem dünnen Lächeln verzogen hatte. "Ich bin sehr froh darüber, dass du dich wieder so gut erholt hast."
"Danke...", gab das Mädchen zurück und warf dann einen fragenden Blick zu ihrer mütterlichen Freundin, die sie jedoch aufmunternd anlächelte.
"Nanu, mein Kind, du wirkst ja so überrascht", ergriff Adrienne wieder das Wort und setzte sich. "Dabei ist es doch selbstverständlich, dass ich nach einigen Tagen herkomme, um nach dir zu sehen. Außerdem habe ich gute Neuigkeiten für dich."
"Ach, tatsächlich?"
"Kommt, Comtesse, und nehmt Platz. Eure Tante hat Euch Interessantes zu berichten", forderte Madame de Colignon das Mädchen, das immer noch verdutzt an derselben Stelle verharrte, auf. Marguerite ließ sich auf dem Sofa neben der Hausherrin nieder und sah die Baronesse erwartungsvoll an. Diese zeigte erneut ein dünnes Lächeln und begann: "Vorgestern erhielt ich eine Einladung zum Silvesterball in das Palais Luxembourg."
"Und das bedeutet?", fragte Marguerite, die mit dem Namen des Palastes nichts anfangen konnte.
"Wir werden nach Paris fahren, an den königlichen Hof, wo du in die Gesellschaft eingeführt wirst", erklärte Adrienne und wirkte glücklich. Ihr Mann saß daneben, ohne eine Miene zu verziehen.
"Wir?"
"Ja, mein Kind, die Einladung gilt für dich, für mich und meinen Gemahl. Gleich nach Weihnachten werden wir aufbrechen. Ich habe sofort eine Depesche an einen Freund deines Onkels gesandt, damit er uns ein Haus in einem guten Viertel mietet."
"Aha... sehr umsichtig..."
"Ja, nicht wahr? Oh, ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich freue! Wir werden vorher natürlich deine gesamte Garderobe inspizieren, denn du sollst bei Hofe einen guten Eindruck hinterlassen."
"Oh, das wird Ihre Nichte bestimmt", meinte Madame de Colignon.
"Bevor du beginnst, Pläne für unsere Abreise zu schmieden, sollten wir noch all die Sachen klären, die das Weihnachtsfest betrifft", wandte Marguerite ein, die von der Aussicht, mit ihren Verwandten nach Paris zu fahren, nicht besonders begeistert war. Sie hatte sich darauf eingestellt, mit Madame de Colignon und Louise an dem Hofball teilzunehmen, anstatt mit Tante Adrienne und ihrem Ehemann.
"Ach das!", tat die Baronesse leichthin ab und lachte etwas. "Das ist alles schon geklärt."
"Was ist geklärt, Tante?"
"Die Köchin hat ihre Anweisungen für das Gesindefestessen in der Empfangshalle und der Verwalter wird den Pächtern ein wenig Geld auszahlen, so wie dein Vater es seit Jahren handhabte. Das ist doch in deinem Sinne, mein Kind, nicht wahr?"
"Ja... ja, natürlich...", erwiderte Marguerite verblüfft, die glaubte, sich verhört zu haben. Was war denn nur mit ihrer Tante geschehen? Beim letzten Mal hatte sie sich doch partout geweigert, die Traditionen fortzusetzen und nun tat sie so, als ob es den Streit zwischen ihnen nie gegeben hätte.
"Nachdem das also geklärt ist, wäre es schön, wenn du dich fertigmachen würdest. Wir werden in etwa einer halben Stunde aufbrechen. Es ist so still im Haus, wenn du nicht da bist", sagte Adrienne überfreundlich und lächelte nun breit.
"Ja, keiner klimpert mehr den halben Tag auf dem Cembalo herum", bemerkte der Baron spöttisch. "Das vermisse ich besonders."
Marguerite starrte ihn konsterniert an, schwieg jedoch und erhob sich, um der Bitte ihrer Tante nachzukommen. Doch vorher eilte sie in den großen Saal, in dem sie zuvor mit Louise wieder Tänze geübt hatte, griff ihre Freundin am Ärmel und wisperte ihr zu: "Komm, ich muss mit dir unter vier Augen sprechen!"
Erstaunt folgte die junge Frau der Comtesse auf deren Zimmer.
"Ist etwas geschehen?", erkundigte sich Louise, nachdem Marguerite die Tür hinter sich geschlossen hatte.
"Na, und ob", antwortete das blonde Mädchen. "Meine Tante ist hier und berichtete mir, dass nicht nur ich, sondern auch ihr Mann und sie an den Hof eingeladen wurden. Oh, Louise, was hat das zu bedeuten? Ich dachte, wir beide würden zusammen mit Madame de Colignon zum Silvesterball nach Paris gehen, ohne meine Verwandtschaft!"
"Offensichtlich glaubt man, dass es unschicklich wäre, wenn Ihr ohne Euren Vormund dort erscheint", meinte ihre Freundin. "Deshalb hat man auch die Baronesse und deren Gemahl eingeladen."
"Das vergällt mir die ganze Freude an diesem Fest."
"Aber weshalb denn, Comtesse? Madame de Colignon und ich werden doch auch da sein - und so, wie es aussieht, scheint Eure Tante auf Madame zu hören. Ihr habt also nichts zu befürchten."
"Ich traue meiner Tante nicht", erklärte Marguerite. "Sie ist plötzlich so freundlich, dabei wirkte sie bei unserem letzten Gespräch, bei dem sie mir eine Ohrfeige gab und gerne noch mehr davon verteilt hätte, als ob sie mich am liebsten gefressen hätte. Dieser Sinneswandel... dieser plötzliche Sinneswandel... nein, ich traue ihr nicht!"
"Madame de Colignon hat einen guten Einfluss auf sie, davon bin ich felsenfest überzeugt", erwiderte Louise aufmunternd. "Vielleicht ist die Baronesse doch in sich gegangen und bereut ihr vorheriges Verhalten Euch gegenüber."
"Wenn ich es nur glauben könnte..."
"Ihr solltet Eurer Tante eine Chance geben. Womöglich hat sie sich ja tatsächlich geändert."
"Nein, ihr Sinneswandel hat mit Sicherheit andere Gründe. Mir ist nur schleierhaft, welche."
Marguerite warf ihrer Freundin einen nachdenklichen Blick zu, dann fuhr sie fort: "Jedenfalls werde ich vor ihr auf der Hut sein, denn lange wird sie ihre freundliche Maske gewiss nicht aufrecht erhalten können."
"Natürlich ist es immer gut, sich vorzusehen, Comtesse. Doch gebe Gott, dass die Baronesse sich zum Besseren geändert hat."
"Oh, du bist so lieb und gut", meinte das blonde Mädchen und umarmte Louise. "Hoffnung ist letztendlich doch das, was uns die Kraft zum Durchhalten gibt, nicht wahr?"
***
Aro saß zusammen mit Marcus im Wohnzimmer am Kamin und las, als es an die Tür pochte und diese sich gleich darauf öffnete. Francois steckte vorsichtig seinen Kopf hindurch und fragte zaghaft: "Meister Aro?"
Überrascht blickte der schwarzhaarige Vampir von seinem Buch auf.
"Was gibt es?", fragte er in leicht ärgerlichem Ton, da es ihm nicht passte, dass der Lakai nicht darauf gewartet hatte, bis man ihm gestattete hereinzukommen.
"Verzeiht, Meister Aro, aber soeben ist ein junger Mann angekommen, der Euch und Meister Marcus dringend zu sprechen wünscht", erklärte Francois demütig.
"Wer ist es?"
"Er sagte, er heiße Demetri und hätte Neuigkeiten für Euch, die Euch sicherlich erfreuen würden."
Die beiden älteren Volturi-Anführer tauschten einen verwunderten Blick aus, dann wandte sich Aro wieder dem Diener zu: "Ich lasse bitten!"
Einen Moment später trat ein schlanker Jüngling mit schulterlangem, gewelltem, dunklen Haar ein und verneigte sich leicht vor Marcus und Aro.
"Francois sagte, du hättest erfreuliche Nachrichten für uns?", erkundigte sich Marcus.
"Ja, und ich wollte Euch sofort persönlich darüber Bericht erstatten."
"Ich nehme an, es geht um den Hexenjäger?", fragte Aro, worauf der junge Mann nickte.
"Zeig es mir!", forderte der schwarzhaarige Vampirführer ihn auf und erhob sich.
Demetri kannte diese Prozedur zur Genüge, kam auf seinen Meister zu und reichte ihm die Hand. Ein kurzer Augenblick genügte und über Aros Züge verbreitete sich ein zufriedenes Grinsen.
"Ausgezeichnet!", meinte er dann und wandte sich zu Marcus um. "Es ist kaum zu fassen, Bruder, aber unsere beiden Nachwuchs-Wachen haben dafür gesorgt, dass der Hexenjäger jetzt selbst auf der Anklagebank sitzt und beschuldigt wird, einen Pakt mit dem Teufel eingegangen zu sein."
"Incredibile!", entfuhr es dem melancholisch wirkenden Vampir erstaunt und er starrte Demetri beinahe ehrfürchtig an. "Wie ist euch dieses Meisterstück gelungen?" [1]
"Erzähle es selbst, mein Junge!", sagte Aro und setzte sich wieder. "Darauf könnt ihr beiden ruhig stolz sein, bestell das auch Felix, wenn du zurückkehrst. Ich bin überaus zufrieden!"
"Ganz wie Ihr wünscht", gab der Jüngling höflich zurück und begann: "Da die Herausforderung vor allem darin bestand, die Aufmerksamkeit der Inquisition aus Volterra abzuziehen, waren Felix und ich uns schnell darüber einig, dass wir den Abgesandten des Vatikans unglaubwürdig machen mussten. Daher haben wir ihn eine Zeitlang sehr genau bei seiner Vorgehensweise beobachtet und wandten dann seine eigenen Methoden gegen ihn an."
Demetri hielt inne und lächelte etwas, ehe er fortfuhr: "Wir sorgten dafür, dass Gerüchte über ihn in Umlauf kamen... Gerüchte, die manche an seinem guten Ruf zweifeln ließen... eine Bemerkung hier, eine Andeutung da... und die Menschen, die den Padre zuerst unterstützt hatten, fingen an, ihm zu misstrauen und ihn zu beobachten. Schließlich vermeinte jemand, den Hexenjäger bei einem heidnischen Ritual im Wald beobachtet zu haben und denunzierte ihn. Und nun sitzt der Padre selbst im Hexenturm, nachdem er einmal befragt wurde, und beteuert unaufhörlich seine Unschuld."
"Dass mit den Gerüchten interessiert mich außerordentlich", erwiderte Marcus. "Wie ist es euch gelungen, diese unter die Menschen zu streuen? Schließlich müssen wir doch vorsichtig sein, wenn wir in Interaktion mit ihnen treten."
"Nun, Meister, wir baten eine unserer Schwestern, im Hinblick auf unser aller Wohl ihre Fähigkeit einzusetzen, Zweifel unter den Menschen aufkommen zu lassen. Der Rest war ein Kinderspiel."
Marcus lächelte und nickte.
"Dann wollen wir hoffen, dass der Prozess gegen den Padre schnell vonstatten geht."
"Jedenfalls sind den Richtern mittlerweile Zweifel gekommen, ob die von dem Padre Angeklagten, die immer noch leben und die jener selbst einer peinlichen Befragung oder Folter unterzog, tatsächlich schuldig sind. In einigen Fällen handelt es sich um vermögende Personen, deren Reichtum nach ihrem Tod in die Hände des Vatikans gelangen würde."
"Die von der Kirche unabhängigen Richter fangen allmählich an, die Inquisition in Frage zu stellen", fügte Aro, an Marcus gewandt, erklärend hinzu. "Die Aufklärung beginnt Früchte zu tragen und ich denke, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die Welt nicht mehr bereit sein wird, die absolute Autorität des Klerus weiterhin anzuerkennen."
"Die Entwicklung in Volterra scheint hoffnungvoll", gab Marcus zu. "Aber warten wir es ab, Bruder, und seien wir hier mit derlei Bemerkungen lieber vorsichtig. Immerhin befinden wir uns im katholischen Frankreich und König Louis gilt als sehr frommer Mann." [2]
"Natürlich, mein Lieber. Wer wäre so dumm, sich mit irgendeinem Menschen darüber zu unterhalten?", meinte Aro und lehnte sich bequem gegen das Sofa zurück, dabei Demetri mit einem fast glücklichen Gesichtsausdruck musternd. "Ich kann Felix und dich gar nicht genug loben, mein Junge! Und nun geh wieder zurück nach Hause und hilf deinen Geschwistern dabei, für die Verurteilung des Padre zu sorgen und... nun ja, die Richter dazu zu bringen, die noch lebenden Angeklagten aus der Haft zu entlassen."
"Natürlich, Meister Aro", versprach der Jüngling und verneigte sich erneut. "Wenn Ihr mich nun bitte entschuldigen würdet. Die Reise war lang und es verlangt mich nach Nahrung."
"Gut, aber sieh' zu, dass du diskret bist", ermahnte ihn der älteste Volturi. "Wir beabsichtigen, noch eine Weile hierzubleiben."
"Euer Aufenthalt wird nicht gefährdet", versprach Demetri und verließ danach den Raum. Die beiden älteren Volturi blickten ihm mit nachsichtigem Lächeln nach, ehe Marcus sich an Aro wandte: "Jetzt, wo ich Gewissheit habe, dass Caius sich nicht in diese Angelegenheit eingemischt hat, bin ich überaus beruhigt."
"Ich sagte dir doch, dass er sich lediglich austobt und kurz vor dem Ball zurückkehren wird, Bruder."
"Dieses üble Temperament", seufzte Marcus und schüttelte den Kopf. "Glaubst du, er wird irgendwann in der Lage sein, die Wildheit und den Zorn in sich zu kontrollieren?"
"Er muss - und das weiß er auch", erwiderte Aro gelassen. "So lange er immer einen Weg findet, sich unbemerkt von den Menschen auszutoben, ist alles in Ordnung."
Marcus schwieg und lächelte.
***
Indessen genoss es Caius, sich seit Tagen unbeschwert und frei durch die menschenleeren Wälder Frankreichs fortzubewegen. Hin und wieder begegneten ihm dabei auch größere Tiere und er stillte seinen Hunger an ihnen, ohne einen Gedanken an Paris und seine Brüder zu verschwenden. Inzwischen war er in einer gebirgigen Gegend angelangt, in der er inaktive Vulkane bemerkte. Es erschien ihm beinahe so wie in Volterra, während sich allmählich die Dämmerung über die weite Landschaft ausbreitete. Die Luft war nach wie vor eisig und es hatte seit ein paar Tagen kaum mehr geschneit, weshalb Caius in einen fast wolkenlosen Nachthimmel blicken konnte und fasziniert beobachtete, wie ein runder, weißer Mond aufstieg.
"Eine so schöne Nacht", dachte er und lächelte. Dann erinnerte er sich wieder an die liebliche Stimme des Mädchens, dessen Gesicht er nicht kannte und dessen Name ihm wieder entfallen war. Er wusste lediglich, dass sie vermutlich eine wohlerzogene, stolze, junge Dame war, die sich nicht scheute, sich zu wehren und unverschämten Menschen zu zeigen, wo ihr Platz war. Erneut erfüllte Caius leise Sehnsucht danach, sie kennenlernen zu wollen, doch das durfte nicht sein! Er wollte ein solch bewunderungswürdiges Geschöpf nicht töten! Wenn überhaupt, sollte man sie in eine Unsterbliche verwandeln. Doch genau dies hatte Aro verboten und er sah ein, dass dieses Verbot berechtigt war.
"Wir werden uns nie wiedersehen, kleine Comtesse", murmelte er leise.
Auch wenn Caius nicht genau wusste, wie das junge Mädchen aussah, stellte er sich gerne vor, dass sie eine Schönheit war. Welche Farbe wohl ihr Haar hatte? Und ihre Haut war gewiss makellos und zart, umhüllt von einem betörenden Duft aus Rosen, Veilchen und Flieder. Sie war sicherlich ein hinreißendes Wesen, jemand, der auf diesem stumpfsinnigen Hofball die Blicke aller Männer auf sich ziehen würde... jemand, der diesen langweiligen Abend erträglich machen würde... aber die Chance, dass sie dort erschien, war gering. Eine junge Adlige vom Land lebte bestimmt wohlbehütet bei ihren Eltern auf deren Gutshof, welche kaum Lust darauf hätten, im Winter nach Paris zu fahren. Wirklich sehr schade...
Plötzlich horchte der blonde Vampir überrascht auf. Der Geruch eines Menschen war ihm in die Nase gestiegen und er hörte, dass dieser Sterbliche durch den Wald rannte.
Irritiert zog Caius seine Augenbrauen zusammen und folgte dieser Spur. Es vergingen nur einige Sekunden , bis er den Schatten dieses Mannes gewahrte, der scheinbar planlos durch das Dickicht raste, ohne dass ihn irgendwer verfolgte. Handelte es sich bei ihm um einen Wahnsinnigen? Bestimmt war es diesem gelungen, aus dem Tollhaus [3] auszubrechen. Sei's drum! Das Blut eines Geisteskranken schmeckte ebenso gut wie das jedes anderen Menschen; und da der Sterbliche sich alleine hier herumtrieb, war davon auszugehen, dass ihn weder jemand verfolgte noch ein Mensch ihn vermissen würde.
Als der Sterbliche auf einmal innehielt, zum Mond aufblickte, laut gellend aufschrie und sich dann auf alle Vierte fallen ließ, ohne mit seinem Geschrei aufzuhören, sah Caius darin eine Bestätigung seiner Vermutung. Doch dann glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können: Dem Sterblichen wuchsen mit rasender Geschwindigkeit lange, dichte Haare auf Gesicht, Hals, Handrücken und Armen... dann krümmte er seinen Rücken und die Kleidung zerriss.
Das durfte doch nicht wahr sein! Dieser Mann war nicht wahnsinnig, sondern ein Kind des Mondes! [4]
Nie hätte er gedacht, dass noch einer dieser natürlichen Feinde seiner Art existierte! Aber nicht mehr lange!
Caius ballte die Hände zu Fäusten und machte sich auf einen Kampf gefasst! Keine Sekunde zu früh! Denn die Verwandlung war vorbei und der Werwolf roch ihn, jaulte auf und warf den Kopf zu ihm herum, den blonden Vampir mit bösen, funkelnden Blicken betrachtend. Sie knurrten sich an, bevor sie aufeinander zusprangen und versuchten, sich gegenseitig die Kehlen aufzureißen. Der Wolf war ein starker Gegner und Caius hatte Mühe, sich seiner zu erwehren. Immer und immer wieder schnappte der Halbmensch unter drohendem Geknurre nach ihm, bis der Vampir dessen Schnauze zu fassen bekam und sie ihm unter größter Anstrengung zuhielt. Heftig bewegte der Wolf seinen Kopf hin und her, um sich aus dem harten Griff seines Gegners zu befreien, aber es nützte nichts. Stattdessen packte Gaius ihn bei nächster Gelegenheit am Nacken und drückte zu, bis der Wolf winselte und sich krümmte. Der Vampir empfand keinerlei Mitleid mit ihm, konzentrierte sich einen Augenblick und brach seinem Gegner dann das Genick. Jener zuckte kurz auf, dann verließ ihn alle Spannung und er sackte zu Boden, als Gaius ihn losließ. Vor seinen Augen verwandelte sich der tote Wolf wieder in einen Menschen zurück, auf dessen Leichnam das fahle Mondlicht fiel. Nichts erinnerte mehr daran, dass dies vor wenigen Minuten noch ein kraftvolles, gefährliches Raubtier gewesen war.
Gaius starrte den toten Leib an, dann wischte er sich über die Stirn, auf der sich eine tiefe Zornesfalte gebildet hatte. Er fragte sich erneut, wie es möglich sein konnte, dass noch ein Wesen dieser Art existierte, wo er zusammen mit mehreren seiner Familie aus dem Volturi-Clan doch in ganz Europa eine Jagd auf die 'Kinder des Mondes' gemacht hatte. Damals war es ihnen gelungen, sie alle zu töten, weshalb solch ein Vorfall wie eben eigentlich nicht hätte vorkommen dürfen.
"Also gut", dachte der Vampir aufgebracht. "Womöglich sind einige von einem anderen Kontinent nach Europa gekommen - und da es anscheinend so ist, werden wir wohl im nächsten Frühjahr eine neue Treibjagd gegen die Werwölfe aufnehmen müssen. Wir kriegen euch schon!"
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[1] Incredibile = ital. "unglaublich"
[2] Ludwig XIII.
[3] Tollhaus = andere Bezeichnung für "Irrenanstalt"
[4] "Kind des Mondes" = diese Bezeichnung legt Stephenie Meyer Caius im letzten Teil des Buches in den Mund, um die Werwölfe zu beschreiben. Aus diesem Grund verwende ich diesen Begriff hier auch, ohne damit eine Unterscheidung zwischen "echten" und "Quileute"-Werwölfen zu machen. Die Bezeichnung "Werwolf" heißt übersetzt nämlich nichts anderes als "Mann in Wolfsgestalt", womit die im Buch gegebene Unterscheidung hinfällig ist.
10. Kapitel
Jedes Verhalten wird allein durch die Absicht gut oder böse.
Gloria Beck (*1968)
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"Nun, wie gefällt Euch das Haus, Baronesse?"
Adrienne de Lebrunne und ihr Gemahl ließen den Blick noch einmal über den großen Raum und die schöne Inneneinrichtung schweifen, ehe die Angesprochene sich dem Anwalt zuwandte, der sie im Auftrag des Hausbesitzers durch das gesamte Gebäude geführt hatte.
"Ich muss sagen, dass es meine Erwartungen bei Weitem übertrifft", räumte Adrienne ein. "Wir werden es für etwa einen Monat mieten."
Die Baronesse drehte sich zu Marguerite um, die ihren Verwandten schweigend bei der Tour durch das Mietshaus gefolgt und von dem Anwalt kaum beachtet worden war.
"Was sagst du, mein Kind? Findet dieses Haus dein Wohlgefallen?"
"Ja... ja, es ist recht hübsch hier", gab die Comtesse zu, obwohl sie sich nicht dafür interessierte. Viel lieber wäre sie Gast bei Madame de Colignon gewesen, aber die Einladung zum Hofball hatte diesem Plan ein Ende gemacht und nun war sie gezwungen, mit Tante Adrienne und dem Baron einen Monat lang in einem Mietshaus zu verbringen, in dem man sich nicht so gut aus dem Weg gehen konnte wie auf dem Landgut Rochefort. Zudem bestand ihre Tante darauf, dass sie als Debütantin unbedingt ein neues Kleid für den Silvesterball brauche, weil keines ihrer alten Kleider in den Augen ihrer Tante für diesen Anlass passend war. Daher würde morgen eine Schneiderin herkommen, um dieses Problem zu beseitigen. Wenigstens hatte Tante Adrienne auch Madame Colignon dazu gebeten, damit sie sie bezüglich des neuen Kleides beriet. Hoffentlich würde Louise Madame begleiten, dann könnte sie diesen Zirkus, der darum gemacht wurde, besser ertragen.
Zu Marguerites großem Erstaunen verhielt sich ihre Tante sehr freundlich zu ihr, seitdem sie nach ihrem letzten Streit weggelaufen war. Darüber hinaus benahm sich Adrienne de Lebrunne auch während des Weihnachtsessens in der großen Halle von Gut Rochefort gegenüber dem Personal wohlwollend, was angesichts ihrer zuvor gezeigten Hochmütigkeit ein kleines Wunder darstellte. Dennoch konnte sich Marguerite des Gefühls nicht erwehren, dass diese Freundlichkeit bloße Fassade war und sich dahinter etwas verbarg, das ihr bis jetzt allerdings schleierhaft blieb. Doch tief in sich vermeinte die Comtesse den Ratschlag ihres Vaters zu hören, der ihr einst unter vier Augen sagte: 'Hör immer auf dein Gespür. Es ist der beste Wegweiser bei einer drohenden Gefahr.'
Als erfahrener Offizier hatte Papa sicherlich gewusst, wovon er sprach, und Marguerite wollte seinen Rat unbedingt beherzigen. Einen ersten Schritt, die drohende Gefahr zu bannen, hatte sie bereits durch die Übermittlung ihres Briefes an Monsieur Cayot getan, den sie eigentlich persönlich aufsuchen wollte, wenn sie in Paris angekommen war. Damals allerdings konnte sie nicht ahnen, dass sie nun mit ihren Verwandten hier war, was ihr Vorhaben erschwerte. Wie sollte sie es bloß bewerkstelligen, Monsieur Cayot aufzusuchen, ohne dass Tante Adrienne oder deren Mann etwas davon merkten?
"Baronesse, Ihr werdet Eure Entscheidung nicht bereuen", hörte das Mädchen in diesem Augenblick den Anwalt zu ihrer Tante sagen. "Der Marais ist wirklich eines der besten Viertel in Paris. Ihr befindet Euch in ausgezeichneter Gesellschaft."
"Dessen bin ich mir bewusst", gab Adrienne zurück und lächelte. Der Anwalt verneigte sich leicht vor ihr und erklärte: "Ich lasse die Verträge noch heute fertig machen und sende sie am Nachmittag durch meinen Angestellten an Euch."
"Gut, dann steht einem sofortigen Einzug hierher wohl nichts mehr im Wege?"
"Ich bitte Sie, Baronesse, was ist denn das für eine Frage? Selbstverständlich könnt Ihr sofort darüber verfügen."
Der Anwalt reichte Adrienne einen Schlüsselbund und lächelte breit. Dann verneigte er sich erneut vor ihr: "Erlaubt mir, mich jetzt zu entfernen."
"Natürlich, und vielen Dank für Eure Mühe."
"Ich empfehle mich, Baronesse - Baron - Comtesse", sagte der Anwalt, neigte seinen Kopf leicht vor jedem der Angesprochenen und verließ dann das Gebäude.
"Ah, wir werden eine schöne Zeit hier verleben", meinte Adrienne hoffnungsvoll und wirkte überaus zufrieden. "Lass unsere Diener also gleich das Gepäck ausladen, mein Lieber."
Sie küsste ihren Mann auf die Wange und wandte sich dann an ihre Nichte: "Am besten nimmst du das letzte Zimmer rechts in der oberen Etage, mein Kind. Es bietet eine schöne Aussicht auf den Place Royale und wird dich sicherlich darüber hinwegtrösten, vier Wochen lang fern von Gut Rochefort zu leben."
"Ganz wie Ihr wünscht, Tante", erwiderte Marguerite und nickte. "Erlaubt Ihr mir, mich gleich zurückziehen zu dürfen?"
"Natürlich, mein Kind, du bist sicher ein wenig müde von unserer Reise hierher."
Marguerite verzog keine Miene und verließ stumm das Zimmer, um nach oben zu gehen, damit sie nicht länger als nötig in der Gesellschaft des Ehepaares de Lebrunne verbringen musste. Im Zimmer angekommen, eilte sie gleich ans Fenster, um die Aussicht auf die schöne Gartenanlage des Place Royale zu werfen, in deren Mitte ein großer Springbrunnen stand und in der sich Wege befanden, die von Baumreihen gesäumt wurden. Natürlich wirkte dies jetzt im Winter wie erfroren, aber sobald es warm wurde, sah das alles sicherlich sehr reizend aus. Außerdem sprach nichts dagegen, auch in der kalten Jahreszeit einen Spaziergang im Garten des Place Royale zu machen. Ach, wenn sie doch wenigstens Louise noch hätte, müsste sie Tante und Onkel nicht darum bitten mitzugehen, denn es gehörte sich für eine junge Dame einfach nicht, allein auszugehen. Madame de Colignon hatte sie extra beim Abschied darauf hingewiesen und dies nicht ohne Grund getan. Wie sehr vermisste sie jetzt die Gegenwart ihrer mütterlichen Freundin, deren Haus in einem ganz anderen Stadtteil von Paris stand. Sie müsste auch schon eingezogen sein. Aber das würde sie erst erfahren, sobald ihre Tante eine Antwort von Madame de Colignon erhalten hatte...
***
Gut erholt und innerlich wieder ruhig ging Caius auf das vornehme, hohe Haus zu, das für etwa ein halbes Jahr die Wohnstätte für Aro, Marcus und ihn darstellte. Es dürften nach seiner Einschätzung nur noch ein paar Tage bis zum königlichen Silvesterball im Palais Luxembourg sein, so dass seine Brüder ihm nichts vorzuwerfen hatten. Während seines Ausflugs hatte er sich satt getrunken, nach dem Kampf mit dem Werwolf sogar noch zwei Wegelagerer überrascht und sich an ihnen gütlich getan, bevor er die telepathische Nachricht von Aro erhielt, dass es an der Zeit sei, nach Paris zurückzukehren. Und hier war er nun, zwar ohne große Lust auf die Feier ins Neue Jahr hinein, aber er sah dem Ganzen nun viel gelassener entgegen.
Der blonde Vampir klopfte kräftig gegen die Tür und als ihm Francois öffnete, zog er seinen Umhang aus und warf ihn dem Bediensteten entgegen, ohne ein Wort zur Begrüßung an den Lakai zu richten. Zielstrebig ging Caius auf das Wohnzimmer zu, in dem sich seine Brüder - wie er innerlich wusste - aufhielten, öffnete und trat mit breitem Lächeln in den Raum.
"Bonsoir, mon cher frères, comment allez-vous?", fragte er. [1]
"Wir können nicht klagen", erwiderte Aro, der sich beim Anblick seines Freundes vom Sofa erhob und lächelnd auf ihn zutrat.
Caius warf einen erstaunten Blick auf Marcus, der am Fenster stand und sich bei seinem Eintritt nur kurz nach ihm umgedreht und ihm zugenickt hatte, bevor er sich wieder etwas anscheinend höchst Interessantem auf der Straße zuwandte. Der Blick des jüngeren Vampirs wanderte von ihm zu Aro zurück, der leise erklärte: "Marcus beobachtet das Haus unserer Nachbarin gegenüber. Sie ist vorgestern zusammen mit einer jungen Dame angekommen, von der wir annehmen, dass es ihre Tochter oder eine andere Verwandte ist."
"Warum habt ihr den beiden nicht eure Aufwartung gemacht?", erkundigte sich Caius. "Dann wüsstet ihr genau, wie das Verhältnis der beiden zueinander ist und ob sich die Bekanntschaft überhaupt lohnt."
"Nun, Marcus sprach sich dafür aus, damit noch etwas zu warten, bis sich die Damen ein wenig akklimatisiert haben."
"Aha, wohl eine neue Strategie?"
"Es ist nichts Verkehrtes daran, Zurückhaltung im Umgang mit Menschen zu üben", gab Aro zurück und reichte ihm seine Hand. "Ich hoffe, dass du das bei deinem Ausflug beherzigt hast, lieber Bruder?"
"Unser Geheimnis ist bewahrt worden", versicherte der blonde Vampir und reichte ihm die Hand, um sich einen mündlichen Bericht zu ersparen. Aro versenkte sich in seine Erinnerungen und lächelte eine Minute später breit, als er die Hand des Jüngeren wieder los ließ. "Überaus interessant, Caius, vor allem dieses unbekannte Mädchen mit der bezaubernden Stimme und dem betörenden Parfüm. Dabei hattest du doch kurz vorher erklärt, alle jungen Dinger für alberne Gänse zu halten."
"Die kleine Comtesse scheint eine Ausnahme davon zu bilden", gab der blonde Vampir zurück. "Und immerhin musst du doch anerkennen, dass ich mich wirklich sehr zurückgehalten habe, um dieses faszinierende Geschöpf nicht zu verwandeln. Ich würde wirklich nie etwas tun, was unsere Gemeinschaft oder unsere Art gefährdet. Du solltest mir mehr vertrauen, Aro. Allerdings wird es wohl notwendig sein, auf Wolfsjagd zu gehen, sobald der Schnee getaut und es wieder ein wenig wärmer geworden ist."
"Das sehe ich durchaus ein", gab der schwarzhaarige Vampir zu und nickte. "Im Frühjahr wird die Angelegenheit mit dem Hexenjäger wohl erledigt sein und du kannst mit all jenen, die dazu Lust haben, diese Aufgabe in Angriff nehmen."
"Die Angelegenheit mit dem Hexenjäger?", hakte Caius überrascht nach. "Gibt es darüber etwas Neues?"
"Oh ja", antwortete Aro und gab dann den Bericht Demetris wieder.
"Höchst erfreulich", stellte der blonde Vampir danach fest und grinste über das ganze Gesicht. "Hätte wirklich nicht erwartet, dass die Jüngelchen das Problem auf solch eine Weise lösen würden. Offenbar habe ich die beiden doch unterschätzt."
"Tja, du solltest mir eben auch mehr vertrauen", gab sein Meister zurück. "Und jetzt würde ich dir raten, ein Bad zu nehmen und dich umzuziehen. Dein langer Aufenthalt in der Wildnis hinterlässt eben Spuren..."
Caius grinste nur, ehe er erwiderte: "Natürlich, mein Lieber, entschuldige, dass ich daran nicht gedacht habe, als ich heimkam und als Erstes euch beide begrüßen wollte. Aber jetzt gehe ich selbstverständlich, um deinem Wunsch nachzukommen und deine Nase nicht mehr mit dem... Wolfsgestank... zu belästigen. Ich hoffe nur, dass dieser üble Geruch auch mit dem ersten Bad verschwindet."
Aro zog konsterniert seine Augenbrauen nach oben, was seinem jüngeren Bruder ein kurzes Lachen entlockte.
"Und wenn nicht...", nahm Caius seine Ausführungen wieder auf, "...dann werde ich es so machen wie die adligen Laffen, mit denen wir bald zusammentreffen werden: Viel Parfüm, Parfüm, Parfüm..."
Sein Meister schüttelte lächelnd den Kopf, als der blonde Vampir danach lachend den Raum verließ. Gedankenvoll blickte er ihm nach, die Erinnerung an dessen Begegnung mit der jungen Reiterin im Schneesturm, deren süße Stimme und ihr mutiges Verhalten gegenüber einem Wegelagerer ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Ihn beeindruckte sie ebenso wie Caius, aber darüber hinaus hatte er seine Aufmerksamkeit noch auf ihr Äußeres gerichtet, das verschwommen in den Gedanken seines jüngeren Bruders existierte und auf eine schlanke, hochgewachsene Gestalt schließen ließ. Schade, dass Caius sich nicht mehr an den Namen der Kleinen erinnern konnte, denn das würde es ihm erleichtern, sie aufzuspüren, während sein jüngerer Bruder Werwölfe jagte.
Aro lächelte hinterhältig. Er konnte es kaum erwarten, diese geheimnisvolle Unbekannte selbst kennenzulernen. Wenn sie wirklich so außergewöhnlich war, wie es den Anschein hatte, sprach nichts dagegen, sie nach Volterra zu entführen und zu verwandeln. Aber das würde bis zum Frühjahr warten müssen...
***
"Ihr seht sehr hübsch aus, Comtesse", sagte Arlette, die neue Zofe, die ihre Tante eingestellt hatte, und ging ein Stück zurück, um Marguerite genauer in Augenschein zu nehmen. Das blonde Mädchen hingegen, dem Arlette in ein blau-weiß-geblümtes Taftkleid geholfen hatte, musterte sich kritisch im Spiegel.
"Also, ich weiß nicht", meinte Marguerite unzufrieden. "Das gelbe Kleid mit dem kleinen Spitzenbesatz hätte es auch getan. Schließlich handelt es sich doch nur um ein Souper."
"Aber Eure Tante bestand darauf, Euch so elegant wie möglich herauszuputzen", erklärte Arlette. "Sie sagte, dass sie heute Abend einen lieben Gast erwarte, mit dem sie Euch bekannt machen möchte."
"Einen Gast? Wir sind doch erst heute Nachmittag angekommen!", entfuhr es Marguerite.
"Dann muss es sich wohl um einen alten Bekannten der Baronesse handeln, Comtesse. Hat Eure Tante früher nicht einmal in Paris gelebt?"
"Ich weiß es gar nicht so genau. Ach, vielleicht hast du ja recht. - Na schön, wenn meine Tante es so wünscht, werde ich dermaßen übertrieben zum Souper erscheinen und es möglichst schnell hinter mich bringen. An den Bekannten meiner Verwandtschaft bin ich nämlich keinesfalls interessiert."
"Aber, Comtesse, ich dachte, dass Ihr auf der Suche nach einem Ehemann seid", kam es Arlette über die Lippen.
Marguerite ließ ihren Blick zu der neuen Zofe wandern und meinte kühl: "Du bist ziemlich vorlaut, weißt du das?!"
"Bitte, entschuldigt, Comtesse, das wollte ich nicht", sagte die Zofe zerknirscht und schaute verlegen zu Boden. "Manchmal ist meine Zunge schneller als mein Verstand."
"Du musst dich unbedingt in Selbstbeherrschung üben", ermahnte das blonde Mädchen sie, wobei jedoch bereits der Anflug eines amüsierten Lächelns auf ihrem Antlitz erschien. "Nun, ich nehme an, in der Gesindeküche wird darüber geklatscht?"
"Ja, Comtesse."
"Offensichtlich habt ihr alle zu wenig zu tun."
"Nein, das ist es nicht!", widersprach Arlette, schlug sich danach jedoch erschrocken auf den Mund.
Marguerite wandte sich ihr nun ganz zu und fragte: "Nicht? Aha, na schön. Dann verrate mir wenigstens, weshalb ausgerechnet meine Person das Gesprächsthema unter euch bildet?"
"Aber Ihr seid doch unsere Comtesse und wir wünschen uns, dass..."
"Was wünscht ihr euch?"
"Alle möchten doch nur, dass Ihr glücklich werdet."
"Glücklich? Wer kann glücklich werden, wenn man ihn zu irgendetwas zwingt?", meinte Marguerite, der bei dieser Antwort das kleine Lächeln wieder verging. "Doch du kannst eurer Klatschrunde in der Küche ruhig mitteilen, dass ich ganz bestimmt niemals jemanden heiraten werde, der mit meinen Verwandten bekannt oder befreundet ist! So eine Person wird von mir nicht einmal in Erwägung gezogen, verstanden?!"
"Ja... ja, Comtesse...", stotterte Arlette, jetzt hochrot im Gesicht. "Verzeiht mir bitte, dass ich so vorlaut war."
"Schon gut", erwiderte das Mädchen verstimmt. "Aber es wäre mir sehr lieb, wenn es möglichst wenig Gerede über mich gäbe."
Die Zofe nickte, worauf Marguerite in dem geblümten Taftkleid an ihr vorbeirauschte und den Raum verließ, um sich hinunter in das Esszimmer zu begeben, wo man sie bereits erwartete.
"Ah, da ist sie ja endlich!", verkündete ihre Tante, als das Mädchen eintrat. "Mein lieber Monsieur de Guignot, darf ich Euch mit meiner Nichte Marguerite bekannt machen? - Marguerite, dies hier ist Monsieur de Guignot, ein guter Freund meines Mannes."
Ein etwa 40 Jahre alter Mann mit langem, braunen Haar, gekleidet in einen grünen, silberdurchwirkten Seidenrock mit dazu passenden, dunkelgrünen Hosen erhob sich vom Tisch, kam auf das Mädchen zu, lächelte es an, nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf.
"Enchanté, Comtesse", sagte der Fremde galant [2] und sah ihr dann direkt in die Augen, wobei er sein öliges Lächeln beibehielt. "Ihr seid genauso reizend, wie Eure Tante und Euer Onkel es mir erzählten."
"Danke sehr, Monsieur", erwiderte Marguerite, die sofort eine heftige Abneigung gegen diesen Mann fasste.
"Monsieur Guignot hat uns dieses schöne Haus hier vermittelt", erklärte Adrienne ihrer Nichte. "Zum Dank dafür ist er heute Abend unser Gast. Das ist das Mindeste, womit wir uns bei ihm revanchieren können."
Marguerite zwang sich zu einem Lächeln und ließ sich auf den freien Platz neben dem Gast nieder, was ganz sicher ihre Tante eingefädelt hatte. Deren Gemahl sah nämlich nicht so erfreut aus. Ein Umstand, bei dem sich das Mädchen unwillkürlich fragte, ob dieser Guignot tatsächlich ein Freund ihres Onkels war.
"Gefällt es Euch in Paris?", wandte sich in eben diesem Moment der Gast an das Mädchen.
"Dazu kann ich nicht viel sagen", antwortete Marguerite und sah ihn an. "Wir sind doch erst heute Mittag hier eingetroffen."
"Natürlich, wie konnte ich das nur vergessen", meinte Guignot und lachte verlegen.
Die Baronesse lachte ebenfalls, ihr Mann jedoch nicht.
"Und wie gefällt Euch dieses Haus, Comtesse?", versuchte Guignot erneut, ein Gespräch mit Marguerite zu beginnen.
"Ganz annehmbar", gab sie kühl zurück, sehr darauf bedacht, diesem fremden Mann zu zeigen, dass sie an ihm nicht interessiert war. Eigentlich fand sie das Haus recht hübsch und ihr Zimmer war bei Weitem das beste von all den Räumen, die sie besichtigt hatten. Wenigstens etwas, wenn sie schon gezwungen war, die meiste Zeit dort zu verbringen, da sie außer ihren Verwandten sowie Madame Colignon und Louise niemanden in Paris kannte. Auf ein Zusammentreffen mit Bekannten von Tante und Onkel, so wie heute Abend, konnte sie gern verzichten. Niemals würde sie sich auf so jemanden einlassen, mal ganz abgesehen davon, dass die Männer unter ihnen zu alt für sie waren.
"Meine Nichte ist noch müde von der langen Fahrt hierher", beeilte sich Adrienne de Lebrunne in entschuldigendem Ton zu sagen und lächelte ihren Gast an. "Sie meint es sicher nicht so, wie es jetzt klingt."
"Dafür habe ich das vollste Verständnis", versicherte Guignot liebenswürdig und bedachte Marguerite erneut mit einem Lächeln, bei dem ihr innerlich schlecht wurde. Offensichtlich würde dieser Mann nicht so schnell aufgeben. Aber an ihr sollte er sich seine Zähne ausbeißen! Der wütende Blick, den ihre Tante ihr jetzt zuwarf, bestätigte der Comtesse, dass ihre Einschätzung, was die Baronesse betraf, völlig richtig war. Nun herrschten wenigstens wieder normale Verhältnisse und es drängte Marguerite danach, ihrer Tante zu zeigen, was sie von ihrem Verkupplungsversuch hielt.
"Ihr seid wirklich zu freundlich, Monsieur", wandte sich das Mädchen an ihren Sitznachbarn. "Bitte, verzeiht mir, aber ich fürchte, meine Tante hat recht. Ich fühlte mich tatsächlich sehr müde und würde mich gern zurückziehen. Ich bin sicher, dass Ihr auch dafür Verständnis haben werdet."
Marguerite erhob sich mit einem Lächeln, sagte: "Noch einen angenehmen Abend, Monsieur, Tante Adrienne, Baron" und verließ dann einfach den Raum, ohne sich nach den anderen umzusehen, die ihr fassungslos hinterher starrten. Sie fanden erst nach einer Weile ihre Sprache wieder.
"Also... ich muss sagen, Eure Nichte ist... sie ist... unglaublich", meinte Guignot.
"Wie kann sie es nur wagen, mich so zu blamieren?", kam es tonlos von den Lippen der Baronesse, deren Wangen sich blutrot verfärbt hatten. "Es tut mir wirklich leid, Rouven, aber ich hätte meiner Nichte niemals solch eine Unhöflichkeit zugetraut."
"Ich bitte Euch, Baronesse, wir sollten bedenken, dass Comtesse Marguerite nur aufrichtig zu uns war", nahm der Gast das junge Mädchen in Schutz. "Wir hätten sie nicht zum Souper herunterbitten sollen, wenn sie übermüdet ist."
"Ja, dem stimme ich absolut zu", pflichtete der Baron seinem Freund bei. "Dieses Souper können wir doch nachholen und dabei kommt unser Gast dann bestimmt in den Genuss, einen musikalischen Vortrag deiner Nichte auf dem Cembalo zu hören."
Er wandte sich an Guignot und fuhr fort: "Weißt du, Rouven, die kleine Comtesse liebt Musik und klimpert gerne stundenlang auf ihrem Instrument herum und singt zeitweise sogar dazu."
"Welch eine schöne Beschäftigung für eine junge Dame", meinte Rouven. "Es passt zu dem reizenden Wesen Eurer hübschen Nichte, Baronesse."
"Vielleicht wirst du deine Ansicht diesbezüglich ändern, wenn du ein paar Tage auf dem Gut Rochefort verbringst und es selbst miterlebst. Vor allem das Geklimpere ist manchmal kaum zu ertragen, während gegen die Stimme der Kleinen nichts einzuwenden ist."
"Rede doch nicht solch einen Unsinn, Roger!", wies seine Frau ihn verärgert zurecht. "Nur weil du Musik nichts abzugewinnen vermagst, muss es anderen ja nicht so gehen. Das Gute an Marguerites Klavierspiel ist immerhin, dass sie dann keinen anderen Unsinn anstellt."
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[1] "Guten Abend, meine lieben Brüder, wie geht es euch?"
[2] Enchanté = frz. "sehr erfreut"
11. Kapitel
Die Vergangenheit ruht nicht!
Anonymus
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Am nächsten Morgen saß das Ehepaar de Lebrunne zusammen beim Frühstück im Esszimmer, während Marguerite es vorzog, eine kleine Mahlzeit auf ihrem Zimmer einzunehmen.
"Dieses Mädchen treibt mich noch in den Wahnsinn", murrte Adrienne verdrießlich. "Angeblich hat sie leichte Kopfschmerzen und weiß noch nicht, ob sie sich in der Lage fühlen wird, in den großen Salon herunterzukommen, wenn die Schneiderin erscheint."
"Beruhige dich, ma Cherie, ich bin sicher, dass die Kleine dich nur ein bisschen ärgern will", erwiderte ihr Gemahl. "Vermutlich als Retourkutsche für gestern Abend, weil sie glaubt, dass du sie mit Rouven verkuppeln wolltest."
"Wenn er ihr gefallen hätte, würde alles sehr viel einfacher sein", murmelte sie. "Ich verstehe nicht, warum er keinen Eindruck auf sie machte. Gemeinhin gilt er als Liebling der Frauen und viele der vornehmen Damen träumen davon, wenigstens einen Abend in seiner Gesellschaft zu verbringen."
"Gehörst du auch dazu?", erkundigte sich Roger spöttisch.
"Ich bitte dich, er ist DEIN Freund", wehrte Adrienne ab.
"Das ist keine Antwort auf meine Frage, teuerste Gattin", sagte der Baron. "Also, hast oder hattest du eine Affäre mit Rouven?"
Seine Frau sandte ihm zornige Blicke und zischte leise: "Nein! Hatte ich nicht! Werde ich auch nicht! Doch selbst wenn, habe ich dem angesichts der Tatsache, dass eines der heimlichen Liebchen meines Herrn Gemahl guter Hoffnung war, nur hinzuzufügen: Quid pro quo!"[1]
"Das war vor langer Zeit und ich habe diese Angelegenheit sofort bereinigt. Kannst du meinen Fehltritt nicht endlich vergessen, Adrienne?"
"Wie könnte ich das jemals vergessen?!", entfuhr es Adrienne heftig. "Diese Schmach! Seit wir das Bett miteinander teilen, warte ich vergeblich darauf, dass mein Leib eine Frucht trägt. Doch bei einer deiner kleinen Huren glückte, was mir versagt blieb!"
"Erstens war dieses junge Ding ein nettes, unbedarftes Mädchen und keine Hure, und zweitens trug sie diese Frucht nicht lange. Ich gab ihr Geld und sie war froh, ihr Problem dadurch lösen zu können", antwortete Roger mit kalter Wut in der Stimme und erhob sich. "Weder sie noch ich wollten das, was sie in ihrem Leib trug."
"Du hast es dir damals zu einfach gemacht! Wir hätten dieses Kind nach seiner Geburt zu uns nehmen und als unser eigenes aufziehen können. Immerhin war es dein Fleisch und Blut."
"Ich wollte es nicht! Und du wärst die Letzte gewesen, das Kind einer anderen großzuziehen!"
"Mein Bruder hat seinen kleinen Bastard auch zu sich geholt und ihn legitimieren lassen", gab Adrienne zurück und ihre Unterlippe zitterte etwas. "Niemand nahm daran Anstoß, obwohl es ein offenes Geheimnis war, mit wem Gilbert vor Marguerites Geburt eine Affäre hatte."
"Zum letzten Mal: Gib Ruhe, Weib! Ich bin nicht dein Bruder, putain de merde! [2] Und wenn ich sehe, wie du mit seiner Tochter umgehst, die er dir in gutem Glauben anvertraut hat, bestätigt mir das nur, dass ich damals richtig handelte. Du hättest das Kind einer anderen, auch wenn ich sein Vater bin, niemals akzeptiert!"
"DOCH! DOCH! Doch ich hätte es getan! Es war dein Kind und ich hätte es lieben gelernt!", beteuerte die Baronesse mit einem bitteren Zug um den Mund. "Niemand hätte je davon erfahren müssen, dass eine andere ihm das Leben schenkte. In den Augen der Welt wäre es unser Kind gewesen. Aber du wolltest es einfach nur loswerden, ohne einen Gedanken an mich zu verschwenden. Wenn ich etwas von deinem Vorhaben geahnt hätte, das schwöre ich, so hätte ich verhindert, dass du deinem Liebchen einfach Geld gibst, damit sich dieses dumme Mädchen in der Apotheke ein Mittel zur Zubereitung eines Tranks besorgt, der ihr das Kindlein aus dem Bauch trieb." [3]
"Es war die richtige Entscheidung, wie mir dein Verhalten gegenüber deiner Nichte immer wieder bestätigt", erklärte Roger von oben herab. "Sie ist deine noch einzig lebende Verwandte und du würdest sie am liebsten aus der Welt schaffen!"
"Das ist etwas anderes! Sie ist ein Bastard!"
"So wie das Kind, dass meine junge Geliebte von mir erwartete. Dieses Balg wäre im Gegensatz zu Marguerite jedoch nicht einmal mit dir blutsverwandt gewesen, ma cafarde l'épouse [4]. Hör also endlich mit diesem vorwurfsvollen Gejammere auf, Adrienne! Du bist keinen Deut besser als ich, höchstens raffinierter und infamer."
"In Momenten wie diesen frage ich mich ernsthaft, aus welchem Grunde ich deine Ehefrau geworden bin!"
"Eine berechtigte Frage, da du mich seit dem Verlust meines Hab und Gutes wie einen Fußabtreter behandelst und nicht wie deinen Gemahl, dem du Respekt zollen solltest."
"Aber, Roger, das ist doch nicht wahr!", widersprach Adrienne, die ihren Mann fassungslos anstarrte.
"Oh doch, ma cherie, es ist die Wahrheit!", bekräftigte der Baron seine vorherige Aussage. "Unsinnig, es abzustreiten, teure Gattin."
"Du bist mein Ehemann und ich bin trotz allem bei dir geblieben."
"Ja, aber warum? Du kommst auch ganz gut allein zurecht und brauchst mich nicht."
"Roger! Roger, was ist denn nur mit dir los? Natürlich brauche ich dich!", beschwor ihn seine Frau.
"Davon bin ich nicht überzeugt", sagte der Baron und wandte sich um.
"Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen!", rief sie ihm nach und stand endlich auch vom Stuhl auf. "Roger, bitte!"
"Ich muss an die frische Luft!", gab er verärgert zurück und drehte sich vor der Tür noch einmal zu ihr um. "Wann ich nach Hause zurückkehre, weiß ich nicht. Du hast also Zeit genug, über meine Worte nachzudenken. Au revoir, Madame!"
Er öffnete die Tür, ging hindurch und schlug sie lautstark hinter sich zu, ohne seine Frau, die ihm bestürzt hinterher sah, noch eines Blickes zu würdigen. Adrienne hingegen konnte kaum begreifen, wie es zu einer solchen Auseinandersetzung kommen konnte. Sie wusste nur, dass der Auslöser dafür ihre eigenwillige Nichte war. Dieses kleine Biest, dass den gut aussehenden Rouven de Guignot kaum eines Blickes gewürdigt und ihn mit einer fadenscheinigen Ausrede am Tisch sitzen gelassen hatte, musste so schnell wie möglich verschwinden...
***
Frisch gebadet, ausgeruht und gut gelaunt schlenderte Caius an diesem Morgen in den großen Salon des Mietshauses, wo ein Spinett stand. Er ließ sich vor diesem nieder, hob den Deckel und schlug einige Tasten an. Wie lange war es her, dass er auf einem Musikinstrument gespielt hatte? Er wusste es nicht und er war nicht gerade sehr begabt in dieser Kunst, aber es machte ihm Freude und er hatte sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder mal die Zeit damit vertrieben, auf einem Instrument spielen zu lernen. Lyra, Flöte, Kithara, Cister, Viola, Laute, Psalterium und Spinett waren es, die er beherrschte, wobei er hin und wieder gezwungen war, diejenigen, die es ihn gelehrt hatten, zu töten, weil sie mit der Zeit erkannten, was er war...
Caius seufzte leise, als er sich daran erinnerte. Er hatte es nicht gerne getan, aber das Geheimnis um die Existenz von Vampiren musste unter allen Umständen gewahrt bleiben, und leider gab es keinen unter seinen Musiklehrmeistern, die er für würdig genug befand, verwandelt zu werden.
Manchmal fragte er sich, weshalb Aro ihn eigentlich zu einem Unsterblichen gemacht hatte. Es konnte doch nicht nur aus bloßem Mitleid geschehen sein, obwohl er ihm damals vermutlich das Leben rettete...
Der blonde Vampir schloss kurz die Augen und verzog das Gesicht, da ihn die Erinnerung an sein früheres Leben als Mensch im alten Rom überkam. Aufgewachsen bei seiner Mutter, einer ehemaligen Sklavin, die sich freigekauft und danach als Prostituierte ihr Brot verdienen musste, kannte er nichts anderes als ein kärgliches Leben, in dem er von klein auf gelernt hatte, einfache Aufgaben für seine Mutter zu erledigen, die ihm nie das Gefühl vermittelte, etwas für ihn zu empfinden. Ihr ehemaliger Herr, angeblich sein Vater, gab ihr freiwillig Geld für ihn, bis er das 16. Lebensjahr und damit das Alter erreichte, in dem er als erwachsen galt. Kurz darauf erklärte ihm seine Mutter, dass ihr Verdienst nicht ausreiche, um sie beide zu ernähren, und sie ihn daher an einen Mann verkauft habe, der künftig für ihn sorgen werde. Abschließend ermahnte sie Caius, gehorsam zu sein und seinem neuen Herrn gut zu dienen. Er hatte diese Worte noch kaum begriffen, als sein Dominus [5] erschien, um ihn mit sich in sein Haus zu nehmen. Noch am gleichen Abend tat ihm dieser Mann brutal Gewalt an, ohne Rücksicht auf seine Jugend... die Schmerzen waren unerträglich gewesen und er musste gegen seinen Willen weinen, was den Dominus jedoch nicht im geringsten kümmerte. Oh, wie sehr er diesen Mann hasste und wie sehr er seine Mutter hasste, die ihn diesem brutalen Kerl einfach überlassen hatte! Mehrere Jahre musste er seinem Dominus neben den täglichen Pflichten eines Haussklaven auch als Lustknabe dienen, bis jener genug von ihm hatte und ihn zwang, seinen Körper auf der Straße an andere Männer zu verkaufen. Das Geld dafür musste er selbstverständlich seinem Dominus übergeben.
Caius erinnerte sich noch genau an jenes Viertel in Rom, in dem die Lustknaben sich feilboten und jeder davon wusste. Auch er hatte dort seinen Platz und bald sogar einige Kunden, die immer wieder zu ihm kamen, weil sie den "Jüngling mit dem Goldhaar" besonders hübsch fanden. Viele von ihnen liebten es, sein Haar zu berühren oder über seinen Kopf zu streicheln, waren auch sonst sehr zärtlich zu ihm und überaus großzügig, aber ihn ekelte es einfach nur an, ihnen seinen Körper überlassen zu müssen. Und während sie seine Lust an ihm befriedigten, steigerte sich sein Hass auf seinen Herrn und seine Mutter jedes Mal. Dennoch wagte er es nicht, sich dem Willen des Dominus zu widersetzen, da er seine brutalen Schläge fürchtete, die er immer dann erhielt, wenn er nach Meinung seines Herrn zu wenig Geld nach Hause brachte.
Genau diese Angst trieb ihn auch eines Abends während der Tage der Saturnalien [6] wieder zurück an seinen Platz in jenem verrufenen Viertel, um seinen Körper wie üblich feilzubieten. Zuvor hatte er sich an einer der öffentlichen Tafeln satt gegessen, da sein Herr damit begonnen hatte, ihm kleinere Portionen der ihm zugedachten Mahlzeit zu geben und er deswegen oft noch an Hunger litt, wenn er das Haus des Dominus verließ. Es war für Caius eine neue Erfahrung gewesen, von all den anderen an der Tafel wie ein Gleichwertiger behandelt zu werden und dass ihm unbekannte Mädchen und Frauen zuzwinkerten und ihn anlächelten. Daran gewöhnt, von Männern mit interessierten Blicken betrachtet zu werden, war ihm darum auch entgangen, dass er die Aufmerksamkeit Aros auf sich gezogen hatte. Er bemerkte ebenso wenig, dass dieser ihm heimlich folgte, als er in das Viertel der Lustknaben zurückkehrte, um auf Kunden zu warten. Eigentlich ein unsinniges Unternehmen, da während der Saturnalien Herrschaften, einfache Leute und Sklaven ausgelassen miteinander feierten und die Moral beiseite schoben. Die meisten gaben sich einander hin, ohne Geld bezahlen oder Strafen befürchten zu müssen. Nur seinen Dominus interessierte dieses Treiben an den tollen Tagen nicht, weshalb er Caius streng befahl, wie üblich seiner Aufgabe nachzukommen und Geld für ihn zu verdienen.
Offensichtlich traute ihm sein Herr nicht, denn Caius bemerkte überrascht, dass jener bereits mit zorniger Miene auf ihn wartete, als er in dem Viertel erschien.
"Wo warst du?", bellte der Dominus ihn an.
"Ich nahm an den Saturnalien teil", antwortete Caius.
"Habe ich dir das erlaubt?"
"Nein, Herr, aber steht es nicht jedem frei, daran teilzunehmen? Am heutigen Tage sind Herren und Sklaven einander gleich."
"Mich interessieren deine Ausreden nicht, elender Nichtsnutz!"
Es würde Caius für immer ein Rätsel bleiben, woher plötzlich dieses wilde Aufbegehren in seinem Inneren hervorbrach, aber die beinahe panische Angst vor seinem Herrn war auf einmal wie weggeblasen und er richtete seinen Körper gerade auf, um dem Dominus furchtlos in die Augen zu blicken und zu entgegnen: "Es ist ein heiliges Fest, an dem jeder teilnehmen darf. Auch ich!"
"Was denn? Du wagst es, mir in solch unverschämter Weise zu antworten?!"
"Heute ist ein Tag, an dem jedem erlaubt ist, auszusprechen, was immer er will!"
"Aber nicht bei mir, elender Sklave!", schrie sein Herr ihn an und hob die Hand, in der er eine Peitsche hielt. "Mal sehen, ob du immer noch so frech bist, wenn ich den Riemen über deinen Rücken tanzen lasse, Bürschchen!"
Bevor der Dominus sein Vorhaben ausführen konnte, griff jemand, der aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien, nach seinem Arm und hielt ihn fest. Der Römer wandte sich wutverzerrt nach demjenigen um, der dies gewagt hatte, und sah einem dunkelhaarigen Mann von stattlicher Statur in die Augen, dessen langes Haar über seine Schultern fiel.
"Was fällt dir ein, Barbar?!", brüllte er ihn an. [7]
"Ihr wollt doch nicht wirklich an einem Tag wie diesem Euren jungen Sklaven züchtigen?", fragte ihn der Fremde mit sanfter Stimme höflich.
"Das geht dich nichts an!", entgegnete der Römer. "Ich schlage diesen Nichtsnutz wann immer ich es will und so oft ich will!"
"Der junge Mann hat nichts getan, um Eure Strafe zu verdienen", sagte der Fremde in immer noch höflichem Ton.
"Das weiß ich besser als du! Verschwinde endlich!"
"Gern, nach Euch", forderte der Unbekannte den Römer auf, dem aufgrund dieser Worte einen Moment lang der Mund weit offen stand. Dann drehte er sich plötzlich zu dem dunkelhaarigen Mann um und holte aus, um diesen mit seiner Peitsche zu schlagen.
Caius, der die ganze Zeit mit größtem Erstaunen beobachtet hatte, wie ein Fremder ihn gegen seinen Herrn in Schutz nahm, sprang nun von hinten auf den Rücken seines Dominus und hielt jetzt - wie zuvor der Fremde - dessen Arm fest.
"Nein, Herr, Ihr dürft das Gastrecht nicht dermaßen mit Füßen treten!", schrie er.
Der Römer brüllte vor Zorn auf, ließ die Peitsche fallen und packte mit beiden Händen nach hinten, wo er Caius zu fassen bekam und zu Boden warf, so dass der Junge glaubte, alle seine Knochen seien gebrochen. Sein Herr kam drohend auf ihn zu, zog ein Messer und zischte: "Für deine Anmaßung verdienst du den Tod, Sklave!" [8]
Caius, der glaubte, sein letztes Stündlein habe geschlagen, zog beide Arme schützend vor sein Gesicht und stellte sich auf den Tod ein. Doch dann passierte... nichts... Was war los? Hatte der Dominus es sich anders überlegt? Dennoch Caius wagte es nicht, seine Arme herunterzunehmen, bis er die sanfte Stimme des Fremden sagen hörte: "Hab keine Angst, mein Junge! Er wird dir nichts mehr tun!"
Vorsichtig senkte der blonde Jüngling seine Arme und betrachtete den dunkelhaarigen Mann misstrauisch. Er stand allein vor ihm und reichte ihm die Hand. Zaghaft streckte Caius seine Hand aus und ließ sich von dem Fremden auf die Beine helfen, dann schaute er sich um.
"Wo ist mein Herr?", fragte er verwundert.
"Er ist fort und er wird dir nie wieder etwas antun", erwiderte der Unbekannte mit ruhiger Stimme und sah ihn freundlich an. "Hast du große Schmerzen?"
"Sie... sind... zu ertragen. Danke, Herr."
"Wie heißt du?"
"Caius... mein Name ist Caius."
"Nun, Caius, es war sehr mutig von dir, deinen Herrn an einer ungerechten Handlung zu hindern", meinte sein Gegenüber und strich ihm leicht über die Wange, ihn dabei eindringlich musternd. "Komm mit mir, mein Junge, du wirkst erschöpft. Dein Herr hat dir anscheinend nicht genügend zu essen gegeben und dich auch sonst nicht gut behandelt zu haben."
In der Erinnerung daran, wie besorgt Aro bei diesen Worten an ihm herabgeschaut hatte, musste der blonde Vampir unwillkürlich lächeln. Nachdem sein römischer Herr ihn seinerzeit mit dem Tod bedroht hatte, glaubte er natürlich, nichts mehr zu verlieren zu haben und war Aro, der ihm damals fremd war, in dessen Haus gefolgt, wo er sich in einem warmen Bad reinigen durfte, köstliche Speisen erhielt und ein kleines Zimmer mit einem Bett, in das er sich sofort legte und einschlief. So ging es einige Tage lang, in denen er mit Aro vertraut wurde und ihm schließlich seine traurige Geschichte erzählte. Woher sollte er zu diesem Zeitpunkt auch wissen, wie unnötig das war? Oder dass Aro seinen Herrn in dem damals aufgrund der Saturnalien menschenleeren Viertel der Lustknaben rasch tötete und dann im Tiber entsorgte, bevor er zu ihm zurückkehrte und ihn dazu brachte, ihm zu folgen.
Er lebte ein Jahr lang im Hause von Aro wie ein kleiner Prinz, wurde verwöhnt und war überaus dankbar dafür. Allmählich fasste er völliges Vertrauen zu dem schwarzhaarigen Mann mit den langen Haaren, sah zu ihm wie zu einem Vater auf und stellte keine Fragen, wenn dieser hin und wieder für Stunden oder Tage verschwand. Es war schließlich nichts Ungewöhnliches, dass der "Pater familias" [9] viele Aufgaben zu erledigen hatte, und er wurde ja von den Dienern Aros umsorgt, nichtsahnend, dass die meisten unter ihnen ebenfalls Vampire waren, ihn jedoch nicht anrührten, da der Meister es verboten hatte. Schließlich kehrte Aro mit Marcus zurück, den er ihm als einen "Freund und Waffenbruder" vorstellte, und fragte ihn, ob er für immer an ihrer Seite leben wolle. Natürlich bejahte Caius diese Frage, allein schon deshalb, weil Marcus so gütig auf ihn wirkte und er zu diesem gleich Vertrauen fasste. Noch in derselben Nacht, als er tief schlief, verwandelte ihn Aro in einen der ihren... so wurde er ihr "Bruder" und dennoch blieb er auch immer der Sohn seines Meisters und Retters, der ihm alles beibrachte, was er als Vampir wissen musste.
Warum fiel ihm gerade jetzt diese alte Geschichte ein, die ihn innerlich zutiefst schmerzte, weil sie ihn immer wieder an den Verrat seiner Mutter erinnerte, die er niemals wiedersah? Er hätte sich gerne an ihr gerächt und kehrte etwa ein halbes Jahr nach seiner Verwandlung, als er seinen Blutdurst einigermaßen unter Kontrolle hatte, in das Stadtviertel zurück, in dem er früher mit seiner Mutter gelebt hatte. Niemand erkannte ihn wieder, sondern alle glaubten, er sei ein hoher Herr und erklärten ihm auf Befragen höchst unterwürfig, dass seine Mutter vor zwei Jahren nach einer schweren Infektion, die nicht lange währte, unter starken Schmerzen gestorben sei. Ein Gedanke, der ihn trotz seiner vereitelten Rache zutiefst befriedigte, auch heute noch, obwohl sie schon seit über 1.000 Jahren tot war.
Mit grimmigem Lächeln starrte Caius auf die Tasten des Spinetts und schlug sie hart an, spielte schnelle, disharmonische Akkorde und dachte daran, wie bald er sich unter eine Menge von Menschen mischen musste, denen er als Conte Caius Di Volturi vorgestellt werden würde, und wie sie sich vor ihm verneigten, ehrfürchtig, höflich, freundlich - wenn sie wüssten, dass er einst aus ärmlichen Verhältnissen stammte und gezwungen war, niedrige Dienste zu verrichten und auf Befehl eines brutalen Herrn seinen Körper zu verkaufen, wäre es mit ihrem höflichen Verhalten bestimmt sofort vorbei. Verdammte Heuchler alle miteinander!
Damals hatte ihm kein Mensch geholfen und heute würde ihm auch keiner von ihnen helfen, wäre er ein Jüngling in derselben Situation wie damals. Das einzige Wesen, das so etwas wie Mitgefühl empfand, war ein Vampir gewesen. Ausgerechnet Aro, der nach außen hin meistens kalt und arrogant erschien und nur hin und wieder seine liebenswürdige Seite zeigte. Dabei war er gefährlich und konnte gemein und hinterhältig sein. Dennoch: Aro war immer fair zu ihm gewesen, hatte ihn wie einen Sohn aufgenommen und ihn nach seiner Verwandlung zu einem ihm Gleichwertigen und "Bruder" gemacht, dem alle genau so viel Respekt zu zollen hatten wie Marcus und ihm. Aber warum? Caius verstand es einfach nicht. Er besaß keine besonderen Fähigkeiten wie so viele andere Vasallen der Volturi. Trotzdem war er einer ihrer Anführer... warum nur? Warum?
Caius hörte, wie die Doppeltür hinter ihm aufgeschlagen wurde, und spürte einen Hauch an sich vorüberziehen. Ohne aufzusehen fragte er: "Was gibt es, Aro?"
"Weshalb veranstaltet du so einen musikalischen Lärm, dass einem die Ohren schmerzen?!", fragte der schwarzhaarige Vampir aufgebracht und wirkte verärgert.
"Tut mir leid, ich habe mich wohl vergessen", entschuldigte sich Caius und hörte sofort mit dem Spiel auf.
"Du musst dich allmählich wieder zusammennehmen!", ermahnte ihn Aro in strengem Ton. "Nur noch zwei Tage bis zum Ball. Wir wollen nicht auffallen, sondern uns amüsieren. Außerdem hegt Marcus den Wunsch, unsere Nachbarin von gegenüber kennenzulernen. Er hat sie gesehen und findet sie recht einnehmend."
"Von mir aus kann er ja hingehen! Meinen Segen hat er", gab der blonde Vampir spöttisch zurück. "Ich gönne ihm die Zeit in angenehmer, weiblicher Gesellschaft. Hoffentlich ist sie auch so angenehm, wie er es sich wünscht. Eine Enttäuschung wäre schrecklich, vor allem für die Madame."
"Warum so missmutig, Bruder? Als du gestern ankamst, hattest du doch die allerbeste Laune."
"Ja, da habe ich auch erfolgreich verdrängt, wie verlogen die Menschen sind."
"Ach komm, sei nicht so selbstgerecht! Es ist doch amüsant, sie zu studieren, mit ihnen zu plaudern und ein wenig zu flirten. Es sind bestimmt viele hübsche Mädchen auf dem Ball und ich habe vor, mit einigen der jungen Damen zu tanzen. Das solltest du auch mal versuchen, anstatt so viel über die menschliche Natur nachzugrübeln."
"Ich habe keine Lust, meine Zeit mit albernen, kleinen Gänschen zu verbringen!", murrte Caius. "Ich will nicht auf diesen Ball. Das ist meiner Meinung nach reine Zeitverschwendung! Lass uns nach Volterra zurückkehren und den Prozess gegen den Padre verfolgen, das finde ich viel Interessanter. Danach könnten wir doch selbst einen Ball im Palazzo geben, zur Feier des Tages. Das wird ein Festschmaus."
Aro schüttelte mit unzufriedener Miene den Kopf.
"Meist du wirklich, ich wäre so dumm, einen Ball zu veranstalten und mich von den geladenen Gästen zu ernähren, kurz nachdem ein Vertreter der Inquisition in Volterra war? Viel zu auffällig, mein Freund, das sage ich dir!", erklärte er mit kalter Stimme. "Du neigst immer noch dazu, die Menschen zu unterschätzen, Caius. Vergiss Volterra und schlag es dir ein für alle Mal aus dem Kopf, Gäste, die man zum Ball einlädt, als Nahrungsmittel zu benutzen! Wir jagen diskret, verstanden?!"
"Ja, ja, schon gut! War ja nur so ein Gedanke! - Trotzdem sollten wir nach Volterra zurückkehren. Marcus kann sich auch in Italien nach einer Witwe umsehen!"
"Nein! Auf gar keinen Fall kehren wir vor Anbruch des Frühlings nach Volterra zurück! So lange wirst du dich gefälligst zusammennehmen!"
"Und wenn es nach dir geht, muss ich meine Zeit auch mit albernen Gänsen verbringen!"
"Die Gesellschaft alberner, junger Damen ziehe ich immer noch derjenigen von fanatischen Priestern und Richtern vor", wies Aro ihn zurecht. "Aber vermutlich hättest du gar nichts gegen den Ball, wenn du wüsstest, dass eine bestimmte junge Dame mit einer lieblichen Stimme und der Neigung, die Gerte im richtigen Moment zu gebrauchen, dort sein würde, nicht wahr?"
Überrascht blickte Caius zu seinem Freund auf, in seine Augen trat ein hoffnungsvoller Ausdruck.
"Weißt du, wer sie ist und ob sie kommt, Aro?"
"Natürlich nicht! Wie könnte ich das, da du dich nicht mehr an ihren Namen erinnerst?"
Enttäuscht ließ Caius seinen Blick wieder sinken und starrte auf die Tastatur des Spinetts.
"Wenn ich meine kleine Comtesse dort nicht treffen kann", begann er leise und ärgerlich, "...habe ich auch nicht das geringste Verlangen, auf dem königlichen Ball zu erscheinen. Die anderen Mädchen interessieren mich nicht und die dämlichen Laffen mit ihren heuchlerischen Höflichkeiten erst recht nicht. Bitte, Aro, gestatte mir, nach Volterra zurückzukehren. Ich verspreche auch, mich nicht in die Angelegenheiten von Felix und Demetri einzumischen."
"Nein, habe ich gesagt!", gab der schwarzhaarige Vampir streng zurück. "Du weißt selbst, dass du zu übereiltem Handeln neigst, sobald dich heftige Emotionen übermannen! Natürlich gibt es Situationen, in denen impulsives Handeln angebracht ist, das bestreite ich nicht. Aber ebenso wichtig und geradezu lebensnotwendig für einen Vampir ist absolute Selbstkontrolle. Da du damit Schwierigkeiten hast, seit ich dich kenne, ist es besser für dich, in unserer Nähe zu bleiben. Betrachte den Hofball als Übung für deine Selbstbeherrschung, wenn du diesem Fest sonst schon nichts abzugewinnen vermagst. Du bleibst hier, verstanden?!"
"Ja, Sire, ich habe absolut verstanden!", schleuderte ihm Caius entgegen, erhob sich rasch von seinem Sitz und rauschte aus dem Zimmer.[10] Wenig später hörte Aro, wie die Tür von außen zuschlug. Er seufzte. Sobald Caius etwas zu hören bekam, was ihm nicht passte, musste er den wilden Mann spielen. Leider bestand keine Aussicht darauf, dass man dem Jüngeren dieses pubertäre Verhalten abgewöhnen konnte, sondern damit leben und versuchen müsste, daraus das Beste zu machen. Wenigstens beruhigte sich Caius auch wieder schnell und war einsichtig und loyal, so dass er sich gewiss spätestens heute Abend wieder zu Hause einfand und ihm rechtgeben würde...
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[1] quid pro quo = lat. "dieses für das" / Es bedeutet, dass man für etwas einen Ausgleich erhält. - Hier im übertragenen Sinn: Ich vergelte Gleiches mit Gleichem.
[2] Putain de merde! = frz. "Verdammte Scheiße!" (Ein Lieblingsfluch der Franzosen)
[3] Zwischen dem 16. und dem 17. Jahrhundert war das eine von wenigen verbotenen Möglichkeiten, einen Schwangerschaftsabbruch herbeizuführen. - Vgl. historicum.net/themen/hexenforschung/lexikon/alphabetisch/a-g (Thema: Schwangerschaftsabbruch)
[4] ma cafarde l'épouse = frz. "meine heuchlerische Gattin"
[5] Dominus = lat. "Herr" / Titel für den "Hausherrn"
[6] Saturnalien = Festtage, zu Ehren des Gottes Saturn im Alten Rom begangen (etwa 17. - 19. Dezember). Gilt gemeinhin als Vorläufer des Karnevals. Es gab ein öffentliches Gelage, zu dem jedermann eingeladen war und Herren und Sklaven für eine gewisse Zeit ihre Rollen tauschten. Auch war es erlaubt, alles zu sagen, was man wollte, ohne eine Strafe befürchten zu müssen. Man überschüttete sich mit kleinen Rosen, womöglich als Vorläufer des heutigen Konfetti. Auch ein geschmückter Schiffswagen wurde durch die Straßen gezogen.
[7] Barbar = griech. "der Fremde". Dies war zu jener Zeit schon eine abwertende Bezeichnung und der Römer glaubte, dass Aro ein "Barbar" (d. h. ein Nicht-Römer oder ein Nicht-Grieche sei, der von einer als "unzivilisiert" angesehenen Provinz herstammt) ist, weil er langes Haar trägt (bei den Römern ebenfalls ein Hinweis auf einen "unzivilisierten" Mann, denn in Rom trugen die Männer alle kurze Haare).
[8] Ein Sklave galt damals nicht als "Mensch", sondern als "Menschenfüßler" und hatte keinerlei Rechte. Sein Herr durfte mit ihm machen, was immer ihm beliebte, sogar ihn töten, wenn er es für notwendig befand! Dies wurde nicht bestraft!
[9] Pater familias = lat. "Familienvater", gemeint war im Alten Rom damit der "Herr des Hauses", der "Patron", dem sich alle im Hause unterzuordnen hatten.
[10] "Sire" (frz. "Majestät") ist hier kein Rechtschreibfehler, sondern wirklich so gemeint, um das Machtverhältnis zwischen Aro und Gaius deutlich zu machen. (Wenn man die beiden als Vater und Sohn betrachten möchte, kann man es auch als das Aufbegehren des Jugendlichen gegen den Vater interpretieren).
12. Kapitel
Es kommt oft anders, als man denkt.
Deutsches Sprichwort
~~~~~
Es war dunkel an diesem Tag, doch Rouven de Guignot brannte darauf, mit Roger de Lebrunne unter vier Augen zu sprechen. Der Baron hatte ihm gestern beim Abschied zugeflüstert, sich mit ihm um diese Uhrzeit an der Kirche treffen zu wollen, und er war natürlich neugierig zu erfahren, was Roger von ihm wollte.
Die Absichten Adriennes waren klar, hatte diese ihn doch bei ihrem letzten kurzen Treffen unter vier Augen am gestrigen Nachmittag im kleinen Salon des Pariser Mietshauses darum gebeten, sich um ihre Nichte zu kümmern, ihr den Kopf zu verdrehen und sie unter dem Vorwand einer Eheschließung zu überreden, mit ihm heimlich fortzulaufen. Sobald er mit der Kleinen aus Paris heraus und weit weg sei, könne er sie "diskret beseitigen". Die Art und Weise, wie das geschähe, wäre ihr gleich. Marguerite de Rochefort solle nur aus ihrem Leben verschwinden und für niemanden mehr auffindbar sein. Als Belohnung hatte ihm Adrienne einige Liebesnächte versprochen und natürlich war Rouven überaus begierig darauf, seine heimliche Affäre mit der Baronesse, die sehr feurig im Bett war und einen Mann damit fast um den Verstand bringen konnte, fortzusetzen. Er hatte dabei keinerlei Skrupel, bestand sein Plan doch darin, die ihm bis dahin unbekannte Nichte Adriennes an Schmuggler zu verkaufen, welche sie auf dem Sklavenmarkt in Asien versteigern lassen könnten. Ein junges, noch unberührtes Mädchen aus Europa erzielte dort einen hohen Preis, wie er aus den Berichten einiger Seeleute wusste.
Natürlich musste man aufpassen, da Menschenhandel vom König ausdrücklich verboten worden war und die Garde Seiner Majestät sowie diejenige Seiner verstorbenen Eminenz, die von seinem Nachfolger übernommen worden war, darauf achteten, dass dieses Verbot auch eingehalten wurde. Doch das wäre ja nicht sein Problem, sondern das der Schmuggler, die trotz der strengen Kontrollen der Gardeoffiziere immer Mittel und Wege fanden, ihre schmutzigen Geschäfte unbemerkt zu tätigen.
Allerdings war Rouven nicht mehr bereit, den Plan Adriennes auszuführen, nachdem er ihre Nichte, ein bildschönes Mädchen mit hellblonden Haaren, makellos weißer Haut und großen, himmelblauen Augen, kennengelernt hatte. Darüber hinaus war sie von edler Geburt, im heiratsfähigen Alter und Erbin eines großen Vermögens. Alles in allem sprach nichts dagegen, wenn er sich selbst um dieses wundervolle Geschöpf bemühen würde. Im Vergleich mit diesem anmutigen Engel wirkte Adrienne geradezu nichtssagend, trotz ihrer Qualitäten als Liebhaberin. Wer würde sie nicht sofort gegen Marguerite, ein unschuldiges Mädchen, dem man noch alles beibringen konnte und die in der Lage wäre, ihm Kinder zu schenken, eintauschen?
Nein, er würde Adriennes Plan nicht ausführen. Auf keinen Fall! Aber das musste er ihr ja nicht unbedingt auf die Nase binden! Sonst würde Rogers Eheweib womöglich jemand anderen damit beauftragen und er wollte nicht, dass jemand der kleinen Comtesse etwas antat...
***
Nachdem sie gestern kein Abendessen mehr zu sich nehmen konnte, verspeiste Marguerite nun mit großem Appetit das üppige Frühstück, welches ihr die Köchin auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin zubereitet hatte. Als Arlette es ihr aufs Zimmer brachte, hörte die Comtesse auch noch mit großem Vergnügen, wie ihre neue Zofe ihr lebhaft davon berichtete, dass Baronesse de Lebrunne überaus verärgert darüber gewesen sei, dass ihre Nichte nicht zum Frühstück herunterkomme und möglicherweise auch nicht erscheinen werde, wenn die Schneiderin ins Haus käme.
Marguerite nahm einen Schluck heiße Schokolade aus ihrer Tasse und grinste ein wenig, ohne dass Arlette dies sehen konnte. Jetzt, da die aufgesetzte Freundlichkeit ihrer Tante zu bröckeln begann, fühlte sie sich wesentlich wohler. Ihr Gefühl hatte sie also nicht getäuscht und sie dankte ihrem Vater innerlich für den guten Ratschlag, auf sich selbst zu vertrauen.
"Wollt Ihr denn wirklich nicht hinuntergehen, wenn die Schneiderin kommt?", erkundigte sich in diesem Augenblick die Zofe. "Eure Tante meinte, dass Ihr unbedingt ein neues Kleid für den Silvesterball im Palais Luxembourg braucht."
"Und was meinst du, Arlette?", fragte Marguerite mit leichtem Amüsement in der Stimme und sah zu der Zofe hin. "Ist keines meiner alten Kleider gut genug für den königlichen Ball?"
"Nun ja...", begann die Angesprochene verlegen und errötete ein wenig. "Natürlich sind alle Eure Kleider hübsch und manche sogar sehr elegant, aber... wisst Ihr, Comtesse, wenn Ihr in die Gesellschaft eingeführt werdet, wäre es doch ganz schön, wenn Ihr ein vollkommen neues Kleid tragen würdet. Die Schneiderin wird es sicher nach Euren persönlichen Wünschen anfertigen..."
"Oder nach denen meiner Tante", ergänzte das blonde Mädchen ironisch.
"Nein, ganz sicher nicht! Es geht doch um Euer Debüt und Ihr müsst das Kleid tragen."
"Meine Tante wird sich mit Sicherheit einmischen."
"Sie wird Euch höchstens Ratschläge erteilen, so wie Madame Colignon, die ebenfalls heute Morgen dabei sein wird, wenn Ihr Euch ein Kleid aus dem Modeheft heraussucht und die Schneiderin dafür Eure Maße nimmt."
"Ach, dann hat sie Madame Colignon tatsächlich eingeladen?", fragte Marguerite überrascht.
"Ja, und Madame hat zugesagt."
"In diesem Fall werde ich natürlich hinuntergehen", erklärte die Comtesse und schwang ihre langen Beine aus dem Bett. "Komm, hilf mir beim Anziehen!"
***
"Ah, Roger, da seid Ihr ja endlich!", sagte Rouven de Guignot, nachdem Baron de Lebrunne eine gefühlte Viertelstunde später erschien, als verabredet gewesen war. "Ich überlegte gerade, ob ich gehen soll."
"Tut mir leid, alter Freund", entschuldigte sich Roger. "Es war mir bedauerlicherweise nicht eher möglich herzukommen, weil meine Frau heute Morgen wegen alter Geschichten ein großes Aufhebens machen musste. Seit man ihr die Vormundschaft für ihre Nichte übertrug, hat ihre Gereiztheit erheblich zugenommen. Manchmal ist das unerträglich. Wenn ich Euch einen Rat geben darf, Rouven: Heiratet bloß nie."
"Wie kommt Ihr darauf, dass ich das je wollte?", gab de Guignot zurück.
"Ihr habt ganz recht, mein Freund", erwiderte der Baron und grinste etwas. "Beneidenswert, wie Ihr es versteht, das Leben zu genießen. Doch ich bin eigentlich gekommen, um etwas anderes mit Euch zu besprechen..."
De Lebrunne sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, ob auch niemand ihn und seinen Freund beobachtete, und zog de Guignot danach hinter die Kirche, wo sich der Friedhof befand und sie geschützt vor den Augen der Außenwelt waren.
"Lasst uns ein Stück gehen", schlug der Baron vor und de Guignot nickte.
Während sie nebeneinander herschlenderten, ergriff de Lebrunne erneut das Wort und sagte leise: "Ich weiß zwar nicht genau, was für eine Vereinbarung Ihr mit meiner Frau getroffen habt, aber diese plötzliche Einladung gestern zum Souper war doch nicht nur ein Freundschaftsbesuch, nicht wahr?"
"Eure Gemahlin wollte sich erkenntlich zeigen, da ich Euch das Mietshaus vermittelt habe, in dem Ihr jetzt wohnt", behauptete de Guignot ausweichend. "Und natürlich war ich auch neugierig auf die kleine Comtesse, was Eurer Gattin ebenfalls bekannt war. Sie hat mir damit einen großen Gefallen erwiesen."
"Und wie findet Ihr Marguerite, Rouven?"
"Nun, ich hätte nicht erwartet, dass die Comtesse dermaßen hübsch ist. Doch Eure Gemahlin gab mir zu verstehen, dass sie ihr durch ihre Eigensinnigkeit manche Probleme bereitet. Stimmt das?"
"Die Jugend ist eben ein wenig aufsässig, aber das gibt sich schon wieder", tat der Baron es ab. "Eigentlich ist die Nichte meiner Frau von ruhigem Wesen und die Schwierigkeiten mit ihr wären sicherlich nicht entstanden, wenn meine Frau ein wenig mehr auf das Kind eingehen würde. Doch sie behandelte das Mädchen von Anfang an überaus unfreundlich und viel zu streng, völlig unangebracht. Nur deswegen verhält sich Marguerite so eigensinnig."
"Ah, ich verstehe", murmelte de Guignot. "Dann hat die vorgeschützte Müdigkeit der Comtesse nichts mit meiner Person zu tun?"
"Natürlich nicht, ich bitte Euch! Marguerite kennt Euch gar nicht, was sollte sie gegen Euch haben?"
"Das ist wahr! Ich sehe es ein."
"Jedenfalls wollte ich Euch sagen oder vielmehr bitten, das Mädchen in Ruhe zu lassen. Sie ist ein liebenswertes Kind, dessen Eigensinn man sicherlich durch Freundlichkeit wieder zum Verschwinden bringen kann. Dann wird sie schon keinen Unsinn mehr anstellen und gehorchen."
"Ihr habt sicher recht, Roger, aber Eure Andeutung, dass ich etwas gegen Eure Nichte plane, ist völlig aus der Luft gegriffen. Und ich versichere Euch, dass Comtesse Marguerite vor mir nichts zu befürchten hat. Meint Ihr, dass es nochmals eine Gelegenheit geben wird, damit ich sie näher kennenlernen kann?"
"Von meiner Seite steht dem nichts entgegen. Bemüht Euch ruhig um sie. Doch Ihr solltet Euch keine allzu großen Hoffnungen machen. Marguerite ist noch recht kindlich und ich glaube kaum, dass sie sich schon mit Heiratsgedanken trägt. Sie war auch nur auf Anraten unserer Nachbarin, Madame de Colignon, dazu bereit, auf dem königlichen Silvesterball zu debütieren, sonst wären wir gar nicht hier."
"Dann ist es vielleicht wirklich noch zu früh für Eure Nichte."
"Eigentlich nicht, sie ist bereits sechzehn Jahre alt und wird im nächsten Jahr siebzehn. Doch diese jungen Mädchen vom Land wachsen sehr behütet auf und sind darum noch recht naiv. Man muss ein wenig Geduld mit ihnen haben."
"Wie dem auch sei, Roger, ich würde mich wirklich über ein baldiges Wiedersehen mit Eurer Nichte freuen."
"Dann wäre es am besten, wenn Ihr auf dem Ball erscheint. Bei einer langsamen Allemande [1] kann man sich sicherlich ein wenig miteinander austauschen."
"Diesen Ratschlag werde ich beherzigen und ich glaube, die Comtesse wird die Aufmerksamkeit aller auf dem königlichen Ball erregen."
"Mir wäre es lieber, wenn sie es nicht täte, denn ich weiß nicht, ob meine Frau dem gewachsen ist."
De Guignot lachte ein wenig und schüttelte den Kopf. Dann meinte er: "Eure Frau Gemahlin sollte sich allmählich damit abfinden, dass sie nicht mehr die Jüngste ist."
"Ich fürchte, dies ist ein Wunsch, der unerhört verhallt", erwiderte der Baron mit leicht spöttisch gekräuselten Lippen. "Dennoch danke ich Euch für dieses Gespräch und Euer Verständnis."
"Ich bitte Euch, das macht mir keine Umstände", versicherte ihm sein Freund. "Und wenn der Ball vorbei ist, wäre es schön, wenn Ihr mich einmal besucht."
"Dies Angebot nehme ich mit dem größten Vergnügen an."
Die beiden Männer tauschten einen festen Händedruck aus und gingen wieder auseinander...
*
Nach seinem Streit mit Aro streifte Caius ziellos durch die Straßen, seinen dunklen Mantel eng um sich geschlungen und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, damit niemand seine zornige Miene sah. Trotz seiner Verachtung für die Menschen war er sehr darauf bedacht, sie nicht zu erschrecken und damit möglicherweise die unerwünschte Aufmerksamkeit einiger seiner potenziellen Beutetiere zu erregen. In dem Trubel, der an diesem Vormittag in Paris herrschte, schenkte ihm jedoch niemand besondere Beachtung, da er genau wie alle anderen Passanten aussah, die es ebenso eilig hatten wie er scheinbar auch.
Grimmig starrte Caius auf die dicke Schneeschicht, die die Straßen bedeckte. Sie war zum Teil schon von menschlichen Tritten niedergetrampelt und an vielen Stellen grau und matschig. Doch dort, wo sie noch kein sterblicher Fuß berührt hatte, reflektierte der Schnee das kalte Sonnenlicht, was einen blendend-glitzernden Effekt hervorrief, den außer ihm keiner zu bemerken schien.
Aros salbadernde Ermahnungen waren ihm allmählich wirklich lästig. Er wusste selbst um seine Schwächen, da musste nicht noch sein Meister daherkommen und es ihm unter die Nase reiben. Konnte er ihm nicht einfach direkt ins Gesicht sagen, dass er kein Vertrauen zu ihm hatte? Dabei musste Aro doch wissen, wie loyal er zu ihm und dem Rest des Volturi-Clans stand. Er hatte es ihm oft genug bewiesen und dennoch war sein Meister nicht bereit, ihn nach Volterra zurückkehren zu lassen. Und dann diese Andeutung, er solle besser in seiner und Marcus' Nähe bleiben, als ob er sich ohne ihren Beistand nicht selbst im Griff hätte! Trotz all der Jahrhunderte, die sie miteinander zusammen gewesen waren, schienen die beiden älteren Vampire in ihm immer noch eine Art Kind zu sehen, auf das man aufpassen musste. Che una insolenza! [2]
Caius war so zornig, dass er am liebsten den erstbesten Menschen angefallen und ausgesaugt hätte. Doch er hielt diesem Verlangen stand, obwohl er innerlich zitterte. Einen Moment lang überlegte er, wieder in die Wildnis zu verschwinden und nicht mehr so schnell zurückzukommen, obwohl sein Meister ihm quasi befohlen hatte, Marcus und ihn auf den königlichen Ball zu begleiten. Der blonde Vampir verwarf dies aber rasch wieder, da ihm schnell klar wurde, dass genau so ein Verhalten für Aro nur eine Bestätigung seines Vorwurfs, er habe nicht genügend Kontrolle über sich selbst, darstellte.
Nein, du irrst dich, lieber Meister und Bruder, mein unangefochtener Herrscher, verehrter Sire und Despot... Caius genoss es, Aro in Gedanken auf solch spöttisch-abwertende Weise zu betiteln. Und es war ihm gleich, wenn jener es später aus ihm herauslas. Sollte er ruhig wissen, wie sehr ihn sein Misstrauen verletzte.
Er war immer loyal zu ihm gewesen und er würde nie etwas tun, was seinem Meister schadete. Hatte jener ihn nicht aus einem elenden Leben gerettet und ihm ein neues, besseres dafür geschenkt?
Der letzte Gedanke beruhigte Caius wieder ein wenig, wenngleich er immer noch aufgewühlt war. Natürlich war er Aro dankbar und liebte ihn wie einen Bruder, aber dennoch... große Brüder konnten manchmal wirklich ungerecht sein. Andererseits war ihm bewusst, dass sein Meister es gut mit ihm meinte und ihn wohl tatsächlich nur vor sich selbst schützen wollte.
Der blonde Vampir sog scharf die Luft ein, als ihm diese Erkenntnis kam. Sie kam ihm nicht zum ersten Mal, genauso wenig, wie Aros Ermahnungen. Immer und immer wieder musste er es sich anhören. Verdammt, war er wirklich so schlimm, so unbeherrscht?
Selbstreflektion gehörte wahrhaftig nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, aber seiner Meinung nach übertrieb Aro es mit seinen ständigen Zurechtweisungen. Ha! Er würde seinem Meister schon zeigen, wie gut er sich selbst beherrschen konnte! Und darum würde er auf diesen vermaledeiten Ball gehen, würde sich höflich mit allen möglichen Hofschranzen unterhalten und sich vielleicht auch mal dazu herablassen, die eine oder andere der reiferen Damen anzulächeln. Der Gesellschaft junger Mädchen konnte er nun mal nichts abgewinnen, mochte Aro sagen, was er wollte. Mit ihnen ein vernünftiges Gespräch zu führen, war schier unmöglich. Ständig mussten sie kichern und liefen rot an, dass es selbst ihm peinlich wurde. Aber mit einer reiferen Frau... nun ja, warum nicht? Vielleicht konnte er so eine Madame davon überzeugen, nicht ohne ihn nach Hause zurückfahren zu wollen. So ein kleines Frühstück wäre Entschädigung genug für einen langweiligen Abend unter Sterblichen.
Die Aussicht auf eine derartige Belohnung hob Caius' Laune enorm und er richtete seinen Blick nun wieder nach oben, beobachtete die hin und her eilenden Menschen, nahm die verschiedenen Gerüche wahr, die sich miteinander vermischten und konnte plötzlich sogar dem Duft frisch gebackenen Brotes etwas abgewinnen. Und dann fiel ihm ER auf - ein großer, feister Mann, gehüllt in einen abgetragenen, braunen Mantel, einen Hut auf dem Kopf, der auch schon bessere Tage gesehen haben mochte, während Hose und Stiefel wie neu aussahen. Dieser Mensch wirkte auf ihn ein wenig gehetzt, er hörte dessen Herz schnell und unregelmäßig schlagen, und offensichtlich war jener darauf bedacht, von niemandem bemerkt zu werden, denn er sah sich ständig nach allen Seiten um.
Neugierig auf diesen seltsamen Vogel hielt Caius zunächst großen Abstand zu ihm, so dass jener nicht bemerkte, dass er verfolgt und beobachtet wurde. Der beleibte Mann schritt auf eine hohe Kirche zu, vor der bereits ein anderer Kerl, lang und hager, auf ihn zu warten schien. Die Männer begrüßten sich knapp und Caius sah, wie der feiste Mann, der Roger hieß, den anderen namens Rouven kurz danach am Arm ergriff und mit sich hinter die Kirche zog. Die beiden mussten demnach etwas zu verbergen haben.
Obwohl der blonde Vampir die Stimmen dieser Männer mit seinem feinen Gehör gut vernehmen konnte, schlenderte er wie absichtslos zu der Kirche hin und ließ sich dann auf eine Bank davor nieder, anscheinend die Geschäftigkeit der Leute auf dem unweit von der Kirche befindlichen Marktplatz beobachtend, während er in Wirklichkeit interessiert dem Gespräch des feisten Roger mit dem hageren Rouven folgte. Das Gesprächsthema bildete eine gewisse Comtesse Marguerite, die auf dem Lande aufgewachsen war und ebenfalls am königlichen Ball teilnehmen würde.
Im ersten Moment schöpfte Caius wieder Hoffnung, es könne sich eventuell um 'seine' Comtesse handeln, aber als er Roger sagen hörte, dass sie naiv und im Grunde leicht zu lenken sei, wenn man sie nur freundlich behandelte, verwarf er diese Hoffnung sofort wieder. Das konnte unmöglich das Mädchen sein, das die Gerte gegen einen Wegelagerer erhob. 'Seine' bewundernswerte Comtesse war stolz, selbstbewusst und ganz sicherlich nicht leicht zu lenken. Wahrscheinlich hatte er nicht so viel Glück, sie auf diesem Silvesterball zu treffen... das wäre zu schön... Aber nach allem, was er gerade hörte, war auch diese Marguerite nicht ganz freiwillig nach Paris gekommen, sondern von einer Nachbarin dazu überredet worden. Vermutlich wollte sie die Tante, die sie - nach allem, was der feiste Roger gerade erzählte - offensichtlich nicht leiden konnte, so schnell wie möglich unter die Haube bringen und hatte zu diesem Zweck diesen dünnen Hagestolz zum Souper eingeladen, von dem die Kleine sich rasch verabschiedete.
Caius dachte daran zurück, was man ihm in seiner Jugend angetan hatte, und empfand Mitgefühl mit dem jungen Mädchen, obwohl sie zu der Sorte weiblicher Wesen gehörte, mit denen er seine Zeit nicht unbedingt verbringen wollte. Doch ihre Abneigung, auf den königlichen Ball zu gehen, fand seine Sympathie und er konnte sehr gut nachvollziehen, dass eine Sechzehnjährige keine Lust verspürte, in Gesellschaft eines solch hässlichen, dürren Geiers wie diesen Rouven zu sein, der nichts Einnehmendes an sich hatte und vermutlich mehr als doppelt so alt war wie sie. Bestimmt konnte sie ihn ebenso wenig leiden wie er es tat und würde sich gegen eine Heirat zu widersetzen versuchen, die ihre Tante vermutlich ins Auge gefasst hatte. Im Widerspruch zu seiner Behauptung, nie ans Heiraten gedacht zu haben, zeigte Rouven großes Interesse an Marguerite, die er als hübsch bezeichnete und zweimal im Gespräch erwähnte, sie wiedersehen zu wollen, worauf ihm der feiste Roger riet, zum Ball zu erscheinen und ihr die Cour [3] zu machen. Armes Mädchen! Er hatte nicht übel Lust, ihr zu Hilfe zu kommen und diesem Rouven sowie diesen Verwandten die Tour zu vermasseln. Und warum auch nicht? Das würde diesen Abend wesentlich unterhaltsamer machen!
Caius spürte, wie sich seine Stimmung hob. Allein der Gedanke, in die blöden Gesichter von Roger und Rouven zu blicken, wenn er um Marguerite herumscharwenzelte und mit ihr so oft wie möglich tanzte bzw. dafür sorgte, dass sie auch von anderen Männern aufgefordert wurde, nur damit Rouven keine Möglichkeit erhielt, selbst mit ihr zu tanzen und sie dabei mit seinen Komplimenten zu belästigen... Ja, das würde ein Spaß werden!
***
Marguerite erschien gerade im großen Salon, als ihre Tante Madame de Colignon willkommen hieß. Louise, die ihre neue Dienstherrin begleitet hatte, wurde von der Baronesse lediglich mit einem knappen Kopfnicken bedacht, was die Comtesse ein wenig ärgerte. Warum glaubte ihre Tante eigentlich, dass sie etwas Besseres sei als Louise? Ihre Freundin hatte einen tadellosen Leumund, war gebildet, taktvoll und freundlich, während Tante Adrienne lediglich einen Adelstitel und ein großes Maß an Hochmut besaß. Jeder Mensch mit Verstand würde die Gesellschaft Louises derjenigen ihrer Tante vorziehen. Doch jetzt galt es, gute Miene zu machen, denn in Anwesenheit von Madame de Colignon, ihrer Freundin und der Schneiderin musste sie das Spiel ihrer Tante mitspielen, die sich wieder einmal wie eine fürsorgliche Mutter gab.
"Wie schön, dass es dir besser geht und du doch noch heruntergekommen bist, Kind", begrüßte Adrienne ihre Nichte mit falschem Lächeln. "Dann kann sich Madame Martin gleich mit dir befassen. Mein neues Kleid ist ja nicht so wichtig!"
Marguerite sah ihre Tante interessiert an, während sie sich ebenfalls zu einem Lächeln zwang. Sie fand es äußerst bemerkenswert, dass die Baronesse diese Gelegenheit ergriff, um ebenfalls an ein neues Kleid für sich zu kommen. Man musste zumindest anerkennen, dass sie ihre Chancen gut zu nutzen wusste und rasch wieder in ihre Rolle als treusorgende Tante schlüpfte, die nur das Beste für ihr Mündel im Sinn hatte, in dem sie ihr - der Debütantin - den Vortritt bei der Schneiderin ließ.
"So, Madame Martin", wandte sich Adrienne de Lebrunne nun an die Kleidermacherin. "Dies hier ist meine Nichte Marguerite de Rochefort, die bei Hofe ihr Debüt gibt. Sie braucht unbedingt ein Kleid, in dem sie bei allen den besten Eindruck macht. Ihr wisst, wie wichtig das für ein junges Mädchen und dessen Familie sein kann."
"Natürlich, Baronesse", versicherte Madame Martin, eine dunkelhaarige, zierliche Person, und schaute dann mit freundlichem Lächeln und warmen Augen zu Marguerite, verneigte sich leicht vor ihr und sagte: "Es wird mir ein Vergnügen sein, einen wundervollen Traum aus Seide für Euch anzufertigen, Comtesse. Habt Ihr einen besonderen Wunsch?"
"Nein, gar nicht", antwortete das blonde Mädchen, das die Art der Schneiderin sehr angenehm fand. "Ihr müsst mich schon genau beraten, da ich von Mode keinerlei Ahnung habe."
"Gar kein Problem", meinte Madame Martin und holte aus ihrer Tasche ein paar illustrierte Blätter, die sie Marguerite reichte. "Hier sind einige der beliebtesten Kleidermodelle, die man selbstverständlich individuell nach Euren Wünschen ausarbeiten kann. Nehmt Euch ruhig Zeit, sie durchzusehen."
"Danke, das wird sicher sehr hilfreich sein", erwiderte Marguerite lächelnd, ging dann zu dem Sofa, auf dem Madame de Colignon und Louise inzwischen Platz genommen hatten, und sagte zu ihnen: "Ich freue mich sehr, dass Ihr es einrichten konntet zu kommen, Madame de Colignon, und ich danke Euch, dass Ihr meine gute Freundin mitgebracht habt. Erlaubt bitte, dass ich mich zwischen Euch und Louise setze, damit wir zusammen die Modelle betrachten und Ihr mir dazu Eure Meinung mitteilen könnt."
Madame und Louise rückten ein wenig auseinander, damit die Comtesse zwischen ihnen Platz nehmen konnte, und betrachteten sich dann interessiert die illustrierten Blätter, während Adrienne, von ihrer Nichte nach der kurzen Begrüßung kaum mehr beachtet, konsterniert zu den dreien sah und sich ausgeschlossen fühlte. Um ihre selbstbeherrschte Fassade aufrechtzuerhalten, wandte sie sich daher der Schneiderin zu und sagte: "Bis meine Nichte sich entschieden hat, dauert es sicher noch eine Weile. In dieser Zeit könntet Ihr doch meine Maße nehmen, denn ich weiß bereits, welche Art von Kleid ich haben will."
Madame Martin nickte und erfüllte Adrienne den Wunsch, die ihr danach genau erklärte, aus welchem Stoff und von welcher Farbe ihr neues Kleid sein sollte.
"Ich werde alles so machen, wie Ihr es wünscht, Madame", versicherte ihr die Schneiderin und ließ dann ihren Blick wieder wohlgefällig zum Sofa wandern, auf dem Marguerite mit ihren beiden Freundinnen saß, die eine eher wie eine Mutter und die andere wie eine Schwester, und sich mit ihnen darüber unterhielt, für welches Modell sie sich entscheiden sollte.
"Nun, ich weiß nicht recht, ob es gut ist, wenn meine Nichte auf den Rat von Madame de Colignon oder gar dieser Louise hört", bemerkte die Baronesse, der dieser Blick nicht entgangen war. "Wäre es nicht besser, wenn Ihr meine Nichte beraten würdet?"
"Oh, das ist gar nicht nötig", erwiderte Madame Martin heiter. "Eure Nichte hat eine gute Figur und kann alles tragen, was ihr gefällt. Aber da sie außerdem noch ein sehr hübsches Gesicht hat, wird ohnehin kaum jemand auf ihr Kleid achten. Ihr müsst Euch also keine Sorgen machen, dass die Comtesse keinen guten Eindruck machen könnte. In dieser Hinsicht besteht keinerlei Gefahr."
Dieses Loblied auf ihre Nichte missfiel der Baronesse und für einen Moment verzog sich ihr falsches Lächeln, um einem bitteren Zug um ihren Mund Platz zu machen. Doch niemand beachtete sie, so dass ihr genug Zeit blieb, um sich erneut zusammenzureißen. Glaubte sie doch, dass es nicht mehr lange dauerte, bis sie Marguerite für immer los sein würde...
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[1] Allemande (frz. "Deutsche") = ein seit dem 16. Jahrhundert in Frankreich, Spanien und England bekannter Schreittanz. - Link: Beispiel einer "Allemande" > youtube.com/watch?v=cZWDrjLO7r4
[2] "Welch eine Frechheit!"
[3] "Jemandem die Cour machen" = veralteter Ausdruck für: "jemandem den Hof machen"
13. Kapitel
Der Schlüssel zum Erfolg passt oft zur Hintertür.
Anonymus
~~~~~
Nach langem Hin und Her hatte sich Marguerite endlich für ein Modell entschieden und rief Madame Martin zu sich, um es ihr zu zeigen.
"Ein sehr schönes Kleid", meinte die Schneiderin und nickte. "Möchtet Ihr das vordere Oberteil mit einem Blumenmuster?"
"Nein, lieber einfach, und ganz aus weißer Seide", antwortete Marguerite.
"Alles ganz in Weiß?", hakte Madame Martin erstaunt nach.
"Ja, alles ganz in Weiß", bekräftigte Marguerite.
"Aber, Kind", mischte sich da Adrienne ein. "Ein Kleid nur in einer Farbe ohne irgendein Muster wirkt doch ein wenig trist."
"Warum denn, Tante? Am Kragen hätte ich natürlich gerne einen Spitzenbesatz, ebenso am unteren Saum und an den Säumen der Ärmel."
"Oh ja, italienische Spitze würde ich vorschlagen", bekräftigte Madame Martin und wirkte begeistert.
"Na schön, aber das Vorderteil des Kleides könnte sich etwas von dem Übrigen abheben", wandte nochmals Adrienne ein. "Ich schlage dir einen Brokatbesatz vor und..."
"Nein, ich will keinen Brokat", unterbrach Marguerite ihre Tante. "Ein Kleid, ganz aus weißer Seide, so möchte ich es!"
"Wenn ich etwas vorschlagen dürfte, Comtesse?", mischte sich die Schneiderin ein.
"Bitte", forderte das Mädchen sie auf und sah sie erwartungsvoll an.
"Ihr bekommt ein weißes Seidenkleid mit Spitzenbesatz, so wie Ihr es wünscht. Doch es würde dem Ganzen eine besonders anmutige Nuance verleihen, wenn ich vorne am Ausschnitt einige kleine Rosetten anbringen dürfte, zusammen mit einer kleinen Perlenstickerei."
"Ist das nicht ein wenig übertrieben?", fragte Marguerite unsicher.
"Nein, auf keinen Fall", versicherte ihr Madame Martin. "Die Rosetten erscheinen wie kleine Rosenblüten und die Perlenstickerei wie Tautropfen darauf, sehr apart."
Die Comtesse warf Madame de Colignon und Louise einen fragenden Blick zu, worauf ihre mütterliche Freundin meinte: "Oh ja, ich erinnere mich an etwas Ähnliches, dass die Tochter einer meiner Cousinen zu ihrem Debüt trug. Wirklich sehr schön und überaus passend für ein junges Mädchen. Ihr solltet dem Urteil von Madame Martin vertrauen, meine Liebe."
"Nun gut", meinte Marguerite und wandte sich wieder der Schneiderin zu. "Dann macht es so."
"Selbstverständlich, Comtesse, und ich versichere Euch, dass es Euch gefallen wird", erwiderte Madame Martin. "Dürfte ich jetzt Eure Maße nehmen?"
"Apropos, Madame Martin", sprach Madame de Colignon die Schneiderin an.
"Ja, Madame?"
"Es wäre schön, wenn Ihr heute Nachmittag noch Zeit finden würdet, um bei mir vorbeizukommen."
"Ich werde es einrichten, Madame de Colignon."
"Vielen Dank, sehr freundlich von Euch", sagte die ältere Dame, erhob sich lächelnd und ging dann auf Adrienne de Lebrunne zu, die immer noch an derselben Stelle wie zuvor verharrte, während die Schneiderin die Maße ihrer Nichte nahm und sie in ein kleines Büchlein notierte.
"Wie geht es Euch, meine Liebe", erkundigte sie sich bei der Baronesse, die ein wenig konsterniert wirkte. "Freut Ihr Euch schon auf den Silvesterball bei Hofe?"
"Freuen ist nicht ganz der richtige Ausdruck dafür", räumte Adrienne ein, dankbar für das Interesse, dass ihre Nachbarin an ihr zeigte. "Es ist schon eine Weile her, seit ich das letzte Mal an einem Hofball teilnehmen durfte."
"Ja, ich hörte davon, dass es zwischen Ihrer Majestät und Euch zu einem bedauerlichen Missverständnis gekommen ist, als Ihr noch eine ihrer Hofdamen wart."
"Ihr wisst davon?", entfuhr es Adrienne beinahe entsetzt.
"Oh ja, da ich gute Verbindungen zum Hof habe", antwortete Madame de Colignon freundlich. "Da die Königin leider etwas misstrauisch ist, dürfte es schwierig werden, sie davon zu überzeugen, dass alles nur zum Besten Frankreichs geschah, auch wenn der Vorfall, um den es geht, schon ein paar Jahre zurückliegt. Und dann die unglückselige Geschichte mit Eurem Mann, für die Ihr wirklich nichts könnt. Natürlich verstehe ich, wie schwierig Eure persönliche Situation ist, und wünschte, ich könnte Euch helfen."
"Ihr seid sehr freundlich, Madame", bedankte sich die Baronesse und fühlte sich ein wenig erleichtert, da noch eine Person um ihr Geheimnis wusste, das sie vor aller Welt am liebsten geheim halten und vergessen wollte. "Nicht jeder reagiert darauf mit so viel Verständnis wie Ihr."
"Ach, ich weiß, wie kompliziert das Leben als Hofdame einer Königin sein kann", meinte Madame de Colignon verständnisvoll. "Schließlich habe ich als junges Mädchen selbst diese Stellung inne gehabt und Königin Maria [1] war weiß Gott kein einfacher Charakter. Zum Glück habe ich geheiratet, bevor die ganze Situation damals eskalierte. Ihr hattet eben nicht so viel Glück."
"Man könnte auch sagen, dass ich für die falsche Seite gearbeitet habe", seufzte Adrienne.
"Wer kann schon wissen, welche Seite die richtige oder die falsche ist? Das hängt alles von den Launen des Schicksals ab. Man sollte daher immer das tun, was man selbst für richtig hält und auch bereit sein, dafür gegebenenfalls die Konsequenzen in Kauf zu nehmen."
"Mein Bruder stand in Diensten des Kardinals und dennoch brachte es ihm keine Nachteile."
"Er kämpfte mit offenem Visier, er stand zu seiner Loyalität für den Kardinal und dieser war stets König Louis treu. Ergo war Eurer Bruder stets loyal gegenüber Frankreich, nicht wahr?"
Adrienne schwieg einen Augenblick lang betroffen und spürte die Ungerechtigkeit, die aus diesen Worten mitschwang. Auch sie war für Richelieu tätig gewesen, aber nur kurz - doch es reichte aus, um erwischt und des Hofes verwiesen zu werden. Gerade zu der Zeit, als man die Verschwörung gegen den König aufdeckte, bei dem ihr eigener Gatte mitgemischt hatte! Hätte sie nicht Seine Eminenz um Gnade für ihren Mann und um Hilfe gebeten, würden sie beide jetzt sicherlich am Bettelstab leben. Es war so ungerecht!
"Macht Euch nicht zu viele Sorgen, Baronesse", hörte sie da erneut die freundliche Stimme von Madame de Colignon. "Ich glaube nicht, dass Euer damaliges Fehlverhalten negative Auswirkungen auf das Debüt Eurer Nichte haben wird. Sie ist ein reizendes Mädchen und es gelingt ihr bestimmt, auch das Wohlwollen der Majestäten zu gewinnen."
"Ich hoffe", murmelte Adrienne, dabei war das Gegenteil der Fall. Oh, warum war jeder so freundlich zu Gilberts kleinem Bastard? Warum hatte dieses Mädchen nur so viel Glück? Dabei stand das Erbe, das Marguerite erwartete, eigentlich ihr - einer echten Rochefort - zu und nicht so einem unehelichen Balg, dessen Mutter man zahllose Affären nachsagte. Warum musste Gilbert sich ausgerechnet mit einer solchen Person einlassen?
"Es freut mich jedenfalls, dass Ihr bereit seid, trotz der Abneigung, die die Königin vermutlich immer noch gegen Euch hegt, Eure Nichte auf den Hofball zu begleiten."
"Nun... es ist schließlich meine Pflicht, mein Mündel in die Gesellschaft einzuführen."
"Das ist richtig! Aber wenn es Euch zu unangenehm ist, dann überlasst diese Aufgabe mir. Ich übernehme sie mit Freuden", bot Madame de Colignon an.
"Wirklich überaus freundlich von Euch, doch irgendwann müssen mein Gemahl und ich uns wieder bei Hofe zeigen, nicht wahr? Schließlich wurde mein Mann begnadigt und der Kardinal stellte das Missverständnis zwischen Ihrer Majestät und mir beim König wieder richtig, so dass es uns durchaus gestattet ist, dort zu erscheinen. Es sieht auch ganz danach aus, dass man unser Erscheinen wünscht. Ohne Grund haben wir schließlich keine Einladung erhalten."
"Natürlich, Ihr habt recht", gab Madame de Colignon zu. "Eine Einladung des Hofes ohne einen triftigen Grund auszuschlagen, würde kein gutes Licht auf Euren Gemahl und Euch werfen. Daran habe ich gar nicht mehr gedacht."
"Macht Euch keine Vorwürfe", sagte Adrienne. "Ihr habt es immerhin gut gemeint und dafür danke ich Euch. - Ihr wollt Euch also auch von Madame Martin ein neues Kleid für den Ball machen lassen?"
"Na ja, weniger für mich als für Mademoiselle Lefevre", erklärte die ältere Dame.
"Für Mademoiselle Lefevre? Ich verstehe nicht ganz...?"
"Die junge Dame hat kein passendes Kleid für den Hofball."
"Wie bitte? Was hat Mademoiselle Lefevre dort zu suchen?"
"Als meine Gesellschafterin wird sie mich natürlich auf den Hofball begleiten."
"Soll das ein Scherz sein, Madame?"
"Keineswegs. In meiner Einladung stand ausdrücklich, dass ich eine Begleitung mitbringen dürfe, und Mademoiselle Lefevre fällt gewiss nicht negativ auf. Außerdem ist sie Marguerites Freundin und es wird für Eure Nichte eine große Erleichterung sein, sie in ihrer Nähe zu wissen."
"Marguerite macht auf mich keineswegs den Eindruck, eine Freundin nötig zu haben."
"Eure Nichte versteht es eben sehr gut, sich selbst zu beherrschen. Eine Kunst, die ihr im Leben noch viel nützen wird."
"Bei Hofe wird es durchaus vonnöten sein", gab die Baronesse in leicht zynischem Ton zurück, den Madame de Colignon zu überhören beschloss.
"Tante Adrienne", wandte sich nun Marguerite an sie und kam auf sie zu. "Madame Martin ist jetzt mit dem Maßnehmen fertig und hat unsere Aufträge notiert. Sie wird die Kleider morgen Nachmittag fertig haben. Ist dir das recht?"
"Ja, natürlich. Sehr gut", meinte die Angesprochene und ging zu der Schneiderin, um mit ihr noch einige Worte zu wechseln.
"Und? Ist es Euch gelungen, meine Tante davon abzubringen, mich persönlich bei Hofe einzuführen?", erkundigte sich Marguerite bei ihrer mütterlichen Freundin leise, sobald sie sicher war, dass Adrienne sie nicht mehr hören konnte.
"Leider nicht. Sie besteht darauf, dort hinzugehen", seufzte Madame de Colignon.
"Wie ich es befürchtet habe", meinte die Comtesse resignierend. "Sie hat sicherlich Angst, dass ihr etwas dort entgehen könnte. Dabei ist alles bestimmt ganz harmlos."
"Na, na, na... womöglich gefällt Euch doch der eine oder andere junge Kavalier, mein Kind."
"Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Im Grunde will ich noch gar nicht heiraten, aber mir bleibt wohl nichts anderes übrig, um meine Verwandtschaft los zu werden."
"Ihr solltet nichts überstürzen, Marguerite, sondern alles auf Euch zukommen lassen. Wer weiß, vielleicht meint das Schicksal es gut mit Euch, indem es Euch nach Paris führte?"
"Ach... da wäre noch etwas, um das ich Euch bitten wollte."
"Ja, mein Kind?"
"Wärt Ihr wohl so freundlich, mich... könnte ich den Nachmittag bei Euch verbringen? Bitte!"
"Wenn Eure Tante es erlaubt, nehme ich Euch gerne mit zu mir."
Marguerite verzog missmutig ihren Mund und ließ ihren Blick voller Zweifel zu ihrer Tante schweifen, die immer noch mit der Schneiderin redete. Sie schluckte einen Kloß im Hals hinunter, straffte dann ihre Schultern und ging zu ihr.
"Entschuldigt, Tante Adrienne, erlaubt Ihr, dass ich den Nachmittag bei Madame Colignon verbringe?"
Die Baronesse starrte sie einen Augenblick lang sprachlos an, sah dann zu der älteren Dame, die ihr lächelnd zunickte, und wandte sich wieder an ihre Nichte.
"Also schön, wenn Madame de Colignon dafür sorgt, dass du heute Abend gegen sieben Uhr wieder wohlbehalten hier bist, habe ich nichts dagegen."
"Danke, ich bin sicher, dass das kein Problem darstellen wird."
Adrienne warf Madame de Colignon nochmals einen dankbaren Blick zu, war sie doch froh, Marguerite für ein paar Stunden los zu sein. Sie brauchte Zeit, um darüber nachzudenken, wie sie ihren Mann wieder versöhnlich stimmen konnte. Er schien wirklich sehr verärgert über sie zu sein, obwohl es ihr unerklärlich war. Und wo blieb er eigentlich so lange?
***
Nachdem der feiste Roger und der dürre Rouven sich getrennt hatten, folgte Caius, neugierig auf Marguerite geworden, ihm in der Annahme, er würde sofort nach Hause zurückkehren. Doch das stellte sich als Irrtum heraus, denn Roger schlug den Weg in ein Viertel ein, dem man schon ansah, dass es überwiegend durch das horizontale Gewerbe lebte. Billige Huren mit verlebten Gesichtern standen auf der Straße und schenkten jedem Mann, der vorüberging, ein aufforderndes Lächeln. Aber weder Caius noch Roger achteten darauf. Der Baron schritt vielmehr zielstrebig auf ein bestimmtes Gebäude zu und der Geruch von billigem Parfüm, der daraus entströmte, musste jedem klar machen, dass es sich hier um ein Freudenhaus handelte.
"Alter Schwerenöter", dachte Caius und lächelte verächtlich. Dann beschloss er, sich nicht weiter um Roger zu kümmern, wusste er doch, dass er den beleibten Kerl beim Ball im Palais Luxembourg wiedersehen würde, und verließ die schmuddeligen Straßen so schnell, wie es bei einem Menschen normal wäre. Er fand, dass er es gut machte, denn niemand schien Anstoß daran zu nehmen. Und da sollte Aro noch einmal sagen, dass er nicht verstünde, sich selbst zu beherrschen!
***
Kaum hatte der Wagen von Madame Colignon den Marais verlassen, ließ sich Marguerite erleichtert gegen die Lehne des Sitzes fallen und seufzte leise: "Endlich!"
Die ältere Dame lächelte verständnisvoll und fragte: "Ist es denn wirklich so schlimm, mit Tante und Onkel in einem Haus zu wohnen?"
"Das Haus gefällt mir gut, aber die beiden... nein, ich fühle mich in ihrer Gegenwart wirklich nicht wohl."
"Der Baron scheint nicht zu Hause gewesen zu sein."
"Mir ist zu Ohren gekommen, dass er und Tante Adrienne einen Streit gehabt haben sollen. Sie warteten damit zwar, bis kein Personal mehr im Zimmer war, aber Ihr wisst selbst, wie neugierig die Bediensteten sind und dass ein Esszimmer nicht gerade der beste Ort für Privatgespräche ist."
"Positiv betrachtet könnte man sagen, dass Ihr Eure Privatspione habt, Marguerite", meinte Madame Colignon in amüsiertem Ton. Das Mädchen lachte ein wenig und Louise stimmte auch darin ein.
Dann wurde die Comtesse wieder ernst und setzte sich gerade hin.
"Madame Colignon, dürfte ich Euch um einen weiteren Gefallen ersuchen?", fragte sie zaghaft.
"Was denn, mein Kind?"
"Könntet Ihr einen Umweg in die Rue des Arcis machen?"
"Was wollt Ihr da, Marguerite?"
"Dort befindet sich die Kanzlei von Monsieur Cayot, mit dem ich unbedingt sprechen muss."
"Schreibt ihm doch einen Brief!", schlug Madame de Colignon, der der Wunsch Marguerites nicht zu behagen schien, vor.
"Das habe ich bereits getan, vor Weihnachten! Erinnert Ihr Euch nicht mehr daran? Ich bat Euch, ihm eine Nachricht durch einen Eurer Bediensteten zu übermitteln. Doch bisher erhielt ich keine Antwort."
"Aber es könnte doch sein, dass die Antwort just in dem Moment auf Gut Rochefort ankam, als Eure Verwandten mit Euch nach Paris unterwegs waren. Teilt ihm doch von hier aus mit, dass er bei Euch vorsprechen soll."
"Nein, Madame, das geht nicht! Meine Tante darf um keinen Preis der Welt erfahren, welchen Auftrag ich meinem Anwalt gab."
"Oh, nun ist es also schon EUER ANWALT?"
"Bitte, Madame Colignon, ich muss Monsieur Cayot unbedingt persönlich sprechen. Es ist wirklich sehr wichtig und sehr dringend! Bitte!"
Die ältere Dame seufzte und gab nach.
"Also schön, fahren wir zu diesem Anwalt. Aber Ihr geht dort nicht ohne die Begleitung von Louise und einem meiner Lakaien hinein", ermahnte Madame de Colignon das Mädchen.
"Selbstverständlich nicht", versprach Marguerite und seufzte erneut. "Ich danke Euch!"
*
Monsieur Cayot, ein älterer, gutmütig aussehender Mann mit lichtem Haar und einem traurig unter seiner Nase herabhängenden, dunklen Schnurrbart, blickte erstaunt auf, als sein Gehilfe an seine Tür klopfte, gleich darauf eintrat und sagte: "Verzeiht, Monsieur, aber draußen wartet eine Comtesse de Rochefort, die dringend mit Euch zu sprechen wünscht."
"Comtesse de Rochefort, die Tochter von Gilbert de Rochefort, Capitaine Lieutenant der roten Garde?", fragte der Anwalt überrascht nach.
"Ich weiß nicht recht, aber es handelt sich um ein vornehmes, junges Mädchen, das behauptet, Euch einen Brief vor Weihnachten übersandt zu haben und deshalb mit Euch unter vier Augen zu sprechen wünscht."
"Mon Dieu, auf solch einen vornehmen Besuch bin ich gar nicht eingestellt", meinte Cayot und erhob sich. "Bitte die Comtesse doch zu mir herein."
"Ja, Monsieur."
Einen Moment später trat Marguerite in das Büro des Anwalts.
"Guten Tag, Monsieur Cayot", begrüßte sie ihn, worauf er sich verneigte, nach vorne kam, einen Stuhl vor seinen Schreibtisch stellte und sagte: "Willkommen, Comtesse, bitte nehmt Platz. Was kann ich für Euch tun?"
"Habt Ihr denn nicht meine Nachricht erhalten?"
"Doch doch, habe ich schon."
"Und?"
"Natürlich habe ich bereits Erkundigungen über Eure Anfrage eingezogen, aber ich fürchte, es wird Euch kaum gefallen, was ich dabei erfuhr."
"Sprecht, Monsieur! Ich möchte wissen, woran ich bin!"
"Zunächst einmal möchte ich mein Bedauern darüber ausdrücken, dass Eure Tante Euch schlecht behandelt. Das hatte Euer Herr Vater sicher nicht im Sinn, als er sie zu Eurem Vormund machte. Allerdings ist es so gut wie unmöglich, die Vormundschaft einer so nahen Blutsverwandten anzufechten."
"Wie bitte?! Ist das zu glauben?! Dann kann sie mich also grün und blau schlagen, ohne sich dafür bei jemandem rechtfertigen zu müssen?!"
"Nicht doch, Comtesse! Das wird Eure Tante nicht wagen!"
"Ach wirklich? Sie hatte keinerlei Skrupel, mich mehrfach zu ohrfeigen! Was sagt Ihr dazu, Monsieur?!"
"Ich kann es einfach nicht glauben!"
"Denkt Ihr, ich habe Euch ohne Grund darum gebeten, eine Möglichkeit zu finden, um meiner Tante die Vormundschaft über mich zu entziehen?!"
"Natürlich nicht, aber... ich hätte wirklich niemals gedacht, dass Eure Tante es wagen würde, Euch zu züchtigen... es tut mir sehr leid, Comtesse."
"Spart Euch Euer Mitleid und sorgt dafür, dass ich nicht mehr unter der Kuratel meiner Tante stehe!"
"Wenn es in meiner Macht läge, würde ich dies sofort tun. Aber durch die Gesetze sind mir leider die Hände gebunden. Wenn Ihr Eure Tante anklagt, wird sie es gewiss abstreiten und dann steht eine Aussage gegen eine andere Aussage. Erfahrungsgemäß wird solch ein Fall abgewiesen und man wird Euch raten, einen Weg zu finden, um mit Eurer Tante auszukommen."
Marguerite starrte den Anwalt ungläubig an, dann spürte sie, dass ihr Tränen in die Augen traten.
"Es tut mir wirklich sehr leid, Comtesse", versicherte ihr Monsieur Cayot mitfühlend.
"Und... und wenn...", stotterte das Mädchen, wischte sich mit den Handrücken rasch über die Augen und schluckte den Kloß runter, der ihr im Hals saß. "Und wenn Ihr vielleicht...?"
"Ja, Comtesse?"
"Gibt es die Möglichkeit, einen zweiten Vormund zu beantragen?"
"Einen zweiten Vormund?"
"Ja, zum Beispiel eine langjährige Freundin meines Vaters?"
"Nun... vielleicht... ich könnte es versuchen", meinte Cayot. "Aber glaubt Ihr, dass es dadurch besser wird?"
"Wenigstens könnte meine Tante dann nicht mehr einfach machen, was sie wollte, sondern müsste Rechenschaft bei dem anderen Vormund ablegen, wenn ich mich beschwere. Ist es nicht so?"
"Ja... das stimmt! Eure Tante müsste sich immer mit dem anderen Vormund absprechen."
"Gut! Dann stellt einen Antrag auf einen zusätzlichen Vormund für mich."
"Und wer soll das sein?"
"Madame Amelie de Colignon. Ihr kennt sie gewiss?"
"Ja, Euer Herr Vater sprach immer sehr lobend über sie. Sie waren seit Jahren gute Freunde."
"Und sie ist auch mir eine gute Freundin", ergänzte Marguerite, die sich ein wenig beruhigte. "Aber bitte, Monsieur, seid diskret! Niemand, und vor allem nicht meine Tante oder ihr Mann, dürfen etwas davon erfahren, dass Ihr für mich einen zweiten Vormund beantragt."
"Natürlich nicht, Comtesse, das ist doch selbstverständlich."
"Gut, dann wäre das also geklärt", sagte Marguerite und erhob sich. Sie reichte dem Anwalt die Hand, der sie ergriff und einen Kuss andeutete. "Ich danke Euch für Eure Hilfe, Monsieur."
"Stets zu Diensten, Comtesse. Auf Wiedersehen."
"Ja, auf ein baldiges Wiedersehen mit besseren Neuigkeiten als den heutigen."
"Das wünsche ich Euch von Herzen, Comtesse."
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[1] Maria di Medici = Mutter von Ludwig XIII.
14. Kapitel
Sympathie ist der wichtigste Faktor jedes Schicksals.
Prentice Mulford (1834 - 1891)
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Marcus saß in einem bequemen Sessel, von dem aus er das Fenster, welches ihm gestattete, das Haus gegenüber jederzeit beobachten zu können, gut im Blick hatte. Heute Morgen war die für das Auge recht angenehm anzuschauende Witwe mit der brünetten, jungen Frau in einer Kutsche weggefahren und er fragte sich, wohin sie wohl unterwegs waren. Seitdem wartete er auf ihre Rückkehr und konnte es nicht lassen, alle paar Minuten seine Augen zum Fenster wandern zu lassen, das Buch in seinem Schoß kaum beachtend.
Aro, wieder einmal am Kamin Flugblätter studierend, sah auf, als er seinen Freund leise seufzen hörte.
"Warum quälst du dich so, Bruder?", fragte er mitfühlend. "Wir sollten dieser Madame de Colignon wirklich unsere Aufwartung machen, sobald sie zurückkehrt, und nicht darauf warten, bis man sie uns erst auf dem Hofball vorstellt."
"Nein, ich möchte keinesfalls aufdringlich sein", widersprach der älter aussehende Vampir und schüttelte den Kopf.
"Das ist doch Unsinn, Marcus! Wir sind ihre Nachbarn und es ist keineswegs aufdringlich, wenn wir kurz bei ihr vorsprechen, um uns persönlich vorzustellen. Vielleicht bittet sie uns ja, zu bleiben, so dass du dich ein wenig mit ihr unterhalten und dir so einen besseren Eindruck von ihr verschaffen kannst."
"Mir scheint, dass sie zu tun hat und da möchte ich nicht stören."
Aro lachte verhalten und fragte: "Was sollte diese Madame de Colignon schon großartig zu tun haben? Sie ist Witwe, recht wohlhabend und genau wie wir zum königlichen Ball an Silvester eingeladen."
Marcus ließ seinen Blick nun vom Fenster zu seinem Freund gleiten, ehe er erklärte: "Du weißt doch, dass die Damen sich für ein solches Ereignis stets herauszuputzen pflegen. Außerdem denke ich, dass die junge Frau in ihrer Begleitung eine Verwandte ist, die sie bei Hofe einführen will. Debütantinnen pflegt man noch mehr herauszuputzen, damit sich ein wohlsituierter Ehemann für sie finden lässt."
"Na und? Das spricht nicht dagegen, bei dieser Witwe vorzusprechen, die dir so gut gefällt. Und während du dich mit Madame unterhältst, werde ich mich der jungen Dame widmen, die immer in ihrer Nähe ist."
"Fürchte, dass das Mädchen nicht ganz nach deinem Geschmack ist, Aro. Lassen wir es also gut sein!"
"Oh, ich bin nicht so ein Snob, dass ich nicht auch nett zu jungen Damen bin, die nicht meinem Geschmack entsprechen. Mir ist das gleich, wenn sie nur freundlich sind."
"Nein, Aro, wir sollten unsere Nachbarin nicht unnötig belästigen. Es dauert ja nicht mehr lange, bis wir ihr auf dem Ball begegnen. Also übe dich noch ein wenig in Geduld."
"Ganz wie du willst. Aber ich verstehe dich wirklich nicht. Sie gefällt dir doch."
"Ist Caius eigentlich inzwischen zurückgekehrt?", wechselte Marcus abrupt das Thema, um sich nicht länger über seine Nachbarin unterhalten zu müssen. "Ich habe nicht darauf geachtet."
"Nein, er befindet sich nicht im Haus", erwiderte Aro in ernstem Ton und seine Miene verdüsterte sich etwas. "Es sollte mich nicht wundern, wenn er erst wieder herkommt, nachdem der Ball stattgefunden hat. Und alles nur, weil ich ihm nicht erlaubt habe, nach Volterra zurückzukehren."
"Das ist auch besser so", pflichtete Marcus ihm bei und nickte. "Caius hat sich wirklich nicht immer in der Gewalt und wenn er in die Nähe des Hexenjägers kommt, steht zu befürchten, dass er etwas Unüberlegtes tut. Der Junge ist immer noch viel zu emotional."
"Emotional darf er sein, so lange er sich dabei im Griff hat. Wir sind schließlich auch nicht aus Stein, Maledetto [1]!"
"Nun, da gibt es allerdings einige, die dem widersprechen würden, Aro."
Die beiden Vampire lachten amüsiert über diesen Scherz, bis Marcus plötzlich seinen Blick erneut dem Fenster zuwandte.
"Madame de Colignon kehrt zurück", teilte er seinem Freund mit.
"Überrascht mich nicht, irgendwann musste sie ja wieder nach Hause kommen", gab Aro zurück.
"Unsere Nachbarin hat noch ein junges Mädchen dabei", fuhr Marcus fort. "Vermutlich eine Freundin der anderen jungen Dame."
"Ein Grund mehr, hinüberzugehen und sich vorzustellen."
"Das hatten wir doch bereits geklärt, Bruder!"
"Ja, ja, schon gut... seit wann bist du so zurückhaltend, Marcus?"
"Es ist mir ernst mit dieser Witwe. Ich fühle mich auf seltsame Art zu ihr hingezogen. Sie wirkt so... so freundlich... so verständnisvoll."
"Ich würde dir wirklich von Herzen gönnen, endlich die Liebe zu finden, nach der du dich sehnst."
"Haben wir ein Herz, Aro?"
"Vielleicht... wenn es von jemandem tief berührt wird."
"Wer rührt schon so kalte Herzen wie unsere? Die Menschlichkeit haben wir vor langer Zeit bereits verloren."
"Kein besonders großer Verlust, wenn du mich fragst. Meiner Ansicht nach sind die Menschen nicht besser als wir. Auch ohne unser Zutun finden sie immer wieder Mittel und Wege, sich gegenseitig umzubringen und erfinden dafür tausende Gründe, an die sie am Ende selbst glauben. Was für eine Heuchelei!"
~ Willkommen, Comtesse. Es ist schön, Euch wiederzusehen. ~
Aha! Aro hatte nicht absichtlich gelauscht und dennoch war ihm die Begrüßung eines Dieners nicht entgangen. Das musste der junge Gast sein, den die Witwe soeben mitgebracht hatte. Also ein vornehmes junges Mädchen.
~ Vielen Dank, sehr freundlich von Euch. ~
Der schwarzhaarige Vampir erstarrte. Diese Stimme hatte er doch schon einmal gehört...!
Doch dann sprach die Herrin des Hauses, verlangte, man solle Tee und heiße Schokolade in den großen Salon bringen, und erkundigte sich, ob Post angekommen sei. Die Stimme des jungen Mädchens hörte er erst nach einer Weile wieder, als die Witwe fragte:
~ Würdet Ihr mir etwas auf dem Spinett vorspielen, Marguerite? Ich bin schon lange nicht mehr in den Genuss gekommen, Musik zu hören. ~
~ Gern, Madame de Colignon. ~
SIE war es! Das war die Stimme der jungen Reiterin, die Caius so beeindruckt hatte! SIE war hier!
Sie begann auf dem Instrument eine traurige Melodie zu spielen.
~ Marguerite, bedrückt Euch etwas? ~
~ Nein, Madame, es ist alles in Ordnung. ~
~ Warum spielt Ihr dann nicht etwas Fröhlicheres? ~
~ Ihr habt recht, Madame, ich sollte mich freuen, endlich wieder einmal bei Euch sein zu dürfen. ~
Und dann stimmte sie eine heitere Melodie an und begann zu singen. Oh, welch liebliches Timbre! Süß wie Honig, weich und ...unwiderstehlich! Er musste sie sehen! Er musste einfach!
Aro erhob sich abrupt vom Sofa und wandte sich in aufgeregtem Ton an Marcus: "Komm! Lass uns unsere Aufwartung bei Madame machen!"
Der Angesprochene blickte ihn überrascht an.
"Aber sie hat doch gerade Besuch!"
"Ist das nicht gleich? Unsere Aufwartung bei Madame de Colignon ist längst überfällig! Also komm endlich!"
Aro verließ das Zimmer, ohne auf eine Erwiderung von Marcus zu warten. Dieser wusste nicht, was auf einmal in seinen Freund gefahren war! Er wirkte plötzlich so aufgewühlt, ohne dass dafür ein nennenswerter Grund zu erkennen war. Aber irgendetwas trieb ihn an, es musste also wichtig sein und es wäre vielleicht besser, wenn er dem Vorschlag Aros nachkam, auch wenn es ihm nicht passte, seine Nachbarin einfach so zu überfallen. Sie würden ihr gewiss lästig sein...
***
Nach ihrem Gespräch mit Monsieur Cayot, das keinesfalls so verlaufen war, wie sie es sich gewünscht hätte, war Marguerite sehr niedergeschlagen, obwohl ihr Anwalt einen Antrag auf einen zweiten Vormund stellen wollte. Allerdings glaubte das Mädchen selbst nicht recht daran, dass dieser Antrag Aussicht auf Erfolg hatte, da Madame de Colignon nicht einmal entfernt mit der Familie de Rochefort verwandt war. Um ihre mütterliche Freundin und Louise jedoch nicht zu beunruhigen, zwang sie sich zu einem Lächeln, als sie aus dem Büro des Anwaltes trat und zusammen mit ihr und dem Lakai, der sie beide begleitete, zum Wagen der Witwe zurückkehrten.
"Nun, konntet Ihr alles mit dem Anwalt klären, Marguerite?", erkundigte sich Madame de Colignon, nachdem die beiden Mädchen wieder in der Kutsche saßen.
"Ja, danke, Madame", erwiderte die Comtesse. "Es war wirklich überaus freundlich von Euch, mir diesen Gefallen zu erweisen."
"Bitte, mein Kind, mir wäre es lieb, wenn Ihr nicht mehr persönlich bei Eurem Anwalt vorsprecht", sagte die Witwe in ernstem Ton. "Für eine junge Frau wie Euch schickt es sich einfach nicht und ich hoffe, dass niemand aus unserem Bekanntenkreis Euch sah. Es könnte Eurem Ruf schaden."
"Aber ich habe nichts getan, dessen ich mich schämen müsste", gab Marguerite verwirrt zurück.
"Natürlich nicht, das würde ich von Euch auch niemals glauben", versicherte ihr Madame de Colignon. "Dennoch sehen das einige der Herrschaften in Paris völlig anders. Deshalb bitte ich Euch, den Anwalt in mein Haus zu bestellen, wenn es denn unbedingt vonnöten ist, dass Ihr mit ihm sprecht. Sagt mir nur rechtzeitig Bescheid und ich werde für alles Weitere sorgen."
"Ach, Madame, Ihr seid immer so gütig und verständnisvoll. Wie kann ich Euch jemals dafür danken?"
"Das müsst Ihr nicht, Marguerite. Ich betrachte es als Selbstverständlichkeit."
Erneut spürte die Comtesse, wie ihr die Tränen in die Augen steigen wollten, aber sie musste sich zusammenreißen. Wenn sie vor ihrer mütterlichen Freundin zu weinen anfing, würde diese sich um sie sorgen und lästige Fragen stellen. Nein, alles, was sie mit Monsieur Cayot besprochen hatte, musste unbedingt geheim bleiben. Nicht einmal Madame Colignon durfte davon erfahren.
Sie hielten nach einiger Zeit vor dem Haus der Witwe und stiegen aus. Ihr alter Hausdiener öffnete, begrüßte Marguerite sehr freundlich und nahm den drei Damen Mäntel und Hüte ab. Danach erteilte Madame de Colignon dem Bediensteten weitere Anweisungen, während die Comtesse und Louise in den großen Salon vorausgingen, wie dies zuvor in der Kutsche besprochen worden war. Hier stellte sich Marguerite schweigend an den Kamin und starrte nachdenklich in die Flamme, dankbar dafür, dass Louise ihr keinerlei Fragen stellte.
Als Madame de Colignon ein wenig später zu ihnen kam, bat sie die Comtesse, ihr etwas auf dem Spinett vorzuspielen. Ein Wunsch, dem Marguerite gern nachkam, da Musik etwas war, dass sie über manches hinwegzutrösten vermochte. Gedankenverloren begannen ihre Finger, eine traurige Melodie zu spielen, bis ihre mütterliche Freundin sie in besorgtem Ton fragte: "Marguerite, bedrückt Euch etwas?"
"Nein, Madame, es ist alles in Ordnung", versicherte ihr das Mädchen.
"Warum spielt Ihr dann nicht etwas Fröhlicheres?"
"Ihr habt recht, Madame, ich sollte mich freuen, endlich wieder einmal bei Euch sein zu dürfen."
Einen Augenblick überlegte Marguerite, ehe sie die ersten Töne eines heiteren Liedes anschlug und dazu zu singen begann:
"Der Winter ist vergangen,
der Frühling streift durchs Land,
wir haben angefangen,
zu säen mit hurt'ger Hand.
Drum lasst uns nun begrüßen
und lasset uns genießen,
das alles grünt und blüht.
Der Frühling ist erschie'n.
Jetzt, wo der Frühling da ist,
sind alle voller Freud,
weg ist die eis'ge Kälte
und Dunkelheit im Ort.
Drum lasst uns nun begrüßen
und lasset uns genießen,
das alles grünt und blüht.
Der Frühling ist erschie'n.
Oh, könnte doch der Frühling
für immer bleiben hier.
Wenn alles grünt und blühet,
wie froh sind wir dafür.
Drum lasst uns nun begrüßen
und lasset uns genießen,
das alles grünt und blüht.
Der Frühling ist erschie'n." [2]
Kaum waren die letzten Töne dieses Liedes verklungen, pochte es an die Tür und der alte Diener Madame Colignons trat ein. Die Witwe sah zu ihm auf und fragte: "Was gibt es, Jaques?"
"Verzeiht bitte, Madame, aber hier sind zwei Herren, die sich als Eure Nachbarn von gegenüber vorstellen und darum bitten, Euch ihre Aufwartung machen zu dürfen."
"Oh!", kam es überrascht über die Lippen der Hausherrin und sie warf sowohl Marguerite als auch Louise einen Blick zu, ehe sie sich wieder ihrem Diener zuwandte: "Ich lassen bitten! - Jaques, sorg doch bitte auch dafür, dass zwei weitere Gedecke für meine neuen Gäste auf den Tisch hier kommen."
"Sehr wohl, Madame."
Der Diener verneigte sich und verschwand, nur um gleich darauf die Tür zu öffnen, sich vor den Männern, die eintraten, leicht zu verneigen und sich dann erneut zu entfernen.
"Guten Tag, meine Herren", begrüßte Madame de Colignon die beiden elegant gekleideten Männer, die sich nach Betreten des Zimmers galant vor ihr verneigten, und erhob sich aus ihrem Stuhl. Die Besucher machten einen überaus einnehmenden Eindruck, vor allem der ältere der beiden wirkte auf sie überaus sympathisch. "Mit wem habe ich das Vergnügen?"
"Bitte, verzeiht unser unerwartetes Eindringen, aber mein Bruder hier vertrat die Meinung, dass unsere Aufwartung bei Euch unbedingt erforderlich sei", sagte der ältere Mann in entschuldigendem Ton und stellte dann vor: "Dies ist mein Bruder, Conte Aro di Volturi, und mein Name ist Marcus di Volturi. Wir haben das Haus Euch gegenüber für ein halbes Jahr gemietet und hoffen, Euch angenehme Nachbarn zu werden."
"Sehr erfreut", erwiderte die Witwe und lächelte sie beide freundlich an. Dann wies sie auf Marguerite, die sich beim Eintritt der Fremden von der Sitzbank vor dem Spinett erhob und an dieser Stelle verharrte, und sagte: "Dies ist meine junge Freundin, Comtesse Marguerite de Rochefort."
Marcus und Aro wandten sich zu dem Mädchen um, lächelten es an und neigten ihr Haupt ein wenig vor ihr, während sie einen kleinen Knicks in ihre Richtung vollführte und dabei für einen kleinen Moment den Blick verlegen senkte. Doch sie schaute gleich wieder auf, neugierig diese fremden Herren musternd, die sie sehr interessierten. Conte di Volturi. Sie mussten aus Italien kommen.
"Wir haben Euch spielen und singen gehört, als wir draußen warteten", erklärte Marcus. "Euer Lied war sehr schön."
"Ja...", hauchte Aro, der seinen Blick nicht von Marguerite wenden konnte. "Ihr habt eine überaus bezaubernde Stimme."
"Oh, vielen Dank", erwiderte Marguerite, blickte erneut zu Boden und ihre Wangen röteten sich etwas. "Euer Lob macht mich sehr verlegen."
Sie schaute wieder auf, ihre Augen trafen diejenigen Aros. Welch dunkle, geheimnisvolle Augen dieser Mann doch hatte. Und er war ein junger Mann... nicht so, wie dieser Bekannte ihrer Tante. [3]
"Und dies hier...", fuhr Madame de Colignon fort und wies auf Louise, die neben ihr stand, "...dies ist meine Gesellschafterin, Louise Lefevre."
Marcus richtete seine Aufmerksamkeit sofort auf die andere junge Dame, während es Aro schwerfiel, seinen Blick von Marguerite zu lösen. Ein überaus schönes Mädchen, wie man es nur selten antraf, und es verlangte ihn danach, in ihrer Nähe zu sein. Doch die Stimme der Hausherrin rief ihn in die Gegenwart zurück und er riss sich zusammen, drehte sich langsam wieder um und lächelte die brünette Louise an.
"Enchanté, Mademoiselle Lefevre", sagte er freundlich und küsste ihre Hand.
"Bitte, meine Herren, nehmt doch Platz", forderte die Witwe ihre Besucher auf und sie folgten dieser Aufforderung. "Was führt Euch nach Paris?"
"Wir sind auf einer Bildungsreise durch Europa", antwortete Marcus, während Aro schwieg. Am liebsten würde er sich wieder zu der hübschen Comtesse umdrehen, aber das gehörte sich nicht.
"Wir haben noch einen jüngeren Bruder, der derzeit leider unpässlich ist und sich entschuldigen lässt", fuhr Marcus fort. "Er hätte sich auch sehr gern persönlich bei Euch vorgestellt, nicht wahr, Aro?"
"Unbedingt", bestätigte der Angesprochene und nickte. Oh ja, wenn Caius wüsste, wer gerade hier verweilte, wäre er der Erste gewesen, der seine Aufwartung gemacht hätte. "Doch ich bin sicher, er wird es auf dem königlichen Ball im Palais Luxembourg gerne nachholen. Ich hoffe, Euch und Eure reizenden Freundinnen dort wiederzusehen?"
"Ja, wir sind ebenfalls eingeladen", antwortete Madame de Colignon.
In diesem Augenblick ging Marguerite an Aro vorbei und setzte sich auf das Sofa vor dem Kamin, genau ihm gegenüber. Sie lächelte ihn an und er erwiderte es.
"Freut Ihr Euch auf den Ball, Comtesse?", erkundigte er sich.
"Das kann ich gar nicht so genau sagen", erwiderte Marguerite und er vermeinte, so etwas wie Traurigkeit aus ihrer Antwort herauszuhören. "Es ist mein erster Ball."
"Dann ist das also Euer Debüt?"
"Ja, Conte di Volturi."
"Ihr seid bestimmt ein wenig aufgeregt", sagte jetzt Marcus, der sie mit gütigen Augen ansah.
"Ja, das ist wahr", gab Marguerite zu und lächelte verlegen, die Röte ihrer Wangen verstärkte sich.
"Werdet Ihr Eure junge Freundin in die Gesellschaft einführen, Madame de Colignon?", erkundigte sich der älter aussehende Vampir bei der Hausherrin.
"Leider nicht, da Ihre Tante darauf besteht, es selbst tun zu wollen", erklärte die Witwe.
"Dann werden wir also das Vergnügen haben, auch Eure Tante auf dem Ball kennenzulernen?", wandte sich Marcus wieder an Marguerite.
"Ja, Conte di Volturi, aber ich weiß nicht, ob man das als Vergnügen bezeichnen kann", erwiderte Marguerite, worauf Aro und Marcus ihren Mund zu einem leichten Schmunzeln verzogen.
"Aber, Marguerite! Wie könnt Ihr nur so etwas sagen?", ermahnte Madame de Colignon ihre junge Freundin, nachdem dieser der letzte Satz entschlüpft war. Auch wenn sie durchaus die Ansicht des Mädchens teilte, waren persönliche Probleme mit Verwandten nichts, was einen Fremden etwas anging!
"Darf man denn nicht mehr die Wahrheit sagen?", verteidigte sich Marguerite und in ihre Miene trat ein Ausdruck, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde. In diesem Augenblick konnte Aro einen fast körperlichen Schmerz bei ihr fühlen. Cielo! [4] Was hatte diese Tante ihr nur angetan? Es konnte nichts Gutes sein, ihre Augen strahlten nicht mehr. Perdono, mia dolce angelica [5], ich muss wissen, was dich bedrückt!
"Natürlich darf man die Wahrheit sagen!", versicherte ihr Aro, ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. Fast augenblicklich enthüllte sich ihm fast ihr ganzes Leben und er erfasste auch im Nu, welch einen Charakter ihre Tante besaß. Sie schien eine infame, falsche Schlange zu sein, überaus unfreundlich und offensichtlich darauf aus, Marguerite zu verletzten, wo immer sie konnte. Was für eine grässliche Hexe! Kein Wunder, dass der kleine Engel, der vor ihm saß, so bedrückt war, obwohl sie ihrer Tante Paroli bot, so gut sie konnte. Ja, ja, das war die kleine, stolze Comtesse, die ihre Gerte gut zu gebrauchen wusste. Doch ihrer Tante konnte sie sie ja schlecht über das Gesicht ziehen. Wie bedauerlich...
"Ich bin sicher, Madame de Colignon wollte Euch nur darauf hinweisen, dass es nicht ratsam ist, allen Menschen zu vertrauen", fuhr Aro in sanftem Ton fort und sah sie wieder an, schenkte ihr das schönste Lächeln, zu dem er fähig war, und wurde durch einen dankbaren Blick aus himmelblauen Augen belohnt. Sie beruhigte sich, sie mochte ihn... welch ein vielversprechender Anfang. "Vor allem bei Hofe solltet Ihr Euch in Acht nehmen, Comtesse, dort meinen es nicht alle gut mit einem, während mein Bruder und ich Eure kleine Bemerkung schon längst vergessen haben."
"Ihr seid sehr freundlich, mich vor meiner allzu schnellen Zunge zu warnen", erwiderte Marguerite, deren Hand noch immer in seiner lag. Weder sie noch er trafen Anstalten, sich loszulassen.
"Das sollte uns nicht daran hindern, uns auf dem königlichen Ball zu vergnügen", meinte Aro und küsste erneut ihre Hand. "Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, mir den ersten Tanz mit Euch zu schenken?"
Marguerite strahlte ihn an und sagte: "Ja, sehr gerne."
Endlich ließ Aro ihre Hand los, löste langsam seinen Blick aus ihrem und schaute wieder zu Marcus und Madame de Colignon, die sie beide beobachtet zu haben schienen, während ein wissendes Lächeln um ihre Lippen spielte.
Als ein Dienstmädchen erschien und die zwei gewünschten Gedecke auf dem Tisch abstellte, wandte sich die Hausherrin erneut an Marcus und fragte: "Möchtet Ihr einen Tee oder eine heiße Schokolade?"
"Nein, danke, Madame", wehrte der älter aussehende Vampir ab.
"Und wie steht es mit Euch?", richtete sie die Frage an Aro.
"Danke, ich auch nicht. Sehr freundlich von Euch, Madame."
"Wir haben Eure Zeit schon viel zu lange in Anspruch genommen", meinte Marcus dann zu Madame de Colignon und erhob sich von seinem Platz. Aro tat es ihm sofort gleich und beide verneigten sich vor den drei Damen, bevor Marcus weitersprach: "Es war mir ein Vergnügen, Euch und Eure beiden Freundinnen kennenzulernen. Wir sehen uns dann auf dem Ball."
"Aber nicht doch, meine Herren!", protestierte die Witwe, die sich ebenfalls erhoben hatte. "Eure Gesellschaft ist uns überaus willkommen. Bitte, bleibt doch noch eine Weile."
"Bedaure, Madame, das geht leider nicht", behauptete Marcus, ergriff ihre Hand und küsste sie. "Wir wollen unseren Bruder nicht so lange allein lassen. Das versteht Ihr doch, nicht wahr?"
"Ja, natürlich", gab Madame de Colignon zu, der deutlich anzusehen war, wie sehr sie es bedauerte, dass ihre beiden Besucher schon gehen wollten. "Es hat mich überaus gefreut, Euren Bruder und Euch kennenzulernen. Ihr seid mir stets willkommen und das gilt auch für Euren anderen Bruder, den wir bedauerlicherweise heute nicht kennenlernen konnten."
"Vielen Dank, ich werde es ihm ausrichten", versprach Marcus. "Auf Wiedersehen."
"Auf Wiedersehen!", echote Aro und lächelte die Hausherrin gewinnend an. Doch bevor er sich ganz abwandte, ließ er noch einmal seinen Blick zu Marguerite schweifen, zwinkerte ihr mit einem Auge zu und strahlte sie an. Zwei hellblaue Sterne strahlten zurück und er spürte plötzlich, dass es in seiner Brust - dort, wo das Herz eigentlich schlug - sehr warm wurde. Madonna mia! Wie konnte das sein?
Irritiert und dennoch glücklich schaffte er es endlich, seinen Blick von dem lieblichen Mädchen zu lösen, um seinem Bruder zu folgen...
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[1] Maledetto = ital. "verdammt"
[2] Den Liedtext habe ich selbst ausgedacht.
[3] Bitte immer daran denken: Aro sieht aus wie ein junger Mann, obwohl er nicht mehr jung ist!
[4] Cielo! = ital. "Himmel!"
[5] "Verzeih mir, mein süßer Engel."
15. Kapitel
Vergangene Liebe ist bloß Erinnerung.
Zukünftige Liebe ist ein Traum und ein Wunsch.
Buddha (560 - 480 v. Chr.)
Marcus kehrte mit seinem Freund in das Mietshaus zurück, in dem sie lebten, und nachdem beide Francois ihre Mäntel übergeben hatten, folgte er Aro erneut in das Wohnzimmer, wo jener sogleich zum Fenster schritt, seinen linken Arm am oberen Sims anlehnte und sehnsuchtsvoll zum Nachbarhaus hinübersah.
"Was sollte diese überstürzte Handlung, Aro?", fragte Marcus verwundert. "Musste das wirklich sein?"
"Nun, Madame de Colignon schien höchst erfreut über unsere Gesellschaft", gab der schwarzhaarige Vampir zurück, ohne sich nach seinem Freund umzusehen. "Und du scheinst ihre Gesellschaft und die der beiden jungen Damen sehr genossen zu haben."
"Unsere Nachbarin bewahrte eine bewundernswerte Contenance", behauptete Marcus und setzte sich in seinen Sessel zurück.
"Wir hätten ruhig noch ein wenig dort verweilen können", sagte Aro. "Hör nur, jetzt spielt sie wieder..."
"Offensichtlich bist du derjenige, der die Gesellschaft einer bestimmten jungen Dame dort drüben genoss, Bruder", bemerkte Marcus und schüttelte den Kopf. "Sie scheint dir richtig den Kopf verdreht zu haben, diese junge Comtesse."
"Was? Mir?!", entfuhr es Aro und er wandte sich überrascht zu seinem Freund um. "Welch ein Unsinn! Aber es lässt sich kaum bestreiten, dass sie ein außergewöhnlich schönes Geschöpf ist."
"Zugegeben, recht hübsch und dazu von einer naiven Aufrichtigkeit, die ihr - so fürchte ich - noch manchen Ärger einbringen wird, auch wenn es sie auf gewisse Art besonders liebenswert macht."
"Ja, das ist sie, nicht wahr? Aber verrate mir bitte, Bruder, in welchem Verhältnis Madame de Colignon zu Comtesse Marguerite steht?"
"Madame de Colignon scheint sich für die junge Comtesse verantwortlich zu fühlen, sie ist beinahe so besorgt um sie wie eine richtige Mutter", erwiderte Marcus, der sich ein ironisches Lächeln nicht verkneifen konnte. "Und was die kleine Sirene betrifft, so hängt sie sehr an Madame."
"Sirene?", hakte Aro irritiert nach. "Wen nennst du eine Sirene?"
"Ich spreche natürlich von Comtesse de Rochefort, deren Stimme von jemandem in diesem Raum als überaus bezaubernd bezeichnet wurde", gab Marcus spöttisch zurück.
"Aber das ist sie doch auch, genau wie ihre Besitzerin", meinte sein Freund schwärmerisch und wandte sich wieder halb dem Fenster zu, um zum Nachbarhaus hinüberzustarren.
"So lange wir uns kennen, habe ich noch nie erlebt, dass dich jemand derart aus der Fassung brachte, Aro. Sollte dich am Ende Amors Pfeil getroffen haben?"
Der schwarzhaarige Vampir lachte kurz auf und schüttelte dann den Kopf, ehe er seinen Blick wieder zu Marcus schweifen ließ.
"Scheint, dass die Gesellschaft der hübschen Witwe dein Gemüt aufgehellt hat, lieber Freund, da du jetzt sogar beginnst, absurde Scherze mit mir zu treiben. Nun, wie hat es dir in der Gesellschaft deiner Angebeteten gefallen?"
"Ich muss zugeben, dass Madame de Colignon eine überaus freundliche und sehr feine Dame ist", räumte Marcus ein und lächelte etwas. "Allerdings finde ich es übertrieben, sie als meine Angebetete zu bezeichnen."
"Du sagtest, dass sie und die kleine Rochefort ein besonders enges Verhältnis haben, nicht? Wie passt diese Gesellschafterin da hinein, die doch mit beiden sehr vertraut ist?"
"Konntest du das nicht aus den Gedanken der jungen Comtesse herauslesen, Aro?"
"Hm, hm...schon, aber... Mademoiselle Lefevre war mal in ihren Diensten, bis die Tante sie entließ, und Comtesse Marguerite hängt sehr an ihr... allerdings verstehe ich nicht ganz den Grund dafür."
"Sie sind einfach Freundinnen, Aro, dafür braucht es keinen besonderen Grund."
"Aber Mademoiselle Lefevre hat doch nichts Besonderes an sich, während die Comtesse bestimmt jeden in ihren Bann zu ziehen vermag..."
"Mademoiselle Lefevre ist ein freundliches, zurückhaltendes Mädchen, dessen ganze Loyalität deiner kleinen Sirene gilt - und da Madame de Colignon im Augenblick die Mutterrolle für die kleine Rochefort übernommen hat, ist Mademoiselle Lefevre auch ihr gegenüber loyal."
"Ausgezeichnet...", murmelte Aro, auf dessen Zügen sich ein feines, wissendes Lächeln abzuzeichnen begann, während sich seine Aufmerksamkeit nun wieder völlig auf das Nachbarhaus richtete. Marguerite sang ein weiteres Lied und diesmal klang es noch heiterer als das erste. Er freute sich darüber, dass es ihm gelungen zu sein schien, dieses entzückende Geschöpf ein wenig von seinen trüben Gedanken abzulenken, hatte sie doch unter einer tyrannischen, boshaften Tante und deren Mann zu leiden, der völlig unter dem Pantoffel seines Weibes stand. Wenn man dieser maliziosa basbetica [1] nicht Einhalt gebot, könnte es dieser mit der Zeit tatsächlich gelingen, den Widerstand der süßen Marguerite zu zermürben und sie dadurch letztendlich zu zerstören. Aber das würde er niemals zulassen! Der Beginn ihres jungen Lebens war für die bezaubernde Marguerite schon schwer genug gewesen...
Das feine Antlitz einer schönen, blonden Frau mit himmelblauen Augen, auf deren rechter Wange eine tiefe Narbe zu sehen war und in deren Mundwinkeln sich ein harter Zug eingebrannt zu haben schien, beugte sich über den Säugling und bedachte ihn mit liebevollem Blick, wobei ihr Tränen aus den Augen liefen. Sie küsste das Kind und murmelte: "Mein Liebling, mein Alles, es zerreißt mir das Herz... hoffentlich kannst du mir eines Tages verzeihen."
Ein Mann mit langer, dunkler Lockenpracht, das eine Auge durch eine schwarze Augenklappe verdeckt, legte einen Arm um die blonde Frau, drückte sie fest an sich und küsste sie, während sie ihm weinend den Säugling in den anderen Arm legte.
"Sorge gut für unsere Tochter, Gilbert", flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme und ging...
Marguerites Mutter hatte Mann und Kind verlassen, mehr war in den Erinnerungen des jungen Mädchens nicht zu sehen gewesen. Und da der Comte de Rochefort ebenfalls nicht mehr unter den Lebenden weilte, würde Aro der Grund dafür vermutlich für immer verschlossen bleiben. Der Verlust der Mutter hatte in dem damals neugeborenen Mädchen einen tiefen Schmerz hinterlassen, doch Marguerite war sich dessen nicht richtig bewusst, sehnte sich lediglich danach zu erfahren, wer ihre Mutter war und warum sie ohne sie aufwachsen musste. Ihr Vater, ein aufrechter, stolzer Mann, streng, aber gerecht, liebte seine Tochter über alles und bemühte sich sehr darum, ihr ein geborgenes Heim und eine gute Erziehung zu geben. Marguerite wiederum hing voll zärtlicher, kindlicher Liebe an ihrem "Papa" und konnte seinen Verlust nur schwer verkraften. Der Comte de Rochefort schien Aro ein interessanter Mann gewesen zu sein und er bedauerte es ein wenig, ihn nicht mehr kennenlernen zu können. Welch ein Gegensatz zu seiner Schwester, dieser Baronesse de Lebrunne, die Marguerite richtiggehend zu hassen schien!
Nun, die tieferen Beweggründe dafür würde er noch in Erfahrung bringen, wenn er dieser l'arpia [2] auf dem Ball vorgestellt wurde und ihr die Hand küsste. Vielleicht kam er dem Geheimnis der Familie Rochefort dadurch ja doch ein wenig auf die Spur. Es interessierte ihn außerordentlich, warum Marguerites Mutter gegangen war. Es konnte nicht ganz freiwillig gewesen sein, sonst hätte sie nicht so geweint, als sie dem Comte ihr Kind in die Hand drückte. Traurige Geschichte, aber nicht zu ändern. Doch vielleicht lag es in seiner Macht, Marguerite über diesen tiefen Kummer hinwegzuhelfen. Er würde schließlich auf dem Ball mit ihr zusammensein und tanzen. Welch eine herrliche Aussicht...
***
Lustlos ging Roger de Lebrunne auf das hübsch anzusehende Haus zu, in dem er für etwa einen Monat mit seiner Frau und deren Nichte leben würde.
Marguerite störte ihn kaum, selbst wenn sie derzeit die Launen einer verwöhnten Göre an den Tag legte, aber Adrienne schien immer unausstehlicher zu werden, seit sie sich die fixe Idee in den Kopf gesetzt hatte, an Besitz und Vermögen ihres verstorbenen Bruders zu kommen, obwohl Gilbert es seinem einzigen Kind vermachte. Roger fand die Handlungsweise seines Schwagers völlig in Ordnung, hätte er an seiner Stelle doch nicht anders gehandelt. Nur seine Göttergattin tat so, als hätte ihr Bruder ihr ein großes Unrecht zugefügt und als sei dessen Tochter ein minderwertiges Subjekt, das ihr ihren Besitz gestohlen hatte.
Manchmal fragte er sich wirklich, was er einst an Adrienne de Rochefort gefunden hatte. Sie trug ihre Nase schon als junges Mädchen ziemlich hoch und bildete sich viel darauf ein, aus einem alten Adelsgeschlecht zu stammen, welches viele Verbindungen zu einflussreichen Leuten bei Hofe unterhielt.
Roger erinnerte sich noch an den Moment, als er Adrienne zum allerersten Mal sah. Es war auf einem Ball nach Ostern gewesen, als sie durch ihren Vater in die Gesellschaft bei Hofe eingeführt wurde. Sie fiel nicht nur wegen ihres eleganten Kleides aus rot-goldenem Brokat, sondern auch aufgrund ihres hohen, schlanken Wuchses auf. Damals hätte er es sich bereits denken können, dass ein solch schmal geschnürter Leib nicht in der Lage wäre, Kinder zu empfangen. Doch er war viel zu geblendet von ihrer imposanten Erscheinung, ihrer resoluten Art und der Tatsache, dass sie aus einer alten, adligen Familie stammte. Vollkommen überzeugt von sich und ihrem Erfolg bei den anwesenden Herren, ließ Adrienne bei ihrem Debüt ihre ihm damals so schön erscheinenden Augen siegessicher durch den Saal schweifen, einen Blick mal diesem, mal jenem zuwerfend - und es hatte ihm außerordentlich gefallen... Nachdem er drei Tänze mit ihr hinter sich gebracht hatte, stand er völlig in Flammen und begehrte sie, wobei die nicht unwesentliche Tatsache, dass sie die einzige Tochter des alten Comte de Rochefort war und aufgrund dessen eine hohe Mitgift in die Ehe einbringen würde, für ihn zu dieser Zeit keine Rolle spielte; und er war beileibe nicht der Einzige, der Adriennes Hand zu gewinnen versuchte.
Doch all dies schien ihm jetzt wie ein unwirklicher Traum... damals war er noch ein Mann von hohem Ansehen mit einem stattlichen Besitz und Vermögen, der einer Frau etwas bieten konnte. Das war vermutlich auch der ausschlaggebende Grund, weshalb sie letzten Endes seinen Heiratsantrag annahm, und einige Jahre lang konnte man ihre Ehe durchaus als glücklich bezeichnen. Möglicherweise hatte ihn seine bessere Hälfte auch mal geliebt, wer wusste das schon? Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr, diese Zeit war endgültig vorbei...
Der Anfang vom Ende ihrer einst so vielversprechenden Verbindung nahm seinen Lauf mit einem Angebot, das Richelieu, der offensichtlich viel von der Familie de Rochefort hielt und den eine enge, freundschaftliche Beziehung mit seinem Schwager verband, Adrienne einige Jahre danach unterbreitete, als sie ihren Bruder in dessen Haus in Paris besuchte. Er fragte sie, ob sie nicht die ehrenvolle Stellung einer Hofdame bei der Königin annehmen wolle.
Natürlich schmeichelte solch ein Anerbieten seiner Frau überaus und auch er dachte sich nichts dabei, als sie ihm davon berichtete, sondern war damit einverstanden, dass sie diese Stellung annahm. Wenn er damals nur geahnt hätte, dass des Kardinals Angebot nicht uneigennützig gewesen war... Adrienne jedenfalls besaß genügend Verstand, um es ihm zu verschweigen, glaubte sie doch - und er war sich sicher, dass Seine Eminenz es ihr eingeredet hatte - , die Königin zu beobachten und heimlich auf alles zu achten, was ihr bei Ihrer Majestät verdächtig vorkam, um dies dem Kardinal zu melden, sei eine leichte Aufgabe, die sie mühelos und unbemerkt bewältigen würde. Wie töricht von seiner Gattin, nicht damit zu rechnen, dass Königin Anna auch Hofdamen und andere persönliche Bedienstete um sich hatte, die ihr treu ergeben waren und ihrerseits auf alles achteten, was ihnen verdächtig vorkam. Adrienne wurde dabei ertappt, als sie einen Brief Ihrer Majestät las. Zwar konnte seine Frau sich damit herausreden, dass dieses Schreiben in einem der Räume herumgelegen hätte und sie es deshalb an sich genommen und in der Absicht gelesen habe, es dem Absender zurückzugeben, aber die Königin schenkte ihr keinen Glauben, so dass Adrienne den Hof umgehend verlassen musste.
Doch wer war er, seiner Angetrauten ihre Torheit vorzuwerfen, war er selbst doch nicht klüger als sie gewesen!
Wie so vielen anderen Adligen war es ihm ein Dorn im Auge, dass der König nur auf seinen Ersten Minister, den Kardinal, zu hören schien. Unglücklicherweise verlieh dies ihm, dem Baron de Lebrunne, nur allzu offene Ohren, durch die er von einer Verschwörung des Herzogs von Orleans, dem jüngeren Bruder Seiner Majestät, erfuhr. Jener plante gemeinsam mit anderen Verbündeten, zu denen er auch bald gehörte, König Louis vom Thron zu stürzen und den Kardinal zu ermorden. Aber sie begingen den Fehler, die "rote Robe" zu unterschätzen. Richelieu besaß überall Spione, die geschickt im Verborgenen agierten. Einer davon musste sich unter ihnen befunden haben - und bis heute wusste niemand, wer es gewesen war - , denn die Verschwörung wurde aufgedeckt. Die meisten der daran beteiligten Adligen wurden als Verräter hingerichtet, ihr Besitz und Vermögen konfisziert, viele ihrer Familienstammsitze geschleift [3], während der Urheber des Ganzen, Herzog de Orleans, lediglich verbannt wurde.
Seitdem war Roger erst schmerzlich deutlich geworden, wie ungerecht es tatsächlich in der Welt zuging. Natürlich war auch er damals verhaftet und in die Bastille gebracht worden, den Tod vor Augen. Adrienne hingegen suchte sogleich den Kardinal auf und verdankte es nur der Tatsache, die Schwester des Comte de Rochefort zu sein, dass Richelieu sie überhaupt empfing und ihr Gehör schenkte. Was sie tat oder was sie Seiner Eminenz erzählte, war bis heute ihr Geheimnis geblieben, doch aufgrund dessen wurde er begnadigt und aus der Haft entlassen. Höchst ungewöhnlich, denn in der Regel kannte der Kardinal bei Hochverrat kein Pardon...
Roger schüttelte den Kopf und seufzte leise. Selbstverständlich war er dankbar, dass man ihm sein Leben schenkte, dennoch blieb an ihm der unausgesprochene Verdacht vieler Adliger haften, er könne derjenige sein, der die Verschwörung des Herzogs von Orleans verraten hatte. Etwas, das er nicht zu widerlegen imstande war. Dieser Verdacht erhärtete sich zusätzlich durch den Umstand, dass er kurz danach ein kleines Gut auf dem Lande erhielt, welches er zusammen mit seiner Frau bewirtschaften konnte, denn natürlich war auch sein Familiensitz geschleift und sein Vermögen dem Staatsschatz einverleibt worden. Dass Richelieu ihnen geholfen hatte, wurde offensichtlich, als sie einige Zeit später Besuch von seinem Schwager erhielten, der mit ihm unter vier Augen zu sprechen wünschte und dabei nicht an Vorwürfen sparte, die er stumm über sich ergehen ließ, bis Gilbert verbal endlich all das über ihn ausgeschüttet hatte, was er sagen wollte. Als er daraufhin immer noch schwieg, fragte sein Schwager:
"Nun, hast du mir denn nichts zu sagen, Roger?"
"Nein, Gilbert, da ich dir in allen Punkten vollkommen zustimme."
"Wie? Ich höre wohl nicht recht."
"Doch, es ist so, das versichere ich dir. Ich muss völlig von Sinnen gewesen sein, meine Aufmerksamkeit einer Sache geschenkt zu haben, die von vornherein falsch war. Du kannst gar nicht ermessen, wie dankbar ich Seiner Majestät bin, dass er Gnade vor Recht ergehen ließ, und natürlich werde ich Seiner Eminenz auf ewig unermesslich dankbar für seine persönliche Fürsprache sein."
"Das hast du nur meiner Schwester zu verdanken!"
"Ich weiß, ich weiß!"
"Adrienne muss dich wirklich sehr lieben, da sie Ihren guten Namen bei Seiner Eminenz für dich verwendete. Natürlich wusste er, dass sie mit deinen verräterischen Absichten nichts zu tun, ja nicht einmal etwas davon geahnt hat. Sie war so verzweifelt, als sie mich nach deiner Verhaftung aufsuchte und mich anflehte, dein Leben zu retten. Gegen meine Überzeugung bat ich Seine Eminenz, sie anzuhören."
"Das war überaus anständig von dir, Gilbert, und ich wüsste nicht, was..."
"Schweig, du elender Verräter! Seine Eminenz war nur deshalb so gnädig, weil Adrienne - im Gegensatz zu dir - Frankreich treu ergeben ist. Doch durch dich wurde ihr Ansehen beschmutzt, denn jetzt ist sie mit dem Makel behaftet, die Ehefrau eines begnadigten Verräters zu sein und muss im Elend leben."
"Im Elend leben! Übertreib mal nicht, Gilbert! Zwar gefällt es mir auch nicht, mit eigenen Händen zu arbeiten, aber dadurch verhungern wir wenigstens nicht. Und wenn wir Glück haben, bleibt noch genügend von der Ernte übrig, um es zu verkaufen."
"Unfassbar! Eine Comtesse de Rochefort muss niedere Arbeit verrichten, als Marktfrau Waren feilbieten! Und das bezeichnest du nicht als elendes Leben?!"
"Sie ist schon lange keine Comtesse mehr, sondern meine Gemahlin, die Baronesse de Lebrunne!"
"Und seit wann muss eine Baronesse die Arbeit von Bauern erledigen?! Es ist eine Schande!"
"Apropos, was den guten Ruf deiner lieben Schwester betrifft, Gilbert, so prangte durch ihre eigene Schuld bereits vor meiner Verhaftung ein Makel darauf. Immerhin hat die Königin Adrienne vom Hof verbannt!"
"Dieses Missverständnis wurde längst aufgeklärt und Seine Majestät hat ihr verziehen."
"Ihre Majestät aber offensichtlich nicht! Deine Schwester erhielt ihre Stellung nicht zurück!"
"Der Kardinal und ich hielten es für besser, wenn sie nicht an den Hof zurückkehrt, um weiteren Missverständnissen vorzubeugen. Adrienne wird den Intrigen dort nicht standhalten können."
"Wie gut, dass Seine Eminenz und du alles tut, um meine Frau vor möglichen Misshelligkeiten zu bewahren. Vielen Dank!"
"Jedenfalls werde ich dafür sorgen, dass Adrienne nicht mehr dazu gezwungen ist, wie eine Bäuerin zu leben."
"Und das heißt?"
"Bereits Morgen trifft Dienstpersonal für das Haus hier ein, damit Adrienne wieder angemessen leben kann. Und du sorgst umgehend dafür, Knechte für die landwirtschaftliche Arbeit einzustellen. Selbstverständlich geht es nicht an, dass der Ehemann meiner Schwester die Arbeit eines Bauern verrichtet."
"Ich bin sehr gerührt, wie besorgt du um mein Ansehen bist, Gilbert! Da gibt es nur ein Problem: Wie soll ich diese Dienstboten und Knechte bezahlen, häh? Hast du vergessen, dass ich arm wie eine Kirchenmaus bin?!"
Den verächtlichen Blick, mit dem ihn sein Schwager daraufhin bedachte, würde er nie vergessen und auch nicht den schneidenden Unterton, als jener ihm antwortete:
"Selbstverständlich werde ich dir am Anfang finanziell unter die Arme greifen. Sobald dein Gut genügend Gewinn abwirft, damit ihr wieder einigermaßen standesgemäß leben könnt, werden wir uns sicherlich über die Rückzahlungsmodalitäten für mein kleines Darlehen einigen."
"Das ist wirklich sehr großzügig von dir, Gilbert. Ich weiß nicht, wie ich dir jemals danken soll!"
"Oh, ich tue das keinesfalls für dich! Aber meine Schwester soll nicht darunter leiden, dass sie sich den falschen Ehemann auswählte. Leider lässt sich dieser unglückselige Umstand nicht ändern, doch will ich wenigstens dafür sorgen, dass sie ihren gewohnten Lebensstandard beibehalten kann."
"Ich verstehe..."
"Gut! Und ich rate dir dringend, dir nichts mehr zuschulden kommen zu lassen. Über eine weitere Verfehlung deinerseits wird Seine Eminenz nicht mehr so großzügig hinwegsehen!"
"Sei versichert, lieber Schwager, dass ich deine Worte beherzigen werde. Doch ich nehme an, es gibt verschiedene Abstufungen von Verfehlungen, nicht wahr? Und bei manchen davon drückt Seine Eminenz sicherlich wohlwollend die Augen zu. - Apropos: Wie geht es eigentlich deinem kleinen Bastard?"
Gilberts Vorwürfe hatte er damals noch ertragen können, aber diese bigotte Selbstgerechtigkeit empörte ihn zutiefst und nur deshalb rutschte ihm völlig ungewollt die Bemerkung über jenes Kind der Liebe heraus, obwohl es ihm im Grunde egal war und er durchaus Verständnis für seinen Schwager aufbrachte. In Wirklichkeit beneidete er ihn darum, ein Kind mit der Frau gezeugt zu haben, mit der er bereits eine längere Affäre unterhielt. Adrienne freilich betrachtete dies als Skandal, da ihr Bruder seine Geliebte nicht heiratete. Das hätte sie vielleicht ein wenig versöhnt, denn sie konnte Gilberts Bettschatz nicht ausstehen und das lag mit Sicherheit nicht nur daran, dass Mylady das Wohlwollen des Kardinals genoss, der sie auch protegierte. Diese geheimnisvolle Dame war eigentlich gebürtige Französin, doch sie heiratete einen adligen Engländer und lebte ein paar Jahre mit ihm in dessen Heimat. Als deren Mann starb, kehrte Mylady allerdings nach Frankreich zurück, wohin sie vermutlich das Heimweh trieb.
Warum sich der Kardinal für Mylady interessierte, blieb vielen jedoch ein Rätsel, genau wie die Frau selbst. Sie war von erlesener Schönheit, trotz des kleinen Makels einer Narbe auf der rechten Wange, die sich auch durch Schminke nicht ganz verdecken ließ, und interessant genug, dass man sie bei Hofe einlud. Viele Herren suchten ihre nähere Bekanntschaft und sie hatte wohl auch den einen oder anderen Liebhaber, wie man so munkelte, bis sie offensichtlich nur noch einen bevorzugte: Gilbert de Rochefort. Doch trotz der Anziehung, die beide füreinander empfanden, erfolgte keine Hochzeit.
Adrienne, die selbst mit Mylady bekannt gemacht wurde, konnte dieser Frau hingegen nichts abgewinnen, mochte sie nicht - was vielleicht auf Eifersucht zurückzuführen war - und war entsetzt, als sie erfuhr, dass ihr eigener Bruder mit diesem "blonden Gift" - so betitelte seine Angetraute sie - schon längere Zeit liiert war. Als Krönung dieser "Schande" brachte Mylady schließlich im Januar 1626 ein kleines Mädchen zur Welt, das Gilbert als sein Kind anerkannte und kurz nach der Geburt zu sich nahm, da seine Geliebte zurück nach England fahren musste, um irgendwelche Angelegenheiten mit der Familie ihres Mannes zu regeln. Sie kehrte nicht zurück, niemand wusste etwas über ihr weiteres Schicksal und erst einige Jahre später wurde bekannt, dass sie gestorben war.
Jedenfalls reichte seine Bemerkung über die Frucht dieser Liebe aus, um Gilbert fuchsteufelswild zu machen:
"Sprich nicht in so abfälliger Weise von meiner Tochter!", brülle der Comte de Rochefort, dessen Gesicht dunkelrot anlief. "Sie ist neben der Frau, die ich über alles liebte, das Beste, was mir das Leben je geschenkt hat. Ein unschuldiges, reines Mädchen - und mehr wert als Hunderte deinesgleichen, du verräterischer Abschaum!"
"Aber illegitim, Gilbert, diesen Makel kannst du deinem kleinen Bastard nicht nehmen. Tut mir leid, wenn ich es erwähne, aber so ist es nun einmal!"
"Du mieses Stück Dreck! Wenn du nicht der Ehemann meiner Schwester wärst, die dich aus unerfindlichen Gründen liebt und deshalb immer noch zu dir hält, würde ich dich auf der Stelle zum Duell fordern!"
"Oho! Noch eine Verfehlung, die du zu begehen wünscht, lieber Schwager! Du wirst doch nicht etwa vergessen haben, dass Duelle verboten sind?"
"Man wird mir vergeben, da ein Verräter mich beleidigte!"
"Seit wann stellt das offene Aussprechen von Wahrheiten eine Beleidigung dar?!"
"Ich werde einen meiner Verwalter schicken, der alle weiteren finanziellen Angelegenheit, die dein Gut betreffen, klärt. Entschuldige mich, aber ich habe wenig Zeit und ich will noch mit meiner Schwester sprechen, bevor ich gehe. Adieu!"
"Wir werden deinen Besuch zu gegebener Zeit erwidern, Gilbert, schon allein, um die Rückzahlungsmodalitäten zu klären. Und meiner Frau wird es gewiss eine besondere Freude bereiten, ein hübsches Geschenk für die illegitime Frucht deiner Lenden mitzubringen."
"Adrienne kann jederzeit zu mir kommen, aber dich will ich niemals wiedersehen und du wirst keinen Fuß über die Schwelle meines Hauses setzen, so lange ich lebe! Verstanden?!"
"Vollkommen, Gilbert! Und ich werde deinen Wunsch respektieren."
Danach hatte sein Schwager den Raum lautstark verlassen und sie sahen sich tatsächlich nie mehr wieder. Er bedauerte dies sehr, denn trotz allem fand er es verdammt anständig von Gilbert, sie beim Neuanfang finanziell zu unterstützen.
Nichtsdestotrotz hatten all diese unglückseligen Umstände, in die seine Frau und er geraten waren, tiefe Spuren hinterlassen, die Konsequenzen für seine Ehe nach sich zogen. Seines Besitzes verlustig gegangen, begann seine Frau, sich innerlich mehr und mehr vor ihm zurückzuziehen und ihn bald spüren zu lassen, wie enttäuscht sie von ihm war. Da ihr Respekt vor ihm so gut wie dahin war, behandelte sie ihn von oben herab. Einerseits verstand er ihre Enttäuschung, andererseits trug sie selbst die Schuld daran, dass ihr Ansehen bei Hofe geschwunden war. Doch er brachte Verständnis für sie auf und hoffte, dass sie sich im Laufe der Jahre wieder annähern würden. Doch dies blieb eine Illusion und er wollte sich nicht mehr länger etwas vormachen: Seine Ehe war unwiderruflich am Ende!
Er hatte genug von der Respektlosigkeit, die Adrienne ihm entgegenbrachte. Gern würde er sich von ihr trennen, was allerdings schwierig zu bewältigen war. Ohne sie konnte er leider nicht in Rochefort bleiben und auf Kosten von Marguerite leben, denn das taten sie, seit seine Frau die Vormundschaft über ihre minderjährige Nichte erhielt und sie beide auf dem Familienstammsitz lebten. Anders sähe es aus, wenn er selbst das Mädchen heiraten würde, und zwar nicht nur, um bis an sein Lebensende gut versorgt zu sein, sondern auch, um endlich den Sohn zu zeugen, nachdem er sich immer gesehnt hatte. Dazu müsste er sich nicht einmal großartig überwinden, denn Marguerite war nicht nur ein junges Ding, mit dem er sicherlich spielend fertig wurde, sondern genauso schön wie seinerzeit ihre Mutter, der sie sehr ähnlich sah. Es konnte nicht schwer sein, das Herz eines so jungen, naiven Mädchens zu gewinnen. Denn offensichtlich behagte ihr der Gedanke nicht, auf dem Hofball in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Nun, er wollte an ihrer Seite bleiben und ihr Schutz bieten, damit die Kleine Vertrauen zu ihm fasste. Auf diese Weise könnte er auch potenzielle Bewerber um ihre Hand abschrecken, denn natürlich würde sich eine Vielzahl von Männern für solch ein hübsches Mädchen interessieren, zumal sie Erbin eines großen Vermögens war. Daher hatte es ihn auch kaum gewundert, dass Rouven sich um sie bemühen wollte. Natürlich hatte er ihn dazu ermutigt, aber nur, weil er wusste, dass Marguerite ihn nicht ausstehen konnte.
Roger lächelte ein wenig gehässig. Sein Freund stellte keine ernsthafte Konkurrenz um die Gunst der kleinen Rochefort dar. Doch bevor er selbst Marguerite ernsthaft den Hof machen konnte, musste er einen Weg finden, um seine Ehefrau loszuwerden.
Mit diesem düsteren Vorsatz betrat Baron de Lebrunne das Haus. Sofort eilte ein Dienstmädchen herbei, um ihm aus dem Mantel herauszuhelfen. Er lächelte die Bedienstete freundlich an und überreichte ihr auch seinen Hut.
"Danke, mein Kind", sagte er. "Bitte, sei doch so gut, in der Küche Bescheid zu sagen, dass man mir ein Glas Wein in den kleinen Salon bringt."
"Sehr wohl", gab das Dienstmädchen eifrig zurück. Zufrieden nickte er ihr zu und machte sich dann auf den Weg in den besagten Raum. Hier ließ sich Roger in einem gemütlichen Sessel nieder und wartete auf das angeforderte Getränk. Nur wenige Augenblicke später servierte es ihm ein älterer Dienstbote auf einem Tablett und ihm folgte... Adrienne! Der Baron erstarrte, hatte er doch gerade nicht das geringste Bedürfnis nach der Gesellschaft seiner angetrauten Ehehälfte.
Kaum war der Diener aus dem Salon verschwunden, setzte sich Adrienne ihm gegenüber und machte ein unglückliches Gesicht.
"Roger", begann sie in schuldbewusstem Ton. "Wo warst du denn nur?"
"Bin ich dir über jeden einzelnen meiner Schritte Rechenschaft schuldig?!", entgegnete er in missmutigem Ton und kreuzte die Arme vor seinem Oberkörper. "Dir beliebt es ja auch, dich heimlich mit irgendwelchen Leuten zu verabreden!"
"Bitte, Roger, rede doch nicht so einen Unsinn!", gab Adrienne flehentlich zurück und sah tatsächlich so aus, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde. "Ich habe mich mit niemandem heimlich verabredet! Das schwöre ich dir! Deine Unterstellung ist völlig aus der Luft gegriffen!"
Der Baron, davon überzeugt, dass sie die Wahrheit sprach, fuhr nichtsdestotrotz fort: "Schämst du dich nicht, eine Affäre mit einem meiner Freunde zu beginnen?"
"Ich habe nichts getan, dessen ich mich schämen müsste!", entgegnete sie heftig. "Und ich schwöre dir, dass ich nie etwas mit Rouven hatte oder haben werde. Bitte, Roger, glaub doch so etwas nicht!"
Ihr Mann genoss es innerlich, sie einmal so demütig zu erleben. Dieses Gefühl wollte er auskosten, so lange es ginge. Also fuhr er darin fort, den Beleidigten zu spielen.
"Erzähl mir doch nichts! Ich hab gesehen, dass du mit ihm getuschelt hast!", warf er ihr vor und machte ein wütendes Gesicht. "Warum tuschelt man wohl mit jemandem, wenn man nichts zu verbergen hat?! Gib endlich zu, dass du dich mit ihm verabreden wolltest, um mich zu hintergehen! Das hätte ich niemals von dir gedacht!"
Seine Frau wurde blass und wirkte tatsächlich sehr betroffen. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte in weinerlichem Ton: "Das würde ich niemals tun, Roger, so glaub mir doch! Es waren ganz andere Gründe, weshalb ich mit Rouven flüstern musste! Marguerite durfte davon keinesfalls etwas mitkriegen!"
"Marguerite? Was hat die denn damit zu tun?"
"Rouven sollte ihr... also er sollte..."
"WAS sollte er...?"
"Du weißt doch, dass das Mädchen verschwinden muss, nicht wahr?"
"Das ist jedenfalls deine Meinung", brummelte Roger.
"Roven sollte ihr... na ja, ein wenig den Kopf verdrehen..."
"Offensichtlich hat das nicht geklappt!"
"Leider nicht, aber das heißt ja nicht, dass er es nicht wieder versuchen wird..."
"So, so... meinst du wirklich, ein Mann wie er ist scharf darauf, von einem jungen Ding vor den Kopf gestoßen zu werden?"
"Beim Ball kann sie nicht davonlaufen und wird mit ihm tanzen müssen."
"Ein anderer könnte ihm zuvorkommen. Deine Nichte sieht ja ganz niedlich aus!"
Die Augenbrauen Adriennes zogen sich bedrohlich zusammen, so dass mitten auf der Stirn von der Nasenwurzel ab zwei steile Linien nach oben führten, was alles andere als vorteilhaft aussah.
>Wie eine echte Hexe< , schoss es Roger durch den Kopf und er fand sie auf einmal bedrohlich. Möglicherweise könnte das die Lösung all seiner Probleme sein...?
"Falls wirklich einer dieser jungen Laffen daherkommt und Marguerite zum Tanz auffordert, werde ich ihn darüber informierten, dass sie bereits einem anderen eine Zusage gegeben hat", erklärte Adrienne.
"Erwartest du wirklich, dass ich dir diese Geschichte glaube, die du mir gerade auftischst?", fragte Roger nach, immer noch böse aussehend. Adrienne verlor umgehend wieder ihr bedrohliches Gesicht und wandte sich mit flehentlichem Blick erneut ihrem Mann zu.
"Bitte, Roger, das ist die Wahrheit", versicherte sie ihm. Dann näherte sie sich seinem Ohr und flüsterte: "Dein Freund soll sie verführen und sie dazu überreden, mit ihm zu fliehen, damit sie irgendwo heimlich heiraten."
Diese Worte wirkten schockierend auf den Baron und seine ärgerliche Miene wich einer überraschten und schließlich besorgten. Als er seine Frau ansah, meinte er: "Das ist doch nicht dein Ernst? Du willst, dass Rouven sie heiratet?"
"Natürlich nicht!", gab sie zurück und schüttelte den Kopf. "Er soll sie nur fortlocken! Danach kann er von mir aus mit diesem kleinen Bastard machen, was er will. Jedenfalls werden wir sie niemals wiedersehen, sondern für immer los sein! Und dann gehört mir der Familienbesitz und alles andere auch!"
"Das war also dein Plan?", erkundigte sich Roger, der ohnehin angenommen hatte, dass seine Frau etwas Arges im Schilde führte. Doch dies war viel schlimmer, als er dachte. Vielleicht war es nun wirklich an der Zeit, sie sich vom Halse zu schaffen, bevor sie am Ende auch noch plante, ihn ermorden zu lassen.
"Ja, gut, nicht wahr?", meinte sie lächelnd und sah ihn voller Stolz an. "Es könnte dann wieder so sein wie früher, Roger. Wäre das nicht schön?"
"Es wird nie wieder so wie früher sein, Adrienne. Du machst dir etwas vor."
"Sieh nicht so schwarz in die Zukunft, mon cherie! Die schweren Tage werden ein Ende haben, sobald Marguerite für immer verschwunden sein wird!"
"Wo ist das Mädchen eigentlich? Es ist so still im Haus."
"Nachdem die Schneiderin hier war, habe ich ihr erlaubt, den restlichen Tag bei Madame de Colignon zu verbringen. Dadurch bleibt mir ihre verhasste Gesellschaft erspart. Wir sind endlich mal für uns allein im Hause, Roger. Was hältst du davon, mich auf mein Zimmer zu begleiten?"
"Tut mir leid, Madame, aber das passt mir gar nicht!", erklärte der Baron und erhob sich. "Verzeih mir, ma cherie, doch mich quälen seit heute früh starke Kopfschmerzen und es ist wohl besser, wenn ich mich ein wenig hinlege. Mach dir einen schönen Tag. Bis später!"
Er deutete eine Verneigung an und verließ rasch den Raum. Seine Frau konnte nicht fassen, dass er ihr gerade wirklich eine Abfuhr erteilt hatte; und all das nur, weil er eifersüchtig auf Rouven war. Nun ja, irgendwie war es ja auch schmeichelhaft...
***
Am Abend stellte Madame Colignon Marguerite ihre Kutsche für die Heimfahrt zur Verfügung. Der Comtesse fiel der Abschied von ihrer mütterlichen Freundin zwar schwer, aber sie tröstete sich damit, dass sie sie auf dem Ball wiedersah. Louise sollte sie auf dem Weg in den Marais begleiten, um sie während der Fahrt zu unterhalten. Etwas, wofür Marguerite der alten Dame sehr dankbar war.
Als sie mit Louise allein im Wagen saß, der langsam anfuhr, meinte das Mädchen: "Du wirst sehr hübsch aussehen in dem gelben Kleid, das Madame für dich ausgewählt hat. Es ist so ähnlich wie mein eigenes, so dass jedermann sicherlich glaubt, dass wir Schwester seien."
"Ehrlich gesagt habe ich ein wenig Angst vor diesem Ball", gestand Louise schüchtern. "Und ich gehöre auch eigentlich nicht dorthin. Die jungen Herren sind auf der Suche nach potenziellen Ehefrauen, nicht nach einem einfachen Mädchen wie mir."
"Bitte, mach dir keine Sorgen, meine Liebe. Selbstverständlich stellen wir dich vor, so dass jeder wissen wird, wer du bist. Wenn die jungen Herren dann nicht mit dir tanzen wollen, sind sie Hohlköpfe. Wir sind schließlich auf einem Ball, auf dem man sich auch vergnügen will."
"Ihr werdet gewiss viel Freude dort haben, Comtesse, und ich hoffe, dass Ihr jemanden findet, der Euch verdient."
"Welchen Eindruck hattest du eigentlich von den beiden italienischen Herren, die heute am späten Vormittag bei Madame vorstellig wurden?"
"Nun, sie waren überaus freundlich, sogar zu mir, obwohl ich doch nur die Gesellschafterin von Madame bin."
"Conte Aro di Volturi bat mich um den ersten Tanz..."
"Ja, das haben wir alle gehört. Er gefällt Euch wohl, Comtesse?"
"Ein interessanter, junger Mann und sehr galant. Meinst du, dass er ein Ehrenmann ist?"
"Das ist schwer zu sagen. Wir kennen die Conte di Volturi doch kaum."
"Sein Bruder wirkte irgendwie verlegen", sinnierte Marguerite. "Hoffentlich hat ihm meine allzu schnelle Zunge nicht abgeschreckt. Es war wirklich sehr ungehörig von mir anzudeuten, dass eine Bekanntschaft mit meiner Tante nicht wünschenswert ist."
"Wenn ich mich recht entsinne, hat der ältere Mann darüber ein wenig gelächelt", antwortete Louise. "Nein, ich glaube, niemand hat Euch etwas übel genommen. Stattdessen schien Conte Aro di Volturi Euch ein wenig beruhigen zu wollen. Er ließ Euch jedenfalls die ganze Zeit kaum aus den Augen."
Marguerite spürte, dass ihr Hitze in die Wangen stieg. Sie musste lächeln.
"Meinst du, dass... dass ich ihm gefalle, Louise?"
"Ganz bestimmt. Er war doch recht angetan von Eurem Gesang, nicht wahr?"
"Nun ja, das sagte er..."
"Auf dem Ball werdet Ihr Gelegenheit haben, ihn besser kennenzulernen."
"Ja... ja, das ist wahr! Ich freue mich schon auf unseren ersten Tanz. Hoffentlich ist er ein guter Tänzer."
"Er wirkte jedenfalls so, als ob er keine Angst davor hätte, zu tanzen."
Die Mädchen lachten etwas und dann hielt der Wagen. Einer der Lakaien öffnete die Tür und meldete: "Wir sind vor Eurem Haus angekommen, Comtesse."
"Mon Dieu!", entfuhr es Marguerite. "Das ist wirklich schnell gegangen!"
Sie wandte sich an ihre Freundin, fasste sie an beiden Händen und drückte diese, während sie sie ansah: "Es fällt mir schwer, dich zu verlassen, Louise, aber mir bleibt keine andere Wahl, obwohl ich nicht zu meinen Verwandten zurückkehren will! Aber ich verspreche dir, dass ich dich wieder in meine Dienste nehme, wenn ich von der Fuchtel meiner Tante befreit bin. Au revoir, liebe Freundin."
"Es wird alles wieder gut werden", meinte Louise zuversichtlich. "Au revoir, Comtesse, und eine gute Nacht."
"Ebenfalls, meine Liebe, wir treffen uns auf dem Ball. Komm gut nach Hause und schenke auch Madame de Colignon diese Küsse von mir", sagte Marguerite und hauchte ihrer Freundin auf jede Wange einen Kuss. "Gute Nacht euch beiden."
Schweren Herzens stieg das Mädchen aus dem Wagen, der direkt vor dem Eingang des Hauses gehalten hatte. Als sie an die Tür klopfte, wurde ihr sofort geöffnet und sie trat ein.
"Willkommen zurück, Comtesse", begrüßte sie der alte Kammerdiener ihres Vaters und half ihr aus dem schweren Mantel, nahm ihr auch Hut und Handschuhe ab. "Der Baron und die Baronesse haben sich bereits zur Nachtruhe begeben. Ihr müsst das Souper also allein einnehmen."
"Danke, nicht nötig", erwiderte sie freundlich. "Es wäre allerdings nett, wenn Arlette mir ein leichtes Abendbrot aufs Zimmer bringen würde."
"Sehr wohl, Comtesse."
"Vielen Dank, Baptiste. Gute Nacht."
"Gute Nacht und angenehme Träume."
Marguerite lächelte den alten Diener an und ging dann auf ihr Zimmer. Hier stellte sie sich sofort ans Fenster und starrte verträumt in den Himmel. Immerfort musste sie an Conte Aro di Volturi denken, sein freundliches Lächeln und seine dunklen Augen wollten ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Dieser junge Italiener wirkte sehr gepflegt, besaß gute Umgangsformen und sein schwarzes, langes Haar, das hinten zusammengebunden war, erinnerte sie an dunkle Seide. Ob es sich wohl auch so angenehm anfühlte?
Sie fragte sich, was er wohl über sie dachte und ob ihn nicht doch ein wenig schockiert hatte mit dem, was sie über ihre Tante sagte. Sie würde zu gern wissen, was er wirklich von ihr hielt; und hatte er sie tatsächlich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen, so wie Louise es behauptete? Warum hatte er das nur getan? Und warum war ihr eigentlich wichtig, was er von ihr hielt? Ob er überhaupt an sie dachte...?
***
Anders als Marcus war Aro nicht damit zufrieden, ständig durch das Fenster das Treiben vor dem Hause ihrer Nachbarin zu beobachten. Zunächst begnügte er sich damit, dem Spiel auf dem Cembalo, das manchmal durch Marguerites Gesang ergänzt wurde, zu lauschen und es zu genießen, wobei er sich nach einer Weile wieder auf das Sofa vor dem Kamin setzte und die Augen schloss, um sich das schöne Mädchen dabei vorzustellen.
Schließlich teilte ihm Marcus, der ansonsten dankenswerterweise kein weiteres Wort mehr über seine angebliche Verliebtheit in die junge Comtesse verlor, nach ein paar Stunden mit, dass eine weitere Frau zum Hause von Madame de Colignon kam. Kurz danach hörten sowohl die Musik als auch der Gesang auf, was Aro auf die Ankunft der Unbekannten zurückführte, die sich als Schneiderin entpuppte und gekommen war, um die Maße für ein Kleid zu nehmen.
"Unsere Nachbarin hat ein neues Kleid für den Ball bestellt", teilte er Marcus mit und erhob sich. "Was hältst du davon, einen kleinen Spaziergang zu machen?"
"Geh ruhig ohne mich, Aro."
"Du wirst schon nichts verpassen, lieber Bruder. Wenn erst einmal die Schneiderin im Hause ist, kann das ein paar Stunden dauern."
"Ich habe einfach keine Lust rauszugehen, Aro, also lass mich in Ruhe. Ich hoffe, du findest etwas, das deinen Appetit befriedigt."
"Wie leicht du mich doch durchschaust, alter Freund."
Marcus lächelte etwas und meinte dann: "Comtesse Marguerite ist ein überaus bezauberndes Mädchen, das natürlich deinen Appetit angeregt hat, nicht wahr? Aber vermutlich willst du sie dir für einen späteren Zeitpunkt aufheben."
"Das könnte schon möglich sein", gab Aro lächelnd zu. "Ich finde sie auch zu schade, um uns lediglich als Nahrung zu dienen. Genau wie deine Madame de Colignon. Es wundert mich, dass du nicht ebenso hungrig bist wie ich, nachdem du sie endlich kennengelernt hast. Oder gefällt sie dir etwa nicht mehr?"
"Wie ich bereits sagte, finde ich sie reizend. Aber jeder von uns hat seine eigenen Bedürfnisse. Geh jetzt, Aro, und sorge dafür, dass du für die kleine Comtesse nicht zu einer Gefahr wirst."
Der schwarzhaarige Vampir lächelte breit und verabschiedete sich danach. Allerdings war seine Intention für den Spaziergang keineswegs ein drängender Durst, sondern eine unerklärlich-freudige Aufregung, die er dadurch ein wenig abzureagieren hoffte. Falls sich unvermutet dann tatsächlich eine Gelegenheit ergab und ein abgelegener Ort fand, würde er natürlich auch seinen Durst stillen, aber dies war nicht so drängend, wie Marcus es anscheinend glaubte. Vielmehr träumte Aro davon, die rosigen Lippen von Marguerite zu küssen... sie waren bestimmt warm und weich; und dann ihr herrliches, blondes Haar, das nach Veilchen und Rosen duftete. Er sehnte sich danach, wieder in der Gesellschaft dieses jungen Mädchens zu sein, und konnte es kaum erwarten, bis sie sich wiedersahen.
Als er über die Pont Neuf [4] spazierte, kam ihm Caius entgegen, der überaus gut gelaunt wirkte.
"Du bist doch nicht etwa auf der Suche nach mir?", fragte ihn der blonde Vampir.
"Keineswegs", erwiderte Aro freundlich. "Mir war nur nach ein wenig Bewegung. Die Luft hier draußen ist sehr gut, kalt und frisch."
"Die Wintertage sind erfreulich dunkel", ergänzte Caius grinsend. "Ideal, um den Durst zu stillen. Außerdem kenne ich mich mittlerweile ziemlich gut in dieser Stadt aus, wo es genügend dunkle, leere Gassen gibt, in denen wir ungestört sein werden."
"Erfreuliche Aussichten, mein Freund, aber derzeit habe ich kein Verlangen danach. Du hast übrigens etwas verpasst, denn es ist mir tatsächlich gelungen, Marcus dazu zu bringen, uns bei unserer Nachbarin vorzustellen."
"Na, endlich", meinte Caius und lachte ein wenig. "Und wie ist diese Witwe?"
"Eine hübsche, ältere Dame mit liebenswürdigen Umgangsformen. Sie war sehr freundlich zu uns und überaus betrübt, als wir gingen", erklärte Aro. "Ich wäre gerne auch noch geblieben, aber Marcus wollte unbedingt gehen. Als Grund gab er an, dass du krank seist und wir dich nicht so lange allein lassen wollten."
"Warum erzählt Marcus so einen Unsinn über mich?"
"Wir haben uns selbstverständlich als Madames Nachbarn vorgestellt und dein Fernbleiben bei diesem Procedere damit entschuldigt, dass du krank seist. Die hübsche Witwe lässt dir übrigens ausrichten, dass du ihr genauso willkommen bist wie Marcus und ich."
"Sehr freundlich von der Dame. Das Angebot werde ich sicherlich irgendwann in Anspruch nehmen."
"Bitte, halte dich bei Madame de Colignon zurück! Mir scheint, dass Marcus an ihr Gefallen gefunden hat. Er benimmt sich sehr zurückhaltend, bekam kaum den Mund auf, als wir bei ihr waren."
"Wenn es so ist, werde ich meine potenzielle neue Schwester selbstverständlich in Ruhe lassen."
"Unsere Nachbarin hatte übrigens reizenden Besuch von einer jungen Freundin", fuhr Aro fort und in seine Augen trat ein schwärmerischer Glanz, der Caius nicht entging. "Außerdem steht noch eine nette, wenngleich etwas unscheinbare Brünette namens Louise in Madames Diensten, die mit dem reizenden Besuch eng befreundet ist, wie Marcus mir verriet."
"Und dieser reizende Besuch findet dein Wohlgefallen", stellte Caius grinsend fest. "Gehe ich recht in der Annahme, dass ich auch diesem holden Wesen nichts antun soll?"
"Ja, das wäre mir sehr recht. Ich bin fasziniert von diesem Mädchen."
"Und hat dieser reizende Besuch auch einen Namen?"
"Das liebliche Kind heißt Marguerite und ist einfach bezaubernd."
"Marguerite?!", entfuhr es Caius überrascht, worauf Aro ihm einen befremdlichen Blick zuwarf.
"Hier, sieh selbst!", forderte der blonde Vampir ihn auf und reichte ihm seine Hand. Sein Meister nahm sie und wusste innerhalb einer Minute über das Gespräch von Roger und Rouven Bescheid. Seine Miene verfinsterte sich augenblicklich und er nickte Caius zu, ehe er seine Hand wieder losließ.
"Du hast vollkommen recht, Bruder, wir werden diesen Herren die Suppe gehörig versalzen", erklärte Aro dann mit fester Stimme. "Marguerites Tante ist eine grässliche Frau, die dem armen Mädchen das Leben schwermacht, wo sie kann. Wir sollten auch ihr möglichst bald einen Denkzettel verpassen. Vermutlich wird es ihr gar nicht gefallen, dass ihre liebliche Nichte mir bereits den ersten Tanz versprochen hat - und ich bin entschlossen, ihn einzufordern!"
"Das freut mich außerordentlich", erwiderte Caius lächelnd. "Und danach möchte ich mit ihr tanzen."
"Nein, nein, schenke mir diesen Abend mit ihr", bat Aro.
"Von mir aus, wenn du so vernarrt in die Kleine bist", meinte der blonde Vampir leichthin. "Ich werde schon jemand anderen finden, der mit mir tanzt."
"Fordere doch ihre Freundin auf", schlug sein Meister ihm vor. "Ich bin sicher, dass Marguerite sich darüber freuen würde. Diese Louise wird nämlich auch kommen, obwohl sie nicht von Adel ist."
"Nicht von Adel? Was hat sie dann dort zu suchen?"
"Marcus vermutet, dass Madame de Colignon sie mitnimmt, um Marguerite eine Freude zu machen und um sie zu beruhigen. Wie ich dir bereits sagte, sind die beiden Mädchen eng miteinander befreundet."
"Gut, ich kann mir diese Louise ja mal anschauen", meinte der blonde Vampir. Dann fiel ihm plötzlich ein, dass das brünette Mädchen von den Hofschranzen möglicherweise geschnitten werden würde, da sie nicht von edler Geburt war. Für ihn der ausschlaggebende Grund, sich auf dem Hofball besonders um Louise zu kümmern. Außerdem sprach es sehr für diese Marguerite und Madame de Colignon, dass sie ein einfaches Mädchen nicht verachteten. Vielleicht fand er die beiden Damen ja auch ganz sympathisch...
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[1] Maliziosa basbetica = ital. "boshafte Xanthippe"
[2] l'arpia = ital. "böses Weib"
[3] Schleifung - damit wird der Abriss von Burgen oder Festungen der verlierenden Partei eines (eigentlich militärischen) Konfliktes bezeichnet. Die Anlage wird dabei jedoch nicht völlig zerstört, meist bleiben die Grundmauern bestehen, damit die "Schande" für alle sichtbar ist.
[4] Pont Neuf - so heißt die große Brücke über der Seine.
16. Kapitel
Das Feuer der edelsten wie der gemeinsten Leidenschaften
erzeugt stets einen Rauch, der unsere Vernunft verdunkelt.
Ludwig XIV. (1638-1715)
~~~~~
Die ganze Nacht lang hatte sich Aro von Caius durch Paris führen lassen. Gegen Mitternacht griffen sie sich zwei Betrunkene, die sie in einer der vielen menschenleeren Gassen aussaugten, und kehrten erst in den frühen Morgenstunden, als es zu schneien begann, in ihr Mietshaus nach Saint-Germain zurück. Kaum dort angekommen, zog sich Aro in sein eigenes Zimmer zurück und starrte vom dortigen Fenster zum Haus von Madame de Colignon hinüber, wohl wissend, dass das Mädchen, nach dem er sich sehnte, schon lange nicht mehr dort war.
Marguerite... der Name klang wie Musik in seinen Ohren. Aber sie würde wohl heute nicht zu Besuch kommen, so dass er nicht das Vergnügen hätte, sie zu sehen, wenigstens vom Fenster aus. Nein, offiziell müsste er sich bis zum Ball morgen Abend gedulden... aber er wollte nicht. Er wollte Marguerite sehen, nein, er musste in ihrer Nähe sein... er hielt es nicht aus...
Voll innerer Unruhe erinnerte er sich vage an das Haus, welches er in ihren Gedanken gesehen hatte, jenes Haus, in dem sie derzeit mit ihrer Tante und deren Mann wohnte, der seinen Freund dazu ermutigt hatte, Marguerite den Hof zu machen.
Aro knurrte leise vor Zorn.
Allein der Gedanke, dass dieser Rouven Guignot sich Marguerite nähern könnte, machte ihn rasend vor Zorn. Allerdings mochte sie ihn nicht, doch das beruhigte Aro keineswegs, lehnte die reizende Comtesse diesen Mann doch nur deshalb ab, weil er mit ihren Verwandten bekannt war. Sie war ein junges Mädchen, zutiefst verunsichert, da kein Vater mehr da war, um sie zu beschützen, und verzweifelt wegen der schlechten Behandlung durch ihre Tante, unter deren Kuratel sie derzeit stand. Der Vampir bezweifelte dabei ebenso wie Marguerites Anwalt, dass der Baronesse diese Vormundschaft wieder entzogen wurde. Zudem konnte er sich auch nicht vorstellen, dass man Madame de Colignon als zweiten Vormund für Marguerite bestimmen würde. So etwas war äußerst ungewöhnlich und Aro hatte noch nie gehört, dass dies jemals vorgekommen sei.
Ganz gewiss würde das junge Mädchen jeden Strohhalm ergreifen, der sich ihr böte, um sich von der Vormundschaft dieser grässlichen Tante zu befreien, und wenn dieser Guignot ihr die Ehe antrug, würde die hübsche Comtesse ihn womöglich erhören, ob sie nun etwas für ihn empfand oder nicht...
Aros Augenbrauen zogen sich bei dieser Überlegung finster zusammen.
Er verstand natürlich, wenn Marguerite auf diese Weise handelte, aber es musste ja nicht sein... schließlich fand sie ihn ganz sympathisch... und wenn er nun... aber er kannte sie erst so kurze Zeit und wollte deshalb keine vorschnelle Entscheidung treffen. Zudem war es derzeit sehr gefährlich... eine Neugeborene in Paris - nein, nein, es würde schwer sein, sie zu beherrschen... vor allem, wenn die Verwandten noch am Leben waren und die Kleine sich an ihnen rächen wollte...
Der Vampir lächelte bitter. Nicht, dass er Marguerites Rachsucht nicht nachvollziehen könnte und vermutlich hätte er gar nichts dagegen, wenn sie sich danach gleich irgendwo weit weg zurückziehen könnten. Aber das wäre zu auffällig, etwas, das man vermeiden sollte...
Er seufzte tief auf, bedauerte es innerlich, dass es derzeit nicht ratsam war, in den Palazzo nach Volterra zurückzukehren. Dann würde er nicht zögern, Marguerite dorthin mitzunehmen und zu verwandeln... und Marcus hätte sicherlich auch nichts dagegen, die attraktive Witwe ebenfalls zu einer kleinen Reise zu überreden... es wäre nahezu perfekt, da sich die beiden Frauen gut verstanden.
Maledetto! Ausgerechnet jetzt war ihnen die Heimreise für eine Weile versperrt - jetzt, da Marcus und er zwei interessante weibliche Wesen kennengelernt hatten, die der Verwandlung wert waren. Madame de Colignon war äußerst liebenswürdig und die bezaubernde Marguerite einfach hinreißend... ach, er hielt es nicht mehr aus! Er musste sie sehen!
Aro verließ sein Zimmer, warf sich seinen Umhang über und verließ das Haus. Draußen zwang er sich, in einem normalen Tempo zu gehen, damit er unter den Menschen nicht auffiel, denn bereits am frühen Morgen tummelten sich etliche Sterbliche in den Straßen von Paris. Er fragte einen Passanten, in welcher Richtung der Stadtteil Marais lag, bedankte sich und machte sich dann auf den Weg dahin...
***
Seit dem frühen Morgen schneite es ununterbrochen, so dass Paris inzwischen wieder mit einer dicken Schneeschicht bedeckt war. Niemand, der nicht unbedingt hinaus musste, verließ das Haus. Enttäuscht starrte Marguerite, die kaum geschlafen und seit Beginn der Morgendämmerung wach war, aus dem Fenster ihres Zimmer und seufzte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, mit Arlette einen längeren Spaziergang zu machen. Doch bei solch einem Wetter würde das ihre Tante gewiss nicht erlauben und das bedeutete, dass sie nicht einmal für eine Weile der Gesellschaft ihrer Verwandten entfliehen konnte. Zwar hatte sie sich bereits durch ein Dienstmädchen das Frühstück aufs Zimmer bestellt, um wenigstens am frühen Morgen Tante und Onkel nicht sehen zu müssen, aber das Wissen, dass diese beiden mit ihr zusammen unter einem Dach lebten, reichte aus, damit sie sich wie eine Gefangene im eigenen Haus fühlte. Schließlich wusste sie, dass die Miete dafür von dem Geld bezahlt wurde, das eigentlich ihr gehörte. Doch da ihre Tante die Vormundschaft über sie besaß, konnte jene frei darüber verfügen.
Es klopfte an die Tür und nachdem Marguerite "Herein!" gesagt hatte, brachte Arlette das Tablett mit dem bestellten Frühstück herein.
"Guten Morgen, Comtesse. Wo wünscht Ihr zu frühstücken?"
"Stell das Tablett auf dem kleinen Tisch ab", erwiderte Marguerite, ohne sich umzusehen. Stattdessen starrte sie immer noch missmutig aus dem Fenster, sah die schneebedeckten Büsche und kahlen Zweige der Bäume, welche die Straße säumten und durch die weiße Schicht kaum noch zu erkennen waren. Sie seufzte auf und murmelte: "Will das denn gar kein Ende nehmen?"
"Kaum zu glauben, dass es wieder so heftig schneit, nachdem wir einige Tage lang Ruhe hatten und die Straßen auch wieder frei waren", bemerkte Arlette, worauf sich Marguerite endlich zu der Zofe umdrehte. Sie schlenderte langsam zu dem kleinen Tisch und setzte sich, um zu frühstücken.
"Komm, setz dich zu mir, Arlette!", forderte sie die Bedienstete auf, die sich dies nicht zweimal sagen ließ. Marguerite fand es immer sehr interessant, der Zofe zuzuhören, die ihr alles zutrug, was sich im Hause tat. Es hatte sich bisher immer als höchst aufschlussreich erwiesen. "Geht es dir gut?"
"Ja, vielen Dank, Comtesse", antwortete die Angesprochene fröhlich.
"Und ist bei den anderen auch alles in Ordnung?"
"Ja, es ist alles in Ordnung, Comtesse."
"Gibt es irgendetwas Neues?"
"Gestern kam Euer Onkel erst kurz vor dem Mittagessen heim und hatte wohl wieder einen Disput mit Eurer Tante."
"Weißt du, worum es ging?"
"Rein zufällig schnappte ich auf, dass sie sich wegen eines gewissen Rouven stritten."
"Rouven?", echote Marguerite und überlegte. Dann fiel ihr wieder ein, dass dies der Vorname von diesem Monsieur de Guignot war, der letztens zum Souper kam. Ein unsympathischer Mann mit einer überaus großen Hakennase in seinem spitz verlaufenden, schmalen Gesicht. Sie wirkte wie ein Schnabel, der auf jemanden einhacken und ihm damit Schmerz bereiten konnte, wenn er wollte. Vielleicht war es ja ungerecht von ihr, ihn aufgrund seines wenig ansprechenden Äußeren zu beurteilen, aber in der kurzen Zeit, in der sie neben ihm saß, fühlte sie sich äußerst unwohl. Guignot war wirklich kein Mensch, mit dem sie näher bekanntzuwerden wünschte - auch wenn er nicht zufällig mit Onkel und Tante befreundet wäre, was für sie einen weiteren Grund darstellte, ihm so oft wie möglich aus dem Weg zu gehen.
"Dieser Mann ist ein Bekannter meiner Verwandten", klärte Marguerite die Zofe auf, die diese Information gierig aufsog. "Erinnerst du dich noch an Monsieur de Guignot, den meine Tante zum Souper einlud?"
"Ach, der ist das", entfuhr es Arlette überrascht. "Und er heißt Rouven?"
"Ja, er wurde mir als Rouven de Guignot vorgestellt", bestätigte die Comtesse und nickte. "Und wegen ihm gab es also Streit?"
"Genau!", gab Arlette eifrig zurück. "Offensichtlich glaubt der Baron, dass Eure Tante eine Affäre mit ihm unterhält."
"WIE BITTE?!", entfuhr es Marguerite überrascht und sie starrte ihre Zofe ungläubig an. "Tatsächlich?"
"Oh ja, er machte ihr die bittersten Vorwürfe, obwohl sie alles abstritt."
"Das ist ja wirklich nicht zu fassen", meinte Marguerite, griff sich an den Kopf und begann dann laut aufzulachen. Arlette schaute sie verständnislos an, da sie den Grund für den plötzlichen Heiterkeitsausbruch der Comtesse nicht nachvollziehen konnte.
"Verzeiht mir bitte, aber was ist daran so lustig?"
Marguerite sah ihre Zofe an und erwiderte nach einer Weile: "Es ist nur, weil meine Tante immer so erhaben tut und mir Moralpredigten hält. Dabei hat sie selbst... ach, es ist unglaublich..."
"Aber Eure Tante stritt die Vorwürfe ihres Mannes rigoros ab", sagte Arlette. "Außerdem kann ich mir gar nicht vorstellen, dass sie und dieser Monsieur de Guignot... nein, ein so höflicher, feiner Mann mit guten Manieren und dermaßen charmant... warum sollte er ausgerechnet mit der Baronesse etwas haben, wo sie doch so unfreundlich ist und nicht gerade... nun ja, entschuldigt bitte, aber man kann sie wirklich keine Schönheit nennen."
"Diesen Guignot ebenfalls nicht!", gab Marguerite zurück, die sich über diese Angelegenheit köstlich amüsierte. "Von daher würden sie gut zusammenpassen! Außerdem war sie es doch, die ihn eingeladen hat. Aber dass der Baron deshalb eifersüchtig ist, wundert mich, wo er doch so unter ihrer Fuchtel steht... noch schlimmer als ich. Er tut mir beinah ein wenig leid."
"Haltet ihr es denn wirklich für möglich, dass Eure Tante eine Affäre unterhält?"
"Warum denn nicht? Es soll hin und wieder vorkommen, dass Damen der gehobenen Gesellschaft so etwas zu tun pflegen."
"Ob der Baron sich von seiner Frau trennen wird? Was meint Ihr, Comtesse?"
"Keine Ahnung. War er denn sehr wütend?"
"Es hörte sich ganz danach an und er zog sich kurze Zeit später auf sein Zimmer zurück, wo man ihm auch die Mahlzeiten servieren musste, weil er sich angeblich nicht wohl fühlte."
"Aha, und meine Tante?"
"Sie war danach sehr still und zog sich ebenfalls zurück, aber sie wollte nichts zu sich nehmen und keinen Menschen sehen."
"Hm... dieser Streit scheint Tante Adrienne mehr mitzunehmen, als ich jemals für möglich hielt."
"Der Baron und die Baronesse sind heute noch nicht zum Frühstück im Esszimmer erschienen."
"Um diese frühe Stunde schlafen sie gewiss noch. Gibt es sonst etwas Neues?"
"Nein, nichts. Aber morgen Abend findet ja der Hofball statt und das bedeutet, dass die Schneiderin heute Nachmittag Euer Kleid vorbeibringen wird. Sobald es da ist, müsst Ihr es unbedingt anziehen, falls noch Änderungen notwendig sein sollten. Außerdem muss ich sehen, wie ich Eure Haare dazu passend frisieren kann. Schließlich sollt Ihr morgen Abend hübsch sein, wenn Ihr bei Hofe erscheint, Comtesse."
"Ja, das wäre sehr wünschenswert", gab Marguerite zu und in ihre Augen trat ein verträumter Glanz, denn sie dachte wieder an Conte Aro, mit dem sie morgen Abend tanzen würde und auf den sie einen guten Eindruck machen wollte. Vielleicht lernte sie dabei auch den dritten Bruder kennen. Ob dieser genauso wohlerzogen und freundlich war wie Conte Marcus und Conte Aro?
***
Es begann heftiger zu schneien, als Aro in die nächste Straße einbog, die zum Marais gehörte. Erfreut bemerkte er, dass er sich unweit des Hauses befand, welches er in Marguerites Gedanken als dasjenige gesehen hatte, in dem sie in Paris mit ihrer Verwandtschaft verweilte. Natürlich konnte er sie nicht erblicken, sicher schlief sie um diese frühe Stunde noch, aber allein der Gedanke, in ihrer Nähe zu sein, hob seine Stimmung enorm.
Langsam bewegte er sich durch die langen Schatten der kahlen Baumallee entlang, die die Straße säumte, in der das schöne Mädchen lebte, darauf hoffend, wenigstens ihre Stimme durch die Mauern des Hauses hören zu können, sobald sie erwachte... doch da... ihr liebliches Antlitz erschien an einem der Fenster im oberen Stockwerk und sie starrte hinaus, beobachtete seufzend die wirbelnden Schneeflocken mit einem traurigen Blick, den sie langsam hinunter auf die Straße gleiten ließ. Aro verbarg sich rasch hinter dem Stamm eines Baumes und hoffte, dass sie ihn nicht erkannt hatte. Dann hörte er, dass eine der Bediensteten ihr das Frühstück brachte, danach seufzte Marguerite erneut und murmelte betrübt: "Will das denn gar kein Ende nehmen?", bevor sie sich bewegte. Erst jetzt wagte Aro es, vorsichtig nach oben zu lugen, doch die junge Dame stand nicht mehr am Fenster. Stattdessen bot sie ihrer Dienerin einen Platz an und begann sie auszuhorchen, was den Vampir unwillkürlich grinsen ließ. Bald kam das Thema auf ihre Verwandtschaft und der Name seines verhassten, potenziellen Konkurrenten um die Gunst von Marguerite fiel. Aber es dauerte nur einen Augenblick, bis Aro klar wurde, dass Guignots Bemühungen um das junge Mädchen sinnlos waren, denn dem Klang ihrer Stimme und ihren Worten war deutlich zu entnehmen, dass sie Rouven abstoßend fand, während ihre Bedienstete ihn als höflich und charmant beschrieb.
Welch eine erfreuliche Erkenntnis, dass Marguerite die Ansicht dieser Arlette nicht teilte und es tatsächlich für möglich hielt, dass Guignot eine Affäre mit ihrer Tante unterhielt, was die Comtesse überaus zu amüsieren schien. Jedenfalls schien sie trotz all ihres Kummers ihren Humor nicht verloren zu haben, was sie in seinen Augen noch anziehender machte. Sie war wahrhaftig keine Frau, die sich alles bieten ließ. Doch diese Tante und ihr Freund Guignot schienen vor gar nichts zurückzuschrecken, vor allem der Letztere schien ein ziemlicher Lüstling zu sein, der keine Skrupel hatte, zuerst das Bett mit der Ehefrau seines Freundes Roger zu teilen, sich vor diesem über die Baronesse lustig zu machen und danach noch die Frechheit zu besitzen, von der Nichte zu schwärmen und sich um sie bemühen zu wollen.
Aro lächelte grimmig, fand er in dem Verhalten von Guignot und Baronesse de Lebrunne doch nur wieder bestätigt, dass Menschen nicht edelmütiger als Vampire waren, sondern teilweise sogar schlimmer, da manche nach außen hin Moralvorstellungen vertraten, in Wirklichkeit jedoch genau die Dinge taten, die sie anderen verboten oder gar vorwarfen. Marguerite hatte recht, sich darüber lustig zu machen. Oh, sie und er würden sich großartig verstehen!
***
Nachdem er mit Aro nach Hause gekommen war und sich in sein Zimmer zurückzog, fläzte sich Caius mit einem Buch auf sein Bett und versuchte, sich in den Inhalt desselben zu vertiefen. Allerdings begannen seinen Gedanken bald darauf, die Ereignisse des letzten Tages Revue passieren zu lassen. Vor allem wunderte er sich im Nachhinein, dass Aro - nachdem er durch ihn von dem Gespräch zwischen den Männern hinter der Kirche erfahren hatte - äußerst schlecht gelaunt wirkte und sich erst wieder beruhigte, nachdem er ihn durch Paris geführt und ihm enge, dunkle und verborgene Gassen gezeigt hatte, in denen sie mit ihrer "Beute" verschwinden und sich dort an ihnen gütlich tun konnten, ohne dass jemand sie störte. In jenen Vierteln trieb sich nämlich vornehmlich gesellschaftlicher Abschaum herum, der sich nicht um andere kümmerte, egal, was immer sie taten.
Caius grinste etwas bei dem Gedanken, dass Menschen im Grunde auch nicht viel besser waren als Wesen seiner Art, die als gefährliche Raubtiere galten, vor denen man sich fürchtete. Dann schweiften seine Gedanken wieder zu Aro zurück und er erinnerte sich, wie jener ihm erzählte, dass Marcus und er gestern Nachmittag ihrer Nachbarin endlich ihre Aufwartung gemacht und dabei nicht nur deren Gesellschafterin, sondern vor allem die junge Freundin der Madame kennengelernt hatten, welche gerade zu Besuch gekommen war. Natürlich war ihm Marcus' Interesse an der hübschen Witwe von Gegenüber nicht entgangen, aber noch nie war Aro derart von einem sterblichen Mädchen fasziniert gewesen wie von dieser Marguerite.
Sein Meister liebte zwar den Flirt mit jungen Dingern, aber er hatte sich bislang für keine von ihnen ernsthaft erwärmen können. Sie dienten ihm lediglich als netter Zeitvertreib, als Beute oder als beides, da Aro gern das Angenehme mit dem Notwendigen verband. Doch dessen ernsthafte Bitte, ihm diese Marguerite am Abend des Hofballs allein zu überlassen und sich stattdessen um deren Freundin Louise zu kümmern, um Aros Schwarm eine Freude zu machen, stellte etwas völlig Neues dar. Konnte es wirklich sein, dass sein sonst so kühler, berechnender Meister sich verliebt haben könnte? Ausgerechnet in ein junges, albernes Ding? Ein Mädchen, das sich laut Aussage des feisten Rogers leicht durch Freundlichkeit gewinnen ließ, war doch nicht anders als all die anderen Backfische, die er jemals kennengelernte. Es fiel Caius schwer zu glauben, dass Aro sein Herz tatsächlich an solch ein junges Ding verloren haben könnte... wenn dieser Zyniker überhaupt je ein Herz besessen hatte...
Eigentlich gingen ihn die Spielchen seines Meisters nichts an und sie interessierten ihn im Grunde auch nicht, aber dieser seltsame Blick, den er in seinen Augen sah, als jener von dieser Marguerite sprach... es ließ ihm keine Ruhe - und es gab nur einen, der ihm darüber Näheres sagen konnte.
Der blonde Vampir verließ flugs sein Bett und eilte hinunter ins Wohnzimmer, in der Hoffnung, dass Marcus sich bereits dort aufhielt. Doch der Sessel war leer. Merkwürdig! Nun ja, möglicherweise hatte sich auch Marcus in sein Zimmer zurückgezogen und beobachtete von dort aus das Haus der hübschen Witwe. Neugierig trat Caius nun selbst an das Fenster, durch das Marcus täglich hinauszustarren pflegte und hin und wieder leise Seufzer von sich gab. Vielleicht lag es an diesem Haus dort drüben, dass seine älteren Freunde sich dermaßen in die beiden sterblichen Damen vergafft hatten? Womöglich sollte er ihnen heute auch seine Aufwartung machen, nur um zu sehen... ach nein, diese Marguerite würde wahrscheinlich nicht jeden Tag zu Besuch kommen und eigentlich interessierte er sich nur für dieses junge Ding, das Aro den Kopf verdreht zu haben schien.
Caius erinnerte sich an das von ihm belauschte Gespräch der beiden Männer hinter der Kirche, bei dem dieser Rouven davon schwärmte, wie schön Marguerite sei - nun gut, Aro besaß eine Schwäche für weibliche Schönheit, aber das allein würde ihn an einer Frau nie faszinieren. Nein, falls sich sein Meister tatsächlich zu Rogers Nichte hingezogen fühlte, musste sie etwas Besonderes an sich haben. Vielleicht war es ja ihr Gesang, den Aro als bezaubernd beschrieb, doch auch SIE - seine stolze, kleine Comtesse - besaß eine wundervolle Stimme... sie war doch nicht etwa...?
Ehe der blonde Vampir seine ahnungsvollen Überlegungen zu Ende führen konnte, wurde er durch die Worte "Guten Morgen, Caius" jäh unterbrochen und fuhr erschrocken herum.
Marcus beäugte ihn stirnrunzelnd und fragte: "Seit wann bist du so schreckhaft, Bruder?"
"Scheint, dass ich mich tief in meinen Gedanken verlor", gab Caius missmutig zu. "Ein unverzeihlicher Fehler."
"Dem kann ich nur beipflichten. Weißt du, wo Aro sich aufhält?"
"Wir sind uns gestern Abend noch begegnet und er hat mir von eurer Aufwartung bei der holden Dame von gegenüber erzählt. Gefällt dir die Madame immer noch, Marcus?"
"Sie war wirklich sehr liebenswürdig zu uns", gab der Angesprochene zu, wobei sich auf sein Antlitz ein kleines Lächeln stahl. "Seid ihr gemeinsam heimgekommen?"
"Ja, doch wir haben uns gleich auf unsere Zimmer zurückgezogen. Aro ist sicher noch dort."
"Kann ich mir gut vorstellen. Gewiss will er eine Weile allein sein", meinte Marcus und ließ sich in seinen Sessel am Fenster nieder. "Im Übrigen soll ich dir liebe Grüße und gute Besserung von Madame de Colignon ausrichten, bei der du ebenso wie Aro und ich jederzeit willkommen bist."
"Sehr nett von der Dame", gab Caius zurück und schenkte seinem Freund nun auch ein Lächeln, ehe er sich in einen anderen Sessel setzte. "Aber sag mal, Marcus, was für ein Mädchen ist diese Marguerite, die zu Besuch bei unserer Nachbarin weilte? Aro schwärmte in höchsten Tönen von ihrem Gesang."
"Oh ja, sie hat eine schöne Stimme", räumte Marcus ein, wobei sein Lächeln breiter wurde. "Außerdem ist Comtesse Marguerite wirklich sehr hübsch und ebenso reizend wie Madame de Colignon."
"Gibt es etwas, dass dieses Mädchen von anderen heraushebt?"
"Wie kommst du denn darauf?"
"Aro scheint sie sehr zu mögen... so sehr, dass er sie auf dem Hofball ganz allein für sich haben will. Nicht mal zum Tanz soll ich sie auffordern, sondern mich um die Freundin dieser Marguerite kümmern."
"Ach ja, Mademoiselle Louise. Sie ist die Gesellschafterin von Madame de Colignon, stand jedoch früher in den Diensten von Comtesse Marguerite. Offensichtlich hat deren Tante sie entlassen."
"Warum denn das?"
"Diese Frage könnte dir Aro sicherlich besser beantworten als ich, denn er hat die Hand der jungen Comtesse gehalten, als sie sich aufregte", erklärte Marcus. "Und wenn man den Worten der schönen Marguerite Glauben schenkt, wäre es besser, deren Tante nicht kennenzulernen. Sie muss ein grässlicher Besen sein."
"Ja, Aro deutete so etwas an. Er hat vor, ihr einen Denkzettel zu verpassen."
Der ältere Vampir begann leise zu lachen und schüttelte den Kopf. Dann murmelte er: "Natürlich, das war ja zu erwarten... so stark, wie er sich zu Comtesse Marguerite hingezogen fühlt..."
"Dann ist mein Eindruck also richtig, dass Aro von diesem sterblichen Mädchen fasziniert ist?"
"Gewiss, doch unser lieber Bruder würde sich lieber die Zunge abbeißen als das offen zugeben. Sei ein bisschen nachsichtig mit ihm, Caius."
"Bin ich", versicherte der jüngere Vampir und grinste etwas. "Scheint, als würde der Hofball nun doch nicht so langweilig werden... kann es kaum erwarten, meinen Meister beim ernsthaften Balzen zu beobachten. Hoffentlich ist diese Louise auch ansehnlich."
"Sie ist eine recht adrette Person, wenngleich nicht mit Comtesse Marguerite zu vergleichen. Aber das wäre auch unfair, da Mademoiselle Lefevre nicht von edler Geburt ist und es ihr vermutlich ein wenig peinlich sein wird, sich unter all den vornehmen Leuten zu bewegen."
"Nun, ich bin ebenfalls nicht von edler Geburt und trotzdem hat Aro mich zu seinem Bruder gemacht. Es wird mir ein Vergnügen sein, mich um Mademoiselle Louise zu kümmern."
"Du brauchst im Übrigen nicht zu befürchten, dass sie eine alberne, junge Gans ist. Als Gesellschafterin von Damen der gehobenen Schicht ist sie wahrscheinlich sehr gebildet, auch wenn sie gestern in unserem Beisein kaum ein Wort sprach. Aber das liegt vermutlich an ihrer Stellung und darüber hinaus scheint sie mir recht bescheiden zu sein."
"Klingt sympathisch", meinte Caius und spürte, wie erleichtert er sich fühlte. "Und du wirst dich vermutlich um unsere Nachbarin kümmern, nicht wahr?"
"Wenn ihr meine Gesellschaft genehm ist, werde ich dies mit dem größten Vergnügen tun."
"Bin mal gespannt, ob Aro außer seinem Scharwenzeln um Comtesse Marguerite noch Zeit findet, den Charakter ihrer Tante und deren Mann zu ergründen."
"Ganz gewiss wird er das", erwiderte Marcus milde. "Sie haben das Mädchen verletzt, dem jetzt sein Herz gehört, auch wenn es schon lange kalt ist, und er wird nicht eher ruhen, bis er ihre Verwandten dafür bestraft hat."
"Jedenfalls spricht es sehr für Aros Angebetete, dass sie ihre ehemalige Gesellschafterin als Freundin betrachtet", sinnierte Caius. "Womöglich ist sie ebenso wenig eine alberne Gans wie Mademoiselle Louise."
"Comtesse Marguerite ist ein naives, junges Mädchen mit einem offenen Wesen, behütet auf dem Landgut ihres Vaters aufgewachsen", erklärte Marcus. "Sie ist zwar nicht gerade albern, aber sie besitzt doch wenig Erfahrung mit der Welt. Vermutlich wirst du sie mögen, denn sie scheint kein Blatt vor den Mund zu nehmen, sondern sagt frei heraus, was sie denkt. Etwas, das bei Hofe ganz gewiss nicht jedem gefallen wird. Darum sah sich unsere Nachbarin, die sich für sie verantwortlich zu fühlen scheint, auch gezwungen, sie zu ermahnen, ihre Zunge in Zaum zu halten."
Erneut beschlich Caius ein seltsames Gefühl, als er den Ausführungen seines älteren Freundes lauschte.
"Sie ist auf einem Landgut aufgewachsen?", fragte er nach.
"Oh ja, und dies ist ihr erster Aufenthalt in Paris", antwortete Marcus.
"Welchen Eindruck machte sie auf dich? Wirkte sie stolz und selbstsicher?"
"Stolz? Keineswegs! Vielmehr schien sie bedrückt, was mich angesichts der Tatsache, dass sie einen weiblichen Drachen zum Vormund hat, nicht wundert; und nachdem Madame de Colignon sie aufgrund ihrer vorlauten Bemerkung über ihre Tante ermahnt hatte, machte sich die junge Dame Sorgen, auf uns einen schlechten Eindruck gemacht zu haben."
Nach diesen Ausführungen Marcus' fühlte sich Caius erleichtert, da diese Beschreibung überhaupt nicht auf "seine Comtesse" passte. Wenn er ehrlich war, musste sich der jüngere Vampir eingestehen, dass er sich ebenso wie seine beiden Freunde verliebt hatte - nur dass das Mädchen, welches ihn auf so eigenartige Weise berührt hatte, eine noch Unbekannte für ihn war. Das Einzige, woran er sie erkennen würde, war ihre wundervolle Stimme...
In diesem Augenblick beschloss Caius, dass er sich nach dem Hofball zurück in die Gegend begeben würde, in der er "seine" stolze, kleine Comtesse gesehen hatte. Da Aro und Marcus verliebt waren und sicherlich erwogen, ihre beiden auserwählten Damen mit nach Volterra zu nehmen, um sie zu ihren Gefährtinnen zu machen, sprach doch eigentlich nichts dagegen, dass er dasselbe mit "seiner" mutigen, kleinen Comtesse tat...
***
Aro war unfähig, sich vom Haus zu entfernen, in dem Marguerite lebte. Er genoss es, ihre Stimme zu hören, wenn sie mit Arlette sprach oder Anweisungen erteilte, konzentrierte sich ganz darauf und hörte schließlich, wie sie ihr Zimmer verließ. Wenig später schlug sie die Tasten eines Spinetts an und begann zu spielen.
"Bitte, sing für mich, lieblicher Engel", dachte Aro sehnsuchtsvoll; und als ob sie ahnte, was er sich wünschte, begann sie kurze Zeit später ein melancholisches Lied zu singen, das ihn im Innersten berührte. Doch bevor sie dieses Lied beenden konnte, wurde Marguerite von einer keifenden Stimme unterbrochen.
"Willst du uns nicht ein EINZIGES MAL gestatten, in diesem Hause auszuschlafen, impertinentes Balg?!", schimpfte das Weib, bei dem es sich ohne Zweifel um die grässliche Xanthippe Adrienne handelte.
"Es ist bereits elf Uhr vormittags, Tante", gab Marguerite schnippisch zurück. "Außerdem wäre ich Euch sehr verbunden, wenn Ihr es unterlassen würdet, hier herumzuschreien und mich mit unangemessenen, beleidigenden Ausdrücken zu betiteln. Ihr dürft niemals vergessen, dass ICH die COMTESSE DE ROCHEFORT bin, die LEGITIME Tochter und Erbin Eures Bruders und Eure Nichte, welche eine sehr gute Bildung genießen durfte."
"Oh, wir beide wissen genau, dass du einer unehelichen Verbindung entstammst und dir das Erbe gar nicht zusteht, du kleiner Bastard!", zischte Adrienne wütend.
"Offensichtlich war ich meinem Vater wichtig genug, mich legitimieren zu lassen; und da der König dem stattgegeben hat, hielt man die Verbindung zwischen meinen Eltern augenscheinlich nicht für unangemessen", entgegnete Marguerite in kaltem Ton. "Es würde mich wirklich interessieren, was der Nachfolger Seiner Eminenz dazu sagt, wenn ich ihn darüber informiere, mit welchen Ausdrücken Ihr mich beleidigt."
"Glaubst du wirklich, dass das den Nachfolger Seiner Eminenz interessiert?!", gab Adrienne giftig zurück, doch ihre Stimme klang nicht mehr so selbstsicher.
"Warum denn nicht? Wenn ich mich recht erinnere, hatte Papa das Vergnügen, Kardinal Mazarin noch persönlich kennenzulernen. Sicherlich wird er mich empfangen, wenn ich ihn um eine Audienz ersuche."
"Hör mal, Kind, das willst du doch nicht wirklich tun?!"
"Wenn Ihr mich weiterhin beleidigt, sehe ich mich leider dazu gezwungen."
"Bitte, entschuldige, Marguerite, es lag keinesfalls in meiner Absicht, dich zu beleidigen", sagte Adrienne jetzt beinahe demütig, doch Aro entging keineswegs der zornige Unterton, den sie nur mühsam unterdrückte. "Ich bin sehr nervös, da ich fast die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht habe. Es tut mir wirklich leid, bitte, glaub mir!"
"Seid in Zukunft etwas respektvoller zu mir!", forderte Marguerite. "Natürlich kann ich mir vorstellen, dass es Euch schwer fällt, mich als Erbin des Rochefort'schen Vermögens zu akzeptieren, da es mir Eurer Meinung nach nicht zusteht. Allerdings frage ich mich, ob das wirklich nur daran liegt, dass meine Eltern nicht miteinander verheiratet waren. Verratet mir doch endlich, wer meine Mutter ist!"
"Das würde ich sehr gerne tun, wenn ich es wüsste", antwortete die Baronesse.
"Ihr hattet angedeutet, es zu wissen!"
"Nein, mir sind nur Gerüchte zu Ohren gekommen. Doch sie müssen ja nicht stimmen! Deshalb will ich nicht darüber sprechen. Bitte, Marguerite, verzeih mir noch einmal meine unbedachten Worte! Ich versichere dir, dass das nie wieder vorkommen wird."
"Nun, das wäre auch besser. Immerhin wollt Ihr mich morgen Abend in die Gesellschaft einführen und da wäre es doch peinlich, wenn Ihr Euch nicht beherrscht. Vergesst nicht, dass wir miteinander verwandt sind und dass Ihr, indem Ihr mich beleidigt, damit gleichzeitig Euch selbst herabsetzt. Aber ich denke, dass Ihr Euch benehmen werdet, nicht wahr? Schließlich ist Euch Euer Ansehen bei Hofe doch sicherlich sehr wichtig."
"Wir beide sollten unbedingt einen guten Eindruck vor Ihren Majestäten und dem Hofstaat machen, mein Kind. Darum bin ich sicher, dass du dich ebenfalls benehmen wirst."
"An meinem Benehmen fand außer Euch noch nie jemand etwas auszusetzen, Tante. Dürfte ich nun endlich weiterspielen? Bei dem schlechten Wetter weiß man ja nicht, was man sonst tun soll", sagte Marguerite von oben herab, wobei sie einen missbilligenden Blick auf die Baronesse warf. "Im Übrigen glaube ich nicht, dass es einen besonders guten Eindruck macht, den halben Tag zu verschlafen. Was sollen denn die Dienstboten denken?"
"Die Meinung des Gesindes interessiert mich nicht!", entgegnete Adrienne hochmütig.
"Ihr solltet das Personal nicht unterschätzen", ermahnte das Mädchen sie. "Dessen ungeachtet wirft es ein schlechtes Licht auf Euch, falls unvermutet Besucher hier im Hause vorsprechen. Findet Ihr nicht auch?"
"Wenn man es so betrachtet...", murrte die Baronesse und nickte langsam. "Gut, es scheint also tatsächlich an der Zeit aufzustehen und sich frischzumachen."
"Das Mittagsmahl wird um halb eins aufgetragen", informierte sie ihre Nichte in sachlichem Ton. "Es wäre schön, wenn Euer Gemahl und Ihr pünktlich im Esszimmer wärt. Ich habe mir außerdem erlaubt, Madame de Colignon und Mademoiselle Lefevre dazu einzuladen. Das ist Euch doch sicher recht, nicht wahr?"
"Selbstverständlich, wenn es dein Wunsch ist", erwiderte Adrienne zähneknirschend. "Bitte, entschuldige mich jetzt, ich muss mich anziehen."
"Aber gern, Tante."
Aro hörte, wie die Xanthippe den Raum verließ und Marguerite kurz danach eine etwas fröhlichere Melodie anstimmte. Hinreißend, wie das junge Mädchen ihrer grässlichen Tante Paroli geboten hatte. Doch die Alte würde das nicht lange auf sich sitzen lassen, sondern sich rächen wollen. Daher müsste man bald etwas gegen diese Baronesse de Lebrunne unternehmen...
*
Nach dem Disput mit ihrer Nichte eilte Adrienne voll innerer Wut im Bauch in ihr Gemach, klingelte nach ihrer Zofe und ließ sich von dieser beim Ankleiden helfen.
"Ist mein Mann schon auf?", erkundigte sie sich bei der Bediensteten.
"Tut mir leid, Madame, ich habe Euren Gemahl heute noch nicht zu Gesicht bekommen", antwortete das Mädchen.
"Schon gut, dann werde ich selbst nach ihm sehen", meinte Adrienne, überprüfte noch einmal, ob alle Kleidungsstücke auch richtig saßen, und gab ihrer Zofe mit einem Wink zu verstehen, dass sie gehen sollte. Danach suchte sie das Zimmer Rogers auf, aus dessen Tür ihr ein Kammerdiener entgegentrat, mit dem sie beinah zusammengestoßen wäre.
"Verzeiht, Madame", entschuldigte er sich, neigte sein Haupt und verschwand schnell.
Die Baronesse blickte ihm einen Moment lang ärgerlich nach, ehe sie das Gemach ihres Mannes betrat, der frisch rasiert und angezogen vor dem Spiegel stand und sich bewunderte. Doch als er seiner Frau gewahr wurde, drehte er sich mit erstaunter Miene zu ihr um.
"Oh, Madame belieben, mich persönlich in meinen vier Wänden aufzusuchen", spottete er und verneigte sich in übertriebener Weise. "Wie komme ich zu dieser Ehre, ma Cherie?"
"Hör doch endlich mit diesem Possenspiel auf, Roger!", gab sie verärgert zurück. "Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich dich jemals hintergangen habe?!"
"Wer weiß? Womöglich suchst du Trost in den Armen eines anderen Mannes, nachdem ich dir nicht mehr das Leben bieten kann, das du von Haus aus gewohnt bist."
"Unsinn! Ich habe dich niemals hintergangen. Deine Vorwürfe sind einfach lächerlich!"
"Mir ist klar, dass du alles abstreitest", brummelte Roger. "Wahrscheinlich verlässt du mich eines Tages einfach still und heimlich, sobald du einen anderen gefunden hast, der dir das Leben bieten wird, das ich dir nicht mehr bieten kann."
"Bitte, Roger, sag doch nicht so etwas. Ich habe weder vor, dich zu verlassen, noch werde ich es jemals tun!", entgegnete sie heftig. "Wenn dies in meiner Absicht läge, hätte ich dich schon damals, nachdem man eure Verschwörung aufdeckte, verlassen. Vor dem Traualtar schwor ich dir einst, mein Leben in guten wie in schlechten Zeiten an deiner Seite zu verbringen, was ich stets ernst genommen habe. Vertrau mir doch, Liebster, es wird schon besser werden."
"Hör auf, dir selbst etwas vorzumachen, Adrienne", gab der Baron zurück. "Unser Leben wird nie wieder so sein wie es einmal war, auch nicht zwischen uns."
"Wenn Marguerite erst einmal weg ist, dann..."
"Vergiss das, Madame! Lass das Mädchen in Ruhe, sie kann am wenigsten für unsere Fehler! Du musst dich damit abfinden, dass sie die Erbin der Rocheforts ist und nicht du! Und falls du nicht willst, dass sie uns eines Tages von ihrem Gut verjagt, dann solltest du endlich damit beginnen, sie als die Tochter deines Bruders zu akzeptieren. Himmel, Adrienne, ihr seid verwandt miteinander! Versuch wenigstens, sie ein bisschen zu mögen! So schrecklich ist das Mädchen doch gar nicht!"
"Oh, du kennst diesen kleinen Bastard nicht!", entfuhr es Adrienne daraufhin zornig. "Warum verteidigst du dieses unmögliche Kind?! Marguerite hat mich eben auf recht herablassende Weise darauf hingewiesen, dass ich zu lange schlafen würde und dies keinen guten Eindruck mache."
"Ach, tatsächlich?", fragte Roger und sah seine Frau verwundert an. "Hat sie dich etwa in deinem Gemach aufgesucht, um dich zu wecken? Sieht ihr gar nicht ähnlich, denn bislang vermittelte sie mir eher den Eindruck, hauptsächlich dir aus dem Weg gehen zu wollen."
"Nein, sie war keineswegs in meinem Gemach", gab Adrienne ärgerlich zurück. "Ich habe mich über ihr permanentes Spiel auf dem Spinett beklagt und da wies sie mich darauf hin, dass es bereits elf Uhr sei. Ist das zu fassen?"
"Es ist doch nichts Neues, dass die Kleine täglich auf ihrem Instrument herumklimpert. Warum stört dich das plötzlich?"
"Weil ich mich nicht wohlfühle und mir die Musik Kopfschmerzen verursacht!"
"Warum hast du das deiner Nichte nicht einfach erklärt? Ich bin sicher, sie hätte ihr Musikspiel gleich eingestellt."
"Oh, sie ist so... so... mir fehlen einfach die Worte!"
"Dafür warst du eben aber ganz schön beredt", meinte Roger und begann, verhalten zu lachen. Seine Frau starrte ihn mit einem empörten Blick an, den er nicht beachtete.
"Warum stellst du dich eigentlich plötzlich auf die Seites dieses kleinen Biests?!", fuhr sie ihn an. "Aber wie die Mutter so die Tochter. Mylady besaß ja ebenfalls die Gabe, Männern den Kopf zu verdrehen. Ich werde nie verstehen, was mein Bruder an dieser blonden Hexe fand!"
"Lass die Vergangenheit ruhen, Adrienne, und akzeptier die Dinge, wie sie nun einmal sind. Das tue ich auch und es ist sehr viel angenehmer, nicht mehr gegen etwas zu kämpfen, das man doch nicht ändern kann."
"Das ist also dein letztes Wort in dieser Angelegenheit?!"
"Ja, Madame, und jetzt geh lieber wieder zu deiner Nichte und versuche, ein gutes Verhältnis mit ihr aufzubauen."
"Und du?!"
"Ich habe noch etwas in der Stadt zu erledigen, das länger dauern kann."
"Gehst du etwa wieder zu einer deiner Huren?"
"Nein, Madame, ich habe geschäftliche Dinge zu regeln", erwiderte Roger ungeduldig und warf seiner Frau dabei einen ärgerlichen Blick zu. "Wenn du mir nicht glaubst, dann kannst du mich ja begleiten. Aber beschwer dich hinterher nicht bei mir, dass es so langweilig war."
"Keine Sorge, an geschäftlichen Gesprächen habe ich kein Interesse."
"Gut, dann ist das wenigstens geklärt. Nun lass mich allein, Adrienne, ich muss noch einige Unterlagen zusammenzusuchen, bevor ich gehe."
*
Innerlich völlig aufgewühlt kehrte die Baronesse ihr Zimmer zurück und versuchte zu begreifen, was mit ihrem Mann los war. Seine plötzlichen Vorwürfe, dass sie ihn schlecht behandle, und seine Unterstellungen, sie würde ihn betrügen und beabsichtige, ihn heimlich zu verlassen, kränkten sie maßlos. Sie verhielt sich ihm gegenüber so wie immer und früher fand er das keineswegs respektlos, doch jetzt? Aber an all dem war nur die Existenz von Marguerite schuld und die bodenlose Ungerechtigkeit, dass ein illegitimer Bastard, empfangen und auf die Welt gebracht von einer verdammten Spionin des verstorbenen Kardinals, das Vermögen einer alten, adligen Familie erben sollte. Nein, das durfte nicht sein! Mochte Roger sich damit abfinden, sie war nicht dazu bereit! Marguerite musste weg - dann würde sich ihr Mann auch wieder beruhigen.
Adrienne trat ans Fenster und sah, dass Roger einen Augenblick später aus der Tür des Hauses trat und davon ging. Gut! Seine geschäftlichen Besprechungen dauerten in der Regel recht lange, Zeit genug, um Rouven einen Besuch abzustatten und wieder zurück zu sein, ohne dass ihr Gatte etwas davon merkte. Nur ärgerlich, dass man bei den schneebedeckten Straßen nicht die Kutsche nehmen konnte. Allerdings würde es kaum auffallen, wenn sie in einem dicken, grauen Kapuzenumhang gehüllt, das Gesicht durch einen Schal zur Hälfte verdeckt, in Rouvens Wohnung vorsprach, so dass niemand sie erkennen würde, wenn sie zu Fuß zu ihm ging. Sie hatte ohnehin wenig Lust, mit ihrer Nichte und deren früherer Gesellschafterin zusammen das Mittagsmahl einzunehmen, denn Adrienne konnte sich nicht vorstellen, dass eine ältere Frau wie Madame de Colignon große Lust hatte, bei einem solch dichten Schneetreiben der Einladung Marguerites zu folgen.
Die Baronesse läutete kurz darauf nach ihrer Zofe und teilte dieser mit, dass sie dringend zu einer Freundin gerufen worden sei, die sie zu sich bitte. Daher würde sie nicht an der Mittagstafel erscheinen und ließe sich bei ihrer Nichte und den übrigen Gästen entschuldigen. Ihre Zofe versprach, dies auszurichten, und durfte dann gehen.
Etwa eine Viertelstunde später eilte Adrienne, vermummt in Schal und Kapuzenumhang, die Treppe hinunter und verließ das Haus. Doch draußen auf der Straße musste sie ihr Tempo mäßigen, da der Schnee an einigen Stellen gefroren und daher sehr glatt war. Sie fluchte innerlich darüber, aber der Zorn auf ihre Nichte trieb sie voran. Zum Glück war Rouven ein Mann, der ihr Verständnis aufgrund der Ungerechtigkeit, die ihr widerfuhr, entgegenbrachte und der gerne bereit war, ihr zu helfen. Er musste sich unbedingt etwas einfallen lassen, damit Marguerite für immer aus Frankreich verschwand...
*
Es war bereits halb eins, als Guignot, der in seinem Schlafgemach stand und sich gerade in seinem neuen Rock vor dem Spiegel betrachtete, durch ein lautes Klopfen gestört wurde.
"Ja, was gibt es denn?", erkundigte er sich unwillig, wusste er doch, dass es nur sein Kammerdiener sein konnte, denn mehr Personal hatte er nicht. Das Faktotum öffnete die Tür einen Spalt, lugte herein und meldete: "Verzeiht, Monsieur, aber Ihr habt Besuch. Die Dame wollte mir allerdings nicht ihren Namen verraten, sondern allein mit Euch unter vier Augen sprechen. Sie sagte, es sei dringend."
Überrascht zog der hakennasige Mann seine Augenbrauen hoch und wandte sich zu seinem Diener um.
"Eigentlich erwarte ich heute niemanden", meinte er verwundert. "Ist die Dame wenigstens hübsch?"
"Kann ich nicht sagen, Herr, da die Dame ihr halbes Gesicht verhüllt hat. Doch die obere Partie kommt mir bekannt vor."
Guignot seufzte ergeben und meinte: "Na schön, führ sie ins Wohnzimmer. Ich komme gleich."
Sein Kammerdiener entfernte sich, während Rouven den neuen Rock auszog und sich eine leichte Hausjacke überwarf, sah er doch nicht ein, dass er sich in seinen Privaträumen für unangemeldete Gäste in Schale werfen sollte. Als er jedoch ins Wohnzimmer kam, erkannte er sofort, wer sich unter Kapuze und Schal verbarg und trat nahe an seine Besucherin heran.
"Meine Güte, ist etwas passiert?", fragte er besorgt und dachte sofort an Marguerite.
Die Gestalt unter der Kapuze schüttelte nur den Kopf und wisperte: "Schick den Diener weg, ich muss allein mit dir sprechen!"
Rouven sah auf und wandte sich an sein Faktotum, das reglos in einer Ecke des Zimmers stand, um seinen Herrn und dessen Gast bei Bedarf zu bedienen.
"Du kannst dir heute frei nehmen! Madame und ich haben etwas Wichtiges miteinander zu besprechen, es ist sehr... hm... privat..."
Der Kammerdiener verneigte sich und ging. Kaum war er fort, geleitete Rouven seine Besucherin zum Kamin.
"Um Himmels willen, meine Liebe, was kann so wichtig sein, dass du dich bei diesem Hundewetter auf die Straße wagst?"
"Marguerite natürlich!", nuschelte Adrienne unter ihrem Schal.
"Komm, leg erst Mal ab und dann setz dich ans Feuer. Du musst doch richtig durchgefroren sein."
Galant half Guignot der Baronesse aus dem Umhang, den er achtlos auf die Lehne eines der beiden Sessel legte. Adrienne lächelte ihn dankbar an, befreite sich von dem Schal, den sie über ihren Umhang legte und setzte sich dann auf das Sofa am Kamin. Rouven ließ sich neben ihr nieder und nahm ihre beiden Hände in seine.
"Sie sind eiskalt", stellte er fest und bedachte seine Besucherin mit einem mitleidigen Blick. "Möchtest du etwas Heißes trinken, Liebe?"
"Nein, danke! Ich bin froh, endlich hier bei dir zu sein und nahe am Kamin sitzen zu können."
"Dann erzähl mal, Adrienne: Was hat deine Nichte wieder angerichtet, dass du dir solche Mühe machst, bei einem derart schlechten Wetter allein zu mir zu kommen? Vermutlich zu Fuß, um von niemandem erkannt zu werden, nicht wahr?"
"Ja, richtig! Und es wäre mir sehr lieb, wenn dein Diener vergessen würde, dass du heute überhaupt Besuch von einer Dame hattest", meinte die Baronesse.
"Mach dir um meinen Diener keine Sorgen, er ist sehr diskret."
"Marguerite ist heute überaus unverschämt zu mir gewesen", begann Adrienne dann in verärgertem Ton. "Oh, ich halte es kaum noch mit ihr aus. Rouven, du musst morgen Abend alles daransetzen, ihr den Kopf zu verdrehen. Je eher ich das Mädchen los bin, desto besser."
"Ja, ja, das verstehe ich", behauptete Guignot und nickte leicht. "Allerdings hatte ich beim letzten Mal den Eindruck, dass deine Nichte etwas gegen mich hat. Es wird nicht einfach sein, sie für mich zu gewinnen."
"Dieses eigensinnige, kleine Biest!", schimpfte Adrienne. "Aber mach dir keine Sorgen, Rouven, ich werde schon dafür sorgen, dass sie mit dir tanzen wird."
"Vielleicht wäre es eine ganz gute Strategie, so zu tun, als ob ich mit euch zerstritten sei", schlug Guignot vor. "Dann fasst sie womöglich eher Vertrauen zu mir, denn mir scheint, sie mag mich nur nicht, weil du mich als Freund vorgestellt hast. Offensichtlich ist das Verhältnis zwischen deiner Nichte und dir nicht das beste."
"Dieses hochmütige, kleine Biest hat es gewagt, mich zurechtzuweisen!", stieß Adrienne hervor. "Was bildet sie sich eigentlich ein? Ich bin ihr Vormund und sie hat mir Respekt zu erweisen."
"Selbstverständlich hat sie das", pflichtete Guignot ihr bei. "Doch erzähl mir mal, was sie eigentlich zu dir sagte. Vielleicht ist das Ganze auch nur ein Missverständnis."
Die Baronesse berichtete ihm daraufhin von dem kurzen Zwischenfall am Vormittag und der Drohung Marguerites, sich an Mazarin zu wenden. Rouven, der das Verhalten Adriennes gegenüber ihrer Nichte nicht guthieß, verstand die Reaktion des Mädchens aufgrund der Beleidigungen, mit denen die Tante sie bedacht hatte, hütete sich aber, dies laut auszusprechen. Schließlich galt es, Marguerite vor der Eifersucht der Baronesse zu schützen, ohne dass Adrienne dies merkte.
"Komm, beruhige dich", sagte Rouven, als Adrienne, den Tränen nahe, den Bericht beendete, und schloss sie in die Arme. "Soll ich dich ein bisschen trösten?"
"Nun, ich weiß nicht...", meinte sie zaghaft und sah ihn unsicher an. "Roger scheint etwas zu ahnen und vielleicht wäre es besser, wenn wir heute nicht..."
"Er ahnt etwas?", hakte Guignot irritiert nach. "Wie das? Wir waren doch immer sehr diskret."
"Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist", meinte Adrienne. "Seit gestern nimmt er Marguerite in Schutz und unterstellt mir Affären mit anderen Männern. Heute meinte er sogar, ich plane, ihn irgendwann heimlich zu verlassen. Wie findest du denn das?"
"Roger hat Sorgen", erwiderte Rouven ausweichend. "Du weißt doch sicher, dass seit dieser unglückseligen Sache mit... nun ja, er ist dem Tode zwar knapp entronnen, doch er vertraute mir an, dass ihn die Schulden arg drücken..."
Natürlich hatte ihm Baron de Lebrunne niemals so etwas anvertraut, aber Adrienne musste beruhigt werden und durfte auf keinen Fall erfahren, dass ihr Mann hin und wieder ins Bordell ging, weil er seine Frau nicht mit seinen Gelüsten bedrängen wollte. Schließlich war Roger sein Freund und Freunde verrieten einander nicht.
"Warum spricht er nicht mit mir darüber?", jammerte Adrienne.
"Er will dich damit eben nicht belasten, weiß er doch, was du seinetwegen alles auf dich genommen hast", spann Rouven seine Gesichte aus Halbwahrheiten und Lügen weiter. "Sei einfach ein bisschen netter zu ihm, wenn er heimkommt. Er beruhigt sich schon wieder."
"Unser Leben könnte wieder schön sein, wie früher, wenn wir erst einmal Marguerite los sind", begann die Baronesse von Neuem. "Du musst ihr auf dem Ball unbedingt die Cour machen und immer an ihrer Seite bleiben."
"Ja, das war auch mein Plan", erwiderte Rouven lächelnd. "Und da ich so tun werde, als ob ich mit deinem Mann und dir zerstritten sei, muss ich dich vorab um Entschuldigung bitten. Aber wenn ich deine Nichte wirklich für mich gewinnen soll, muss sie davon überzeugt sein, dass ich auf ihrer Seite und gegen euch bin. Erst dann wird sie Vertrauen zu mir fassen und ich habe eine echte Chance, ihr Herz für mich zu gewinnen. Du wirst auch gewiss Verständnis dafür haben, dass ich mit der Kleinen dann eine Zeitlang verschwunden sein werde."
"Aber natürlich", antwortete Adrienne. "Alle Welt soll schließlich glauben, dass sie mit dir durchgebrannt ist. Es wird ihr Ruf sein, der ruiniert ist, nicht der meine. Am besten wäre es freilich, sie würde nie wieder irgendwo lebend auftauchen."
"Ich werde tun, was ich kann, meine Liebe", versprach Rouven scheinheilig. "Und jetzt komm, Schatz, in meinem Bett kann ich dich viel besser wärmen als hier. Es wird dir gut tun."
"Aber was ist mit Roger?"
"Was soll mit ihm sein? Er löst seine Probleme und ich kümmere mich derweil um dich, sozusagen ein Freundschaftsdienst. Schließlich weiß doch niemand, dass du bei mir bist, oder?"
"Nein, niemand hat mich erkannt, und meiner Nichte habe ich ausrichten lassen, dass ich eine Freundin aufsuche. Wie ich Marguerite kenne, wird es sie nicht weiter kümmern."
"Marguerite...", wiederholte Rouven nachdenklich. "Ein Mädchen, das sich schwer erobern lässt."
"Oh, in dieser Hinsicht vertraue ich deinen erfahrenen Verführungskünsten, mein Lieber."
Sie beugte sich zu ihm vor, küsste ihn und er erwiderte den Kuss. Dann folgte sie ihm in sein Schlafzimmer, sie zogen sich aus, machten es sich in seinem Bett gemütlich und begannen mit dem Liebesspiel. Nach einer Weile flüsterte Rouven ihr ins Ohr: "Hör mal, Schatz, ich möchte heute ein neues Spielchen mit dir ausprobieren. Du darfst dich dabei nur minimal bewegen und möglichst wenig Geräusche von dir geben, aber falls du doch Töne von dir gibst, dann tue es mit einer so hohen Stimme wie möglich... wie ein kleiner, schüchterner Vogel..."
"Welch seltsames Spiel", murmelte Adrienne.
"Oh, ich will nur das Gefühl haben, dass du eine unschuldige Schäferin bist und ich Zeus, der große Verführer."
Die Baronesse lachte etwas.
"In Ordnung, spielen wir also dieses Spiel!", wisperte sie und machte es sich in der Rückenlage bequem, genoss es, als ihr Liebhaber auf sie stieg und begann, sie mit Lippen und Händen zu liebkosen und zu küssen, während sie sich kaum regte.
"Süße, kleine Schäferin", flüsterte Rouven nach einer Weile und schloss die Augen. Dabei stellte er sich vor, dass unter ihm Adriennes hübsche, unerfahrene Nichte lag, die ihm vollkommen ausgeliefert war. Eine Vorstellung, die ihn überaus erregte. Er konnte es kaum erwarten, Marguerite wiederzusehen... Marguerite, deren Herz er zu gewinnen hoffte und die er zu seiner zukünftigen Ehefrau auserkoren hatte...
17. Kapitel
Höflichkeit: die angenehmste Form der Heuchelei
Ambrose Gwinnet Bierce (1842 - 1914)
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Am Silvesterabend des darauf folgenden Tages war Paris immer noch von einer glitzernden Schneeschicht bedeckt. Auf den Straßen waren nur Fußgänger oder Kutschschlitten unterwegs, da es für eine normale Kutsche so gut wie unmöglich war, auf den glatten Straßen zu fahren.
Doch all das kümmerte Marguerite an diesem Abend nicht, da sie dem Hofball entgegenfieberte und sich bereits seit dem frühen Nachmittag dafür zurecht machte. Zunächst nahm sie ein heißes Bad, wusch ihre Haare und ließ sich von Arlette und einer weiteren, jungen Bediensteten dabei helfen, ihren Körper mit wohlriechenden Essenzen einzukremen, ihre Haare zu trockenen und in ihre vielen Unterröcke zu schlüpfen. Darüber verging viel Zeit und als Marguerite bemerkte, dass es schließlich dunkel wurde, erschrak sie ein wenig.
"Himmel, haben wir wirklich so lange gebraucht?", fragte sie nervös. "Wie spät ist es?"
"Beruhigt Euch, Comtesse, es ist kurz nach fünf", antwortete Arlette. "Wir haben also noch genügend Zeit."
Danach halfen die beiden Dienstmädchen Marguerite in das neue Seidenkleid hinein, welches Madame Martin gestern am frühen Nachmittag gebracht hatte. Es schmiegte sich perfekt um den schlanken Leib der jungen Adligen, die sich darin sehr wohl fühlte. Gut gelaunt ließ Marguerite sich vor ihrer Spiegelkommode nieder, damit Arlette sie frisieren konnte. Auch dies nahm eine geraume Zeit in Anspruch, doch dann war die Zofe fertig und begutachtete voller Stolz ihr Werk.
"Ach, Comtesse, Ihr werdet sicherlich großen Eindruck auf dem heutigen Ball machen", seufzte Arlette, nachdem sie Marguerites Haare, die sie geschickt mit darin eingeflochtenen Perlen verzierte, hochgesteckt hatte.
"Das hoffe ich sehr", sagte Marguerite, deren Wangen vor Aufregung gerötet waren und deren blaue Augen voller Freude leuchteten, dachte sie doch daran, dass sie bald Conte Aro wiedersehen würde. Nicht einmal die Gegenwart von Tante und Onkel vermochte es, ihre gute Stimmung zu trüben. Auch ihre Furcht davor, den Majestäten vorgestellt zu werden, war verflogen, da ihre Gedanken allein darum kreisten, auf IHN einen guten Eindruck zu machen. Conte Aro war die einzige Person auf dem Ball, der sie gefallen wollte. Ihr kam nicht eine Sekunde in den Sinn, dass irgendjemand wünschen könnte, ihr Zusammensein mit dem italienischen Grafen zu verhindern, hatte sie doch die auf dem Ball anwesende Präsenz ihrer Verwandten völlig verdrängt und ahnte nichts von den Plänen des Rouven de Guignot.
Äußerst zufrieden blickte sich das junge Mädchen im Spiegel an und begegnete dabei dem beifälligen Blick ihrer Zofe, die hinter ihr stand und richtiggehend strahlte.
"Was gäbe ich darum, auf dem Ball dabei sein zu dürfen, um zu beobachten, wie alle bei Hofe Euch bewundern", sagte Arlette mit einem sehnsuchtsvollen Ton.
"Vielleicht tun sie das ja gar nicht", meinte Marguerite, um sich selbst wieder zur Vernunft zu bringen, was sich als ziemlich schwer erwies, da ihr aus dem Spiegel eine junge, hübsche Frau in einem weißen Traum aus Seide entgegenblickte, eine zierliche Silberkette um den Hals, an dem vorn ein kleiner Diamant prangte. Dieses Schmuckstück war das letzte Geburtstagsgeschenk von ihrem Vater gewesen und Marguerite hatte das Gefühl, dass er auf dem Ball bei ihr sein würde, wenn sie es trüge.
Das junge Mädchen erkannte sich in dem Spiegelbild kaum selbst wieder, wirkte sie in dem eleganten Seidenkleid mit dem leicht ausgeschnittenen Kragen, an dem die kleinen Stickereien tatsächlich die Illusion echter Rosen vermittelten, doch sehr viel älter als sie war.
"Ob ich ihm wohl gefalle?", fragte sie sich selbst voller Zweifel, aber sie fand im Grunde nichts an ihrem Äußeren auszusetzen. Doch der Gedanke an Conte Aro ließ ihr Herz schneller schlagen. Sie schalt sich selbst innerlich eine Närrin, aber gleichzeitig sehnte sie sich danach, ihn wiederzusehen. Bald war es soweit und sie würden zusammen auf dem Ball tanzen, nur er und sie...
***
In dem großen Haus gegenüber Madame de Colignon stand Aro vor einem großen Spiegel in seinem Zimmer und begutachtete sich - ähnliche Gedanken wie Marguerite dabei hegend - kritisch darinnen. An seiner eleganten Garderobe war im Grunde nichts auszusetzen, wenn ihn der Gedanke an das Wiedersehen mit der hübschen, jungen Comtesse nur nicht so nervös machen würde. Dies äußerst merkwürdige Gefühl war für ihn etwas völlig Neues. Gewöhnlich war er meist die Ruhe selbst, wenn er auf sterbliche Frauen traf, mit denen er oft und gerne seine amüsanten Spielchen trieb. Doch diesmal stand ihm nicht der Sinn danach... nein, diesmal lag ihm viel daran, der lieblichen Marguerite zu gefallen, und er wünschte sich nichts sehnlicher als ihre Liebe zu gewinnen.
Seit er dieses Mädchen kennengelernt hatte, verhielt er sich tatsächlich seltsam, konnte er sich doch nicht erinnern, jemals stundenlang heimlich vor dem Anwesen eines weiblichen Wesens verharrt zu haben. Aber gestern hielt er sich bis kurz nach Mitternacht vor dem Gebäude auf, in dem Mädchen lebte, das er anbetete, sehnsüchtig auf jedes Wort lauschend, das sie von sich gab. Natürlich hörte er auch alles andere im Hause und hatte sich sogar Marguerites Tante genauer angeschaut, als jene am späten Nachmittag wieder zurückkehrte. In den Augen dieser Furie lag dabei ein glücklicher Schimmer und ihre Wangen waren gerötet gewesen, so dass er vermutete, sie habe ein Schäferstündchen in den Armen irgendeines Mannes, bei dem es sich nicht um ihren Gemahl handelte, verbracht. Der Angetraute der Xanthippe, Baron de Lebrunne, kam jedoch erst abends wieder heim, augenscheinlich angetrunken und besser gelaunt als zu dem Zeitpunkt, an dem er das Haus verlassen hatte.
Natürlich war Aro sofort klar, dass sowohl Roger de Lebrunne als auch seine Frau Gemahlin es mit der ehelichen Treue nicht so genau nahmen, obwohl sie beide voreinander abstritten, fremdzugehen. Welch verlogenes Pack! Wahrhaftig keine gute Gesellschaft für den lieblichen Engel, der unter der Fuchtel dieser grässlichen Adrienne stand, deren äußere Erscheinung in Natura sogar noch abstoßender war als in den Gedanken ihrer Nichte. Und dennoch besaß dieses hässliche Weibsbild einen Liebhaber, obwohl sie kein liebenswürdiges Verhalten an sich hatte, das den äußerlichen Makel wettmachen würde. Aro fand es geradezu bizarr, dass dennoch ein Mann mit dieser... dieser... Nein, er wollte sich das erst gar nicht vorstellen. Nicht einmal er verspürte beim Anblick von Adrienne de Lebrunne Lust, diese zu beißen und seinen Durst an ihr zu stillen, und das wollte schon etwas heißen. Diese Frau wirkte sogar abstoßend auf einen Vampir, während der Gedanke an Marguerite seinen Appetit immer stärker anregte, bis er spürte, dass er sich nicht mehr lange würde beherrschen können. Doch da er die junge Frau zu seiner Gefährtin zu machen wünschte, sie jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht verwandeln konnte, verschwand er umgehend aus der Straße, in der sie lebte, um anderswo in Paris unauffällig seinen Durst zu stillen. Er fand bald jemanden, den er unbeobachtet in eine der dunklen Gassen entführen und aussaugen konnte; und während er seinen Blutdurst befriedigte, dachte er voller Dankbarkeit an Caius, der ihm viele dieser Orte, an denen sie sich in Paris ungestört ernähren konnten, gezeigt hatte.
Bei dem Gedanken an Caius überkam Aro sofort das schlechte Gewissen. Natürlich erinnerte er sich ganz genau daran, wie der jüngere Vampir von jener jungen Reiterin geschwärmt hatte und sich danach sehnte, diese endlich kennenzulernen. Absichtlich hatte er seinem Bruder verschwiegen, dass jenes tapfere, junge Mädchen mit der verlockenden Stimme und Marguerite de Rochefort ein und dieselbe Person waren. Andererseits hatte Caius ihm bereits zuvor mehrfach erklärt, dass er sich für junge Mädchen nicht im Geringsten interessiere und mit ihnen nichts zu tun haben wolle.
Natürlich wusste Aro, dass die Aussage seines jüngeren Freundes im Falle der Comtesse eigentlich nicht mehr galt, aber allein die Imagination, dass sich Marguerite, deren ganze Sympathie zur Zeit er allein genoss, womöglich in seinen "Bruder" Caius verlieben könnte, sobald sie einander vorgestellt wurden, machte ihn krank! Aro war nicht dazu bereit, dem jüngeren Vampir aus brüderliche Zuneigung eine Chance bei der kleinen Rochefort einzuräumen, da er sich von ihr wie von keinem anderen Wesen je zuvor fast magnetisch angezogen fühlte und sich selbst längst eingestanden hatte, in sie verliebt zu sein.
Das war gegenüber Caius zwar unfair, doch er hoffte, dass jener ihm verzieh, sobald er sah, welch starke Anziehung dieses junge Mädchen auf ihn ausübte.
Ein behutsames Pochen an die Tür riss den älteren Vampir aus seinen Gedanken. Er wandte sich um und im selben Augenblick steckte Caius seinen Kopf durch die Tür.
"Wie lange brauchst du noch, Aro?", erkundigte er sich.
"Ich bin fertig", gab der Angesprochene zurück und wandte sich um. "Allerdings gibt es für uns doch keinen Grund zur Eile. Wir werden sowieso nichts essen können."
"Nanu, ich dachte, dich triebe die Sehnsucht nach einer gewissen jungen Dame?"
"Das ist wahr! Aber es würde doch auffallen, wenn wir während des Banketts keinen Bissen zu uns nähmen, Caius. Zudem liefert uns der Schnee eine hervorragende Ausrede, warum wir uns verspätet haben. Hauptsache, wir sind rechtzeitig da, bevor der Ball anfängt. Schließlich hat mir Marguerite den ersten Tanz versprochen."
Caius lachte ein wenig und meinte dann spöttisch: "Dann solltest du allmählich herunterkommen. Marcus meint, wir müssten bald aufbrechen, da die Straßenverhältnisse für die Pferde recht mühsam zu bewältigen sein werden. Schließlich willst du doch deinen neuen Schwarm nicht auf dich warten lassen, oder? Vergiss nicht, dass es da diesen Rouven gibt, der es auf deine Marguerite abgesehen hat."
"Das werde ich schon zu verhindern wissen!", knurrte Aro und zog die Augenbrauen zusammen, ehe er seinem Freund nach unten folgte. Caius jedoch hatte glänzende Laune, da er fest entschlossen war, seinen Meister darin zu unterstützen, Rouven zu ärgern und die Hofschranzen vor den Kopf zu stoßen, indem er seine Zeit vor allem einem nichtadligen Mädchen widmen wollte, was gewiss die grässliche Tante seiner zukünftigen Schwägerin Marguerite zur Weißglut treiben würde, ohne dass sie es zeigen durfte. Ja, ja, Contenance konnte eine richtige Qual sein!
***
Als Marguerite die Treppe zum Flur hinunterkam, wo bereits ihre Verwandten auf sie warteten, weiteten sich sowohl bei Baron de Lebrunne als auch bei dessen Frau die Augen.
"Mon Dieu, mir scheint, eine kleine Göttin kommt auf die Erde hinabgeschwebt", entfuhr es Roger dann voller Bewunderung und er trat näher, um Marguerite seine Hand darzubieten. Eine Geste, die seine Frau überraschte und gleichzeitig ärgerte. In ihrem Inneren begannen sämtliche Sturmglocken zu läuten, wusste sie doch, wie anfällig ihr Mann für weibliche Schönheit war. Und dieses Mädchen, dieser kleine Bastard ihres Bruders, hatte unverkennbar die Attraktivität ihrer Mutter, der blonden Hexe Dianne, geerbt. Ach, hoffentlich gelang es Rouven, ihre Nichte für sich einzunehmen, damit jene endlich aus ihrem Leben verschwand!
Marguerite jedoch, die das Kompliment ihres Onkels durch ein Lächeln und ein leichtes Kopfnicken erwiderte und natürlich dessen freundliche Geste bemerkte, ignorierte das Letztere und schritt an ihm vorbei.
"Arlette, meinen Mantel!", befahl das blonde Mädchen stattdessen, worauf ihr die Zofe einen dicken, schweren Umhang über die Schultern legte, den Marguerite vorne fest verschloss. Danach zog sie die Kapuze des Mantels über ihren Kopf, schenkte sowohl ihrer Tante als auch deren Mann ein Lächeln und fragte: "Wollen wir fahren?"
"Ja", sagte Adrienne mit verdrießlicher Miene. "Wir sollten aufbrechen, damit wir pünktlich da sind und du den Majestäten vorgestellt werden kannst, ehe das Bankett beginnt."
Danach ging die Baronesse als Erste voraus, während ein Diener die Haustür für die Herrschaften öffnete, und stieg in den bereits vor dem Gebäude stehenden Kutschschlitten ein, wobei ihr ein weiterer Diener half. Roger jedoch ließ es sich nicht nehmen, Marguerites Hand einfach zu ergreifen, als sie sich anschickte, in den Wagen zu steigen. Erstaunt sah das Mädchen ihn an, murmelte hastig "Danke" und setzte sich so schnell wie möglich hinein, damit der Baron sie losließ. Lebrunne folgte Marguerite dann und ließ sich neben seiner Gemahlin nieder, der die plötzliche Hilfsbereitschaft ihres Mannes für ihre Nichte nicht entgangen war.
Als der Schlitten sich zu bewegen begann, murrte Adrienne etwas über den Schnee.
"Du bist wohl ein wenig nervös, ma Cherie", wandte sich Roger daraufhin an seine Angetraute. "Keine Sorge, inzwischen schneit es ja nicht mehr und wir werden sicherlich pünktlich bei Hofe ankommen. Schau dir Marguerite an, sie macht sich nicht so viele Gedanken über das schlechte Wetter, sondern scheint sich auf den Ball zu freuen."
"Das Kind weiß auch gar nicht, was es für Konsequenzen haben könnte, unpünktlich dort zu erscheinen", erwiderte Adrienne mit einem giftigen Blick auf ihre Nichte. "Vor allem dann nicht, wenn Ihre Majestäten die Debütantinnen kennenzulernen wünschen."
"Oh, ich bin sicher, dass Ihre Majestäten es verstehen, wenn man aufgrund von schlechten Straßenverhältnissen aufgehalten wurde", gab Marguerite in heiterem Ton zurück, vollkommen davon überzeugt, dass sie Recht hatte. Ihre Tante schwieg, da sie innerlich einräumen musste, dass der König gewiss nachsichtig bei einem solch hübschen, naiven, jungen Mädchen sein würde.
"Wir werden rechtzeitig da sein, meine Damen", versicherte der Baron und lachte etwas. "Entspannt euch, es wird gewiss ein angenehmer Abend werden."
Marguerite dachte erneut an Conte Aro und lächelte, denn in seiner Gegenwart würde sie den Hofball bestimmt genießen. Sie spürte, wie aufgeregt ihr Herz bei dem Gedanken, ihm bald wiederzubegegnen, klopfte. Neugierig sah sie aus dem Fenster. Sie waren nicht die Einzigen, die mit einem Schlitten in Richtung des Palais Luxembourg fuhren. Welcher der vielen Wagen gehörte wohl den Conte di Volturi? Sicherlich würde sich auch Madame de Colignon darüber freuen, Conte Marcus wiederzusehen. Und gewiss hatte sich der dritte Bruder inzwischen erholt. Vielleicht fand er ja Gefallen an ihrer Freundin Louise?
Die junge Comtesse war sich nicht sicher, ob Louise sich bei Hofe wohlfühlen würde, da sie nicht von Adel war. Wer wusste schon, wie die anderen Gäste auf ihre Freundin reagierten, wenn ihnen klar wurde, dass sie eigentlich nicht zu ihrer Schicht gehörte. Andererseits war es gestattet, einige Bekannte zum Fest mitzubringen, wenn man es anmeldete, und Madame de Colignon hatte den Großzeremonienmeister des königlichen Hofes rechtzeitig davon in Kenntnis gesetzt, dass sie mit einer weiblichen Begleitung kommen würde. Nun, es war sicherlich alles in Ordnung und sie sollte sich nicht so viele Sorgen um ihre Freundin machen, da Madame de Colignon es auch nicht tat. Vielleicht erwiesen sich die adligen Gäste ja als recht umgänglich. Schließlich waren die beiden italienischen Grafen auch sehr freundlich gegenüber ihrer Freundin gewesen, obwohl sie ihnen als Gesellschafterin Madame de Colignons vorgestellt worden war. Allerdings schienen die Conte di Volturi Männer von Welt zu sein, elegant, höflich und gut erzogen. An ihrem Verhalten gab es nicht das Geringste auszusetzen. Hoffentlich traf das auch auf die übrigen Gäste des Balls zu.
"Unser Freund Rouven de Guignot wird übrigens ebenfalls zum Fest kommen", wandte sich Roger unvermittelt an Marguerite, die er dadurch aus ihren Gedanken aufschreckte. "Du erinnerst dich doch sicherlich noch an ihn, nicht wahr?"
"Ja... ja, natürlich", meinte das junge Mädchen irritiert. "Gewiss freut Ihr Euch, ihn wiederzusehen, Onkel, nicht wahr?"
"Er ist ein recht angenehmer Mann", gab Roger zu und richtete das Wort dann an seine Frau: "Ich hoffe, du weißt dich ihm gegenüber angemessen zu benehmen, Adrienne."
"Selbstverständlich!", entgegnete seine Frau empört. "Es ist äußerst unangebracht, mich darauf hinzuweisen. Ich habe mich gegenüber all deinen Freunden stets angemessen verhalten."
Marguerite, die sich daran erinnerte, was Arlette ihr über den Streit zwischen dem Baron und seiner Frau erzählt hatte, sah wieder aus dem Fenster und lächelte etwas. Offensichtlich war der Disput zwischen Tante Adrienne und ihrem Mann noch nicht beigelegt, so dass die beiden den ganzen Abend damit beschäftigt sein würden, sich zusammenzureißen. Gewiss hätten sie keine Zeit, auch noch auf sie - ihre Nichte - zu achten. Marguerite beschloss umgehend, diese Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen und sofort nach ihrer Ankunft die Gesellschaft von Madame de Colignon und Louise zu suchen, was ihrer Tante sicherlich recht war. Offenbar war Tante Adrienne davon überzeugt, in Madame de Colignon eine Verbündete gegen ihre Nichte zu besitzen. Wie gut, dass sie nicht wusste, dass die alte Freundin ihres Vaters alles tun würde, um sie - Marguerite - vor den unrechten Handlungen anderer Menschen zu schützen. Und gewiss würde sie sie auch darin unterstützen, ihre Bekanntschaft mit den Conte di Volturi zu vertiefen, vor allem, da Madame de Colignon eine besondere Sympathie für den älteren der beiden italienischen Grafen hegte.
Sie näherten sich jetzt dem Palais Luxembourg, das sogar im Dunkeln recht imposant wirkte. Schade, dass man das Schloss nicht richtig sehen konnte, es sollte ein recht prachtvoller Bau sein. Nun, sie würde an einem der darauffolgenden Tage noch einmal hier vorbeifahren, um das Gebäude im Hellen bewundern zu können.
Marguerite entgingen jedoch nicht die vielen anderen Kutschschlitten, die gleichzeitig mit ihrem eigenen Gefährt im Innenhof des Schlosses eintrafen. Die zahlreichen unbekannten Menschen, die aus ihren Wagen stiegen und von mehreren Dienstboten in Empfang genommen wurden, um in das Palais hineingeführt zu werden, verunsicherten das junge Mädchen nun doch etwas. Sie hoffte sehr, dass Madame de Colignon schon eingetroffen war oder bald ankam, denn allein mit ihren Verwandten und den vielen Personen, die ihr noch fremd waren, fühlte sie sich nicht besonders wohl. Allerdings ließ sich die Comtesse nichts von ihrer Unsicherheit anmerken, sondern lächelte tapfer, als man die Tür des Kutschschlittens öffnete und ihr aus dem Gefährt hinaushalf.
"Baron de Lebrunne nebst Gemahlin und unserer Nichte, Comtesse de Rochefort", stellte sich Roger einem der Dienstboten vor, der sich vor ihnen verneigte und höflich sagte: "Wenn Ihr mir bitte folgen würdet?"
Der Bedienstete geleitete sie in das Schloss hinein und Marguerite, die ihre Augen unauffällig, aber neugierig umherschweifen ließ, konnte nicht umhin, die Schönheit der Innenräume zu bewundern. Das Palais selbst besaß eine hohe Decke, an manchen Stellen mit Blattgold verziert, und viele der Wände, an denen sie vorbeigingen, waren mit Gemälden von Personen oder Landschaften geschmückt. Das junge Mädchen bedauerte innerlich, nicht mehr Zeit zu haben, um sich diese Bilder in Ruhe anzuschauen. Aber sie waren ja zu einem Ball eingeladen worden und nicht zu einer Schlossbesichtigung. Ob man dies möglicherweise auch nachholen könnte? Marguerite wusste es nicht und hielt es momentan auch für unangebracht, danach zu fragen. Sowohl die Gäste als auch die Dienerschaft des Schlosses schienen sehr unruhig zu sein, denn das Mädchen vermeinte um sich herum eine Atmosphäre von Hektik und Nervosität zu verspüren. Himmel, war das bei einem königlichen Ball immer der Fall?
Sie kamen schließlich in einen großen Saal, in dem sich schon viele elegant gekleidete Menschen aufhielten, die die Neuankömmlinge interessiert betrachteten. Marguerite vermeinte, in dem einen oder anderen Augenpaar so etwas wie Sympathie oder Bewunderung zu bemerken, lächelte weiterhin tapfer und senkte oft den Blick, da sie nicht recht wusste, wie sie angemessen mit dieser Fülle an Aufmerksamkeit für ihre Person umgehen sollte. Madame de Colignon hatte sie noch nicht erblickt und ebenso wenig die Grafen di Volturi, die innerhalb dieser Gesellschaft doch immerhin vertraute Gesichter für sie wären.
"Sieh mal", hörte sie neben sich den Baron zu ihrer Tante flüstern. "Die Fourniers sind ebenfalls da. Hätte nie gedacht, dass die sich noch einmal trauen würden, bei Hofe zu erscheinen."
"Dasselbe könnten sie von uns ebenfalls behaupten", zischte Adrienne ihrem Mann zu. "Hast du denn ganz vergessen, dass ihr mal zusammen auf einer Seite standet?"
"Scheint, als ob der König mit einigen von uns sehr gnädig umging", murmelte Roger. "Aber du hast natürlich recht, ma Cherie, ich sollte froh und dankbar dafür sein."
Marguerite verstand nicht ganz den Sinn dieser Unterhaltung, doch sie zog es vor, nicht nachzufragen. Allerdings fand sie es äußerst interessant, dass Baron de Lebrunne beim König anscheinend einmal in Ungnade gefallen war. Vielleicht hatte Papa aus diesem Grunde den Kontakt zu seiner Schwester und deren Mann abgebrochen und ihr nie etwas von dieser Verwandtschaft erzählt. Doch wenn dem tatsächlich so wäre, hätte er seiner Schwester niemals die Vormundschaft über sie, seine Tochter, übertragen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht!
Die Aufmerksamkeit der jungen Dame wurde jäh unterbrochen, als einige ihr unbekannte Menschen näher kamen und vor ihren Verwandten und ihr lächelnd stehenblieben.
"Guten Abend, alter Freund. Wie schön, dass wir uns endlich einmal wiedersehen", begrüßte der hochgewachsene Mann, der von einer älteren Frau, vermutlich seiner Gemahlin, und einem jüngeren Mädchen begleitet wurde, den Baron. "Wie geht es Euch, Lebrunne?"
"Danke der Nachfrage, Fournier, wir kommen gut zurecht", erwiderte Roger und lächelte auch.
Marguerite beobachtete die beiden Männern interessiert und gewann den Eindruck, dass beide nicht ehrlich zueinander waren, denn sie schienen sich im Grunde nicht ausstehen zu können. Offenbar gehörte dies aber zu dem Benehmen bei Hofe dazu, um einander das Gesicht nicht verlieren zu lassen. Welch ein heuchlerisches Schauspiel! Kein Wunder, dass Papa nie besonders große Lust gehabt hatte, an den königlichen Festen teilzunehmen und sie davor so lange wie möglich hatte bewahren wollen. Dennoch wäre es ihr lieber gewesen, an seiner Seite in die Gesellschaft eingeführt zu werden als jetzt durch ihre Tante und deren Mann. Sie konnte sich nicht helfen, aber sie mochte beide nicht - egal wie freundlich sich der Baron ihr gegenüber auch gab.
"Dies hier ist meine Gemahlin Cecilia und das ist unsere Tochter Agnes", stellte der Mann, den Lebrunne mit Fournier angesprochen hatte, nun die Damen in seiner Begleitung vor. "Und wer ist das liebliche Kind, das Eure Gattin und Euch begleitet, Lebrunne?"
"Unsere Nichte, Comtesse Marguerite de Rochefort", stellte der Baron sie vor. "Die Tochter meines Schwagers Gilbert."
"Sehr erfreut, Comtesse", sagte Fournier dann in Richtung des blonden Mädchens freundlich lächelnd und verneigte sich etwas. Auch seine Frau und seine Tochter lächelten und nickten ihr zu, was Marguerite erwiderte.
"Auch ich freue mich, Eure Familie und Euch kennenzulernen", behauptete das junge Mädchen, obwohl sie sich dessen nicht sicher war. Gegen die Frauen in Begleitung Fourniers hatte sie im Grunde nichts, aber der Herr schien mit Vorsicht zu genießen zu sein.
"Ich kannte Euren Vater recht gut, Comtesse", erwiderte Fournier. "Er war ein aufrechter Mann, der seinen Prinzipien immer treu blieb, obwohl wir nicht immer einer Meinung waren. Dennoch besaß er stets meine Anerkennung und ich hörte mit großem Bedauern, dass er inzwischen verstorben ist. Mein aufrichtiges Beileid."
"Ich danke Euch", sagte Marguerite, ein wenig unangenehm davon berührt, mitten in einer Hofgesellschaft auf den Tod ihres Vaters angesprochen zu werden. Doch Fournier machte tatsächlich den Eindruck, als seien die Worte, die er eben von sich gab, ehrlich gemeint.
"Eure Tochter soll gewiss bei Hofe eingeführt werden, nicht wahr?", erkundigte sich nun Adrienne bei Fournier und warf einen anerkennenden Blick auf das junge Mädchen neben ihm.
"Ganz recht, Madame", antwortete der Adlige. "Und bei Eurer Nichte verhält es sich wohl genauso?"
"Ja, das entspricht der Wahrheit!", erwiderte die Baronesse.
"Wie bedauerlich, dass Euer Bruder seine Tochter nicht selbst vorstellen konnte. Im Übrigen wusste ich gar nicht, dass er verheiratet war."
Die letzten Worte Fourniers gaben Marguerite einen Stich ins Herz, zielten sie doch unverkennbar darauf auf, den Ruf ihres Vaters zu schädigen und damit auch sie zu beleidigen.
"Nun, mein Bruder lebte die letzten Jahre sehr zurückgezogen", behauptete Adrienne in selbstsicherem Ton. "Seine Frau ist leider kurz nach der Geburt ihres Kindes gestorben, darum komme ich jetzt der Verpflichtung nach, mich um meine Nichte zu kümmern."
"Eine Aufgabe, die Euch gewiss sehr viel Freude bereitet", meinte Fournier und schenkte Marguerite jetzt wieder einen freundlichen Blick. Offensichtlich schien er den Worten ihrer Tante zu glauben, dass ihre Eltern miteinander verheiratet gewesen waren. Das Mädchen überkam ein leises Gefühl der Dankbarkeit für die Baronesse, auch wenn sie davon überzeugt war, dass es dieser vor allem darum ging, den Ruf der Familie de Rochefort, zu der sie selbst gehörte, sauber zu halten. Ihre Mutter und sie waren ihr dabei im Grunde gewiss gleichgültig. Dennoch würde sie dies Tante Adrienne immer zugute halten, selbst wenn sie beide sich nicht besonders mochten.
"Oh, welch eine Freude, Euch hier begrüßen zu können!", ertönte da eine jovial klingende Stimme, die Marguerite bekannt vorkam. Gleich darauf gesellte sich der Besitzer jener Stimme zu ihnen, bei dem es sich um niemand anderen als Rouven de Guignot handelte. Er schenkte Marguerite kurz ein Lächeln, das sie wohl für ihn einnehmen sollte, aber sie reagierte nicht darauf, sondern wandte ihre Aufmerksamkeit der Tochter der Fourniers zu, welche sie schüchtern anlächelte. Die beiden Mädchen gingen ein wenig zur Seite und beobachteten von einem Rande des Saals aus die Erwachsenen, die miteinander ins Gespräch kamen.
Da sie die andere junge Frau gern näher kennenlernen wollte, wandte sich Marguerite ihrer Begleiterin zu und erkundigte sich interessiert: "Freut Ihr Euch auf den Ball, Mademoiselle de Fournier?"
"Nein, gar nicht! Aber meine Eltern sind der Meinung, dass man mit 16 Jahren unbedingt bei Hofe bekannt werden soll", antwortete Agnes, die einen unsicheren Eindruck machte und ihre Augen des Öfteren nervös durch den Raum gleiten ließ.
"Demnach kennt Ihr also auch niemanden hier?"
"Nein, niemanden außer meinen Eltern und Monsieur de Guignot."
"Monsieur de Guignot?", fragte Marguerite irritiert. "Ist er mit Euren Eltern bekannt?"
"Oh, Monsieur de Guignot kennt fast jeden hier in Paris", erklärte Agnes, die froh darüber schien, etwas erzählen zu können. "Er ist ein sehr feiner Herr und überaus freundlich. Ich hoffe so sehr, dass er den Ball mit mir eröffnet."
"Ach, tatsächlich? Demnach findet Ihr ihn also sympathisch?"
"Ja, sehr. Als er letztens zu Besuch bei uns war, versicherte er mir, dass ich keine Angst vor dem Hofball haben müsse, und versprach, mit mir zu tanzen."
"Dann wird er das sicherlich auch tun. Offensichtlich ist Monsieur de Guignot ein recht galanter Mann."
Agnes lächelte etwas und nickte, wobei sie ein wenig errötete. Dann teilte sie Marguerite in leisem, beinah verschwörerischem Ton mit: "Er ist ledig und niemand würde ihn als künftigen Schwiegersohn oder Gemahl ablehnen, glaube ich."
Nun musste Marguerite ebenfalls lächeln, da ihr nun klar war, dass Mademoiselle de Fournier ein wenig verliebt in diesen Rouven de Guignot war, für den auch Arlette schwärmte. Allerdings konnte die Comtesse nicht nachvollziehen, was die beiden so an diesem Mann anzog, den sie selbst unsympathisch fand. Möglicherweise hatte sie Guignot doch falsch eingeschätzt und wünschte Agnes innerlich alles Gute, falls aus ihr und Rouven ein Paar werden würde. Auf jeden Fall war sie ihn dann los. Ein Gedanke, der sie sehr erleichterte.
Erstaunt bemerkte Marguerite jetzt jedoch, dass Tante Adrienne heute kein Lächeln für den alten Freund ihres Mannes übrig hatte. Nun ja, vermutlich wollte sie die sicherlich grundlose Eifersucht des Barons nicht unnötig schüren, während Lebrunne sich mit Guignot und Fournier gut zu unterhalten schien; doch Madame de Fournier wirkte etwas verloren und ließ ihren Blick hilfesuchend zu ihrer Tochter schweifen.
"Ich sollte wohl besser zu Maman zurückkehren", murmelte Agnes. "Bitte, entschuldigt mich, Comtesse de Rochefort."
"Natürlich", meinte Marguerite, die keinerlei Anstalten machte, zu ihren Verwandten zurückzukehren. Vielmehr hielt sie Ausschau nach Madame de Colignon, die sie sehnlichst herbeiwünschte, sowie den Conte di Volturi. Aber da inzwischen viele neue Gäste eingetroffen waren, konnte sie die Menschenmenge kaum mehr überblicken. Resigniert kehrte sie zu ihren Verwandten zurück und war froh, dass Guignot sich inzwischen nicht mehr bei ihnen aufhielt und auch die Familie de Fournier weitergegangen war, um andere Bekannte zu begrüßen. Marguerite kam gerade dazu, als der Baron seiner Frau zuwisperte: "Du hättest ruhig ein wenig freundlicher zu Rouven sein können."
"Warum denn? Damit du mich wieder grundlos mit deiner Eifersucht quälen kannst?!", zischte Adrienne leise zurück.
"Deine Launen sind an diesem Abend wirklich nicht angebracht!"
"Ich habe keine Launen und an meinem Benehmen kann niemand Anstoß nehmen. Es ist tadellos, mein Lieber", gab sie zurück, dann bemerkte sie, dass ihre Nichte wieder in der Nähe war und wandte sich sogleich an sie: "Hör mal, Marguerite, es wäre mir lieb, wenn du Monsieur de Guignot soweit wie möglich aus dem Weg gehen würdest. Er ist zwar ein Bekannter deines Onkels, aber wenn du zu vertraut mit ihm tust, könnte das deinem Ruf schaden."
"Was redest du denn da nur für einen Unsinn, Adrienne?!", empörte sich der Baron in halblautem Ton und schaute sich um, ob auch ja niemand die Worte seiner Frau gehört hatte.
"Es schickt sich nun einmal nicht, wenn ein junges Mädchen einem ganz bestimmten Mann seine ganze Aufmerksamkeit schenkt", meinte seine Angetraute. "Und ich möchte das Kind davor bewahren, ins Gerede zu kommen."
"Macht Euch keine Sorgen, Tante", sagte Marguerite und lächelte etwas. "Es liegt keinesfalls in meiner Absicht, Monsieur de Guignot zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Überdies habe ich gerade erfahren, dass er einer anderen jungen Dame den ersten Tanz versprochen hat."
Ihre Tante starrte sie überrascht an.
"Tatsächlich?", fragte Adrienne dann irritiert. "Wem?"
"Nun, es wurde mir im Vertrauen erzählt und ich habe nicht vor, dieses Vertrauen zu enttäuschen. Schließlich geht es uns doch nichts an, nicht wahr?"
Der Baron lachte amüsiert und meinte: "Ja, das ist ganz recht so. Ausgezeichnet, liebes Kind, ausgezeichnet!"
Aber seine Frau zog aufgrund dieser Neuigkeit erneut ein verdrießliches Gesicht. Roger und Marguerite kümmerten sich nicht weiter darum, da in diesem Augenblick Madame de Colignon in Begleitung Louises auf sie zukam.
"Oh, Madame, endlich!", entfuhr es Marguerite erleichtert. Sie ging mit erfreutem Antlitz auf ihre mütterliche Freundin zu und reichte ihr die Hände. "Ich befürchtete schon, dass Ihr nicht kommen würdet."
"Nicht doch, meine Liebe", gab Madame de Colignon in heiterem Ton zurück. "An einem Abend wie heute würde ich Euch niemals allein lassen."
Die ältere Dame ging dann auch auf das Ehepaar Lebrunne zu und begrüßte die Baronesse und deren Mann überaus freundlich. Roger nahm das gelassen hin, da ihn die alte Dame überhaupt nicht interessierte, während Adrienne erleichtert wirkte.
"Oh, ich bin wirklich froh, Euch hier zu sehen, Madame de Colignon", meinte die Baronesse in gedämpftem Ton und sah sich nach allen Seiten aufmerksam um. "Es ist schon eine längere Zeit her, seit ich auf einem königlichen Ball eingeladen war. Einige der Gäste kenne ich überhaupt nicht und zu allem Überfluss hat mein Mann heute schlechte Laune."
"Nun, den Eindruck macht er nicht gerade", meinte die ältere Dame und warf einen kurzen Blick auf den Baron, dessen Augen voller Bewunderung an Marguerite hafteten, die es jedoch nicht bemerkte. Das junge Mädchen war viel zu sehr damit beschäftigt, sich überall staunend umzusehen, die Gäste zu beobachten und sich mit ihrer Freundin Louise zu unterhalten.
"Nun, was sagt Ihr zu Mademoiselle Lefevre, Baronesse?", erkundigte sich Madame de Colignon dann interessiert bei Adrienne, die völlig vergessen zu haben schien, dass die Nachbarin ihres Bruders heute Abend ihre Gesellschafterin mitgebracht hatte. Sie schaute zu ihrer Nichte, bei der Louise gerade stand und sich mit ihr unterhielt, und zog ihre Augenbrauen verärgert zusammen. Die Bedienstete sah in ihrem rosafarbenen Kleid mit Spitzenbesatz beinah genauso hübsch aus wie ihre vermaledeite Nichte und wirkte wie ein junges Mädchen aus gehobenem Kreise. Als Adrienne sich umschaute, registrierte sie, dass viele der anwesenden Herren Marguerite und ihre Freundin mit wohlgefälligen Blicken bedachten. Es würde schwer sein, Bewerber um die Hand ihrer Nichte abzuwehren, doch sie konnte wenigstens dafür sorgen, dass der Ball für Louise Lefevre kein Genuss werden würde. Einige Bemerkungen bei den richtigen Leuten würden dafür sorgen, dass man die Gesellschafterin der Madame de Colignon schnitt.
"Ihr habt Eure Bedienstete fürwahr in eine junge Dame verwandelt, die man für unseresgleichen halten könnte", gab Adrienne dann mit saurer Miene zu. "Haltet Ihr es wirklich für richtig, Mademoiselle Lefevre dermaßen auszuzeichnen?"
"Ihr sollte diese Sache nicht so aufbauschen, Baronesse", erwiderte die ältere Dame gelassen. "Warum soll die liebe Louise denn nicht mal einen schönen Abend mit ihrer Freundin verbringen dürfen? Und Marguerite freut sich ebenfalls über ihre Gesellschaft. Die beiden sehen sich wirklich viel zu selten. Es wird schwer sein, wenn sie sich eines Tages trennen müssen."
"Was für eine seltsame Bemerkung. Meine Nichte und ihre Gesellschafterin sind doch bereits getrennt, seit ich Mademoiselle Lefevre entließ."
"Nun ja, aber die beiden können sich hin und wieder sehen, nicht wahr? Doch falls Marguerite heiratet und womöglich auf den Wohnsitz ihres Mannes zieht, könnte es sein, dass es für beide keine Gelegenheit mehr geben wird, sich ab und an zu treffen."
"Es besteht auch keine Notwendigkeit, dass sie sich treffen, Madame de Colignon!", gab Adrienne in hochmütigem Ton zurück. "Natürlich würde ein Mann aus unseren Kreisen es nicht dulden, wenn seine Frau engen Umgang mit Untergebenen pflegt."
"Louise besitzt gute Umgangsformen und ist sehr gebildet. Eine Freundin, deren man sich nicht schämen muss, und ich weiß, dass Marguerite sie sehr schätzt. Eurer Bruder hielt ebenfalls große Stücke auf Mademoiselle Lefevre."
"Mag sein, aber er hätte es niemals gutgeheißen, wenn man Bedienstete auf die gleiche Stufe mit seiner Tochter oder ihm gestellt hätte."
"Euer Bruder wusste ganz genau, wer einen guten Charakter hat und wer nicht. Ihm kam es vor allem auf Loyalität an, da er selbst Zeit seines Lebens ein sehr loyaler Mann war."
"Oh ja, und wir beide wissen, wem seine Loyalität galt. Reden wir an diesem Ort lieber nicht davon. Schließlich sind wir hier, um einen schönen Abend zu haben und Bekanntschaften wieder aufleben zu lassen oder neue zu schließen."
"Ihr habt völlig recht, meine Liebe."
In diesem Augenblick wurden zwei große Flügeltüren in der Mitte des Saales geöffnet und der Großzeremonienmeister trat davor.
"Liebe Gäste", begann er in lautem, höflichem Ton, so dass es jeder im Raum hören konnte. "Ihre Majestäten bitten zum Bankett. Bitte tretet ein und nehmt an der Tafel Platz."
18. Kapitel
Unerfüllte Hoffnungen sind nicht so schlimm wie enttäuschte Erwartungen.
Ernst Reinhardt (*1932)
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Nachdem man alle Gäste zu Tisch gebeten hatte, keimte in Marguerite die Hoffnung auf, IHN und seinen Bruder wiederzusehen, sobald sich alle an einen Platz gesetzt hatten. Zusammen mit Louise an ihrer Seite folgte sie ihrer Tante und Madame de Colignon in den großen Saal hinein, Baron de Lebrunne bildete die Rückhut des Damenquartetts. Allerdings musste die Comtesse feststellen, dass einige Plätze leer blieben und die italienischen Adligen offenbar gar nicht anwesend waren. Rasch tauschte Marguerite einen fragenden Blick mit Madame de Colignon aus, die ihre Augen ebenfalls suchend über die lange Tafel, welche in Hufeisenform aufgestellt worden war, gleiten ließ.
"Die fehlenden Gäste treffen sicherlich noch ein, mein Kind", raunte ihre mütterliche Freundin ihr zu. "Vergesst nicht, wie schlecht die Wetterverhältnisse draußen derzeit immer noch sind."
"Aber Ihr seid doch auch bereits da und..."
"Vielleicht ist unseren neuen Bekannten etwas Unvorhergesehenes dazwischen gekommen, wodurch sich ihre Fahrt hierher verzögert."
"Haltet Ihr das tatsächlich für möglich?"
"Natürlich, mein Kind."
Trotz der aufmunternden Worte Madame de Colignons begannen sich Zweifel in Marguerite zu regen. Sie hatte so sehr darauf vertraut, IHN heute wiederzusehen. ER war der einzige Mann, mit dem sie tanzen wollte. Enttäuscht sah sich das junge Mädchen um und nahm nun zum ersten Mal richtig wahr, dass vorne an der großen Tafel das Königspaar saß und die Anwesenden mit wohlwollendem Lächeln bedachte.
Nachdem sich alle gesetzt hatten und allmählich Ruhe in dem großen Saal einkehrte, ergriff Seine Majestät das Wort und hieß die Gäste noch einmal mit höflichen Worten kurz willkommen. Bald darauf wurden Speisen aufgetragen, deren köstlicher Duft den Raum zu erfüllen begann. Man bediente sich, begann zu essen und sich dabei in gedämpftem Ton zu unterhalten, worüber einige Zeit verging. Doch die leeren Stühle blieben unbesetzt und Marguerites Hoffnung, dass ihre neuen Bekannten aus Italien zum Fest kommen würden, schwand immer mehr.
Das junge Mädchen blickte zu Madame de Colignon, um zu sehen, ob diese ebenso enttäuscht war wie sie. Aber ihre mütterliche Freundin unterhielt sich gerade mit Tante Adrienne und machte ganz den Eindruck, als ob es sie nicht kümmerte, dass Conte Marcus nicht anwesend war. Dabei wusste Marguerite genau, welch guten Eindruck dieser Mann auf Madame de Colignon gemacht hatte und wie gern sie ihn wiedersehen würde.
Als Marguerite den Blick erneut über die Tafel schweifen ließ, begegneten ihr viele freundliche Blicke und etliche der anderen Gäste lächelten ihr zu, die Familie Fournier einbegriffen. Sie zwang sich, das Lächeln zu erwidern, obwohl sie sich innerlich leer fühlte, da der Einzige, der ihr wichtig war, nicht erschien. Niemand vermochte es, sie darüber hinweg zu trösten, dass ER nicht da war. Und dann begegnete ihr der Blick von Rouven de Guignot, der sie aufdringlich angrinste, sein Glas hob und ihr stumm zuprostete. Rasch wandte sie ihr Antlitz von ihm ab und starrte auf ihren leeren Teller.
"Comtesse, was habt Ihr?", erkundigte sich Louise besorgt.
"Nichts... nichts...", behauptete Marguerite, ohne ihren Blick zu heben. "Es ist alles nur... so neu... so ungewohnt."
"Ihr habt kaum einen Bissen zu Euch genommen", meinte ihre Freundin. "Ist wirklich alles in Ordnung?"
"Ja, mach dir keine Sorgen", gab die Comtesse in beschwichtigendem Ton zurück und lächelte Louise zu. "Ich kann immer noch nicht recht glauben, dass ich als Gast im Palais Luxembourg weile; es ist alles recht... überwältigend..."
"Wie ich Euch kenne, habt Ihr heute sicherlich nicht viel gegessen", erwiderte Louise. "Aber ihr solltet unbedingt etwas von dem Wildbret probieren, es ist überaus delikat."
"Du hast sicherlich recht", antwortete Marguerite und lud sich etwas von dem Wildbret auf den Teller, nahm einen Bissen und nickte. "Wirklich sehr schmackhaft."
Sie ließ ihren Blick erneut zu Guignot schweifen und fasste den Vorsatz, ihm aus dem Weg zu gehen, soweit es ihr möglich war. Aber das dürfte auf einem Ball mit so vielen Gästen gewiss kein Problem sein...
***
Nachdem das Bankett eröffnet worden war, nutzte Rouven de Guignot die Gelegenheit, sich neben Agnes de Fournier niederzulassen, die zur Linken ihres Vaters saß und hocherfreut über ihren Tischherrn wirkte. Natürlich wusste Guignot, dass die Sechzehnjährige für ihn schwärmte und unter normalen Umständen hätte er viel Zeit darauf verwendet, um sie heimlich zu verführen, wenn er selbst sich nicht in ein Mädchen verliebt hätte, das ihm unverhohlen die kalte Schulter zeigte. Gereizt durch ihren Widerstand wuchs in ihm jedoch seine Entschlossenheit, sie zu seiner Ehefrau zu machen, auch wenn Marguerite de Rochefort noch nichts von ihm wissen wollte. Selbstverständlich war er nicht so töricht zu glauben, dass sämtliche Frauen sofort seinem Charme erlagen, aber sie fanden ihn meist doch alle recht sympathisch... mit Ausnahme der schönen Marguerite.
Seit seiner ersten Begegnung mit der jungen Comtesse war Guignot klar, dass sie keinesfalls schüchtern war, wie ihm die Lebrunnes am Anfang weismachen wollten, da sich das Mädchen recht gewandt zu benehmen wusste. Ihre beharrliche Ablehnung seiner Person, die sie ihm gerade wieder einmal demonstrierte, als sie ihren Blick abrupt von ihm abwandte, führte er auf seine Bekanntschaft mit den Lebrunnes zurück. Der in die Jahre gekommene Lebemann hoffte, dass sein angeblicher Streit mit Marguerites Verwandten tatsächlich den von Adrienne prophezeiten Effekt haben würde, schien es doch keine andere Möglichkeit zu geben, um das Vertrauen des jungen Mädchens zu gewinnen.
Allerdings schien es Marguerite völlig gleichgültig zu sein, wie er sich mit den Lebrunnes verstand, denn auf sein Zuprosten hatte sie alles andere als positiv reagiert. Kein Zweifel, sie mochte ihn nicht! Diesen Zustand musste er unbedingt ändern! Sobald das Essen vorbei war und der Ball endlich begann, würde er die Nähe des schönen Mädchens suchen, um ihr zu zeigen, welch ein galanter Kavalier er war. Sie musste ihn einfach mögen... bis jetzt hatte er noch jede erobert und er würde auch die kleine Comtesse erobern!
Himmel, die junge Rochefort sah heute noch hinreißender aus als damals beim Souper! Um eine solche Braut würden ihn alle beneiden. Wahrlich eine überaus lohnende Verbindung, da das Mädchen zudem eine stattliche Erbschaft mit in die Ehe brachte. Es war ohnehin Zeit, dass er sich endlich band, schließlich machte das Alter auch vor ihm nicht Halt, obwohl er immer noch recht gut aussah. Die Einzige, die sein Glück bedrohen könnte, war Adrienne. Aber um diese würde er sich erst kümmern, wenn er das Herz ihrer schönen Nichte erobert und sie ihm ihr Jawort gegeben hatte.
"Sagt mal, Guignot", rissen ihn da die Worte Fourniers aus seinen Gedanken, worauf er sich sogleich dem älteren Mann zuwandte. "War Euch bekannt, dass Gilbert de Rochefort - Gott hab ihn selig - den Bund der Ehe eingegangen ist und dieser Verbindung ein Kind entspross?"
"Der verstorbene Comte de Rochefort gehörte bedauerlicherweise nicht zu meinem Bekanntenkreis", erwiderte der Angesprochene höflich. "Daher weiß ich kaum etwas über ihn, tut mir leid."
"Sehr bedauerlich; und ich war fest davon überzeugt, dass Ihr mir etwas über Gilberts reizende Tochter erzählen könntet, denn immerhin seid Ihr doch mit dem Ehemann seiner Schwester befreundet", meinte Fournier und ließ seinen Blick interessiert zu Marguerite auf der anderen Seite der Tafel schweifen. "Ein wirklich hübsches, junges Ding. Unverzeihlich, dass Gilbert uns seine Tochter all die Jahre vorenthalten hat. Wisst Ihr etwas über die Mutter der jungen Comtesse?"
"Wie bereits gesagt, kenne ich die Familie nicht näher."
"Es passt so gar nicht zu Gilbert de Rochefort, sich heimlich zu vermählen", sinnierte Fournier weiter, ohne den Blick von Marguerite zu nehmen. "Nun, vermutlich hat er eine Frau aus der Umgebung seines Landsitzes gewählt und sie dort auch geheiratet. Er zog es ja vor, sich vorwiegend auf seinem Gut aufzuhalten, wenn er nicht im Dienst war."
"Ihr könnt so viel darüber sprechen, wie Ihr wollt", gab Rouven gelassen zurück. "Ich weiß wirklich nichts über den verstorbenen Comte de Rochefort, sondern bin lediglich mit seinem Schwager befreundet, der mit ihm nicht das beste Verhältnis hatte."
"Ja, ja, das kann ich mir denken", antwortete Fournier und schaute Guignot nun amüsiert an. "Es hängt mit den unterschiedlichen Sichtweisen zusammen. Roger und ich vertraten eine gänzlich andere als Gilbert de Rochefort. Dennoch, er war ein sehr ehrenwerter Mann, der zu seinen Überzeugungen stand. Höchst bedauerlich, dass er die unseren nicht teilte."
"Es wäre besser, wenn Ihr Gespräche dieser Art nicht gerade an diesem Ort führen würdet, Fournier. Diese Thematik ist höchst gefährlich."
"Jetzt nicht mehr, da eine gewisse Person... nun ja, sie schied erst kürzlich aus dem Leben."
"Wir sind auf einem Fest und sollten uns dem Leben zuwenden, anstatt über die Vergangenheit zu sprechen", schlug Rouven vor und wandte sich nun an Agnes, die zwischen den beiden Männern saß und dem Gespräch verständnislos gelauscht hatte. "Gewiss teilt Ihr meine Meinung, nicht wahr, Mademoiselle de Fournier?"
"Verzeiht mir, Monsieur, aber ich habe Eurer Unterhaltung nicht richtig zugehört", behauptete das Mädchen und errötete.
"Eure Diskretion findet meinen Beifall", sagte Rouven lächelnd. "Nun, ich machte Euren Vater gerade darauf aufmerksam, dass man ein Fest wie das heutige genießen sollte, anstatt sich trüben Gedanken hinzugeben. Dem stimmt Ihr doch sicherlich zu?"
"Ja, gewiss!"
"Wie findet Ihr denn eigentlich die Comtesse de Rochefort, Mademoiselle de Fournier? Ich sah vorhin, dass Ihr Euch mit der Nichte der Lebrunnes unterhieltet."
"Sie scheint sehr nett zu sein."
"Gibt es etwas, das sie bedrückt?"
"Davon sagte sie nichts."
"Dennoch scheint sie ein wenig traurig zu sein, jedenfalls sieht sie so aus."
"Wenn es so ist, dann tut es mir um ihretwillen sehr leid", meinte Agnes. "Allerdings glaube ich weniger, dass sie traurig ist. Die Comtesse wird überwältigt sein von all dem, was sie sieht, vermutlich auch von dieser Unmenge an Menschen. Daran muss man sich wirklich erst Mal gewöhnen."
"Ach richtig! Dieser Ball ist ja Euer Debüt bei Hofe", entfuhr es Rouven und er tat so, als ob er das tatsächlich vergessen hätte. "Für Comtesse de Rochefort ist er das ebenfalls. Ja, Mademoiselle de Fournier, Ihr habt mich davon überzeugt, dass dies der Grund für die traurige Miene der Comtesse ist."
"Wollen wir hoffen, dass der anschließende Ball die hübsche, kleine Rochefort wieder ein wenig aufmuntert", sagte Fournier amüsiert.
"Oh ja, darauf freue ich mich auch schon", gab Agnes zu und bedachte Rouven mit einem sehnsuchtsvollen Blick. "Am Eröffnungstanz würde ich liebend gerne teilnehmen. Ihr nicht auch, Monsieur de Guignot?"
"Natürlich!", antwortete er ohne nachzudenken, den Blick dabei wieder auf Marguerite gerichtet.
Agnes strahlte ihn an, ohne dass es ihm auffiel, war sie doch davon überzeugt, dass er sie um den ersten Tanz bitten würde.
"Wer ist eigentlich das hübsche Mädchen neben Comtesse de Rochefort?", wandte sich Fournier noch einmal an Rouven. "Die beiden scheinen recht vertraut miteinander zu sein. Ist das auch eine Verwandte der Lebrunnes?"
"Nicht, dass ich wüsste", gab Rouven ehrlich zu. "Das Mädchen, das neben der Comtesse sitzt, sehe ich heute auch zum ersten Mal."
"Sie kann jedenfalls keine Verwandte der Rocheforts sein, da Roger und seine Frau keine eigenen Kinder haben. Vielleicht eine Nichte aus der Linie der Lebrunnes?"
"Wäre möglich", räumte Rouven ein und betrachtete sich nun das dunkelhaarige Mädchen neben Marguerite etwas genauer. Sie sah tatsächlich ganz passabel aus, wirkte allerdings neben der jungen Comtesse wie eine graue Maus. Vermutlich war es eine Bekannte vom Lande. Sie war schließlich zusammen mit dieser Madame de Colignon hier aufgetaucht und diese Dame hatte etliche gute Verbindungen bei Hofe, war sogar weitläufig mit diesem oder jenem verwandt. Eine Person, deren Bekanntschaft es sich zu machen lohnte...
***
Die Königin hatte ihre ehemalige Hofdame Adrienne de Lebrunne sofort wieder erkannt, als sie ihren Blick während der Begrüßung ihres Mannes über die Gäste schweifen ließ. Aber sie winkte erst später, als der erste Gang vorbei war, den Zeremonienmeister herbei und fragte leise in verärgertem Ton: "Wer hat den Baron und die Baronesse de Lebrunne zu diesem Ball eingeladen?"
"Es geschah auf Bitten von Kardinal Mazarin", antwortete der Angesprochene verlegen.
"Wie? Aus welchem Grund sollte Seine Eminenz solch einen Wunsch hegen? Soweit ich weiß, kennt er die Lebrunnes nicht einmal."
"Nun ja, aber er fühlt sich für ein ehemaliges Mündel Seiner verstorbenen Eminenz, Kardinal Richelieu, verantwortlich", erklärte der Zeremonienmeister. "Die junge Dame scheint Schwierigkeiten mit ihrer Tante zu haben, die man zu ihrem Vormund bestimmt hat."
"Will Er mir damit etwa sagen, jemand hat der Baronesse de Lebrunne tatsächlich die Vormundschaft über einen jungen Menschen übertragen?", erkundigte sich die Königin fassungslos. "Ausgerechnet einer solchen Person, die alles andere als vertrauenswürdig ist?"
"Es war der Wunsch ihres Bruders, dass seine Schwester sich um seine Tochter kümmert, falls das Mädchen noch minderjährig sein sollte, wenn Seine Eminenz, Kardinal Richelieu, stirbt."
"Wer ist das bedauernswerte Mädchen?"
"Eine gewisse Comtesse de Rochefort."
"Rochefort", echote die Königin und wurde ein wenig blass. "Er hat eine Tochter?"
"Es ist jenes junge Mädchen dort drüben, das neben Madame de Colignon sitzt."
"Madame de Colignon ist eine ehrenwerte Dame, die ich überaus schätze", sagte die Königin leise und sah hinüber. "Zuerst hielt ich es für einen unglücklichen Zufall, dass sie ausgerechnet neben Baronesse de Lebrunne Platz nahm, aber nun ergibt dies für mich einen Sinn... und das junge Mädchen in dem weißen Kleid ist also die Tochter des Comte de Rochefort?"
"Ja, Ihre Majestät!"
"Sorg Er dafür, dass man uns die Comtesse de Rochefort bei Beginn des Balles ohne ihre Verwandten vorstellt."
"Sehr wohl, Ihre Majestät!"
"Er darf sich auf seinen Platz zurückziehen!"
Der Zeremonienmeister gehorchte, während sich die Königin erneut interessiert das blonde Mädchen betrachtete. Die Gerüchte entsprachen also der Wahrheit und Rochefort hatte sich tatsächlich mit dieser ominösen Frau eingelassen, denn seine Tochter war ihr beinah wie aus dem Gesicht geschnitten. Bei dem Lebenswandel dieser Dame blieb allerdings fraglich, ob das junge Mädchen tatsächlich sein Fleisch und Blut war, doch anscheinend hatte Rochefort sie als sein Kind anerkannt. Ihr Wohlergehen musste dem Comte sehr am Herzen gelegen haben, wenn er es als nötig erachtete, für die Kleine nach seinem Tod Vormünder zu bestellen. Dass er den Mann, dem er einst loyal diente, darum bat, konnte die Königin noch einigermaßen nachvollziehen, aber warum, um alles in der Welt, vertraute er seiner intriganten Schwester? War ihm denn nicht klar, dass die Baronesse sein illegitimes Kind niemals als vollwertiges Familienmitglied anerkennen würde? Vermutlich wollte Mazarin dem jungen Mädchen lediglich zu seinem Recht verhelfen und hatte deshalb dafür gesorgt, dass sie ihr Debüt bei Hofe geben konnte. Wahrscheinlich hatte auch Madame de Colignon dabei ihre Hände im Spiel gehabt. Die junge Comtesse konnte von Glück reden, derart protegiert zu werden.
Die Königin interessierte es im Grunde nicht, welche Affären und Geheimnisse die Leute hatten. Doch nun, da die verhasste Adrienne de Lebrunne wieder am Hof aufgetaucht war, weil sie die Vormundschaft über ihre minderjährige Nichte besaß, musste sie sich notgedrungen mit den Angelegenheiten der kleinen Rochefort auseinandersetzen. Zwar war der Hauptmann von Richelieus Garde nicht gerade ihr bester Freund gewesen und seine Geliebte, Mylady de Winter, gehörte keineswegs zu den Frauen, deren Gesellschaft sie suchte, aber das Kind der beiden konnte ja weder etwas für seine Herkunft noch für seine Verwandtschaft. Doch bevor sie irgendetwas für die kleine Comtesse tat, wollte sie sie erst einmal kennenlernen. Wenn es ein unschuldiges Ding war, würde sie mit Mazarin darüber beraten, welche Wege es gab, um sie von der Vormundschaft ihrer Tante zu befreien. Denn die Königin wünschte niemandem, unter der Kuratel einer Frau wie Adrienne de Lebrunne zu sein...
***
Marguerite war froh, als das Bankett nach einer gefühlten Ewigkeit vorbei war und man sich vom Tisch erheben durfte, um in den Festsaal zurückzukehren. Dort waren mittlerweile kleine Tische aufgestellt, an denen man sich niederlassen und miteinander plaudern konnte, bis der Ball offiziell begann. Zunächst hielten sich die junge Comtesse und ihre Freundin in der Nähe von Madame de Colignon auf, die sich immer noch in Gesellschaft des Ehepaars Lebrunne befand, aber schon bald begannen die beiden Mädchen sich neugierig im Saal umzuschauen und umherzugehen. Endlich fanden sie eine Nische, in die sie sich stellten und sich leise miteinander unterhielten.
"Es sieht ganz so aus, als ob die Conte di Volturi gar nicht auf dem Ball erscheinen werden", meinte Marguerite traurig. "Dabei habe ich mich vor allem auf ein Wiedersehen mit Conte Aro gefreut und darauf, mit ihm heute Abend zu tanzen."
"Die Herren könnten immer noch kommen", erwiderte Louise aufmunternd. "Es wird schon so sein, wie Madame de Colignon vermutet hat: Unsere Nachbarn werden sich verspäten."
"Aber ich habe sie bislang immer noch nicht hier im Raum erblickt; und mittlerweile müssten sie doch trotz der schlechten Wetterverhältnisse eingetroffen sein, oder nicht?"
"Wir wissen nicht genau, was passiert ist, Comtesse! Aber ich kann Euch versichern, dass sich Conte Aro mindestens genau so darauf gefreut hat, heute Abend mit Euch zu tanzen wie Ihr."
"Glaubst du das wirklich?"
"Natürlich, Comtesse. Als sein Bruder und er sich vorstellten, konnte er kaum die Augen von Euch lassen. Übt Euch nur ein wenig in Geduld."
"Nun gut, ich will es versuchen, obwohl es mir schwer fällt. Aber was habe ich für eine Wahl?"
Die beiden jungen Mädchen lächelten sich dann aufmunternd zu und ließen ihren Blick wieder neugierig durch den Raum schweifen.
"Oh Himmel, das darf nicht wahr sein", entfuhr es da flüsternd den Lippen Marguerites und als Louise dem Blick ihrer Freundin folgte, sah sie einen etwas älteren Mann mit einer Hakennase auf sie beide zukommen. Er blieb vor den Mädchen stehen und verneigte sich leicht.
"Es freut mich sehr, Euch wiederzusehen, Comtesse", begrüßte der hakennasige Mann Marguerite. "Erlaubt mir zu sagen, dass Ihr heute Abend überaus bezaubernd ausseht."
"Vielen Dank", gab Marguerite kühl zurück und wies dann auf Louise. "Dies ist Mademoiselle Lefevre, eine sehr gute Freundin von mir."
"Enchantée, Mademoiselle", wandte sich Guignot an das Mädchen, das neben seiner Angebeteten stand, und verneigte sich erneut. "Gestattet mir das Kompliment, das Ihr ebenso bezaubernd ausseht wie Eure Freundin, Mademoiselle Lefevre."
"Danke sehr, Monsieur...?"
"Rouven de Guignot, zu Euren Diensten", stellte sich der hakennasige Mann selbst vor, bevor Marguerite diesen Part übernehmen konnte. Danach wandte er sich erneut der Comtesse zu und bat: "Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, mir den ersten Tanz zu gewähren?"
"Bedaure", entgegnete die Angesprochene mit kühler Stimme. "Aber den ersten Tanz habe ich schon jemand anderem versprochen."
Überrascht starrte Guignot das junge Mädchen an, dann grinste er leicht, da er ihr nicht glaubte.
"Oh, ist es zu vermessen zu fragen, wem Ihr diese Gunst gewährt habt?", erkundigte er sich, wobei unschwer herauszuhören war, dass er sie nicht ernst nahm.
Bevor Marguerite ihm höflich zu verstehen geben konnte, dass ihn dies nichts anging, erschien ein Bediensteter des Schlosses vor ihr, verneigte sich und richtete das Wort an sie: "Seid Ihr die Comtesse de Rochefort?"
"Ja, bin ich!"
"Würdet Ihr mir dann bitte folgen, Comtesse? Ihre Majestäten wünschen, Euch kennenzulernen."
"Natürlich", sagte Marguerite und warf rasch einen Blick zu Louise, ehe sie dem Diener folgte.
Ihre Freundin und Guignot sahen ihnen nach, bevor sich der hakennasige Mann wieder an Louise wandte.
"Wisst Ihr zufällig, wem Eure Freundin den ersten Tanz versprach?"
"Tut mir leid, Monsieur de Guignot, aber ich habe mich zur Diskretion verpflichtet", gab die junge Frau zurück. "Und nun entschuldigt mich bitte!"
Mit diesen Worten ließ ihn Louise stehen, um zu Madame de Colignon zurückzukehren. Konsterniert starrte der hakennasige Lebemann der hübschen Brünetten nach, dann beschloss er, ihr zu folgen, auch wenn sich in der Nähe der älteren Dame das Ehepaar Lebrunne aufhielt.
Roger schien sich zu freuen, als sich sein Freund näherte, aber Adrienne machte einen verärgerten Eindruck.
"Wo ist meine Nichte?", wandte sie sich an Louise, als diese sich zu Madame de Colignon gesellte.
"Ein Hofbediensteter kam, um die Comtesse zu den Majestäten zu bringen", erklärte das Mädchen wahrheitsgemäß.
"Was denn?! Ohne uns, ihre Verwandten?", wunderte sich die Baronesse. "Unmöglich!"
"Nein, Teuerste", mischte sich in diesem Augenblick Guignot ein. "Mademoiselle Lefevre sagt die Wahrheit. Der Diener kam just in dem Moment, als ich mich mit Eurer Nichte unterhielt."
"Ihr wagt es, in meiner Nähe zu erscheinen?", fragte Adrienne ihren Liebhaber unfreundlich.
"Aber, aber, ma Cherie, spricht man so mit einem Freund?", ermahnte ihr Mann sie und blickte erst seine Frau und dann Guignot an. "Verzeiht meiner Gemahlin, mein Bester, mir scheint, sie ist heute Abend ziemlich nervös."
"Dazu besteht doch keinerlei Veranlassung", erwiderte Guignot. "Eure Nichte wird auf die Majestäten sicherlich den besten Eindruck machen."
"Davon bin ich auch überzeugt, meine Liebe", bekräftigte Madame de Colignon die Worte Rouvens.
"Gewiss wird sie das", sagte nun auch Roger de Lebrunne mit breitem Lächeln und wandte sich dann an die ältere Dame. "Darf ich Euch meinen Freund Rouven de Guignot vorstellen, Madame?"
"Sehr erfreut", meinte die Angesprochene und nickte dem hakennasigen Mann lächelnd zu, während der Baron mit der Vorstellung fortfuhr. "Rouven, dies hier ist Madame de Colignon, unsere Nachbarin auf dem Lande. Sie war sehr gut mit meinem Schwager, dem Comte de Rochefort, bekannt und hat sich nach seinem Tode ein wenig um unsere Nichte gekümmert."
"Enchantée, Madame, freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen", sagte Guignot, ergriff die Hand der älteren Dame und deutete einen Handkuss an. "Über Euch hört man nur Gutes und nun habe auch ich endlich das Glück, Euch persönlich gegenüberzustehen."
"Auf Komplimente versteht Ihr Euch, Monsieur", erwiderte Madame de Colignon, immer noch lächelnd. "Wie ich hörte, genießt Ihr in dieser Hinsicht einen sehr bekannten Ruf."
"Was soll das heißen?", fragte Guignot verwundert.
"Nun, die Damenwelt soll Euch sehr zugetan sein", erklärte sie freundlich. "Aber warum auch nicht? Es ist immer recht angenehm, sich in Gesellschaft eines wohlerzogenen Herrn zu wissen."
"Vielen Dank, Madame, sehr freundlich von Euch", gab Guignot zurück, höchst zufrieden, dass sie den Ruf über ihn in dieser Weise auslegte.
"Manchmal vergisst Monsieur de Guignot allerdings seine Manieren", bemerkte Adrienne giftig.
"Es tut mir wirklich leid, wenn ich Euch gekränkt haben sollte, meine Liebe", wandte sich Rouven mit einem bedauernden Unterton an die Baronesse. "Allerdings weiß ich nicht, worauf Ihr anspielt."
"Das tut heute Abend auch nichts zur Sache", ergriff Lebrunne das Wort, ehe seine Gattin noch etwas sagen konnte. "Was immer auch meine Gemahlin als Kränkung aufgefasst hat, das wollen wir vergessen, da es wohl von Eurer Seite nicht als Kränkung gemeint war."
"Sehr gütig von Euch, Roger."
Adrienne behielt ihre saure Miene bei, nickte jedoch Guignot zu, im Inneren höchst zufrieden, wie gut dies Spiel vor den Augen von Madame de Colignon und Louise Lefevre ablief. Bestimmt berichtete die Gesellschafterin ihrer Nichte später, wie ablehnend sie auf Rouven reagiert hatte. Marguerite würde ihm dann vielleicht endlich eine Chance geben, an sie heranzukommen.
Aus den Augenwinkeln nahm die Baronesse plötzlich wahr, dass sich jemand ihrer kleinen Gruppe näherte. Als sie ihren Blick in die betreffende Richtung lenkte, erkannte sie drei elegant gekleidete Männer, die ihr völlig fremd waren, sich jedoch offenbar genau auf sie zubewegten.
"Guten Abend, Madame de Colignon", begrüßte der schwarzhaarige Mann ihre Nachbarin vom Land und verbeugte sich zusammen mit seinen Kameraden vor der älteren Dame. Sie hielt ihm ihre Hand entgegen und erwiderte: "Guten Abend, meine Herren. Wie schön, dass Ihr es doch noch einrichten konntet zu kommen."
"Zu unserem größten Bedauern hatten wir auf dem Weg hierher eine kleine Panne", erklärte der Schwarzhaarige, der die ihm dargereichte Hand ergriff und einen Handkuss andeutete.
"Mon Dieu, es ist doch hoffentlich nichts Schlimmes passiert?", erkundigte sich Madame de Colignon besorgt.
"Nein, nein, keine Sorge. Inzwischen ist der Schaden wieder behoben und wir freuen uns, endlich hier zu sein", behauptete ihr Gesprächspartner und nickte dann auch Louise mit freundlichem Lächeln zu, was Adrienne auf das Höchste empörte. Gab es denn niemanden mehr, der Wert auf Standesunterschiede legte? Oder wussten die drei edlen Herren, die offenbar mit Madame de Colignon bekannt waren, gar nicht, dass es sich bei Louise nur um eine Angestellte handelte?.
Ein Blick aus dunklen Augen traf denjenigen der stolzen Baronesse und sie erschauerte innerlich plötzlich, obwohl sie sich den Grund dafür nicht erklären konnte. Der schwarzhaarige Mann sah gut aus, ebenso wie seine beiden Begleiter. Er verzog den Mund zu einem kaum merklichen Lächeln, ehe er sich wieder Madame de Colignon zuwandte und auf den blonden, jungen Mann zu seiner Rechten wies: "Dies ist mein jüngerer Bruder Caius, der glücklicherweise wieder wohlauf ist."
"Freut mich sehr, Euch endlich kennenzulernen, Conte di Volturi", sagte die ältere Dame zu dem blonden Jüngling. "Ich hoffe, es wird für uns alle ein schönes Fest werden."
"Ja, das hoffe ich auch", antwortete Caius freundlich.
Danach blickten die drei Herren Madame de Colignon fragend an, worauf sie ein wenig lachte und sich dann an Adrienne, ihren Mann und Guignot wandte.
"Darf ich vorstellen: Baronesse und Baron de Lebrunne sowie Monsieur de Guignot - meine Lieben, dies hier sind die Conte di Volturi, meine neuen Nachbarn in Paris."
"Sehr erfreut", behaupteten das Ehepaar und der hakennasige Lebemann.
"Conte?", erkundigte sich Adrienne sofort neugierig. "Kommt Ihr aus Italien, meine Herren?"
"So ist es", bestätigte der ältere der drei Männer in ruhigem Ton, ehe er sich an den blonden Jüngling wandte: "Die junge Dame neben Madame de Colignon ist übrigens Mademoiselle Lefevre, Caius."
Adrienne glaubte, sich verhört zu haben. Anscheinend wussten die drei italienischen Adligen tatsächlich nicht, dass es sich bei Louise lediglich um eine Angestellte handelte. Ein Umstand, den sie zu ändern gedachte.
"Es freut mich sehr, Euch kennenzulernen, Mademoiselle Lefevre", sagte nun der blonde Jüngling, ergriff Louises Hand und hauchte einen Kuss darauf, was die junge Frau leicht erröten ließ.
"Es freut mich ebenfalls, Conte di Volturi", erwiderte Louise in schüchternem Ton.
"Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, mir den ersten Tanz zu schenken, Mademoiselle?"
"Sehr gerne."
Der ältere Mann und der Schwarzhaarige, der zuerst mit Madame de Colignon gesprochen hatte, lächelten zufrieden. Für Adrienne Grund genug, die drei Herren über den gesellschaftlichen Status von Louise aufzuklären.
"Es ist wirklich überaus gütig von Euch, Eure Gesellschafterin als Begleitung mit auf den Ball zu bringen, meine Liebe", wandte sich die Baronesse an Madame de Colignon, darauf hoffend, dass der junge Conte di Volturi aufgrund dessen davon absah, mit Louise zu tanzen.
"Oh ja, in der Tat sehr freundlich", bestätigte der Schwarzhaarige, der nun seinerseits die Hand der Baronesse ergriff und die Andeutung eines Handkusses vollzog, ohne seinen Blick von ihrem zu wenden. "Für ein junges Mädchen ist dies eine hübsche Abwechslung, findet Ihr nicht auch, Baronesse?"
"Mag sein, es entzieht sich meiner Kenntnis, ob dies auch für Angestellte gilt", gab die völlig überraschte Adrienne zurück. "Dennoch bin ich der Meinung, dass die Standesunterschiede beachtet werden müssen."
"Wie recht Ihr habt", ergriff nun der blonde Mann namens Caius das Wort und schenkte ihr einen spöttischen Blick. "Mademoiselle Lefevre ist eine junge Dame und ich bin ein junger Mann, beide wohlerzogen und gepflegt, also von gleichem Stande. Und ich freue mich sehr darauf, meine Zeit mit einer so netten, jungen Dame verbringen zu dürfen."
"Ihr habt völlig recht", pflichtete ihm nun der Baron bei, dem das Verhalten seiner Frau äußerst peinlich war und der deswegen rasch einen Themenwechsel herbeiführen wollte. "Weilt Ihr schon lange in Paris, meine Herren?"
"Nein, erst etwa 14 Tage", antwortete der Schwarzhaarige, der nun die Hand Adriennes los ließ.
"Und was führt Euch nach Paris?"
"Wir reisen schon seit längerer Zeit durch Europa, um unseren Horizont zu erweitern", behauptete sein Gesprächspartner. Dann schaute er sich suchend um und wandte sich dann erneut Madame de Colignon zu: "Wo ist denn Eure junge Freundin? Sie ist doch hoffentlich nicht erkrankt?"
"Keine Sorge, Conte Aro, die Comtesse ist wohlauf und wird bald wieder bei uns sein. Im Moment wird sie allerdings den Majestäten vorgestellt."
Aro zog eine Augenbraue fragend hoch, während er rasch von Madame de Colignon zu dem Ehepaar de Lebrunne und zurück blickte.
"Sie wird den Majestäten ohne Begleitung Ihrer Verwandten vorgestellt?", erkundigte er sich irritiert.
"Ja, ein Bediensteter des Hofes bat sie, vor dem Königspaar zu erscheinen", antwortete die ältere Dame.
"Vielleicht eine neue Sitte", meinte Adrienne, aus deren Ton man deutlich heraushören konnte, wie gekränkt sie sich fühlte. "Andere Zeiten, andere Sitten, und heutzutage scheint vieles anders zu sein als zu der Zeit, da ich jung war."
"Möglicherweise hat man den Majestäten zugetragen, dass Marguerite Vollwaise ist und deshalb wurde sie allein zu ihnen gebeten", gab der Baron seiner Vermutung Ausdruck. "Wir werden ja hören, was sie uns nachher zu sagen hat."
"Auf jeden Fall wird der Ball erst dann beginnen, wenn alle Debütantinnen dem König und der Königin vorgestellt wurden", meinte Aro zufrieden.
"Woher kennt Ihr eigentlich meine Nichte?", hakte Adrienne misstrauisch nach.
"Meine Nachbarn waren zu Besuch, als Marguerite vor einiger Zeit bei mir war", erklärte Madame de Colignon. "Dabei wurden sie miteinander bekannt. Dagegen ist nun wirklich nichts zu sagen."
"Aha! Gut, gut, dann wurden die Konventionen also beachtet", meinte die Baronesse.
"Ihr scheint mir eine Dame zu sein, die großen Wert auf Konventionen legt, Madame de Lebrunne", stellte Aro fest und grinste ein wenig, als er seinen Blick zu Rouven de Guignot wandern ließ.
"Allerdings!"
"Dann versichere ich Euch, dass meine Brüder und ich Männer von Ehre und Anstand sind, die wissen, was sich gehört."
"Davon bin ich vollkommen überzeugt, meine Herren", meinte der Baron. "Und meine Frau Gemahlin sicherlich auch. Sie ist nur immer so besorgt um unsere Nichte, seit wir die Verantwortung für das Mädchen tragen."
"Das verstehe ich", erwiderte Aro freundlich. "Es ist gewiss nicht immer leicht, nicht wahr?"
Adrienne nickte und schien sich zu beruhigen, während Guignot einen äußerst mürrischen Eindruck machte, obwohl die drei Italiener auch ihm ein Lächeln schenkten. Ihn überkam die unangenehme Ahnung, dass Marguerite vermutlich einem dieser Herren den ersten Tanz versprochen hatte und dass Madame de Colignon die Verbündete der jungen Comtesse war...
19. Kapitel
Die Treue zu sich selbst hält der Verräter immer sehr hoch
Martin Gerhard Reisenberg (*1949)
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Auch wenn Marguerite froh war, die Nähe Guignots zu verlassen, verspürte sie innerlich doch ein wenig Nervosität bei dem Gedanken, gleich den Majestäten vorgestellt zu werden. Sie hatte vor lauter Sehnsucht nach Conte Aro kaum mehr daran gedacht, obwohl dies ihr Debüt bei Hofe war. Als sie sich dem Thron des Königpaares näherte, bemerkte sie erleichtert, dass Seine Majestät sehr freundlich mit Agnes de Fournier und ihren Eltern sprach und sie selbst sich noch einen Augenblick gedulden musste, wobei der Diener, der sie hergeleitet hatte, mit ihr wartete. Es dauerte jedoch nicht lange, bis der König die Familie Fournier entließ und der Hofbedienstete gleich darauf vortrat und meldete: "Comtesse Marguerite de Rochefort", ehe er sich tief verneigte und dann zur Seite trat.
Der König musterte das junge Mädchen mit freundlichen Blicken, während seine Gemahlin sie neugierig betrachtete, ohne den Mund zu einem Lächeln zu verziehen. Dann winkte Seine Majestät leicht mit der Hand und sprach: "Treten ein wenig näher, mein Kind."
Marguerite folgte dieser Aufforderung und ließ sich zu einem Knicks herab. Nun lächelte auch die Königin, während ihr Mann in freundlichem Ton fortfuhr: "Ihr seid also die Tochter des Comte de Rochefort."
"Ja, das ist richtig, Eure Majestät", bestätigte Marguerite und erhob sich wieder, da der König ihr dies mit einer entsprechenden Geste zu verstehen gab.
"Es freut mich, Euch endlich bei Hofe begrüßen zu dürfen, liebes Kind."
"Vielen Dank, Eure Majestät, Ihr seid sehr gütig."
"Wie ich hörte, weilt Euer Vater inzwischen bei dem Herrn."
"Auch das entspricht der Wahrheit, Eure Majestät."
"Mein Beileid für Euren Verlust, liebes Kind. Wer ist Euer Vormund?"
"Bis vor kurzem war dies noch Seine Eminenz, Kardinal Richelieu. Aber jetzt wurde diese Verantwortung meiner Tante übertragen, der Baronesse de Lebrunne."
Der König warf einen überraschten Blick zu seiner Gemahlin, die ihm leicht zunickte.
"Die Baronesse de Lebrunne hat die Vormundschaft über Euch erhalten?", fragte er dann ungläubig nach.
"Ja, Eure Majestät, mein Vater bestimmte seine Schwester dazu, falls Seine Eminenz die Vormundschaft nicht mehr ausüben könne und ich noch nicht volljährig sei."
"Wie alt seid Ihr jetzt, mein Kind?"
"Ich werde im Januar achtzehn, Eure Majestät."
"Meiner Treu, schon achtzehn?", meinte König Louis verwundert und wandte sich seiner Gemahlin zu. "Hättet Ihr das gedacht, Madame?"
"Die Comtesse sieht aus wie eine junge Dame und es ist unerheblich, ob sie sechzehn, siebzehn oder achtzehn ist, das ist doch kein Alter, Sire", erwiderte die Königin in einem leicht belustigten Ton. "Ich finde es nur äußerst bedauerlich, dass der verstorbene Comte de Rochefort seine Tochter nicht schon früher bei Hofe vorstellte."
"Da muss ich Euch rechtgeben, Madame", gab Seine Majestät zurück und lächelte Marguerite wieder wohlwollend an.
"Es wäre für Euch in Begleitung Eures Vaters gewiss angenehmer gewesen, nicht wahr?", erkundigte sich die Königin bei Marguerite.
Das Mädchen nickte etwas und errötete.
"Gefällt Euch das Fest?", wollte Ihre Majestät wissen.
"Ja, selbstverständlich", antwortete Marguerite. "Solch große, prachtvolle Räume habe ich noch nie gesehen."
"Oh, welch ein Kompliment", meinte der König amüsiert.
"Nun, ich kann mir gut vorstellen, dass es Euch überwältigend vorkommt", meinte die Königin an die Comtesse gewandt. "Wie ich hörte, seid Ihr das erste Mal in Paris."
"Ja, das stimmt."
"Warum nur hat Euer Vater uns so lange das Vergnügen enthalten, Euch kennenzulernen?", fragte Seine Majestät.
"Das weiß ich nicht", erwiderte Marguerite zaghaft. "Aber er war in den letzten Jahren ein wenig kränklich und hielt sich überwiegend auf unserem Landsitz auf."
"Es tut mir wirklich leid, das zu hören", meinte König Louis mitfühlend. "Wenn man es so betrachtet, ist es natürlich verständlich, dass wir Euch erst heute Abend auf unserem Fest begrüßen können. Nun, mein liebes Kind, es hat meine Gemahlin und mich sehr gefreut, Euch kennenzulernen, und wir wünschen Euch auch weiterhin einen schönen Abend."
"Vielen Dank", sagte das junge Mädchen und machte erneut einen Knicks. Sie sah, dass der König ihr durch einen Wink zu verstehen gab zu gehen und sie kam dieser Aufforderung nur allzu gerne nach. Als sie sich umwandte, bemerkte sie, dass bereits drei andere Familien wartend vor dem Thron standen, damit ihre Söhne und Töchter den Majestäten vorgestellt wurden. Marguerite fand es im Nachhinein seltsam, dass das Ehepaar Lebrunne nicht mit ihr vor den Thron gebeten worden war, denn gewiss hatte man das Königspaar darüber informiert, dass sie mit ihren Verwandten gekommen war und dass ihre Tante inzwischen die Vormundschaft über sie besaß. Seine Majestät hatte sicherlich nur der Höflichkeit halber nachgefragt, um sich ein wenig mit ihr unterhalten zu können; unangenehm genug, dass jenes kurze Gespräch die Erinnerung daran wachgerufen hatte, dass Papa nicht mehr lebte.
Der Gedanke daran schmerzte Marguerite tief im Innersten und sie sehnte sich danach, mit einer ihrer beiden Freundinnen darüber unter vier Augen sprechen zu können. Allerdings machte die hohe Anzahl der Gäste es nicht gerade einfach, sich schnell durch den Saal zu bewegen und so dauerte es eine geraume Zeit, bis Marguerite von weitem endlich das vertraute Antlitz von Madame de Colignon erblickte, die sich mit drei Herren unterhielt, von denen sie nur die Rücken sah.
Die junge Frau stockte kurz und starrte dorthin. Drei Herren...? Konnte es wirklich sein, dass die Conte di Volturi doch noch zum Fest gekommen waren?
Marguerite wagte kaum zu atmen, als sie genauer hinsah. Dieses lange, schwarze Haar, das durch eine dunkelblaue Samtschleife am Hinterkopf zu einem Zopf zusammengebunden war... war das nicht Conte Aro?
Ja, er musste es sein... ER war tatsächlich gekommen, obwohl sie nicht mehr damit gerechnet hatte. Die anderen Herren, die rechts und links neben IHM standen, mussten Conte Marcus und der ihr noch unbekannte Bruder sein, der im Gegensatz zu seinen beiden Brüdern blondes Haar hatte und sich gerade mit ihrer Freundin Louise unterhielt. Welch freundliche Geste von ihm, obwohl er sicherlich wusste, dass Louise eigentlich die Gesellschafterin von Madame de Colignon war.
Am liebsten wäre Marguerite losgerannt und Aro um den Hals gefallen, aber das schickte sich natürlich nicht und gewiss hätte es ihn befremdet. Schlimm genug, dass sie bei ihrer ersten Begegnung nicht genügend Selbstkontrolle besessen hatte, um sich eine unangebrachte Bemerkung über ihre Tante zu verkneifen, obwohl es der Wahrheit entsprach. Da Conte Aro und sie sich jedoch kaum kannten, hätte sie es gar nicht sagen dürfen! Dennoch schien er es ihr nicht übel genommen zu haben, schließlich hatte er sie um den ersten Tanz dieses Abends gebeten und war jetzt hier, stand bei Madame de Colignon und wunderte sich gewiss über ihre Abwesenheit.
Das junge Mädchen schluckte einen Kloß hinunter, der ihr vor Aufregung in den Hals gestiegen war, atmete dann tief durch und setzte sich langsam erneut in Bewegung, näherte sich zaghaft und mit stark klopfendem Herzen der Gruppe um Madame de Colignon, dabei ihre Verwandten und Rouven de Guignot kaum beachtend, die ebenfalls dazu zählten.
"Ah, da ist sie ja endlich wieder", begrüßte Madame de Colignon die junge Comtesse, als sie ihrer ansichtig wurde.
Nun drehten sich die Conte di Volturi, die vorher mit dem Rücken zu ihr gestanden hatten, herum und sahen sie an. Über Aro's Gesicht ging ein Leuchten, Marcus und der junge, blonde Mann lächelten ihr freundlich zu. Sie vollführte einen kaum wahrnehmbaren Knicks vor ihnen und sie deuteten mit den Köpfen eine leichte Verneigung an.
"Guten Abend, Comtesse Marguerite", sagte Aro dann, trat auf sie zu, ergriff ihre Hand, führte sie zum Mund und drückte leicht einen Kuss darauf, dann schaute er sie mit strahlenden Augen an, ohne ihre Hand loszulassen. "Wie sehr habe ich mich auf ein Wiedersehen mit Euch gefreut, eine junge Dame erwartet und nun erscheint mir ein huldvoller Engel, so schön, dass ich mich in einem Traum wähne."
Marguerites Wangen wurden rot und sie senkte für eine Sekunde verlegen ihre Lider, ehe sie sie wieder hob und ihre Augen in den dunklen des italienischen Adligen versanken.
"Bitte, Conte Aro, Ihr dürft nicht so übertreiben", wehrte sie schüchtern ab.
"Das tue ich keineswegs", erwiderte er und wandte sich dann an seine Brüder. "Sieht Comtesse Marguerite nicht wirklich zauberhaft aus?"
"Doch, überaus reizend", versicherte Marcus, während der blonde Jüngling sie nun mit großen Augen derart erstaunt anstarrte, als sei sie ein Wesen aus einer fremden Welt, das er noch nie gesehen hatte, und kein Wort über seine Lippen brachte.
"Und was meinst du, Caius?", wandte sich Aro nun zu seinem Bruder um, als er keine Antwort vernahm. "Findest du nicht auch, dass Comtesse Marguerite überaus bezaubernd aussieht?"
"Doch... doch, doch...", kam es stotternd von den Lippen der Angesprochenen. "Sehr... anmutig..."
Marguerite zog ihre Augenbrauen fragend zusammen, während der Blick Aros von seinem Bruder zu ihr hin und her glitt und das Lächeln allmählich aus seinem Gesicht schwand. Verlegen sagte er dann zu dem Mädchen: "Verzeiht, dass ich es versäumte, Euch meinen jüngeren Bruder Caius vorzustellen, Comtesse."
"Freut mich sehr, Conte di Volturi", wandte sich Marguerite an den blonden Jüngling, ihn dabei verwundernd musternd.
"Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Comtesse", behauptete jener, verneigte sich etwas und meinte knapp: "Entschuldigt mich, ich muss kurz an die frische Luft."
Damit verschwand der blonde Mann rasch in der Menge. Aro starrte ihm fassungslos nach, während Marcus lediglich mit einem Ausdruck des Bedauerns seinen Kopf schüttelte und erklärte: "Offenbar leidet unser armer Bruder noch immer an Übelkeit, obwohl es zunächst den Anschein hatte, als sei er wieder völlig genesen."
"Tut mir sehr leid, dass es ihm nicht gut geht", meinte Marguerite dann mit einem Ausdruck des Bedauerns, da sie annahm, dass Caius sich ihr gegenüber nur aufgrund seines Leidens so seltsam, ja beinahe unhöflich verhalten hatte.
"Verzeiht mir, dass ich Euch für einen Moment verlasse, Comtesse, aber ich möchte nach meinem Bruder sehen", entschuldigte sich Aro.
"Natürlich, das verstehe ich", versicherte ihm Marguerite und sah ihm sehnsüchtig nach, als er ebenfalls in der Menge der Gäste verschwand. Dann wandte sie sich an Marcus und fragte: "Hoffentlich hat Euer Bruder nichts Ernstes?"
"Nein, er wird schon wieder", antwortete der ältere Mann lächelnd. "Macht Euch keine Sorgen um ihn, liebes Kind, vermutlich hätte er noch etwas länger der Bettruhe bedurft, aber er wollte unbedingt auf dem heutigen Ball dabei sein."
"Das bedeutet hoffentlich nicht, dass Ihr gezwungen seid, das Fest gleich wieder zu verlassen?", erkundigte sich Madame de Colignon besorgt.
"Ich habe nicht die Absicht und meine Brüder sicherlich auch nicht", gab Marcus in ruhigem Ton zurück und lächelte die ältere Dame liebevoll an. "Gewiss geht es Caius gleich wieder besser, nachdem er fünf Minuten an der frischen Luft war. Denn ich kann mir kaum vorstellen, dass er den Tanz mit Mademoiselle Lefevre versäumen will."
"Die Gesundheit Eures Bruders ist wichtiger als unser Vergnügen", meinte Louise daraufhin zaghaft.
"Ja, das finde ich auch", pflichtete Marguerite ihrer Freundin bei.
"Meine Brüder werden entzückt über so viel Verständnis sein", sagte Marcus lächelnd.
In diesem Augenblick begannen die Musiker, ihre Instrumente zu stimmen und leise zu spielen. Offenbar war dies das Signal, auf das Guignot gewartet hatte, denn er trat nun unvermutet an Marguerite heran, verbeugte sich und sagte: "Darf ich um diesen Tanz bitten, Comtesse?"
*
Aro fand Caius draußen im Garten des Schlosses, wo jener sich an die Mauer lehnte und in den Nachthimmel hinauf blickte.
"Was ist denn los, Bruder?", fragte Aro, als er an ihn herantrat.
Der blonde Vampir warf seinen Kopf herum und starrte seinen Meister hasserfüllt an.
"Wie konntest du nur, Aro?!", zischte er ihn an.
"Wovon sprichst du?", gab der schwarzhaarige Vampir zurück und schaute ihn mit einem unschuldigen Blick an.
"Comtesse Marguerite... sie ist meine Comtesse!"
"Was soll das heißen, deine Comtesse?"
"Oh, du weißt ganz genau, von wem ich spreche! Meinst du, ich würde ihre Stimme nicht wiedererkennen? Meine süße, kleine Comtesse... warum willst du sie mir wegnehmen!"
"Moment mal! Wovon redest du eigentlich?"
"Comtesse Marguerite ist die junge Frau, die sich gegen den Wegelagerer wehrte - und du weißt das ganz genau, denn du hast sie in meinen Gedanken gesehen, ihre Stimme gehört!"
"Du meinst also, Comtesse de Rochefort und die junge Reiterin, die du beobachtet hast, sind dieselbe Person?", fragte Aro verwundert und zog seine Augenbrauen hoch.
"Ach komm! Jetzt tue nicht so, also ob du ihre Stimme nicht ebenfalls wiedererkannt hättest. Warum sonst bist du so erpicht darauf, sie für dich allein haben zu wollen?!"
"Sie ist eine wunderschöne, junge Frau und ich fühle mich zu ihr hingezogen", gab Aro zu. "Bist du denn wirklich sicher, dass die junge Reiterin und meine Marguerite ein und dieselbe Person sind?"
"Ja, verdammt!"
"Ist dir denn nie der Gedanke gekommen, dass dir deine Sehnsucht nach der jungen Reiterin, die dich so faszinierte, einen Streich spielen könnte, Caius?!"
"Hör endlich auf, mich zum Narren zu halten, Aro! Bestimmt hast du ihre Stimme sofort wiedererkannt, als sie das erste Wort an dich richtete! Warum, zur Hölle, hast du mir nichts davon gesagt?!"
"Bitte, Caius, du musst mir glauben, dass es mir wirklich nicht aufgefallen ist! Schließlich haben wir beide nur eine verhüllte Gestalt gesehen und die Stimme einer jungen Frau gehört. Aber mir ist nie in den Sinn gekommen, dass es sich bei Marguerite und deiner Reiterin um ein und dieselbe Person handeln könnte. Als ich die junge Comtesse zum ersten Mal erblickte, war ich von ihrer Schönheit sofort bezaubert und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Ich bin überaus fasziniert von Marguerite de Rochefort, kannst du das denn nicht verstehen?!"
"Natürlich verstehe ich das!", fauchte Caius ihn an. "Das verstehe ich nur allzu gut! Wer wäre nicht von einem solch mutigen, selbstbewussten Mädchen fasziniert, zumal sie auch noch so attraktiv ist wie diese Marguerite?! - Wann hast du beschlossen, mir mein Mädchen zu stehlen, Aro? War es bereits damals, als ich meine Erinnerungen mit dir teilte, oder erst, als du ihre Stimme hier in Paris wiedererkanntest?!"
"Es lag niemals in meiner Absicht, dir etwas wegzunehmen, Bruder!", versicherte ihm Aro. "Außerdem habe ich wirklich kaum mehr einen Gedanken an deine junge Reiterin verschwendet. Wie konnte ich denn ahnen, dass sie sich hier aufhält - wenn es sich denn wirklich um deine Reiterin handelt. Ich bin nämlich immer noch nicht davon überzeugt, dass sie mit Marguerite identisch ist."
"Du willst also dein mieses Spielchen mit mir weitertreiben?", stellte Caius in wütendem Ton fest und bedachte seinen Meister mit einem Blick, als ob er ihn am liebsten erdolchen würde. "Na schön, dann tue es! Aber ich werde nichts unversucht lassen, mir mein Mädchen zurückzuholen!"
"Sie ist nicht dein Mädchen!", fauchte Aro ihn jetzt seinerseits an und bleckte kurz die Zähne.
"Deins aber auch nicht!", gab der blonde Vampir zurück und knurrte leise.
Einen langen Moment starrten sich die beiden Freunde in die Augen, dann sogen sie zeitgleich die Luft ein und strafften ihre Körper.
"Na schön, versuch dein Glück", meinte Aro dann hochmütig. "Allerdings dachte ich, dass du dir aus jungen Mädchen gar nichts machst, sondern sie für alberne, junge Gänse hältst."
"Mit Ausnahme meiner kleinen Comtesse", entgegnete Caius kalt. "Ich werde sie dir nicht kampflos überlassen!"
"Deine Theatralik geht mir ganz schön auf die Nerven!"
"Was hast du denn erwartet, mein falscher Freund?! Soll ich noch Freudensprünge vollführen, weil du mir mein Mädchen stehlen willst?!"
"Es wird Marguerite jedenfalls nicht sehr gefallen, wenn du ihre Freundin, die du vorhin noch um den ersten Tanz batest, nun einfach stehenlässt", sagte Aro sarkastisch. "Mal ganz abgesehen davon, dass die Comtesse dich wahrscheinlich für den unhöflichsten Mann der Welt hält, so wie du dich ihr gegenüber gerade aufgeführt hast."
Caius schluckte, ehe er tonlos erwiderte: "Zwischen uns gibt es nicht mehr zu sagen!"
Aro nickte, wandte sich dann auf dem Absatz um und schritt ins Schloss zurück, dabei die Wut Caius' ignorierend, die er durchaus spürte...
*
Nachdem Caius und Aro gegangen waren, sah sich Marguerite mit der unangenehmen Tatsache konfrontiert, dass Guignot sie erneut um einen Tanz bat, obwohl sie ihm vorhin doch deutlich erklärt hatte, den ersten Tanz bereits jemand anderem versprochen zu haben. Zu ihrem Unglück war jener andere jedoch gerade seinem Bruder gefolgt und die Musiker schickten sich an, ihre Instrumente zu stimmen. Gewiss würden sie bald zum ersten Tanz aufspielen, einer Gavotte, wie es sich anhörte, und sie hatte keinerlei Lust, diese ausgerechnet mit Guignot zu tanzen.
"Bedaure", erwiderte Marguerite daher in distanziertem Ton und bemühte sich, ihre Stimme so kalt wie möglich klingen zu lassen, während sie es vermied, Rouven in die Augen zu sehen. "Wie Ihr wisst, habe ich den ersten Tanz bereits vergeben und mein Tanzpartner ist sicherlich gleich hier. Daher würde ich Euch empfehlen, eine andere Dame um den ersten Tanz zu bitten. Wie wäre es mit Mademoiselle de Fournier?"
"Es ist aber mein sehnlichster Wunsch, den Ball mit Euch zu eröffnen, Comtesse", beharrte Guignot.
"Ein Wunsch, den ich Euch nicht erfüllen kann, Monsieur."
"Oh, Ihr könntet schon, wenn Ihr nur wolltet. Denn ich sehe weit und breit niemandem, der sich Euch nähert. Es wäre doch überaus schade, wenn Ihr den ersten Tanz aussetzen müsstet, nur weil man Euch versetzte."
"Lasst endlich meine Nichte zufrieden, Guignot!", mischte sich da die Baronesse de Lebrunne in unfreundlichem Ton ein, worauf ihr Gemahl ihr einen ungläubigen Blick zuwarf. "Sie gab Euch deutlich zu verstehen, dass sie nicht mit Euch zu tanzen wünscht - und das ist ganz in meinem Sinne."
"Adrienne, halt dich da raus!", ermahnte Roger sie in ärgerlichem Ton, nahm sie beiseite und warf seinem Freund dabei einen entschuldigenden Blick zu. Danach entfernte er sich mit ihr im Schlepptau, wobei beide leise miteinander stritten. Marguerite konnte es nicht fassen, dass der Baron sich tatsächlich gegen sein Eheweib durchgesetzt hatte, obwohl ihre Tante ausnahmsweise einmal auf ihrer Seite war.
"Eure Antwort, Comtesse!", forderte da Guignot von ihr.
Marguerite wandte sich wieder ihm zu und erwiderte kühl: "Die kennt Ihr bereits, Monsieur, also bemüht Euch nicht länger, sondern sucht Euch eine andere Tanzpartnerin."
"Das kann unmöglich Euer Ernst sein", gab der hakennasige Mann zurück. "Ihr würdet wirklich einen Tanz aussetzen, weil Ihr demjenigen, dem Ihr den ersten Tanz verspracht, Eure Loyalität beweisen wollt, obwohl er nicht einmal rechtzeitig da ist? Möglicherweise erscheint er auch gar nicht mehr!"
"Nun, der Ball hat noch nicht begonnen, Monsieur de Guignot, und ich kann Euch versichern, dass mein Tanzpartner bereits auf diesem Fest ist. Er wird sicherlich rechtzeitig bei mir sein, wenn die Majestäten den Tanz eröffnen", erklärte Marguerite. "Und jetzt wäre ich Euch sehr verbunden, wenn Ihr aufhören würdet, mich weiterhin zu bedrängen. Das ist nicht besonders höflich und trägt keineswegs dazu bei, mich für Euch einzunehmen."
"Dann verratet mir bitte, wie man Eure Gunst gewinnen kann, verehrte Comtesse?"
"Mit Aufdringlichkeit gewiss nicht!"
"Das waren deutliche Worte, vielen Dank!", erwiderte Guignot leicht pikiert und verneigte sich etwas. "Bitte entschuldigt mich jetzt, Comtesse, denn ich werde Eurem Rat folgen."
Der hakennasige Mann wandte sich danach an Madame de Colignon, die sich gerade ein wenig mit Conte Marcus unterhielt, und sagte: "Ich wünsche Euch noch einen schönen Abend - Madame - Monsieur", bevor er sich abwandte und in der Gästeschar verschwand, ohne Marguerite noch eines Blickes zu würdigen. Louise hatte er überhaupt keinerlei Beachtung geschenkt, was die junge Gesellschafterin ganz richtig als Kränkung interpretierte.
"Was hat Monsieur de Guignot denn?", wunderte sich Madame de Colignon, die nicht auf das Gespräch zwischen Marguerite und dem hakennasigen Freund des Barons geachtet hatte, da Marcus eine Unterhaltung mit ihr begonnen hatte, nachdem seine beiden Freunde verschwunden waren.
"Er musste einsehen, dass ich zu meinem Wort stehe", erklärte das blonde Mädchen mit einem kleinen, triumphierenden Lächeln. "Es hat ihm nicht sonderlich gefallen."
"Was für ein Wort? Ich verstehe nicht ganz, mein Kind?"
"Monsieur de Guignot bat mich um den ersten Tanz und ich erklärte ihm, dass ich diesen bereits einem anderen Mann versprochen habe. Das wollte Monsieur Guignot zuerst nicht einsehen, aber ich war nicht bereit, mein Wort zu brechen - selbst dann nicht, wenn mein Tanzpartner nicht rechtzeitig zur Eröffnung des ersten Tanzes da sein wird."
"Daran ist nichts Tadelnswertes", meinte Madame de Colignon und nickte. "Vermutlich ist Monsieur de Guignot zunächst ein wenig enttäuscht, doch er fängt sich schon wieder."
"Und ich bin sicher, dass mein Bruder gleich wieder hier sein wird", versicherte Marcus lächelnd. Kaum waren ihm diese Worte über die Lippen gekommen, wandte er sich nach links und sagte: "Da ist er ja schon."
Marguerite und ihre beiden Freundinnen waren dem Blick des älteren Mannes gefolgt und in die Augen der Comtesse trat sofort ein Strahlen, als sie sah, dass sich Aro ihnen näherte, in dessen Augen es ebenfalls leuchtete. Einen Moment lang sahen sich die beiden an, dann ließ der schwarzhaarige Vampir seinen Blick auch zu den beiden anderen Frauen sowie zu seinem Freund Marcus wandern und erklärte entschuldigend: "Es tut mir sehr leid, dass ich kurz verschwinden musste, aber mein Bruder Caius wurde plötzlich erneut von einem Unwohlsein befallen. Doch der Aufenthalt an der frischen Luft tut ihm gut und er wird gewiss bald in den Saal zurückkehren. Allerdings vermag ich nicht zu sagen, ob er rechtzeitig zum ersten Tanz hier sein wird, Mademoiselle Lefevre."
"Das verstehe ich durchaus, Conte di Volturi", versicherte Louise und senkte demütig ihren Blick. "Es war ohnehin sehr gütig von Eurem Bruder, mich überhaupt zum Tanz aufzufordern."
"Warum sollte er das nicht tun?", fragte Aro verwundert. "Ihr seid eine hübsche, junge Dame von einnehmendem Wesen. Wer würde denn nicht mit Euch tanzen wollen?"
"Wie freundlich Ihr seid", murmelte die junge Gesellschafterin. "Wie kann ich Euch nur danken?"
"Indem Ihr Euer Versprechen haltet und mir den ersten Tanz mit Euch gewährt!", hörte man da eine fröhlich klingende Stimme und Louise sah erstaunt auf, ebenso wie Marguerite und Madame de Colignon, denn der junge Conte di Volturi war nun ebenfalls wieder im Raum und trat auf sie zu, lächelte sie liebenswürdig an und reichte ihr seine Hand, die Louise zaghaft ergriff. Er drückte sie leicht und murmelte: "Keine Sorge, wir werden sicherlich das schönste Paar auf dem Ball und alle Männer hier werden mich um Euch beneiden."
Die junge Gesellschafterin lachte verhalten und schüttelte den Kopf.
"Ihr seid überaus gütig, Conte di Volturi, aber ich fürchte, dass Ihr Euch in diesem Punkt irrt", meinte sie bescheiden, während ihre Wangen rosig leuchteten. "Zwischen all den vornehmen Damen auf diesem Fest bin ich doch nur ein kleines Licht, das von niemandem besonders beachtet wird."
"Nicht doch, Mademoiselle, macht Euch nicht kleiner als Ihr seid", widersprach Caius. "Bitte, glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass es mir wahrhaftig eine Ehre ist, mit Euch zu tanzen, einer kultivierten, klugen, jungen Dame, die außerdem recht ansehnlich ist. Wer Euch nicht beachtet, muss blind sein."
"Mein Bruder hat ganz recht", pflichtete Aro ihm nun bei, worauf Louise ihn überrascht ansah. "Ihr habt es wahrhaftig nicht nötig, Euch vor Personen, die sich über Euch zu stehen dünken, kleinzumachen."
"Nein, Louise, das hast du wirklich nicht", sagte nun auch Marguerite. "Und wenn bestimmte Leute nicht erkennen, welch ein wertvoller Mensch du bist, sind sie einfach nur töricht. Ich jedenfalls freue mich sehr, dass du heute mit uns auf den Ball gekommen bist. Schließlich bist du mir inzwischen so lieb, dass ich dich wie eine Schwester betrachte."
"Vielen Dank, Comtesse, wie liebenswürdig von Euch", antwortete Louise und wirkte nun fast glücklich, während Caius Marguerite mit einer Mischung aus Überraschung und Bewunderung ansah, bevor er sich erneut mit einem liebenswürdigen Lächeln an die brünette, junge Frau wandte: "Die Worte Eurer charmanten Freundin dürften doch Beweis genug dafür sein, welch wundervolles Geschöpf Ihr seid, meine liebe Louise. - Ich darf Euch doch Louise nennen, nicht wahr?"
"Wenn Ihr es möchtet", gab die Gesellschafterin schüchtern zurück und ihre Wangen färbten sich dunkler.
"Mein Name ist Caius", stellte sich der blonde Vampir noch einmal selbst vor. "Und diejenigen, die ich zu meinen Freunden zählen, dürfen mich gerne bei meinem Vornamen nennen. Also auch Ihr, liebe Louise."
Während der jüngste Vampir dies sagte, glitt sein Blick für einen Moment zu Marguerite, die das natürlich bemerkte und verstand, dass er nicht nur Louise, sondern auch sie zu seinen neuen Freunden zählte. Danach führte Caius noch einmal eine Hand seiner brünetten Tanzpartnerin zu seinen Lippen und hauchte einen Kuss darauf,
"Comtesse Marguerite", wandte er sich dann an die blonde, junge Adlige. "Für mein vorheriges Verhalten Euch gegenüber möchte ich mich nochmals entschuldigen. Es lag gewiss nicht in meiner Absicht, unhöflich zu sein, aber..."
"Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen, Conte Caius", unterbrach ihn Marguerite liebenswürdig. "Durch Eure Brüder weiß ich um Eure noch immer etwas angegriffene Gesundheit und ich hoffe aufrichtig, dass es Euch nun tatsächlich wieder besser geht und Ihr vor weiteren Unpässlichkeiten während des Balls verschont bleiben werdet."
"Danke, Ihr seid überaus gütig, Comtesse", antwortete der blonde Jüngling und wirkte erleichtert. "Und wenn es nicht zu vermessen ist, dann möchte ich Euch um den nächsten Tanz bitten."
Marguerite lächelte ihn an und nickte.
"Gern", sagte sie, ohne zu bemerken, dass Aro, der neben ihr stand, das Lächeln für einen kurzen Moment entglitt. Doch er fing sich rasch wieder, warf dabei Caius einen giftigen Blick zu und widmete sich danach wieder seiner Angebeteten.
"Nun, ich gestatte dies nur unter der Bedingung, dass Ihr danach wieder mit mir tanzt, liebe Marguerite", sagte er zu ihr.
"Aber natürlich", gab sie sofort zurück und bedachte Aro mit einem liebevollen Blick, was Caius ebenfalls bemerkte, jedoch tapfer sein Lächeln beibehielt.
"Vorausgesetzt, Comtesse Marguerite ist danach nicht zu erschöpft", mischte sich jetzt Marcus ein, der irritiert spürte, dass zwischen Aro und Caius eine sehr starke Anspannung herrschte, deren Grund er nicht recht begriff.
"Du hast selbstverständlich recht", pflichtete ihm Aro sofort bei und wandte sich an die Comtesse. "Ihr müsst mir sagen, wenn es Euch zu viel wird, meine Liebe."
"Keine Sorge, Conte Aro, so schnell werde ich nicht müde."
In diesem Augenblick trat der Großzeremonienmeister wieder auf, schlug dreimal mit einem kräftigen, harten Taktstock auf den Boden und verkündete laut: "Das Menuett!"
Gleich danach wichen die Gäste zur Seite zurück, da sich das Königspaar auf das Parkett begab und aufstellte.
"Nun, meine Liebe", wandte sich Marcus an Madame de Colignon. "Ich glaube, an diesem Tanz könnten wir auch teilnehmen. Darf ich Euch daher um die Ehre bitten, mit mir zu tanzen?"
"Mit dem größten Vergnügen", erwiderte die ältere Dame lächelnd.
Und so gesellten sich die drei Volturi-Brüder mit ihren Tanzpartnerinnen und einigen anderen zu dem Königspaar auf das Parkett...
20. Kapitel
Enttäuschte Hoffnungen sind in der Tat unerfüllte Erwartungen.
Die Hoffnung ist unverletzt.
Gjergj Perluca
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Nachdem Marguerite de Rochefort ihm zum zweiten Mal einen Korb gegeben hatte, suchte Rouven de Guignot die Gesellschaft der Fourniers, um deren Tochter Agnes um den ersten Tanz dieses Abends zu bitten. Aber als er sich ihren Eltern näherte, die beide interessiert beobachteten, wie sich viele der Gäste für das Menuett aufstellten, war von dem jungen Mädchen nichts zu sehen.
"Wo ist denn Eure reizende Tochter?", erkundigte er sich bei Fournier, der ihn daraufhin überrascht ansah.
"Nanu, Guignot, seid Ihr die Gesellschaft der Lebrunnes bereits leid?", fragte er spöttisch und grinste etwas.
"Keineswegs, ich kam in der Absicht her, Eure Tochter zum Tanz aufzufordern", antwortete der hakennasige Mann.
"Ach wirklich? Vorhin hatte es für mich ganz den Anschein, als ob Ihr Comtesse de Rochefort darum bitten würdet."
"Darin befindet Ihr Euch im Irrtum, Fournier, es verhielt sich völlig anders: Die Comtesse stellte mich ihrer Freundin vor, weil sie hoffte, dass ich mit dieser tanzen würde. Darauf habe ich nur verzichtet, weil Eure liebreizende Tochter mir gegenüber den Wunsch äußerte, gerne zu tanzen. Deshalb kam ich zurück, um Mademoiselle Agnes diesen Wunsch zu erfüllen. Wo ist sie?"
"Oh, ein anderer Herr erfüllte ihr diesen Wunsch schneller als Ihr", teilte ihm Fournier süffisant mit. "Man sollte junge Damen eben nicht zu lange aus den Augen lassen! Meine Tochter vermutete nämlich ebenso wie ich, dass Ihr viel lieber mit dem Sprössling Rocheforts tanzen wolltet."
Guignots Miene verriet nicht, wie enttäuscht und überrascht er von dieser Mitteilung war.
"Wie bedauerlich, dass ich das Menuett nun leider gezwungenermaßen auslassen muss", meinte er lediglich resigniert und ließ seine Augen danach neugierig zu den Tanzpaaren gleiten, auf der Suche nach der Person, die er mehr als jede andere begehrte. Seine Augen streiften dabei kurz Agnes de Fournier, die mit einem jungen, vornehmen Mann tanzte, der nur wenige Jahre älter als sie zu sein schien. Guignot gönnte es der Kleinen, da sie ihn ohnehin nicht interessierte. Umso stärker heftete sich sein Blick auf Marguerite de Rochefort. Genau wie er befürchtet hatte, war ihr Tanzpartner der schwarzhaarige Italiener, dessen Brüder sich links und rechts von ihm befanden und mit Madame de Colignon beziehungsweise dieser Louise aufgestellt hatten. Gewiss alles andere als Zufall! Zweifellos hatten sie sich alle für den heutigen Ball heimlich verabredet, und zwar im Hause der alten Colignon, wo Marguerite mit den italienischen Adligen bekannt wurde. Wenn man die wenigen Informationen, die jetzige Paaraufstellung und die Aussage der jungen Rochefort, den ersten Tanz bereits versprochen zu haben, zusammennahm, schien all dies seine Annahmen zu bestätigen und mit plötzlicher Gewissheit erkannte er die Absicht hinter all dem.
"Was war ich bloß für ein Hornochse", schoss es Guignot durch den Kopf, während die Musik einsetzte und der Tanz begann. "Marguerite hatte gewiss den schwarzhaarigen Italiener wiedersehen wollen und Madame de Colignon fädelte dies geschickt ein. Sie steht dem eigenwilligen, kleinen Biest zur Seite und täuscht Adrienne, die dieser alten Intrigantin völlig vertraut."
Während der hakennasige Lebemann noch überlegte, ob er seine Erkenntnisse mit der Baronesse teilen sollte, drang auf einmal die Stimme Lebrunnes an sein Ohr.
"Schön, dass ich Euch endlich hier entdecke, Rouven!"
Der Angesprochene richtete den Blick zur Seite und sah seinen Freund auf sich zukommen - allein.
"Wo habt Ihr denn Eure Gemahlin gelassen?", fragte er irritiert.
"Sie traf soeben ein paar ihrer früheren Bekannten, bekam umgehend bessere Laune und plaudert jetzt angeregt mit ihnen", klärte ihn der Baron in jovialem Ton auf. "Ehrlich gesagt, geht mir mein Ehegespons in letzter Zeit ziemlich auf die Nerven."
"Dafür solltet Ihr Verständnis haben, mein Lieber. Immerhin hat Eure Gemahlin es wirklich nicht leicht mit ihrer kapriziösen Nichte, die offensichtlich Ihren eigenen Willen durchzusetzen gedenkt", murmelte Guignot verärgert und wies mit dem Kinn auf die Tanzenden. Als Roger diesem Hinweis mit den Augen folgte und Marguerite mit dem schwarzhaarigen Italiener tanzen sah, entglitten ihm fast die Gesichtszüge und es war offensichtlich, dass ihm das, was er sah, ganz und gar nicht gefiel.
"Die eigenwillige Kleine hat also tatsächlich diesen geschniegelten Lackaffen Euch vorgezogen", grummelte der Baron, ehe er sich im Flüsterton erneut seinem Freund zuwandte. "War es nicht ursprünglich Eure Absicht, Euch um Marguerite zu bemühen?"
"Das ist wahr und ich forderte sie sogar zweimal zum Tanz auf, aber das Mädchen will partout nichts von mir wissen, während sie ganz offensichtlich großen Gefallen an der Gesellschaft dieses italienischen Grafen findet."
"Völlig unverständlich für mich", gab Roger missmutig zurück. "Mit diesen Italienern stimmt irgendetwas nicht, das hab ich im Gespür."
"Nun, das Fremde besitzt wohl seinen ganz eigenen Reiz, der auf Eure Nichte zweifellos große Faszination ausübt."
"Vor langer Zeit gab es mal ein italienisches Ehepaar, das großen Einfluss auf die Königinmutter hatte und als heimliche Herrscher Frankreichs fungierte", murrte Roger leise und darauf bedacht, dass ihn niemand hörte. "Ich nahm an, dass diese Zeit längst der Vergangenheit angehört - und nun dies!" [1]
"Der Vergleich hinkt etwas", erwiderte Rouven spöttisch. "Eure Nicht ist zwar reizend und von edlem Geblüt, aber weder Thronfolgerin noch Angehörige des Königshauses."
"Wie auch immer", tat der Baron diesen Einwand ungeduldig ab. "Ihr wollt Marguerite doch nicht einfach diesem schmierigen Italiener überlassen, oder?! Bemüht Euch mehr um sie!"
"Momentan scheint dies zwecklos zu sein! Eure Nichte lehnt mich ab - und zu allem Überfluss scheint Eure Gemahlin auch plötzlich etwas gegen mich zu haben."
"Ach was! Nehmt das bloß nicht so ernst! Adrienne ist vermutlich nur nervös, da man ihr nach langer Zeit endlich wieder erlaubte, bei Hofe zu erscheinen. Sie beruhigt sich schon wieder! Seht Ihr lieber zu, dass Ihr meine Nichte für Euch gewinnt! Es gefällt mir gar nicht, dass sie sich in Gesellschaft dieses italienischen Grafen und seiner Brüder befindet. Dieses Trio wirkt doch irgendwie seltsam, nicht?"
"Es sind eben Italiener", tat Guignot es ab. "Vermutlich findet Marguerite sie deshalb so interessant und ihre Neugierde wird von Madame de Colignon noch gefördert. Wer weiß, vielleicht kennt Eure Nichte die italienischen Grafen schon länger als Ihr ahnt?"
"Wie meint Ihr das?"
"Die drei Herren kamen doch sehr zielstrebig auf Madame de Colignon zu und sie stellte sie uns als ihre neuen Nachbarn in Paris vor. Aber vielleicht ist die alte Dame schon vorher mit den Brüdern bekannt gewesen, weshalb diese sich ein Haus in der Nähe ihres Hauses gemietet haben. Womöglich wünscht Madame de Colignon, dass sich Marguerite mit einem der drei Grafen vermählt. Ihr wisst doch, dass die alte Dame mit vielen einflussreichen Leuten bekannt ist. Darum würde es mich nicht wundern, wenn sie feine, intrigante Fäden spinnt."
"Haltet Ihr das wirklich für möglich?", fragte der Baron überrascht, aber mit einem unverkennbaren Ton des Zweifels in der Stimme. "Madame de Colignon erschien mir stets als eine vertrauenswürdige Person, weshalb es mir schwerfällt, Euren Verdacht zu teilen."
"Weshalb sonst ist sie so vertraut mit den drei Brüdern, die sie angeblich erst seit zwei Wochen kennen will? Nein, nein, Madame de Colignon versucht, uns zum Narren zu halten, um ihre eigenen Pläne ausführen zu können; und mir scheint, Eure hübsche Nichte hat nicht das Geringste dagegen, so verliebt, wie sie ihren derzeitigen Tanzpartner anschaut."
"Mag sein, dass Madame de Colignon die Conte di Volturi kennt und sich nichts dabei dachte, sie mit meiner Nichte bekannt zu machen, als sich Marguerite gerade bei ihr aufhielt."
"Ja, ja, der feinen Dame traut niemand zu, Intrigen zu spinnen", spottete Guignot, der davon überzeugt war, sie durchschaut zu haben. "Roger, lasst Euch nicht von der vertrauenswürdigen Fassade der Madame de Colignon blenden. Sie war doch gut mit Eurem Schwager bekannt, nicht wahr? Und auch, wenn er inzwischen nicht mehr unter uns weilt, gestattet mir, Euch gegenüber ehrlich zu sein. Der Comte de Rochefort stand in Diensten Richelieus und zweifellos wisst Ihr, dass Seine verstorbene Eminenz einen eigenen Geheimdienst unterhielt. Wer sagt denn, dass nicht auch seine gute Bekannte darin eingebunden war?"
"Unmöglich! Es ist bekannt, dass die Königin Madame de Colignon sehr schätzt!"
"Eine gute Spionin bleibt immer unentdeckt!", raunte Guignot seinem Freund ins Ohr. "Wer würde schon vermuten, dass eine respektable Dame der Gesellschaft heimlich in den Diensten der 'roten Robe' gestanden hat?"
"Was hat das alles mit meiner Nichte zu tun?", wollte Roger unwillig wissen.
"Nun, ich wollte Euch darauf aufmerksam machen, dass eine gute Spionin jeden zu täuschen vermag und sich sicherlich darauf versteht, Intrigen zu spinnen. Da Marguerite die Tochter eines lieben Freundes ist und die Madame vielleicht darum bat, Ihr bei der Suche nach einem Ehemann zu helfen... Mon Dieu, muss ich wirklich deutlicher werden, Roger?!"
"Obwohl ich es kaum glauben kann, vermag ich Eure Vermutungen nachzuvollziehen", wisperte der Baron tonlos. "Und wenn Ihr damit recht hättet, wäre das Verhalten der Madame de Colignon in der Tat höchst verwerflich... das Vertrauen meiner Frau zu missbrauchen, die ihr unsere Nichte für mehrere Tage im Dezember anvertraute, und sie in Wirklichkeit zu hintergehen, indem sie Marguerite mit italienischen Adligen bekannt macht..."
"Zeit genug, um gemeinsam Pläne zu schmieden, lieber Freund."
"Aber Ihr könntet Euch auch irren, Rouven."
"Es gibt Mittel und Wege, um das herauszufinden."
"Und wie?"
"Darüber werden wir uns ein anderes Mal bei einem Treffen unter vier Augen nach diesem Abend unterhalten."
***
Nichtsahnend von der vermeintlichen Erkenntnis des Rouven de Guignot genoss Marguerite das Menuett mit Aro, wobei sie genügend Gelegenheit hatten, sich an den Händen zu berühren und verliebt anzuschauen.[2 ] Es störte die beiden dabei gar nicht, dass sie bei den Drehungen manchmal auch andere Paare an den Händen berührten, so lange sie sich nur nicht aus den Augen verloren.
"Ich fürchtete schon, dass Ihr nicht zum Ball erscheint", gestand Marguerite schließlich schüchtern.
"Um nichts auf der Welt hätte ich es versäumt, mit Euch zu tanzen, Comtesse", gab er zurück. "Seit Tagen kreisten meine Gedanken unentwegt darum."
"Mir ging es ebenso, denn ehrlich gesagt, habe ich mich ein wenig vor dem Ball gefürchtet und vor all den fremden Leuten."
"Sie scheinen Euch gut aufgenommen zu haben, meine Liebe, und wie ich hörte, wurdet Ihr bereits den Majestäten vorgestellt."
"Das ist wahr und es kam ganz unerwartet. Plötzlich erschien ein Diener und richtete mir aus, dass die Majestäten mich zu sehen wünschten. Ein wenig seltsam, wie ich finde."
"Warum?"
"Ich war die einzige Debütantin, die ohne ihre Verwandten vor das Königspaar geführt wurde. Das gibt mir schon zu denken. Was meint Ihr, Conte Aro?"
"Womöglich ein Versehen."
"Nein, das glaube ich kaum. Meine Verwandten erhielten doch genau wie ich eine Einladung."
"Die hohen Herrschaften haben Launen, meine Liebe, Ihr solltet Euch nicht so viele Gedanken darüber machen. Das Wichtigste ist doch, dass Ihr bei den Majestäten einen guten Eindruck hinterließet und ich zweifle nicht daran, dass Euch dies gelungen ist."
"Vielen Dank, Conte Aro, es ist sehr freundlich von Euch, so gut von mir zu denken, auch wenn ich es gar nicht verdiene."
"Wie kommt Ihr darauf, dass man anders als gut über Euch denken könnte, liebe Marguerite?"
"Nun ja, meine Bemerkung über meine Tante neulich war sehr unangebracht. Ich muss mich nochmals dafür entschuldigen, dass ich Euch gegenüber meine Zunge nicht im Zaum halten konnte."
"Nicht doch! Ich finde Eure Offenheit entzückend und nachdem ich mit Eurer Tante nun persönlich bekannt gemacht wurde, muss ich gestehen, dass sie auf mich den Eindruck einer überaus strengen Dame macht, die sehr viel auf Konventionen gibt und es damit allzu genau nimmt."
"Tja, jedenfalls wirkt es so."
"Welch seltsame Bemerkung, liebe Marguerite, was wollt Ihr damit sagen?"
"Verzeiht mir, dass ich mich schon wieder vergaß."
"Oh, ich verzeihe Euch alles, liebste Comtesse", erwiderte Aro und grinste ein wenig. Natürlich wusste er genau, was das junge Mädchen, das er innerlich anbetete, damit meinte. Trotz ihrer Jugend und Unerfahrenheit besaß Marguerite ein erstaunliches Gespür für die wahre Natur eines Menschen, zweifellos eine besondere Begabung, die es ihr ermöglichte, denjenigen nach kurzer Zeit zu durchschauen. Deshalb hatte das junge Mädchen den Charakter ihrer heuchlerischen Tante längst erkannt, ohne dass es ihr bewusst war.
"WAS genau möchtest DU der Comtesse verzeihen, Aro?", erkundigte sich da Caius interessiert, der plötzlich wieder in der Reihe neben ihm stand. "Ich denke nicht, dass die junge Dame etwas getan hat, dass DU ihr verzeihen müsstest."
"Unser Gespräch war privat und geht dich nichts an!", wies sein Bruder ihn zurecht, während er seine Tanzpartnerin und Louise, die sich bei einer Drehung gerade etwas von den Herren entfernt hatten, mit einem freundlichen Lächeln bedachte. "Kümmere dich lieber um Mademoiselle Lefevre, sie ist doch ein reizendes Kind, nicht wahr?"
"Ja, das muss ich zugeben", meinte Caius, der seine Tanzpartnerin ebenfalls anlächelte. "Bisher kam kein einziges, albernes Wort aus ihrem Munde. Eine sehr angenehme Gesellschaft."
Nach diesem kleinen Wortwechsel schritten die beiden Brüder auf ihre Damen zu und tanzten weiter. Etwas später fanden sich Caius und Aro erneut nebeneinander und der schwarzhaarige Vampir konnte nicht an sich halten, dem jüngeren gegenüber leise zu bemerken: "Im Übrigen führt diese Baronesse de Lebrunne nichts Gutes im Schilde, was unsere kleine Comtesse betrifft."
Caius warf seinem Meister einen überraschten Blick zu, doch er fand keine Gelegenheit mehr, ihn näher auszufragen. Darum geduldete er sich, bis das Menuett zu Ende war und es eine kleine Pause gab, die allen die Gelegenheit gab, sich ein wenig zu erfrischen.
"Aro, auf ein Wort", bat er ihn, ergriff seinen Ärmel und zog ihn in eine Nische des großen Saales, wo sie ungestört waren.
"Ach, sprichst du wieder mit mir?", fragte der schwarzhaarige Vampir spöttisch.
"Ja, aber nur, weil ich mich um die kleine Comtesse sorge", gab Caius bissig zurück, bevor sich seine ärgerliche Miene in eine besorgte verwandelte. "Was sagtest du da vorhin über die Tante von Marguerite?"
"Ein böses Weib", raunte Aro ihm zu und machte dabei ein ernstes Gesicht. "Hör zu, Bruder, es tut mir leid, dass du glaubst, ich hätte dich hintergangen. Aber ich schwöre dir, dass es ohne jede Absicht geschah. Falls die junge Comtesse tatsächlich jene Reiterin sein sollte, in die du dich verliebt hast, dann werde ich mich nicht zwischen euch beide stellen, wenn Marguerite dir den Vorzug gibt."
"Was? Ist das dein Ernst?"
"Ja, ich gebe dir mein Wort darauf!"
"Aber du sagtest doch, dass du selbst in sie verliebt seist."
"Das entspricht völlig der Wahrheit, Bruder, aber es liegt nicht in meiner Macht, sie dazu zu bringen, dass sie mich ebenfalls liebt - so etwas würde ich niemals tun. Ich wünsche mir natürlich, dass sie meine Gefühle erwidert, aber wenn sie sich für dich entscheidet oder für jemand anderen, werde ich dies akzeptieren."
Caius starrte seinen Meister an, als sähe er ein fremdes Wesen vor sich.
"Was ist nur mit dir geschehen, Aro? Seit wann verzichtest du darauf, jemandem deinen Willen aufzuzwingen?", murmelte er verwundert. "Du musst ja s e h r verliebt in sie sein."
"Lassen wir das!", entgegnete der ältere Vampir in ernstem Ton. "Wir sind Brüder und sollten uns nicht gegenseitig bekriegen. Vielmehr bitte ich dich, mich dabei zu unterstützen, Marguerite vor den bösen Absichten ihrer Tante zu schützen. Du musst nämlich wissen, dass Adrienne de Lebrunne alles tun wird, um die Comtesse aus dem Weg zu schaffen. Diese Frau ist gewissenlos und geht über Leichen."
"Und da bist du dir absolut sicher?", fragte Caius, während er seinen Blick durch den Saal schweifen ließ, bis seine Augen die Baronesse fanden. "Marguerite ist die Tochter ihres Bruders. Warum will sie sie denn loswerden? Ist sie so eine große Last für sie?"
"Das auch, aber hauptsächlich geht es Madame de Lebrunne darum, an das Erbe ihrer Nichte zu kommen, denn sie glaubt, dass es allein ihr zusteht", klärte Aro seinen Bruder im Flüsterton auf. "Deshalb hat sie diesen Guignot auf unsere kleine Comtesse angesetzt, der sie verführen soll. Bisher hatte er damit glücklicherweise keinerlei Erfolg, aber diesem Kerl traue ich alles zu. Er wird nicht davor zurückschrecken, das Mädchen zu entführen, wenn es sein muss."
"Warum sollte er das tun?"
"Er ist der Liebhaber von Adrienne de Lebrunne und sie hat ihm eine besondere Belohnung dafür versprochen, dass er Marguerite aus dem Weg räumt."
Caius starrte seinen Meister nun zum zweiten Mal überrascht an, dann murmelte er fassungslos: "Die beiden unterhalten eine Liebesbeziehung?"
"Nein, ich glaube, mit Liebe hat das nichts zu tun, höchstens mit Lust", gab Aro trocken zurück, während er nun ebenfalls zu Adrienne und Guignot schaute. "Da du gleich mit Marguerite tanzen wirst, gehe ich mal zu dem eitlen Fatzke, der sich nicht entblödet, mit dem Eheweib seines Freundes das Bett zu teilen. Vielleicht finde ich heraus, was genau er vorhat."
"Ja, tue das", bestärkte ihn Caius. Vergessen war das Zerwürfnis von vorhin, da sein Meister inzwischen sein Unrecht eingesehen und sich entschuldigt hatte. Es sprach außerdem für Aro, dass er es trotz seiner Verliebtheit in Marguerite dem Schicksal überlassen wollte, für wen sich das Mädchen letztendlich als Partner entschied. Es gab also noch eine Chance, sie für sich zu gewinnen; und was diese Madame de Lebrunne und ihre Helfershelfer betraf, würden Aro und er alles tun, um deren Pläne zu durchkreuzen und die kleine Comtesse zu beschützen.
Voller Hoffnung ging der blonde Vampir im Saal umher und suchte nach Marguerite und ihrer Freundin, während er Adrienne de Lebrunne, die sich lebhaft mit einigen anderen Frauen ihres Alters unterhielt, nicht aus den Augen ließ. Dabei rief er sich ins Gedächtnis, dass dieses grässliche Weib ihren Ehemann, den feisten Roger, hinterging. Zwar war ihm der Baron nicht sonderlich sympathisch, schien aber harmlos zu sein, während jene Frau dort drüben für ihn immer mehr die Züge seiner Mutter annahm... seiner Mutter, die ihn einst verriet und an einen brutalen Mann verkaufte... und Adrienne wollte ihre eigene Nichte aus dem Weg räumen lassen, um an ein Erbe zu kommen, das ihr nicht zustand... sie war wie seine Mutter... einfach widerlich.
Fast wie in Hypnose näherte er sich Adrienne de Lebrunne, bleib vor ihr stehen und verneigte sich, als sie erstaunt zu ihm sah.
"Zwar werde ich gleich mit einer anderen Dame tanzen, aber Ihr würdet mir eine große Freude machen, wenn Ihr mir den Tanz danach gewähren würdet", behauptete Caius und lächelte die Baronesse an. Sie erwiderte sein Lächeln und es war unverkennbar, wie geschmeichelt sie sich von seiner Aufforderung fühlte.
"Sehr gern, Monsieur", antwortete Adrienne.
Caius verneigte sich nochmals und wandte sich ab, um Marguerite ausfindig zu machen. Um ihre verräterische Tante würde er sich danach kümmern. Es wäre bestimmt ganz leicht, diese um den Finger zu wickeln... so, wie es leicht sein würde, sie verschwinden zu lassen. Falschen Schlangen sollte man kein Pardon gewähren...
***
"Nun, Monsieur de Guignot, könnt Ihr dem Tanzen kein Vergnügen abgewinnen?", fragte Aro mit breitem Lächeln, als er sich zu dem hakennasigen Mann und dem Baron de Lebrunne gesellte.
"Doch, aber die junge Dame, die ich aufzufordern gedachte, gab einem anderen den Vorzug", antwortete Rouven mit unverkennbarer Verärgerung in der Stimme. "Bestimmt habt Ihr den Tanz mit Comtesse de Rochefort sehr genossen, nicht wahr?"
"Sie ist eine überaus reizende, junge Dame", bestätigte Aro und nickte leicht, sich dabei etwas mit dem Kopf in Richtung des Barons neigend. "Gewiss erfüllt es das Herz Eurer Gemahlin und das Eure mit großem Stolz, ein so wohlerzogenes junges Mädchen bei Hofe einführen zu dürfen. Wie ich hörte, wurde Comtesse de Rochefort bereits den Majestäten vorgestellt."
"Ja, das trifft zu", erwiderte Lebrunne distanziert. "Allerdings weiß ich nicht, ob unsere Nichte tatsächlich einen so guten Eindruck bei den Majestäten hinterließ, wie Ihr offensichtlich zu glauben scheint. Sie ist eine sehr eigenwillige, junge Dame."
"Ein Vorrecht der Jugend", meinte der Vampir nachsichtig. "Außerdem stellt es doch eine reizvolle Herausforderung dar, ein junges Mädchen durch Zeichen der Zuneigung zu zähmen, nicht wahr? Alles andere wäre recht langweilig, findet Ihr nicht auch?"
"Ist das tatsächlich Eure Meinung?", fragte Rouven überrascht, während sich der Mund Lebrunnes zu einem leicht amüsierten Grinsen verzog.
"Oh ja, so eine kleine Frau bedarf der Führung, mein lieber Freund", antwortete Aro und berührte den hakennasigen Mann in einer freundschaftlichen Geste leicht am Arm. "Es ist das, was sich junge Mädchen insgeheim wünschen, Monsieur Guignot, damit sie zu Ihrem Gatten aufsehen können. Wer das Glück hat, die Zuneigung von Comtesse de Rochefort zu gewinnen, wird mit ihr keine großen Probleme haben. Sie ist überaus liebenswert."
"Ja, in der Tat", pflichtete ihm Lebrunne bei. "Dennoch ist meine Nichte nach meinem Dafürhalten noch etwas zu unreif, um unter die Haube zu kommen."
"Ach, tatsächlich? Ich glaube, dass Ihr Euch in diesem Punkt irrt, mein lieber Baron."
"Tragt Ihr Euch etwa mit dem Gedanken, zu heiraten, Conte di Volturi?", erkundigte sich nun Rouven misstrauisch und beäugte sein Gegenüber mit einem finsteren Blick.
"Das lag eigentlich nicht in meiner Absicht", gab Aro zu. "Zwar liebe ich die Gesellschaft schöner, liebenswürdiger, weiblicher Wesen, aber falls ich mich binde, dann nur aufgrund einer starken Zuneigung. Alles andere wäre doch unerträglich, findet Ihr nicht auch, Monsieur de Guignot?"
"Dem will ich keinesfalls widersprechen", gab der hakennasige Mann zurück, ohne dass sich seine immer noch missmutige Miene zu dem Anflug eines Lächelns verzog. "Meine Zuneigung zu einer bestimmten Dame ist jedenfalls so stark, dass ich mich ernsthaft mit Heiratsgedanken trage."
"Dann hoffe ich für Euch, dass das Geschöpf, dem Eure Zuneigung gilt, Eure Gefühle erwidert."
"Vielen Dank, Conte di Volturi", kam es aalglatt über die Lippen Guignots, der seinen Blick nun wieder auf die Gästeschar richtete, in der Hoffnung, Marguerite unter ihnen ausfindig zu machen. Doch sie schritt bereits an der Hand des blonden, jungen Conte di Volturi auf die Tanzfläche zurück. Hastig suchten Rouvens Augen daraufhin ihre Freundin, die er aufzufordern gedachte, um sie über Madame de Colignon und ihre Beziehung zu den italienischen Grafen auszufragen. Aber Mademoiselle Lefevre wurde gerade von Fournier aufgeforderte, auf den Rouven gar nicht mehr geachtet hatte. Verdammt, heute Abend schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben!
Verärgert wandte er sich erneut an Aro di Volturi.
"Wie ich bemerkt habe, tanzte einer Eurer Brüder mit der Freundin von Comtesse de Rochefort. Kennt Ihr Mademoiselle Lefevre näher?"
"Nein, gar nicht!", gab der schwarzhaarige Vampir zurück. "Wir wurden erst vor kurzem durch Madame de Colignon mit der Comtesse und Ihrer Freundin bekannt gemacht."
"Und wie findet Ihr Mademoiselle Lefevre?"
"Sie ist ebenso liebenswürdig wie ihre Freundin."
"Louise ist in der Tat ein überaus nettes Mädchen", mischte sich nun Baron de Lebrunne in die Unterhaltung der beiden Männer ein. "Wie ich hörte, holte mein verstorbener Schwager - Gott hab ihn selig - sie vor ein paar Jahren in seinen Haushalt, damit seine Tochter nicht völlig allein aufwüchse. Die beiden sind sehr vertraut miteinander, glaube ich, fast so wie Schwestern."
"Ist diese Louise denn aus gutem Hause?", erkundigte sich Guignot interessiert.
"Keine Ahnung, darüber weiß ich nichts", erwiderte Lebrunne gleichgültig. "Doch so, wie ich meinen Schwager aus der Erinnerung kenne, dürfen wir getrost davon ausgehen, dass er nur ein Mädchen aus guter Familie und mit einem tadellosen Leumund in der Nähe seiner Tochter dulden würde. Womöglich entstammt Mademoiselle Lefevre einem verarmten Adelsgeschlecht, wer weiß das schon? Da sie keine Mitgift besitzt, ist die Aussicht, hier einen Ehemann zu finden, für sie nicht sehr hoch."
"Wer sagt dann, dass Mademoiselle Lefevre keine Mitgift besitzt?", fragte Aro spöttisch. "Möglicherweise wird diese erst am Tage Ihrer Heirat ausgezahlt, um Goldgräber von ihr fernzuhalten."
"Ach, kommt schon, Conte di Volturi, das glaubt Ihr doch nicht wirklich!", antwortete der Baron und lachte ein wenig. "Louise ist ein braves Mädchen und wenn sie Glück hat, findet sie einen reichen Mann, der sie als Mätresse aushält."
"Einer gebildeten, jungen Dame aus gutem Hause stehen gewiss noch andere Wege offen", gab Aro in selbstsicherem Ton zurück, dann wandte er sich um, da er spürte, dass sich ihnen ein weibliches Wesen näherte. Es war ein hübsches, junges Ding mit leuchtenden Augen, das zielstrebig auf seine Gesprächspartner und ihn zukam.
"Mademoiselle Fournier", begrüßte Rouven das Mädchen, verzog seinen Mund endlich zu einem kleinen Lächeln und deutete eine leichte Verneigung in ihre Richtung an. "Bedauerlicherweise kam ich zu spät, um Euch zum ersten Tanz aufzufordern. Bitte, verzeiht mir."
"Nun, das muss ich mir noch überlegen", erwiderte sie kokett, doch ihr Lächeln verriet bereits, dass sie Guignot keinesfalls böse war. Dann ließ sie ihren Blick kurz zu Aro schweifen, um danach ihre Augen fragend auf den hakennasigen Mann zu richten.
"Dies ist Conte di Volturi", sagte Guignot daraufhin und wandte sich dann Aro zu. "Darf ich Ihnen Agnes Fournier vorstellen, die Tochter eines guten Freundes?"
Der schwarzhaarige Vampir ergriff die Hand des jungen Mädchens, führte sie zum Mund und deutete einen Handkuss an, während er ihr ein freundliches Lächeln schenkte.
"Es ist mir ein Vergnügen, Eure Bekanntschaft zu machen, Mademoiselle Fournier", behauptete er dabei und amüsierte sich darüber, dass die Wangen des Mädchens sich röteten. "Heute Abend habe ich das Glück, von schönen Damen umringt zu sein. Darf ich um diesen Tanz bitten, mein Fräulein?"
"Vielen Dank, sehr freundlich von Euch", erwiderte Agnes liebenswürdig und lächelte Aro freundlich an. "Aber ich muss gestehen, dass ich ein wenig erschöpft von dem ersten Tanz bin und mich etwas ausruhen möchte, ehe ich mich wieder aufs Parkett wage. Stamm Ihr aus Italien, Conte di Volturi?"
"Ja, so ist es, Mademoiselle Fournier", bestätigte der schwarzhaarige Vampir. "Und Ihr seid wohl heute Abend auch zum ersten Mal bei Hofe, richtig?"
"Dies entspricht der Wahrheit", gab Agnes zu und schaute dann wieder auf Rouven, der allerdings kaum einen Blick für das hübsche Mädchen übrig hatte, sondern sich erneut Aro zuwandte.
"Aus welchem Teil Italiens stammt Ihr eigentlich?", erkundigte sich der hakennasige Mann lauernd.
"Aus einem der ältesten Gebiete der Toskana", gab der Vampir gelassen zurück. "Das Meer ist nicht sehr weit und ich denke, dass dies jungen Damen überaus gefällt..."
Aro ließ bei dem letzten Satz seine Augen zu Agnes gleiten, die er unentwegt anlächelte.
"Einem der ältesten Gebiete?", griff Rouven die vage Andeutung auf.
"Ja, wenn Euch der Begriff Etrusker etwas sagt", gab der Vampir zurück.
"Warum nennt Ihr mir nicht die Stadt, aus der Ihr kommt, Conte di Volturi?"
"Das wäre nur dann relevant, wenn ich Euch jemals in unsere Familienresidenz dort einladen wollte - doch das ist nicht der Fall. Aufdringliches Verhalten missfällt mir sehr, während ich es durchaus zu schätzen weiß, dass Mademoiselle Fournier mir mit leuchtenden Augen lauscht, ohne mich aushorchen zu wollen. Womöglich könnte sie eines Tages eine Einladung erhalten."
Aro tauschte nach diesen Ausführungen wieder einen Blick mit Agnes aus, deren Wangen nun feuerrot glühten. Rouven bemerkte dies ebenfalls, was seine Eifersucht auf den gelassen daherredenden Mann ihm gegenüber um ein Vielfaches steigerte.
"Ohne Erlaubnis Ihres Vaters wird die Mademoiselle nirgendwo hingehen!", stieß der hakennasige Mann daraufhin aus und erntete jetzt einen verärgerten Blick der hübschen Agnes.
"Nun, die Meinung meines Vaters darüber hängt davon ab, welchen Eindruck er von Conte di Volturi gewinnt", sagte das Mädchen kühl und musterte ihren Schwarm missbilligend. Aro beobachtete dies voll innerem Vergnügen, da sich die Gefühle der kleinen Fournier für Guignot in diesem Augenblick zu wandeln schienen.
"Euer Vater ist - glaube ich - noch nicht mit diesem Herrn bekannt gemacht worden", giftete Rouven sie an, wobei er in diesem Augenblick sämtliche Sympathien, die Agnes ihm gegenüber jemals gehegt hatte, verspielte. Sie blitzte ihn kurz mit ihren dunklen Augen an, bevor sie sich an Baron de Lebrunne wandte und bat: "Wärt Ihr wohl so freundlich, meinen Vater mit Conte di Volturi bekannt zu machen?"
"Es wird mir ein Vergnügen sein", versprach Roger und verneigte sich leicht vor dem jungen Mädchen, Aro musterte den Baron mit einem schelmischen Lächeln, bevor er sich wieder Agnes zuwandte, sich leicht vor ihr verneigte und bat: "Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, mir den nächsten Tanz zu schenken?"
"Mit dem größten Vergnügen, Conte di Volturi", erwiderte das Mädchen. "Wenn Ihr mich kurz entschuldigen würdet."
Agnes knickste leicht und verschwand dann rasch in Richtung ihrer Mutter, die mit einigen anderen Damen an einem Tisch saß und sich unterhielt. Aro starrte ihr mit zufriedenem Lächeln nach und meinte dann: "Wirklich ein überaus reizendes Kind."
"Ihr findet wohl großen Gefallen an jungen Mädchen, was?", murrte Rouven in giftigem Ton, worauf sich der schwarzhaarige Vampir zu ihm umdrehte und mit einem überaus breitem Lächeln antwortete: "Wie ich bereits sagte, habe ich eine Schwäche für das schöne Geschlecht, besonders wenn es sich um solch liebenswürdige Geschöpfe wie dieses junge Mädchen eben handelt. Wie mir zu Ohren kam, teilt Ihr diese Schwäche mit mir, Monsieur Guignot."
"Wer sagt das?", wollte Rouven aufgebracht wissen.
"Oh, es ist allgemein bekannt, mein Lieber", erwiderte Aro mit sanfter Stimme und wandte sich dann an den Baron. "Wärt Ihr wohl so freundlich, mich zu Mademoiselle Fournier zu begleiten und mich jener Dame vorzustellen, von der ich annehme, dass sie ihre Mutter ist?"
"Selbstverständlich", antwortete Roger und machte sich dann mit ihm auf dem Weg dorthin.
Rouven de Guignot konnte es nicht fassen, dass sich sein alter Freund jetzt zum Handlanger dieses schmierigen Italieners machte, der hinter dessen Nichte her war. Denn Guignot glaubte keine Sekunde lang daran, dass Conte Aro di Volturi sich ernsthaft für Agnes de Fournier interessierte...
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[1] Hier sind Concino Concini und seine Ehefrau Eleonora Galigai gemeint, die mit Maria von Medici, der Königinmutter, aus Italien nach Frankreich gekommen sind und nach dem Tode Heinrichs IV. die Königinmutter, damals Regentin für Ihren noch minderjährigen Sohn Ludwig XIII., stark beeinflussten und sich auch über den jungen König lustig machten. Später bezahlte das Ehepaar dafür mit dem Leben, während Ludwig seiner Mutter stets vergab.
[2] Link zu Menuett: youtube.com/watch?v=ZrmoCqoF034
21. Kapitel
Stets findet Überraschung statt.
Da, wo man's nicht erwartet hat.
Wilhelm Busch (1832 - 1908)
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Marguerite indes tanzte gut gelaunt die Allemande mit Caius, der anscheinend alles daran setzte, sein früheres, ein wenig unhöfliches Verhalten ihr gegenüber wieder gutzumachen. Er lächelte sie an, bat noch einmal um Entschuldigung und erklärte, dass ihm einige Tage lang äußerst übel war, weshalb er erst jetzt die Gelegenheit habe, sie näher kennenzulernen. [1]
"Wie ich hörte, lebt Ihr die meiste Zeit auf Eurem Landsitz, Comtesse", begann er.
"Ja, das ist richtig. Dort bin ich aufgewachsen und eigentlich zum ersten Mal in Paris - nun ja, jedenfalls soweit ich mich erinnere", antwortete sie. "Aber ich bin in Paris zur Welt gekommen."
"Eine kluge Entscheidung Eurer Eltern, Euch nicht in dieser lasterhaften Stadt aufwachsen zu lassen", meinte Caius, der sie voller Bewunderung betrachtete.
"Euren Worten entnehme ich, dass Ihr nicht besonders viel von Paris haltet."
"Ach... für mich sind große Städte im Allgemeinen schlechte Orte, um dort unschuldige Kinder großzuziehen. Glücklicherweise seid Ihr diesem Schicksal entgangen, meine liebe Marguerite. Ihr erlaubt doch, dass ich Euch bei Eurem Vornamen nenne? Schließlich scheinen wir annähernd im gleichen Alter zu sein."
"Eurem Wunsch entspreche ich gern, mein lieber Caius."
Der Angesprochene strahlte und meinte: "Es freut mich sehr, dass Ihr meine Worte vorhin richtig verstanden habt. Denn nichts wünsche ich mir mehr als Eure Freundschaft."
"Warum ist Euch dies so wichtig?", erkundigte sich Marguerite in heiterem Ton.
"Ich finde Euch und Eure Freundin Louise sehr sympathisch."
"Ja, Louise ist wirklich sehr liebenswürdig und überaus gebildet. Darüber hinaus besitzt sie einen guten Charakter und hätte eigentlich ein besseres Leben als ihr jetziges verdient. Es gibt unter den hochstehenden Leuten leider immer noch jene, die auf Menschen herabblicken, die nicht so viel Glück hatten, in eine vornehme Familie hineingeboren zu sein."
"Ja, ich weiß genau, was Ihr meint", stimmte der blonde Vampir zu.
"Wie sehr wünschte ich mir, dass ich etwas tun könnte, um Louise ein besseres Leben zu ermöglichen", seufzte die Comtesse. "Natürlich werde ich sie gern in meine Dienste zurücknehmen, wenn ich volljährig bin oder...", Marguerite stockte, denn ihr Blick fiel in diesem Moment auf Aro, der bei ihrem Onkel und diesem Guignot stand und Agnes de Fournier gerade die Hand küsste. Caius folgte ihrem Blick, schaute dann rasch zu seiner Tanzpartnerin und erkannte die große Enttäuschung in deren Augen. In diesem Moment wurde ihm klar, dass Marguerite nur einen Mann auf der Welt liebte, nämlich seinen Meister. Er schluckte ein wenig, nahm sich dann aber zusammen und fragte: "Was habt Ihr, Marguerite?"
"Gehört es zu den Angewohnheiten Eures Bruders Aro, vielen Damen die Cour zu machen?"[2]
"Nun ja, er verhält sich im Allgemeinen gegenüber der Damenwelt immer sehr freundlich", gab Caius zu, beeilte sich jedoch schnell hinzuzufügen: "Daraus solltet Ihr jedoch keine voreiligen Schlüsse ziehen, Comtesse."
"Welche denn?"
"Nicht jeder Dame, der er mit Höflichkeit begegnet, ist er gewogen."
"Aha..."
Caius erkannte, dass er jetzt die Gelegenheit hätte, ein negatives Bild über Aro zu zeichnen und sich umso besser darzustellen. Doch er brachte es nicht über sich, da er spürte, wie viel Schmerz Marguerite allein der Anblick seines Meisters mit dem anderen jungen Mädchen bereitete, und er wollte nicht derjenige sein, der ihren Schmerz verstärkte. Schließlich empfand er selbst viel für seine hübsche Tanzpartnerin, die ihm durch ihr Mitgefühl für ihre nichtadlige Freundin noch sympathischer geworden war. Zweifellos war Marguerite in Aro verliebt und ein Herz brachte oft Gefühle hervor, die sich jeglicher Kontrolle entzogen. Sie trug wahrlich keine Schuld daran, dass sein Meister ihn zu hintergehen versucht hatte; und nur Marguerite zuliebe war er bereit, ihre Beziehung mit Aro zu akzeptieren, wenn sich aus der starken Zuneigung, die beide füreinander hegten, tatsächlich eine tiefe Bindung entwickelte. Der Gedanke, dass sie dann Teil ihrer Familie und unsterblich sein würde, tröstete Caius ein wenig und er nahm sich vor, sie dann immer zu beschützen wie ein älterer Bruder. Doch zunächst einmal galt es, sie wieder aufzumuntern.
"Aro vertritt die Auffassung, dass Freundlichkeit den gesellschaftlichen Umgang miteinander erleichtert, nichts weiter."
"Da hat er sicher recht", murmelte Marguerite, deren blaue Augen sich verdunkelten. Unverkennbar ein Zeichen ihrer Enttäuschung, was Caius seltsamerweise ebenfalls Pein verursachte. Es war, als fühle er selbst ihren Schmerz. Um sich davon abzulenken und sie beide auf andere Gedanken zu bringen, nahm er den vorherigen Gesprächsfaden wieder auf und fuhr fort: "Ihr sagtet vorhin, es sei Euer Wunsch, Louise zu einem besseren Leben zu verhelfen."
"Ja, das ist mein voller Ernst!"
"Nun, womöglich geht Euer Wunsch eines Tages in Erfüllung. In Italien wird nicht alles so streng gehandhabt."
Marguerite runzelte die Stirn und fragte: "In Italien? Wovon sprecht Ihr, Caius?"
"Möglicherweise werdet Ihr in naher Zukunft dorthin reisen, auf unseren Familienstammsitz, zusammen mit Euren beiden Freundinnen Louise und Madame de Colignon."
"Tatsächlich? Dürfen wir denn eine Einladung von Euren Brüdern und Euch erwarten?"
"Davon gehe ich aus, meine Liebe, und ich hoffe, Euch dann als meine Schwester begrüßen zu dürfen."
Marguerite starrte ihren Tanzpartner ungläubig an, dann begann die Andeutung eines Lächelns sich auf ihren Zügen abzuzeichnen.
"Ist das Euer Ernst, Caius?"
"Ja, meine liebe Marguerite. Ein neues Leben, fern von aller Missgunst und Hofintrigen."
"Ach, wenn es doch wahr wäre", seufzte das Mädchen sehnsüchtig. "Ich möchte es zu gern glauben."
"Warum zweifelt eine so schöne, liebenswürdige Frau wie Ihr daran, die Zuneigung eines Mannes zu erringen? Aro verriet mir unter vier Augen, dass er es kaum erwarten könne, Euch wiederzusehen und ich verstehe ihn nur allzu gut, denn Ihr seid bei weitem das bezauberndste Wesen in diesem Ballsaal."
"Ihr macht mich ganz verlegen", hauchte Marguerite, deren Wangen sich bei seinen Worten rötlich verfärbten. Dann drehten sich die beiden ein letztes Mal und der Tanz war beendet. Caius bot ihr seinen Arm und geleitete sie zu einer Nische, in der sie sich allein unterhalten konnten.
"Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr das, was ich Euch über Aros Zuneigung zu Euch andeutete, vorerst für Euch behieltet", bat er sie leise. "Mein Bruder wäre sicherlich sehr wütend, wenn er davon wüsste."
"Natürlich versichere ich Euch meiner Verschwiegenheit", versprach Marguerite und zeigte wieder ein strahlendes Lächeln. Caius glaubte, es vor innerlicher Pein kaum zu ertragen, rang sich jedoch ein freundliches Lächeln ab, küsste ihre Hand und verließ sie dann rasch, um an die frische Luft zu eilen. Er wollte der Comtesse, die nicht ahnte, welche Gefühle er für sie hegte, keinesfalls seine Enttäuschung zeigen - und auch Aro sollte diese nicht zu Gesicht bekommen, doch er benötigte etwas Zeit, um sich wieder zu fangen.
Währenddessen verharrte Marguerite immer noch in der Nische und starrte wie in Trance auf die Hofgesellschaft, deren Stimmengewirr in ihrem Kopf nur als dumpfes Raunen widerklang, konnte sie es doch kaum fassen, was Caius di Volturi ihr gerade eben andeutete: Aro hegte aufrichtige Zuneigung zu ihr... ob das wirklich der Wahrheit entsprach? Sein jüngerer Bruder schien sich dessen jedenfalls ziemlich gewiss zu sein und seine Komplimente ihr gegenüber, die Andeutung, sie bald in Italien auf dem Familienstammsitz der Volturi als eine Schwester begrüßen zu dürfen, ließen den Schluss zu, dass Aro ernste Absichten ihr gegenüber hegte. Obwohl Marguerite Aro kaum kannte, erfüllten die Worte von Caius ihr Herz mit Hoffnung und unendlichem Glück. Als sie ihren Landsitz verließ, hielt sie es noch für völlig abwegig, sich jemals verlieben zu können. Aber nun war es geschehen, ohne dass sie es beabsichtigt hatte... und wenn Aro tatsächlich um ihre Hand anhielt?
In diesem Augenblick trat Baron de Lebrunne vor sie, grinste sie an und fragte: "Nanu, schönes Kind, so allein? Du bist doch nicht etwa schon ermüdet vom Tanz?"
"Keinesfalls, Onkel, es ist nur gerade eine Pause", erwiderte sie höflich, sich innerlich wünschend, dass der Mann ihrer Tante gleich wieder verschwand. Er verhielt sich ihr gegenüber zwar immer nett, aber nichtsdestotrotz empfand sie seine Nähe als unangenehm. Schließlich hatte er bislang immer das getan, was seine Frau wünschte. Aber was sollte man von einem Mann, der unter dem Pantoffel seines Weibes stand, auch anderes erwarten?
"Wenn das so ist, hast du sicherlich nichts dagegen, mir den nächsten Tanz zu schenken, oder? Bleibt ja schließlich in der Familie, nicht?", sagte der Baron belustigt und lachte etwas.
Marguerite wollte gerade ihr Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass sie den nächsten Tanz auszusetzen gedachte, als die Stimme des Zeremonienmeisters laut verkündete: >La Courante!< und sie sah, wie Aro Agnes Fournier mit galantem Lächeln auf die Tanzfläche geleitete. Sie spürte den leisen Stachel der Eifersucht und antwortete daher ohne zu überlegen: "Gern."
Ihr Onkel wirkte überrascht, lächelte dann verlegen und geleitete sie nun seinerseits in die Mitte des Saals, was vor allem seiner Angetrauten nicht entging. Auch Madame de Colignon fand sich dort zusammen mit Marcus di Volturi ein und Aro gesellte sich mit seiner jungen Tanzpartnerin zu ihnen, so dass sie zusammen eine Dreier-Gruppe bildeten. [3]
"Wie schön, dass wir wieder vereint sind", bemerkte der schwarzhaarige Vampir mit Blick auf Marguerite.
"Scheint nicht gerade so, als ob Ihr mich vermisst hättet", gab die Comtesse kühl zurück, worauf Aro lächelte, da er aus ihrer Antwort ihre Eifersucht herauszulesen verstand. Offensichtlich waren ihre Gefühle für ihn heftiger als die kurzen Berührungen vorhin ihm verraten hatten. Ausgezeichnet!
"Menschen neigen oft zu Irrtümern", bemerkte er daher, um seine Angebetete zu beschwichtigen.
Sie schenkte ihm nur einen wütenden Blick, doch da die Musik begann, kam er nicht dazu, ihr zu antworten. Allerdings war Aro äußerst entzückt, versprach Marguerites heftige Reaktion auf seine Wahl einer anderen Tanzpartnerin als ihr doch eine starke Leidenschaft, von der er hoffte, dass sie ihm eines Tages zuteil werden würde. Marguerite wäre gewiss eine wundervolle, unsterbliche Gefährtin.
Und während die junge Comtesse ihre vermeintliche Konkurrentin Agnes mit feindseligen Blicken musterte, was diese äußerst irritierte, sah Aro den Baron spöttisch an, als er sich mit diesem und Marcus zum Takt der Musik in den Innenkreis bewegte. Lebrunne fand dies offenbar nicht besonders amüsant, da er ihn hasserfüllt anstarrte.
"Finger weg von meiner Nichte!", zischte er dem schwarzhaarigen Vampir kaum hörbar zu, was Aro jedoch nur zu einem breiten Grinsen animierte. Marcus indes verzog keine Miene, obwohl ihm die Spannung zwischen den beiden Männern nicht entging. Vielmehr widmete sich der ältere Vampir seiner Tanzpartnerin, die er liebevoll anlächelte, als er zu ihr zurückkehrte und sie an der Hand fasste. Madame de Colignon erwiderte dieses Lächeln und die beiden sahen sich tief in die Augen.
Indessen gelang es Aro durch eine geschickte Drehung, die sich wie ein kleines Versehen ausnahm, sich an die Seite Marguerites zu schmuggeln, so dass sich der Baron als Agnes' Tanzpartner wiederfand. Das junge Mädchen war zunächst zwar genauso irritiert wie Lebrunne, kicherte dann aber, während Marguerite ihren Verehrer überrascht anstarrte. Als Aro sie an der Hand berührte, verzogen sich ihre Lippen unwillkürlich zu einem kleinen Lächeln.
"Ihr seid die Einzige, deretwegen ich dieses Fest hier genieße", raunte der schwarzhaarige Vampir ihr zu, womit ihm endlich gelang, ihre Eifersucht auf Agnes und ihr Misstrauen gegen ihn aufzulösen. Sie strahlte wieder, was den anderen aus ihrer Gruppe nicht entging und vor allem ihren Onkel maßlos ärgerte. Als Marguerite Agnes einen entschuldigenden Blick sandte, nickte diese ihr mit wissendem Lächeln zu, doch Lebrunne bedachte sie mit einem strengen Ausdruck in den Augen, den die Comtesse allerdings ignorierte. Jetzt, da sie sich der Zuneigung Aros sicher war, glaubte Marguerite, dass mit ihrer Liebe zu dem italienischen Grafen all die Hindernisse, die sich seit dem Erscheinen ihrer Tante in ihrem Leben aufgetürmt hatten, allmählich verschwinden würden...
***
Fournier tauchte eine Weile nach dem Tanz mit Louise mit einem gelassenen Lächeln und einem Glas Wein in der Hand erneut neben Rouven de Guignot auf und meinte vergnügt: "Gerade eben hat mich Baron de Lebrunne mit einem Conte Aro di Volturi bekannt gemacht, der jetzt gerade mit meiner Tochter tanzt."
"Freut mich für Eure Tochter", grummelte Rouven, der Zeuge davon gewesen war, wie Marguerite ihren Tänzer, bei dem es sich um den jüngeren Bruder Aros handelte, angestrahlt hatte. Zweifellos verstanden diese Italiener es, seine Angebetete um den Finger zu wickeln. Wenn nicht bald etwas geschah, würde er seine potenzielle Ehefrau an einen der Fremden verlieren.
"Oh kommt, Guignot, tragt Eure Niederlage mit Fassung!", drang die Stimme Fourniers an sein Ohr. "Ihr habt Euch nicht genügend um Agnes bemüht und dürft Euch daher nicht wundern, wenn sie anderen Männern den Vorzug gibt."
"Wie bitte?!"
"Nun ja, vorhin wolltet Ihr doch noch mit meiner Tochter tanzen, nicht wahr?"
"Richtig! Aber die Ereignisse hier finden rasch andere Wendungen, wie man sieht."
"Wendungen, gegen die ich nicht das Geringste habe. Schließlich möchte auch ich meine Tochter so vorteilhaft wie möglich verheiraten und gegen einen italienischen Grafen als Schwiegersohn ist nichts einzuwenden."
"Aber Ihr kennt den Conte di Volturi nicht, Fournier!"
"Mir ist bekannt, dass seine Brüder und er ein nobles Haus in einer sehr guten Gegend der Stadt gemietet und dieses bereits im Voraus bezahlt haben. Außerdem müsst Ihr doch nur mal die Kleidung der drei Herren betrachten und Ihr Benehmen beobachten. Die allerbeste Kinderstube, wenn Ihr mich fragt. Daher bin ich ebenso wie Madame de Colignon der Meinung, dass es sich bei den Contes um überaus noble Herren handelt."
"Nun, ich wünsche Eurer Tochter natürlich einen guten Ehegatten. Doch was ist mit dem jungen Mann, mit dem sie zuerst tanzte?"
"Ebenfalls eine gute Partie", erklärte Fournier zufrieden und nahm einen Schluck aus seinem Glas. "Wie es aussieht, findet meine Kleine in diesem Jahr gewiss noch einen Heiratskandidaten und ich sehe mit Freude dem Tag entgegen, in dem ich ihre Hochzeit in meinem Hause feiern darf, vermutlich im nächsten Frühjahr. Ihr seid selbstverständlich auch eingeladen, lieber Guignot."
"Besten Dank, zu gütig von Euch. Ich kann es kaum erwarten", antwortete Rouven missmutig. "Und Ihr glaubt also tatsächlich, dass dieser Conte Aro ernsthafte Absichten in Bezug auf Eure Tochter hegt?"
"Keine Ahnung, aber warum denn nicht? Agnes ist ein hübsches Mädchen und von überaus freundlichem Gemüt", meinte sein Gesprächspartner. "Um sie mache ich mir nicht die geringsten Sorgen. Vielmehr interessiert mich, wer die Mutter der schönen Comtesse Marguerite war, und ich versprach mir von einer kleinen Unterhaltung beim Tanz mit Mademoiselle Lefevre näheres darüber zu erfahren. Leider wusste meine geschätzte Tanzpartnerin auch nicht mehr als ich, versicherte mir jedoch, dass der verstorbene Comte de Rochefort die Mutter seines Kindes heimlich in Paris geheiratet hat, weshalb es auch keine Schwierigkeiten gab, seine Tochter als legitimes Kind und als Alleinerbin seines Vermögens anerkennen zu lassen."
"Marguerites Vater war mit ihrer Mutter also verheiratet?"
"So soll es der selige Gilbert meiner letzten Tanzpartnerin erzählt haben. Mademoiselle Lefevre ist im Übrigen ein überaus nettes und sehr gebildetes Mädchen. Sie ist eine Waise und Rochefort holte sie vor einigen Jahren ins Haus, um sie zusammen mit seiner Tochter erziehen zu lassen. Vermutlich entstammt sie der Familie eines seiner Bekannten aus verarmtem Adel und Rochefort wollte wohl sein schlechtes Gewissen damit beruhigen, nachdem sein Dienstherr dafür sorgte, hochstehende Familien in den Ruin zu treiben. Die Lebrunnes und ich gehören zu den wenigen, die sich davon wieder erholt haben, sonst besäße meine Agnes keinerlei Mitgift und hätte nicht die geringste Aussicht darauf, einen noblen Herrn zu ehelichen. Ihr seht also, Guignot, dass ich bezüglich meines Schwiegersohnes nicht allzu wählerisch sein darf, weshalb mir ein italienischer Graf ebenso recht ist wie ein französischer Edelmann. Hauptsache, meine Tochter ist gut versorgt."
"Tut mir sehr leid, falls ich Eure Illusion zerstöre, Fournier, aber für mich hat es den Anschein, als sei Conte Aro di Volturi hinter Comtesse de Rochefort her."
"Möglich. Sie ist ja auch ein sehr hübsches Kind mit einem stattlichen Erbe."
"Was? Es stört Euch gar nicht?"
"Nein, Conte Aro hat ja noch einen jüngeren Bruder - jedenfalls ist es von großem Vorteil, sich mit diesen Italienern gutzustellen. Meiner Frau gefallen sie auch, zumal Conte Aro es verstand, sie mit Liebenswürdigkeiten zu umgarnen. Von dem Mann kann man in Punkto Frauen bezirzen noch etwas lernen."
"Jedenfalls ist für mich ganz offensichtlich, dass nicht nur Comtesse de Rochefort und Eure Tochter völlig vernarrt in diese Italiener sind, sondern anscheinend auch Eure Gattin und Ihr. Verzeiht mir, wenn ich mir das nicht länger anhören mag, aber ich misstraue den Conte di Volturi zutiefst", gab Rouven zurück und ließ Fournier dann stehen, der dem bekannten Lebemann mit spöttischem Lächeln hinterher blickte.
***
Adrienne musste sehr an sich halten, um ihrem Mann keine Szene vor der Hofgesellschaft zu machen. Was fiel Roger ein, mit dem kleinen Bastard ihres Bruders vor aller Augen zu tanzen? Und wo war eigentlich Rouven, der von ihr doch den Auftrag hatte, Marguerite nach allen Regeln der Kunst zu umgarnen, zu verführen und verschwinden zu lassen?
Ärgerlich sah sie sich um und entdeckte ihren Liebhaber, dessen Miene große Verärgerung ausdrückte, im Gespräch mit diesem Fournier. Und wo war eigentlich der junge Conte di Volturi, der sie vorhin um diesen Tanz ersucht hatte? Vorhin drehte er sich noch mit Marguerite zur Allemande und wirkte überaus vergnügt dabei. Eine recht ärgerliche Sache, doch diese Italiener würden sicherlich bald wieder abreisen und störten daher ihre Pläne in keiner Weise. Zwar scharwenzelten zwei der Volturi-Brüder um ihre Nichte herum, aber das hatte nichts zu bedeuten. Auf einem großen Hofball geschah es oft, dass Männer mit jungen Mädchen flirteten und diese nach dem Fest wieder vergaßen. Doch was hatte es zu bedeuten, dass ihr Ehemann ihre Nichte zum Tanz aufforderte? Er sollte das Feld gefälligst Rouven überlassen, den ihre Nichte bisher kaum eines Blickes würdigte, obwohl sie ihrem Liebhaber heute recht deutlich die kalte Schulter gezeigt hatte. Wie war es möglich, dass dieser kleine Bastard dem Charme des für sie liebenswürdigsten aller Männer nicht erlag?
Adrienne sehnte sich danach, mit jemandem darüber zu sprechen, aber außer Rouven und Madame de Colignon vertraute sie keinem. Mit Rouven konnte sie jedoch heute Abend nicht sprechen, um ihren vermeintlichen Streit vor Marguerite aufrechtzuerhalten, und Madame de Colignon verbrachte diesen Abend überwiegend an der Seite dieses älteren Conte die Volturi, mit dem sie nun schon zum zweiten Mal an diesem Abend tanzte. Ja, es hatte sogar den Anschein, als ob sie beiderseitig Gefallen aneinander fanden. Etwas, das Adrienne missbilligte. Die Witwe war ihrer Meinung nach schon zu alt, um noch einmal in den Hafen der Ehe einzulaufen, und der älteste der Volturi-Brüder war auch nicht mehr der Jüngste. Die Vorstellung, dass diese beiden ein Paar wurden, fand die Baronesse vollkommen absurd, ja geradezu grotesk. Wie sollte sie ohne den Beistand von Madame de Colignon nur mit ihrer eigenwilligen Nichte fertig werden?
"Entschuldigt mich", wandte sich Adrienne an ihre Bekannten, nahm ihr Weinglas vom Tisch und bewegte sich zu einer der Türen, die nach draußen führten, denn sie hatte das Gefühl, dringend frischer Luft zu bedürfen. Dankbar nickte sie den Dienern zu, die sie für sie öffneten, und huschte hinaus auf den leeren Flur. Von dort aus näherte sie sich zielstrebig einer der leicht offenstehenden Türen, die in den Garten führten, und ging hindurch. Sie merkte dabei gar nicht, dass Rouven ihr folgte, denn genau wie sie war er äußerst aufgebracht, da der Abend nicht so verlief, wie er es sich vorgestellt hatte...
***
Caius lehnte im Schatten der Gartenmauer und ließ noch einmal in Gedanken sein Gespräch mit Marguerite im Inneren Revue passieren. Jetzt, da er die Comtesse näher kennengelernt hatte, fühlte er sich noch stärker als zuvor zu ihr hingezogen. Aber es war sinnlos, sich um sie zu bemühen, da ihr Herz eindeutig seinem Meister gehörte - er musste es gezwungenermaßen hinnehmen und versuchen, damit weiterzuleben, ohne Marguerite damit in irgendeiner Weise zu belasten, konnte sie doch am wenigstens dafür. Vielleicht sollte er sich an deren Freundin Louise halten, die er eigentlich auch ganz nett fand, da sie klug war und man sich gut mit ihr unterhalten konnte.
Der blonde Vampir schüttelte den Kopf. Nein, bedauerlicherweise war es nicht Louise, zu der er sich hingezogen fühlte, sondern Marguerite. Aber wenn die beiden Mädchen und wahrscheinlich auch Madame de Colignon, die unverkennbar Gefallen an der Gesellschaft von Marcus fand, bei ihnen in Volterra lebten, könnte er in Louise sicherlich eine gute Freundin finden, mit der er viel Zeit verbrachte. Die Vorstellung, dass er sie verwandelte und sie danach in allem unterwies, was ein Vampir wissen musste, um unbemerkt in der menschlichen Gesellschaft zu existieren, begann ihm zu gefallen. Es würde schön sein, sich mit Louise über Literatur und Musik auszutauschen und gemeinsam zu musizieren... aber Marguerite, die ebenfalls Musik liebte, wäre gewiss oft dabei...
Erneut erfüllte der Gedanke an die Comtesse, die für ihn unerreichbar war, sein Herz mit Trauer.
"Reiß dich zusammen, Caius", ermahnte sich der blonde Vampir selbst. "Du wirst lernen, den Anblick von Aro und seiner Gefährtin zu ertragen und Marguerite als neue Schwester anzuerkennen."
In diesem Moment hörte er, dass jemand aus dem Schloss in den Garten trat und richtete neugierig seinen Blick auf diese Person. Da er ein Vampir war, fiel es ihm nicht schwer, Marguerites Tante zu erkennen, die äußerst aufgebracht wirkte und hastig einige Schlucke aus ihrem Weinglas nahm.
Ach richtig, er hatte diese Adrienne de Lebrunne vorhin um den nächsten Tanz gebeten, es dann jedoch vergessen, da seine Gefühle wegen Marguerite mit ihm durchzugehen versprachen. Ob die Baronesse deswegen dermaßen verärgert war? Jedenfalls kam sie ihm wie gerufen, um seine schlechte Laune an ihr auszulassen. Caius wollte seinen jetzigen Standort gerade verlassen, als noch eine Person den Garten betrat und sich sogleich zu der Baronesse gesellte. Es handelte sich dabei um den hakennasigen Rouven de Guignot, der ebenfalls hinter Marguerite her war, dem das Mädchen bisher allerdings kaum Beachtung geschenkt hatte. Gewiss wollten diese beiden Menschen ihr weiteres Vorgehen besprechen, weshalb Caius voller Aufmerksamkeit seine Ohren spitzte, damit ihm nichts von dieser Unterhaltung entging.
"Endlich können wir miteinander reden", begann Rouven. "Diese Komödie zwischen uns aufrechtzuerhalten bedarf doch mehr Mühe als ich annahm. Allerdings ist das Ergebnis gleich null, denn Eure Nichte behandelt mich wie Luft."
"Habt Ihr etwa erwartet, dass sie Euch gleich vertraut?", gab Adrienne ärgerlich zurück. "Sie weiß doch, dass Ihr ein guter Freund meines Mannes seid und ist selbstverständlich misstrauisch. Offenbar ist der kleine Bastard meines Bruders nicht so naiv wie ich dachte."
"Von Bastard kann bei Eurer Nichte kaum die Rede sein, denn wie ich von Fournier erfuhr, soll Euer Bruder die Mutter seines Kindes in Paris geehelicht haben."
"Lächerlich! Woher hat Fournier denn diesen Unsinn?"
"Mademoiselle Lefevre behauptet, es von Eurem Bruder selbst zu wissen."
"Nun... mag sein", murrte Adrienne. "Mein Bruder stand in Diensten Richelieus und war bei all seinen Handlungen sehr vorsichtig. Vermutlich wurde diese Ehe heimlich geschlossen, denn die besagte Dame liebte Geheimnisse und ich gehe stark davon aus, dass sie nicht von adliger Herkunft ist."
"Darum also heiratete er Marguerites Mutter heimlich - ich verstehe..."
"Eben darum will ich nicht, dass der Sprössling dieser Frau jemals in den Besitz des Rochefort'schen Vermögens kommt! Marguerites Herkunft ist nicht völlig unbefleckt..."
"Aber ich bitte Sie, meine Liebe, Eure Nichte ist das Kind Eures Bruders und ein unschuldiges Geschöpf!", fühlte sich Rouven veranlasst, das Objekt seiner Begierde zu verteidigen. "Und wenn Euer Bruder tatsächlich mit Marguerites Mutter verheiratet war, ist sie ein legitimer Spross aus der Linie der Rocheforts!"
Adrienne lachte kurz laut und trocken auf, nahm einen erneuten Schluck aus ihrem Glas und fuhr dann mit hasserfüllter Stimme fort: "Es spielt keine Rolle, ob Gilbert dieses Miststück geheiratet hat oder nicht - das heißt noch lange nicht, dass Marguerite tatsächlich sein Kind ist. Ihre Mutter war seinerzeit nämlich dafür bekannt, dass sie Männern den Kopf zu verdrehen verstand. Sie soll mehrere Affären gleichzeitig mit noblen Herren gehabt haben - und mein Bruder war nur einer von Vielen. Daher könnte Marguerites Vater auch ein anderer als Gilbert sein."
"Euer Bruder war doch kein Dummkopf, Madame!", entfuhr es Rouven heftig. "Gewiss war auch ihm der Ruf dieser Dame bekannt. Vielleicht tat man ihr ja unrecht und sie unterhielt in Wirklichkeit keine Affären, was Euer Bruder wusste. Er hätte Marguerite doch niemals als sein legitimes Kind anerkennen lassen, wenn er Zweifel an seiner Vaterschaft gehegt hätte."
"Wie ich Euch bereits sagte, verstand diese Frau es, Männern den Kopf zu verdrehen, und offensichtlich war mein Bruder einer davon", gab Adrienne sarkastisch zurück. "Er war völlig besessen von dieser blonden Hexe!"
"Sie muss eine sehr schöne Frau gewesen sein", mutmaßte Rouven, den die Beschreibung von Marguerites Mutter aus dem Munde seiner Geliebten neugierig auf diese Frau machte.
"Dazu kann ich nichts sagen, denn ich fand sie nie besonders anziehend - aber viele Männer von hohem Stand lagen ihr zu Füßen und sie war bei Hofe wohlgelitten. Selbst die Königin duldete sie, obwohl sie wusste, dass dieses undurchsichtige Weibsbild ein Protegé Richelieus war."
"Ein Protegé Richelieus, so, so... nun, dann wundert mich nicht, dass diese Dame und Euer Bruder sich näher kamen und verliebten. Sie dienten demselben Herren... vermutlich war diese geheimnisvolle Dame einer seiner heimlichen Spione, was erklären würde, warum sie sich in Bezug auf ihre Person bedeckt hielt. Doch Euer Bruder wusste womöglich alles über ihre Herkunft und ihr wahres Wesen. Sie muss keinen schlechten Charakter gehabt haben."
"Ach, ich bitte Euch, Rouven! Alle, die Richelieu dienten, besaßen einen zwielichtigen Charakter - selbst mein Bruder. Und ich bereue es noch heute, meine Stellung als Hofdame der Königin und das Wohlwollen Ihrer Majestät verloren zu haben, weil ich mich von Gilbert dazu überreden ließ... Aber lassen wir das! Es ist geschehen und nicht mehr zu ändern."
"Wir sind doch ganz unter uns, Adrienne, und Ihr kennt meine Diskretion", wisperte ihr Rouven mit schmeichlerischer Stimme zu. "Wollt Ihr Euch Euren Kummer von damals nicht endlich von der Seele reden?"
"Nein! Darüber will ich nie wieder ein Wort verlieren!", entgegnete die Baronesse heftig. "Die Vergangenheit sollte Euch nicht kümmern, Rouven, und es wäre sehr viel besser, wenn Ihr wieder in den großen Saal zurückkehrt, um das Herz meiner Nichte zu gewinnen. Diese Italiener machen ihr ganz offensichtlich die Cour und ich bemerkte darüber hinaus, dass Marguerite in den Augen vieler der hohen Herrschaften Wohlgefallen erregt. Sogar mein eigener Ehemann scheint jetzt von ihr eingenommen zu sein, denn er führte sie soeben aufs Parkett, um mit ihr zu tanzen. Was sagt man dazu?!"
"Was das betrifft, kann ich Euch beruhigen, meine Liebe. Roger vertraute mir an, dass er diese Italiener nicht mag und es ihn überaus stört, dass sie um Marguerite herumscharwenzeln. Vermutlich hat er Eure Nichte nur aus diesem Grunde zum Tanz aufgefordert, ehe es einer der Conte di Volturi tut."
"So? Na, ich weiß nicht. Mein Mann strahlte den kleinen Bastard meines Bruders auf eine Weise an, die im Allgemeinen auf Verliebtheit schließen lässt. Vielleicht besitzt Marguerite das Talent ihrer Mutter, Männern den Kopf zu verdrehen, und womöglich ist Roger im Augenblick sehr empfänglich dafür..."
"Nicht doch, Adrienne!"
"Wir haben uns in letzter Zeit nur noch gestritten..."
"Ich kann Euch versichern, dass Roger kein Interesse an Marguerite hat. Vielmehr ermutigte er mich, ihr die Cour zu machen. Genau wie Ihr möchte er, dass Eure Nichte Sympathie und Zuneigung für mich entwickelt..."
"Tatsächlich?"
"Ja, und vermutlich nur aus dem Grund, weil er glaubt, ein verliebtes Mädchen ließe sich leichter lenken."
Über Adriennes Antlitz glitt ein breites Lächeln der Zufriedenheit.
"Sieh an, dann hatte Roger also die gleiche Idee wie ich. Wir stehen uns demnach immer noch nahe, so wie früher... meine Ehe scheint nicht ganz verloren..."
"Mit dem kleinen Unterschied, dass Ihr Marguerite gern verschwinden lassen wollt, während Euer Gemahl mich ernsthaft ermutigt hat, mich um die Hand Eurer Nichte zu bemühen, in dem Glauben, dass eine Ehe zwischen Marguerite und mir es mir als ihrem Gatten ermöglicht, Eure Problem wegen der Erbschaftsangelenheiten zum Wohle von uns allen zu regeln."
"Ach ja, der gute Roger, er hat so ein einfaches Gemüt", meinte die Baronesse nachsichtig. "Aber wie Ihr wisst, werde ich erst zufrieden sein, wenn Marguerite spurlos verschwindet. In meinen Augen bleibt sie ein Bastard, dessen Vater niemand kennt und dem deshalb das Erbe der Rocheforts nicht zusteht. Also seht zu, dass ihr das kleine Biest bezirzt und entführt. Danach dürft Ihr mit dem Mädchen tun, was immer Euch gefällt. Verführt sie oder verkauft sie. Wie Ihr bereits sagtet, wird für eine hellhäutige, blonde Jungfrau in manchen Teilen der Welt ein hoher Preis bezahlt. Das ist doch ein schöner Anreiz für Euch, nicht wahr, denn Ihr dürft das ganze Geld für Euch behalten. Ich will nicht einmal wissen, was Ihr mit Marguerite gemacht habt. Hauptsache, sie verschwindet für immer aus meinem Leben!"
"Nun, ich tue, was ich kann", versprach Rouven.
Caius hatte diesem Gespräch mit wachsendem Hass auf Adrienne und Rouven, der der Handlanger dieser bösartigen Intrigantin zu sein schien, gelauscht, bemerkte nun allerdings erstaunt, dass der hakennasige Mann seinen Mund missmutig verzog, als die Baronesse davon sprach, dass er Marguerite verkaufen solle. Es hatte den Anschein, als ob Rouven dies gar nicht tun wolle... und Caius erinnerte sich plötzlich wieder an jenes Gespräch zwischen Guignot und seinem Freund Roger, in dem der hakennasige Mann von der Schönheit Marguerites geschwärmt hatte. Womöglich hegte dieser Mann gar nicht die Absicht, die junge Comtesse verschwinden zu lassen.
Der blonde Vampir grinste bei dieser Schlussfolgerung breit, auch wenn er noch nicht wusste, ob sie stimmte. Aber wozu hatte man einen Bruder wie Aro, der solche Sachen herauszufinden vermochte?
Danach richtete sich Caius' Blick jedoch wieder hasserfüllt auf die Baronesse de Lebrunne, deren Charakter sich als noch schändlicher erwies als der seiner Mutter. Im Gegensatz zu Letzterer befand sich Adrienne in keinerlei Notlage, die sie dazu zwang, eine Verwandte zu verkaufen oder gar 'verschwinden zu lassen', was nur ein anderes Wort für 'Mord' war.
Die beiden intriganten Menschen kehrten jetzt wieder ins Schloss zurück und Caius folgte ihnen ein paar Sekunden später. Schließlich wurde es Zeit, dass er sich um die Baronesse de Lebrunne kümmerte...
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[1] Link zu L'Allemande: youtube.com/watch?v=cZWDrjLO7r4
[2] "Jemandem die Cour machen" = "Jemandem den Hof machen" (eine alte Redewendung!)
[3] Link zu 'Corante': youtube.com/watch?v=KdYoW6lhf6A
22. Kapitel
Unschuld und Geheimnis haben niemals lange zusammengelebt.
Aus Frankreich
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Als Caius den Ballsaal wieder betrat, war die Courante gerade beendet worden und Aro geleitete Marguerite an einen der Tische, um ein wenig mit ihr zu plaudern. Madame de Colignon und Marcus folgten ihnen, während Baron de Lebrunne so viel Anstand besaß, Agnes an den Tisch zu bringen, wo ihre Eltern mit einigen Bekannten beisammen saßen und ihn dazu einluden, sich zu ihnen zu setzen. Den Regeln der Höflichkeit folgend, nahm er ihre Einladung an, warf allerdings hin und wieder misstrauische Blicke zum Tisch, an dem Madame de Colignon mit seiner Nichte und den beiden italienischen Grafen saß. Dabei fragte er sich zum ersten Mal ernsthaft, ob Guignot mit seiner Vermutung, dass die alte Dame da irgendetwas eingefädelt hatte, nicht doch recht hatte.
Rouven und Adrienne hingegen taten bei ihrem Eintritt so, als ob sie immer noch im Streit miteinander lagen. Die Baronesse hatte gerade ihren Ehemann erspäht und schickte sich an, zu ihm zu gehen, als Caius sie einholte und sich ihr in den Weg stellte.
"Verzeiht mir, Gnädigste, dass ich nicht dazu kam, Euch beim letzten Tanz aufzufordern", sprach er sie mit einer Stimme an, in der sein vermeintlich ganzes Bedauern lag. "Der Grund dafür war ein dringendes, menschliches Bedürfnis, welches ich leider nicht länger zurückzuhalten vermochte."
"So?", fragte Adrienne mit hochgezogenen Brauen und musterte den jungen, blonden Mann vor ihr. Seinem bittenden Blick nicht widerstehen könnend, huschte unwillkürlich ein nachsichtiges Lächeln über ihr Gesicht und einen Moment später entgegnete sie in leicht amüsiert klingendem Ton: "Dann ist es ja kein Wunder, dass Ihr plötzlich nicht mehr zu sehen wart. Wirklich höchst bedauerlich, mein Lieber."
"In der Tat und niemand bedauert es mehr als ich", behauptete Caius mit zerknirschter Stimme und neigte seinen Kopf in demütiger Weise leicht vor ihr, bevor er fragte: "Würdet Ihr mir darum also den nächsten Tanz schenken?"
"Eigentlich fehlt mir dazu momentan die Lust", erwiderte die Baronesse, während sie kokett lächelte.
Der blonde Vampir musste sehr an sich halten, damit sich seine Miene nicht zu einem breiten Grinsen verzog, denn Marguerites Tante war auf dem besten Wege, seinem Charme zu erliegen, da sie deutlich alle Anzeichen dafür erkennen ließ, das Spiel der Verführung mitzuspielen.
"Ach, ich bitte Euch, Madame, seid nachsichtig mit mir", sagte er einschmeichelnd. "Der Gedanke, dass ich Euch kränkte, lässt mir keine Ruhe, und Eure Abweisung, obwohl mein Benehmen durchaus Tadel verdient, schmerzt mich sehr. Daher lasst mich Euch noch einmal versichern, wie leid es mir tut, dass ich Euch vorhin beim Tanz versetzte. Aber ich zweifle keinen Augenblick daran, dass eine Dame von Welt wie Ihr die Größe besitzt, mir zu verzeihen und mir die Gunst Eurer Gesellschaft beim Tanze zu gewähren."
"Doch wer sagt mir, dass Euch nicht wieder ein dringendes, menschliche Bedürfnis überkommt und Ihr mich womöglich dann während des Tanzes verlasst? Auf solch eine Blamage kann ich gerne verzichten."
"Mein Wort darauf, teuerste Baronesse, dass dies nicht passiert", versprach Caius. "Bitte, erweist mir die Ehre des nächsten Tanzes."
"Also schön, dann will ich nachsichtig sein", erwiderte Adrienne lächelnd und reichte ihm die Hand. "Ich hoffe, ich bereue es nicht."
"Das werdet Ihr nicht, Ihr habt mein Wort!"
>La Bourrée!< verkündete der Zeremonienmeister in diesem Augenblick und Caius zögerte nicht, die ihm dargereichte Hand der Baronesse zu ergreifen und sie aufs Parkett zu führen. [1] Die Musik erklang und sie begannen miteinander zu tanzen.
"Ihr macht mich überaus glücklich", wisperte Caius ihr zu, als sie sich nahe kamen, dann drehten sie sich wieder auseinander, wobei der blonde Vampir mit Zufriedenheit bemerkte, dass seine Worte nicht ohne Wirkung blieben. Auf den Wangen der Baronesse zeichnete sich ein leichter Rotton ab. Daher flüsterte er ihr bei der nächsten Annäherung zu: "Habt Ihr nicht bemerkt, wie sehr Ihr mir gefallt?"
Adrienne schüttelte leicht den Kopf, sie entfernten sich wieder voneinander und kamen nach einer weiteren Drehung wieder zusammen, wobei sie entgegnete: "Interessiert Ihr Euch nicht eher für meine Nichte?"
Drehung, sie entfernten sich wieder, näherten sich erneut an und er meinte: "Eure Nichte ist reizend, aber ich fühle mich mehr von Frauen mit einer gewissen Reife angezogen."
Nächste Drehung, Entfernung, Annäherung, wobei Caius fortfuhr: "Ihr seid überaus attraktiv. Die Schönheit liegt zweifellos in Eurer Familie."
Nun tanzten sie einen längeren Moment miteinander, so dass Adrienne genügend Zeit zum Antworten fand: "Ihr seid wirklich sehr charmant, aber Ihr solltet mich nicht mit Madame de Colignon verwechseln, die offensichtlich großen Gefallen an Eurem älteren Bruder findet und sich damit der Lächerlichkeit preisgibt."
"Zwei einsame Seelen, die sich endlich gefunden haben, sind keineswegs lächerlich. Marcus findet Madame de Colignon nämlich ebenfalls sympathisch und genießt offenbar Ihre Gesellschaft."
"Bei einem Mann ist das etwas ganz anderes, aber eine Frau in ihrem Alter sollte sich nicht so gehen lassen."
"Seid Ihr immer so streng, Madame?", erkundigte sich Caius spöttisch.
"Nun, gewisse gesellschaftliche Reglements sind durchaus sinnvoll und ich selbst halte mich daran."
"Wie schade, meine Liebe, dann darf ich wohl nicht darauf hoffen, dass wir nach diesem Tanz noch weitere Zeit zusammen verbringen?"
"Aber warum denn nicht? Gegen gute Gespräche und angenehme Zerstreuungen ist doch nichts einzuwenden."
"Ganz meine Meinung, Baronesse... allerdings schwebte mir bei dem Zeitvertreib mit Euch etwas Besonderes vor, von dem ich annahm, es würde auch Euch Freude bereiten. Doch da Ihr dermaßen streng an gesellschaftlichen Reglements festhaltet, werde ich mich Euch nicht weiter aufdrängen. Entschuldigt, dass ich es wagte, mein Wohlgefallen an Euch so offen auszudrücken."
Dem Tanze gehorchend gingen sie wieder auseinander, wobei Caius der Baronesse ansah, wie wenig ihr seine Antwort gefiel, die nur aufgrund ihrer offenen Worte erfolgt war. Gewiss würde sie später Wachs in seinen Händen sein, wenn er sie dazu überredete, heimlich die Nacht mit ihm zu verbringen.
"Ihr habt mich missverstanden", wisperte sie ihm zu, als sie wieder nahe beieinander tanzten.
"Ach, tatsächlich?", fragte er in gespieltem Erstaunen scheinheilig und zog seine Brauen hoch. "Eigentlich war Eure Aussage recht eindeutig und ich werde Euch nicht weiter bedrängen."
"Können wir keine Freunde sein?"
"Ihr stört Euch doch daran!"
"Nun, ich habe mich gewiss falsch ausgedrückt, lieber Freund."
Die Musik verklang und der Tanz war zu Ende. Caius verneigte sich vor ihr, küsste ihre Hand und murmelte: "Das hoffe ich sehr."
Als Antwort drückte ihm Adrienne leicht die Hand, was dem blonden Vampir die Gewissheit gab, dass sie heute Nacht ihm gehören und er sie unauffällig verschwinden lassen würde. Doch davon ahnte die Baronesse nicht das Geringste, sondern schien seine Gesellschaft überaus zu genießen. Caius schenkte ihr sein freundlichstes Lächeln und geleitete sie dann an den Tisch, wo seine Brüder mit ihren Tanzpartnerinnen saßen und sich unterhielten. Marcus' Blick richtete sich dabei voller Ernst auf Adrienne, die das unangenehme Gefühl überkam, durchleuchtet zu werden.
"Setzt Euch doch bitte, Baronesse!", bot Aro an, indem er sich erhob und auf seinen Platz wies.
"Vielen Dank", sagte sie und setzte sich, wobei sie sich sofort an Marguerite wandte. "Wo ist eigentlich Mademoiselle Lefevre?"
"Sie tanzt gerade mit einem der Herren", klärte die Comtesse ihre Tante auf.
"Es freut mich, dass das liebe Kind sich heute Abend gut zu amüsieren scheint", meinte Madame de Colignon zufrieden. "Da ich sehr zurückgezogen lebe, erhält Mademoiselle Lefevre kaum Gelegenheit, andere Menschen kennenzulernen."
"Aber offensichtlich seid Ihr eine Dame von Welt und genießt einen überaus guten Ruf", erwiderte Marcus verwundert. "Gewiss fehlt es Euch nicht an guten und auch einflussreichen Freunden und Bekannten, weshalb es erstaunlich ist, dass Ihr nur wenige Gesellschaften in Eurem Haus zu geben scheint. Ein wenig schade, wie ich finde."
"Sehr freundlich von Euch, Conte di Volturi, aber den Großteil des Jahres verbringe ich in meinem Haus auf dem Land; und da die meisten aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis bei Hofe verkehren, fehlt ihnen oft die Zeit, mich auf meinem Gutshof zu besuchen. Der Weg dorthin ist doch ziemlich weit."
"Dann wäre es vielleicht günstig, eine Gesellschaft zu geben, so lange Ihr Euch in Paris aufhaltet, Madame de Colignon", schlug Aro vor, wobei sein Blick von der älteren Dame zu Marguerite glitt, die daraufhin errötete. Adrienne, der das nicht entging, zog ein saures Gesicht, schwieg jedoch. Nur Marcus lächelte etwas, richtete das Wort dann an Marguerite und fragte: "Darf ich um den nächsten Tanz bitten, Comtesse?"
"Gern", antwortete das Mädchen und erhob sich zusammen mit ihm vom Stuhl, um in die Mitte des Saals zu gehen, wo der Zeremonienmeister kurz darauf den nächsten Tanz verkündete: >La Bourgogne!< [2]
Madame de Colignon, Aro und Caius blickten ihnen lächelnd nach, was in Adrienne wieder Eifersucht auf ihre Nichte hervorrief.
"Euer Bruder ist wirklich überaus galant", meinte sie dann zu Aro, um die Aufmerksam auf sich zu ziehen.
"Oh ja, er weiß, was sich schickt", bestätigte der Angesprochene, der sich sofort an Adrienne wandte und ihr ein süßliches Lächeln schickte. "Für ihn ist dies auch eine willkommene Gelegenheit, unter Menschen zu gehen, Baronesse, denn Ihr müsst wissen, dass wir - wenn wir nicht gerade auf Reisen sind - äußerst zurückgezogen auf unserem Familienstammsitz leben. Ach, manchmal vermisse ich die Heimat."
"Dann werdet Ihr wohl nicht mehr allzu lange in Paris weilen?", erkundigte sich Adrienne neugierig.
"Unser Aufenthalt war ohnehin nur für kurze Zeit gedacht", erwiderte der schwarzhaarige Vampir und wandte sich dann an Caius: "Nicht wahr, du kannst es doch auch kaum erwarten, nach Hause zu kommen?"
"Das ist richtig", bestätigte der blonde Vampir, wobei seine Augen nun wieder das Antlitz der Baronesse streiften und ihr einen sehnsüchtigen Blick schenkten, während er fortfuhr: "Obwohl ich gerne längere Zeit in solch angenehmer Gesellschaft verweilen würde."
Da das Kompliment unverkennbar ihr galt, fühlte Adrienne sich geschmeichelt und senkte ihre Lider, so dass sie nicht bemerkte, wie Aro seinem jüngeren Bruder einen verwunderten Blick zuwarf. Caius nahm ihn an der Schulter und zog ihn leicht beiseite, während er sein Gesicht dem Ohr seines Meisters näherte und flüsternd fragte: "Hier, das habe ich soeben draußen im Garten mit angehört. Zweifellos führt die Baronesse de Lebrunne etwas Böses im Schilde. Was hältst du davon?"
"Da ich mit dieser Furie und ihrem Bettgenossen bereits Körperkontakt hatte, kenne ich die Gedanken der beiden", wisperte ihm Aro kaum hörbar zu und grinste etwas. "Es besteht überhaupt kein Grund zur Besorgnis, Bruder, da sich dieses Problem bald von selbst erledigt haben wird. Guignot entschied sich nämlich zugunsten unserer kleinen Comtesse, die sein eitles Herz ganz und gar gefangennahm."
"Also doch!", entfuhr es Caius leise. "Dieser lüsterne..."
"Schschsch... nicht doch, Bruder, fasse dich. Genieße das Fest und erfreue andere Damen mit deinen Komplimenten. Bei Tante Lebrunne verschwendest du nur deine Zeit, denn Guignot plant selbst, sie verschwinden zu lassen... vor allem, nachdem sie ihm eröffnete, wie wenig sie von Marguerite hält. So etwas lässt kein verliebter Mann auf dem Mädchen, das er verehrt, sitzen."
"Du glaubst also wirklich, Guignot verehrt Marguerite?"
"Oh, ich weiß es! Selbst, wenn es im Moment nicht den Anschein hat, so steht der eitle Fatzke doch in Flammen und gedenkt ernsthaft, die kleine Comtesse zu seiner Ehefrau zu machen."
"WIE BITTE?! Besitzt dieser Kerl keinen Spiegel?!", fuhr Caius leise auf.
"Beherrsche dich bitte, Caius", ermahnte ihn Aro leise. "Da unser Freund Guignot überaus eitel ist, besitzt er natürlich Spiegel in seiner Wohnung und betrachtet sich oft und gerne darin, denn ihm gefällt, was er dort sieht. Außerdem solltest du nicht vergessen, dass er aufgrund eines gewissen Charmes bei vielen der adligen und gelangweilten Damen sehr beliebt ist und bei ihnen auch oft zum Ziel gelangt, was ihn zu der irrigen Schlussfolgerung verleitet, dass er unwiderstehlich sei. Gerade deshalb ist ihm unverständlich, dass Marguerite ihn nicht ausstehen kann und ihm daher kaum Beachtung schenkt."
"Es wäre sicherlich besser, Guignot und die bösartige Tante noch heute Nacht verschwinden zu lassen...", murrte Caius unzufrieden.
"Warum denn alles überstürzen, anstatt der ganzen Angelegenheit seinen Lauf zu lassen?", beschwichtigte ihn Aro, berührte den Arm seines jüngeren Bruders und sah ihm eindringlich in die Augen. "Intriganten verstehen es ganz wunderbar, sich selbst aus dem Weg zu räumen. Wir sollten dies mit Gelassenheit beobachten und genießen."
"Aber Marguerite ist in Gefahr, so lange ihre Tante noch lebt!"
"Keine Sorge, Bruder! Die heuchlerische Tante will sich auf keinen Fall selbst die Hände schmutzig machen, weshalb sie Guignot dazu angestachelt hat, damit weder auf ihren Ehemann noch auf sie ein Verdacht fällt, sollte Marguerite plötzlich verschwunden sein. Vergiss nicht, dass sie das Erbe ihrer Nichte für sich beansprucht, auch wenn dieses Vermögen aller Voraussicht nach an die Krone fällt, sollte ihrer Nichte tatsächlich etwas passieren."
Caius starrte seinen Meister überrascht an, dann fragte er zweifelnd: "Und der Baronesse ist wirklich nicht klar, dass das Familienerbe bei Marguerites Verschwinden nicht an sie geht, sondern dem königlichen Staatsschatz einverleibt wird.?"
"Nein, da sie sich genau wie ihr Gespiele Guignot für klug hält und glaubt, alle Fäden in der Hand zu halten, während dies in Wirklichkeit andere tun..."
"Ach, und wer?"
"Zum Beispiel drei italienische Brüder und, wenn mich nicht alles täuscht...", Aro ließ seinen Blick zu dem Thron gleiten, auf dem das Königspaar saß, zu dem sich nun ein Geistlicher im Kardinalsgewand gesellt hatte, der einige Worte mit der Königin tauschte. "...ich denke, Ihre Majestät stellt ebenfalls eigene Überlegungen bezüglich der Baronesse de Lebrunne an, welche sie oft beobachtete, ohne dass jene es bemerkte; und es sieht ganz so aus, als ob sie der Furie nicht besonders gewogen ist..."
Der schwarzhaarige Vampir ließ seine Augen wieder zu seinem jüngeren Bruder wandern und bat leise: "Versprich mir, nichts zu unternehmen, Caius!"
Der Angesprochene nickte leicht, obwohl sein Antlitz sehr ernst wirkte.
"Marguerite wird nichts passieren", wisperte Aro ihm noch einmal zu. "Wenn mich nicht alles täuscht, achtet Madame de Colignon gut auf sie - und wir sind ja auch noch da."
"Lautet unser Gesetz nicht, unsere Existenz vor Menschen geheimzuhalten?", fragte Caius irritiert. "Wie können wir Marguerite beschützen, wenn wir unsere Kräfte nicht in vollem Umfang einsetzen dürfen?"
"Wer sagt, dass wir das müssen? Glaub mir, Bruder, Adrienne wird es nicht wagen, ihre Nichte anzutasten, ansonsten droht ihr Verhaftung und Todesstrafe, was sie um jeden Preis vermeiden will. Außerdem möchte die Furie ihren Ehemann nicht verlieren, so wenig sie ihn jetzt auch als Gatten zu schätzen weiß - und der Baron wiederum hat kein Interesse daran, Marguerite zu schaden, ganz im Gegenteil. Er findet es ausgesprochen vorteilhaft, mit ihr unter einem Dach leben zu können, so lange sie unter der Vormundschaft seiner Frau steht, und hat die Xanthippe sogar schon ermahnt, sich mit ihrer Nichte gutzustellen, damit sie beide bei ihr wohnen bleiben können. Außerdem schaut Lebrunne Marguerite gern an, da er sie ausgesprochen hübsch findet und deshalb Sympathie für sie zu hegen beginnt."
"Und warum nimmt er sie dann nicht vehement gegen seine Angetraute in Schutz?"
"Er tut, was er kann, Caius - aber... nun ja, er steht sehr unter dem Pantoffel seiner Gattin, nicht?"
"Ich verstehe einfach nicht, wie du so ruhig sein kannst, Aro, wenn das Mädchen, das du liebst, in Gefahr schwebt!"
"Sagte ich dir nicht bereits, dass es keinen Anlass zur Sorge gibt, Lieber? Marguerite schwebt keineswegs in Gefahr - ihre Tante wird ihr kein Haar krümmen, weil ihr Interesse hauptsächlich dem Vermögen gilt und nicht dem Ableben ihrer Nichte. Sie will sie nur loswerden und hat zu diesem Zweck Guignot auf Marguerite angesetzt. Allerdings ist die Baronesse nicht auf die Idee gekommen, dass dieser Lüstling sich in ihre Nichte verlieben und den Wunsch hegen könnte, sie tatsächlich zur Frau zu nehmen. Aus diesem Grunde wird er Marguerite nichts tun. So fällt diese Intrige völlig in sich zusammen, aber Adrienne wird den Preis für ihr böses Ansinnen zahlen müssen."
"Du bist dir zu sicher, Aro."
"Vertrau mir, Bruder!"
Aus jahrhundertelanger Erfahrung wusste Caius, dass sein Meister aufgrund seiner Gabe, die Gedanken anderer lesen zu können, die Handlungen derselben recht gut einzuschätzen vermochte, und beruhigte sich ein wenig. Gewiss konnte er Aros Urteilskraft in dieser Angelegenheit vertrauen, denn jener würde sonst nicht so gelassen sein angesichts der Tatsache, dass er in Marguerite verliebt war und wahrscheinlich jeden eigenhändig umbringen würde, der eine Gefahr für das Mädchen darstellte.
Die beiden Vampire kehrten an den Tisch zu Madame de Colignon und Baronesse de Lebrunne zurück. Die Letztere wandte sich ihnen sogleich zu und erklärte: "War Euch eigentlich bekannt, dass es sich bei Mademoiselle Lefevre um die Gesellschafterin meiner Sitznachbarin handelt?"
"So wurde sie uns von Madame de Colignon vorgestellt", bestätigte Aro freundlich und nickte.
"Einige finden zwar nichts dabei, wenn es Dienstboten gestattet ist, an gesellschaftlichen Ereignissen ihrer Herrschaften teilzunehmen, aber im Grunde schickt es sich doch nicht. Wie ist Eure Meinung dazu?"
"Mademoiselle Lefevre, die eine gute Erziehung genoss und eine hohe Bildung besitzt, kann man schwerlich als Dienstbotin bezeichnen", entgegnete Caius in sachlichem Ton. "Da sie anscheinend selbst über kein großes Vermögen verfügt, ist sie gezwungen, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen und was wäre da besser, als einer wohlhabenden Dame Gesellschaft zu leisten und diese auf angenehme Art zu unterhalten?"
"Wenn es sich hier um eine private Feier im Hause ihrer Dienstherrin handelte, würde ich ja nichts sagen, aber dies ist ein offizieller Hofball, bei dem sich junge Damen und Herren nach potenziellen Heiratskandidaten umschauen. Deshalb hat Mademoiselle Lefevre meiner Meinung nach hier nichts zu suchen."
"Warum denn nicht?", fragte Aro scheinheilig und lächelte breit. "Womöglich möchte Mademoiselle Lefevre auch gern heiraten und die Chance, auf dem heutigen Ball jemanden kennenzulernen, ist recht groß."
"Kein junger Edelmann nimmt ein mittelloses Mädchen zur Frau!", gab Adrienne verärgert zurück.
"Oh, da wäre ich nicht so sicher, meine Liebe. Wenn einer genug Geld hat, ist es ihm vielleicht egal, ob seine zukünftige Braut etwas in die Ehe mitbringt oder nicht. Mir zum Beispiel wäre das ganz gleich."
"Demnach seid Ihr also recht vermögend?", erkundigte sich die Baronesse neugierig und beäugte Aro nun mit vermehrtem Interesse, auch wenn sie ihn ansonsten nicht sehr einnehmend fand im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder, der ihr zuzwinkerte. Sie musste gegen ihren Willen lächeln und senkte erneut den Blick, worauf Aro einen warnenden Blick zu Caius schickte, sich dann jedoch gleich wieder an die Baronesse wandte und antwortete: "Es ist wahr, dass ich mir keinerlei Gedanken um Geld mache, meine Liebe, denn ich besitze genügend Vermögen."
"Sicherlich sehr beruhigend, ohne finanzielle Sorgen leben zu können", seufzte Adrienne sehnsüchtig.
"Besteht dazu bei Euch denn Anlass?", fragte Aro, obwohl er bereits alles über sie wusste.
"Nein, nicht mehr - aber es gab Zeiten... nun, die Glaubenskriege dürften auch Euch bekannt sein..."
"Ja, eine schwere Zeit für ganz Europa", stimmte der schwarzhaarige Vampir ihr seufzend zu. "Natürlich hoffe ich, dass das Schlimmste vorbei ist und sich die Länder mit der Zeit wieder einander annähern werden, um in Frieden zu leben."
"Diese Hoffnung teile ich völlig", antwortete Adrienne und nickte.
"Wir sollten heute Abend nicht über ein solch schwermütiges Thema sprechen", mischte sich Madame de Colignon da ein. "In ein paar Stunden beginnt das neue Jahr und ich hoffe, dass es ein gutes Jahr werden wird."
"Ihr habt recht, meine Liebe", nahm Aro den Faden der älteren Dame auf. "Wollen wir hoffen, dass das neue Jahr für uns alle nur Angenehmes bringen wird."
***
Marguerite indes tanzte mit Marcus und einigen anderen Paaren mitten im Saal zu den Klängen der Musiker.
"Ihr seid recht leichtfüßig", stellte die Comtesse bald mit leichtem Erstaunen fest.
"Danke, meine Liebe", erwiderte Marcus mit mildem Lächeln. "Selbst ich bin überrascht, wie gut ich noch zu tanzen vermag, obwohl ich nicht mehr der Jüngste bin."
"Verzeiht mir, ich wollte keineswegs respektlos sein", versicherte ihm Marguerite schnell und errötete erneut, da sie sich ihrer unbedachten Worte schämte.
"Aber das weiß ich doch", gab der Vampir in nachsichtigem Ton zurück. "Eure entzückende, natürliche Direktheit ist sehr erfrischend, wenn man es gewohnt ist, nur Schmeicheleien oder Demutsbekundungen zu hören. Ganz gewiss gehöre ich nicht zu denjenigen, die jugendliche Unbedarftheit verurteilen."
"Für Eure Freundlichkeit und Langmut mit mir danke ich Euch sehr, aber ich verdiene sie im Grunde nicht, Conte Marcus. Ich erhielt einst Etiketteunterricht und müsste wissen, wie man sich bei Hofe zu benehmen hat. Eigentlich wollte ich Euch ein Kompliment machen, aber offenbar habe ich mich ungeschickt ausgedrückt. Es tut mir leid."
"Seid nicht so verzagt, meine liebe Comtesse, mir tut es gar nicht leid, dass Ihr in der Kunst des höflichen Lügens nicht gewandt seid und wohl auch niemals sein werdet. Äußerst angenehm, einmal einem der seltenen Menschen zu begegnen, die offenbar nichts von höflichen Lügen halten."
"Nun, solche Ansichten werden nicht von vielen geteilt, fürchte ich."
"Aber gewiss doch von Madame de Colignon, nicht wahr?"
Marguerite lachte etwas und meinte: "Das könnte ich mir gut vorstellen, ja!"
"Sie scheint mir eine außergewöhnliche Frau zu sein."
"Ja, das finde ich auch. Ihr verstorbener Mann und sie waren gut mit meinem Vater befreundet und Madame de Colignon kümmerte sich oft um mich, seit ich mich erinnern kann. Dabei ist sie nicht einmal entfernt mit unserer Familie verwandt. Das ist wahrhaftig recht ungewöhnlich, aber vermutlich liegt es daran, dass sie eine überaus gütige Frau ist und stets freundlich zu jedermann."
"Sehr liebenswert, das ist wahr, und darüber hinaus scheint Madame de Colignon recht klug."
"Sie weiß oft guten Rat", bestätigte Marguerite, die erfreut das Lob über ihre mütterliche Freundin aus dem Munde von Aros älterem Bruder hörte, der sich offenbar sehr für sie interessierte.
"Sie scheint Euch sehr zu mögen, Comtesse, fast so, als sei sie doch eine nahe Angehörige. Seid Ihr sicher, dass nicht doch verwandtschaftliche Bindungen zwischen Madame de Colignon und Eurer Familie bestehen?"
"Verwandtschaftliche Bindungen haben nichts zu sagen, wie Ihr unzweifelhaft aus dem Verhalten meiner Tante mir gegenüber bemerkt haben dürftet. Ich bin ihre einzige, noch lebende Verwandte und dennoch hasst sie mich und versucht, mir das Leben schwerzumachen, wo sie kann."
"Das liegt einzig und allein daran, dass Eure Tante eifersüchtig auf Euch ist", meinte Marcus sanft.
"Ach nein, das glaube ich nicht! Sie ist nur nicht damit einverstanden, dass ich die Erbin meines Vaters bin."
"Das spielt gewiss auch eine Rolle, doch im Moment kocht Eure Tante vor Eifersucht. Die giftigen Blicke sprechen da eine eindeutige Sprache."
Marguerite warf einen Blick zu ihrer Tante und fand die Worte ihres Tanzpartners bestätigt. Irritiert wandte sie sich wieder Marcus zu und sagte: "Recht merkwürdig! Mir ist nicht aufgefallen, dass meine Tante sich für Eure Person interessiert."
"Tut sie nicht", gab Marcus schmunzelnd zurück. "Sie ist lediglich eifersüchtig auf Eure Jugend und Schönheit, da sie sich ebendies selbst zurückwünscht."
"Das verstehe ich nicht. Meine Tante hat vor vielen Jahren ihren Mann gefunden, weshalb Jugend und Schönheit für sie doch keine Rolle mehr spielen sollten."
"Manche Menschen brauchen viel Aufmerksamkeit, um zufrieden zu sein."
"Wenn Ihr mich fragt, dann ist es besser, meiner Tante nicht allzu viel Beachtung zu schenken. Sie ist hochmütig genug."
"Ihr jedenfalls macht auf mich ganz den Eindruck, baldmöglichst eigene Wege ohne Eure Verwandtschaft gehen zu wollen."
"Niemand, der meine Tante kennt, würde sich darüber wundern."
"Oh, ich verstehe Euch vollkommen, Comtesse, und natürlich kann ich mir vorstellen, dass mit einer so schwierigen Person wie Eurer Tante nicht leicht auszukommen ist. Selbstverständlich ist mir auch nicht entgangen, dass Ihr eine gewisse Neigung zu einem meiner Brüder gefasst habt."
Erneut errötete Marguerite und fragte dann schüchtern: "Ist dies so offensichtlich?"
Marcus nickte und lächelte freundlich.
"Missfällt Euch meine Zuneigung zu Eurem Bruder, Conte die Volturi?"
"Keineswegs, zumal er sie zu erwidern scheint. Meine Frage zielt vielmehr daraufhin, ob es Euch angenehm wäre, mit Madame de Colignon zusammenzuleben?"
"Ganz gewiss wäre es das. Sie ist einer der wenigen Menschen, denen ich vertraue - fast so wie eine Mutter, selbst wenn keine verwandtschaftlichen Bindungen zwischen uns bestehen."
"Das freut mich wirklich", meinte Marcus und wirkte überaus zufrieden. "Und was die verwandtschaftlichen Bande betrifft - nun, was nicht ist, könnte ja durchaus noch werden..."
Marguerite lächelte nun, denn sie hatte verstanden. Sie schien also nicht die Einzige zu sein, die sich in einen Mann verliebt hatte, der ihre Gefühle erwiderte - offenbar empfand auch Conte Marcus starke Zuneigung zu Madame de Colignon und trug sich mit Heiratsgedanken. Da sie wusste, dass ihre mütterliche Freundin den älteren Mann ebenfalls sympathisch fand, war nicht auszuschließen, dass sie seiner Werbung nachgab und erneut den Bund fürs Leben schloss. Dies war wahrhaftig ein Abend voller Überraschungen und womöglich gelang es sogar Louise, einen netten Ehemann für sich zu finden, obwohl sie nicht von Adel war. Aber offenbar störte das nicht jeden Edelmann hier im Saal, vor allem nicht Caius, ihren neuen Freund und zukünftigen Schwager. Dass er vorhin mit ihrer Tante getanzt hatte, lag vermutlich daran, sie bei guter Laune zu halten und von ihrer Person abzulenken, damit sie ungestört Zeit mit Aro verbringen konnte... wie wunderbar, solche Verbündeten zu haben...
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[1] Link zu Bourrée: youtube.com/watch?v=VOo5xRjj-Yk&index=17&list=RDGjLTTgv5FUQ
[2] Link zu Bourgogne: youtube.com/watch?v=8o7aP76kh40
23. Kapitel
Hinter dem Hintergedanken liegt die Absicht.
Erhard Horst Bellermann (*1937)
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"Welch ein schönes Fest, Euer Majestät", meinte Kardinal Mazarin, als er vor das Königspaar trat und sich leicht verneigte.
"Freut mich, dass es Euch gefällt, Eminenz", erwiderte der König freundlich und nickte huldvoll. "Allerdings vermisse ich Euren Vorgänger, der erst kürzlich von uns ging. Eigentlich wollte ich den Ball in diesem Jahr ausfallen lassen, aber auf Bitten Ihrer Majestät findet er nun doch statt."
"Es wäre ganz im Sinne des Kardinals gewesen", erwiderte Mazarin und neigte seinen Kopf leicht in Richtung der Königin. "Wie Ihr wisst, war er ein Mann, der seine Pflichten über alles stellte."
Der König nickte, dann fuhr er fort: "Wie dem auch sei, es würde ihn sicherlich freuen, dass wir eine seiner Schutzbefohlenen heute Abend hier zu Gast haben. Gewiss erinnert Ihr Euch noch an den Comte de Rochefort, den früheren Hauptmann der roten Garde Seiner Eminenz?"
"Natürlich."
"Seine Tochter ist eine der Debütantinnen des heutigen Hofballs."
"Ja, davon hörte ich bereits."
"Wenn ich gewusst hätte, welch hübsches Kind sie ist, hätte ich ihrem Vater zu seinen Lebzeiten bereits befohlen, sie an den Hof zu bringen."
"Womöglich hätte der Comte de Rochefort seine Tochter schon früher bei Hofe eingeführt, wenn ihn nicht gesundheitliche Leiden daran gehindert hätten, Euer Majestät. Aus diesem Grunde lebte er doch die letzten Jahre sehr zurückgezogen auf seinem Landgut und man kann die junge Comtesse schwerlich tadeln, wenn sie unter diesen Umständen darauf verzichtete, eine Einladung bei Hofe anzunehmen."
"Selbstverständlich stimme ich Euch zu", antwortete der König lächelnd und nickte erneut. "Wie dem auch sei, nun ist die junge Rochefort jedenfalls in Paris und ich hoffe, dass sie nicht so schnell wieder abreisen wird."
"Es ist auch mein Wunsch, das junge Mädchen näher kennenzulernen", bekräftigte die Königin und erntete daraufhin einen erstaunten Blick ihres Mannes. Doch dann lächelte er und ließ sie fortfahren: "Ob die Comtesse jedoch länger hier verweilt, liegt ganz in den Händen Ihrer Tante, der Baronesse de Lebrunne. Wie ich hörte, übertrug man ihr die Vormundschaft über das Mädchen, nachdem Seine Eminenz von uns ging."
Königin Anna sah Mazarin eindringlich an und fragte: "Wisst Ihr Näheres darüber, Eminenz?"
"Oh ja, aber ich bin mir nicht sicher, ob dies der richtige Zeitpunkt ist, uns über diese Angelegenheit zu unterhalten, Eure Majestät", antwortete der Geistliche in demütigem Ton und ließ seine Augen zum König wandern.
"Ihr habt völlig recht, mein Lieber", meinte Louis jovial und winkte dann einen der Diener herbei, dem er etwas zuwisperte. Der Bedienstete entfernte sich kurz darauf und der König wandte sich seiner Gattin zu. "Verzeiht mir, Teuerste, aber ich werde jetzt mit einer Eurer Hofdamen tanzen, oder habt Ihr Einwände, die dagegen sprechen?"
"Keineswegs, Eure Majestät", versicherte ihm Anna in liebenswürdigem Ton. Sie lächelte immer noch, als ihr Mann sich gleich darauf erhob und zu einer der jungen Damen ging, die seit einiger Zeit eine Stellung bei ihr bekleidete. Dann wandte sie sich an Mazarin, der sich neben ihren Thron stellte und vergnügt die Hofgesellschaft beobachtete.
"Stört es Euch wirklich nicht, Eure Majestät?", raunte er der Königin nach einiger Zeit zu, als Louis sich mit der besagten jungen Dame unter die Tanzenden mischte und dabei eine gut gelaunte Miene zeigte.
"Nein, es ist mir gleich", erwiderte sie leise, wobei sie ihr Lächeln beibehielt, während sie scheinbar interessiert die Gäste betrachtete. Dann wandte sie sich offen ihm zu und fragte in gedämpftem Ton: "Es ist also ein unpassender Zeitpunkt, um uns über die junge Rochefort zu unterhalten, mein lieber Giulio? Wie man munkelt, verdankt das Mädchen die Einladung bei Hofe vor allem Euch. Was habt Ihr mit ihr zu schaffen?"
"Die junge Dame war bis vor kurzem noch ein Mündel meines Freundes und Förderers und ich hatte angenommen, dass ich zu ihrem neuen Vormund ernannt würde, da die Comtesse noch minderjährig ist."
"Es wundert mich, dass Baronesse de Lebrunne die Vormundschaft über das Mädchen erhielt. Sicher wisst Ihr, dass diese Person mich einst auszuspionieren versuchte, und zwar im Auftrag Eures verstorbenen Freundes und Förderers, Giulio!"
"Seine Eminenz hatte dabei nur das Wohl Frankreichs im Sinne, Eure Majestät", gab Mazarin mit sanfter Stimme zurück und schenkte Anna einen liebenswürdigen Blick. "Er wollte lediglich sichergehen, dass niemand Eure Gutmütigkeit ausnutzte - darauf sollte die Baronesse de Lebrunne achten. Dass sie es falsch verstand, kann man meinem verstorbenen Freund schwerlich ankreiden, der niemals die Absicht hegte, Euch auszuspionieren, Eure Majestät. Er hat Euch stets sehr verehrt."
Anna ließ ein leises, verächtliches Schnauben hören.
"Es schmerzt mich überaus, dass Ihr immer noch glaubt, er sei Euer Feind gewesen", murmelte Mazarin mit einem unverkennbaren Ausdruck des Bedauerns.
"Lassen wir das", erwiderte die Königin. "Kardinal Richelieu ist tot und er möge in Frieden ruhen. Allerdings bin ich wenig davon erbaut, dass Ihr Baronesse de Lebrunne und ihren Ehemann zu diesem Hofball eingeladen habt. Sie hat mein Vertrauen missbraucht und er hat Frankreich verraten."
"Er hat seine Strafe erhalten und wurde begnadigt. Seitdem hat sich der Baron nichts mehr zuschulden kommen lassen!"
"Trotzdem wünsche ich keinen Kontakt mit den Lebrunnes!", erklärte Anna hart.
"Selbstverständlich respektiere ich Euren Wunsch", sagte Mazarin. "Allerdings geht es mir nicht so sehr um die Lebrunnes, sondern um das Wohl von Comtesse de Rochefort. Dieses junge Mädchen trifft keine Schuld daran, mit ihnen verwandt zu sein. Außerdem scheint sie Tante und Onkel genauso wenig zu schätzen wie Ihr, Eure Majestät, denn die junge Dame - kaum in Paris angekommen - suchte persönlich den Anwalt ihres Vaters auf, der bei mir vorsichtig anfragen ließ, ob es eine Möglichkeit gäbe, Baronesse de Lebrunne die Vormundschaft wieder zu entziehen."
Die Königin blickte den jungen Kardinal erstaunt an.
"Ja, auch ich war überaus verwundert über dieses Ansinnen", fuhr Mazarin fort. "Womöglich teilt Comtesse de Rochefort Eure Ansicht über die Lebrunnes."
"Das spricht für das Mädchen", bemerkte Anna, auf deren Mundwinkeln ein unmerkliches Lächeln erschien. "Entweder hat ihre Tante ihr bereits die Krallen gezeigt oder die Kleine ist klüger als ich vermutete. Jedenfalls wäre ich sehr dafür, sie aus den Fängen dieser Intrigantin zu befreien. Habt Ihr darüber schon mit meinem Mann gesprochen?"
"Oh, ich würde es niemals wagen, Seine Majestät mit derlei Dingen zu belästigen. Den Antrag der Comtesse de Rochefort zu überprüfen ist Aufgabe anderer Personen, wobei ich fürchte, dass diese dem Wunsch der jungen Dame nicht stattgeben werden."
"Welche Begründung führte die Comtesse denn an, um die Vormundschaft der Tante aufheben zu lassen?"
"Sie fürchtet, dass Baronesse de Lebrunne sie finanziell ruinieren wird - nun ja, der Familienanwalt der Rocheforts hat das natürlich sehr viel eleganter formuliert, wobei jedem, der über Verstand verfügt, klar sein dürfte, dass die Comtesse ihre Verwandtschaft der Verschwendung bezichtigt."
Königin Anna nickte und murmelte: "Natürlich kann ich mir das bei den Lebrunnes gut vorstellen, vor allem bei der Baronesse."
"Die Vorwürfe der jungen Dame scheinen dennoch nicht zuzutreffen", wandte Mazarin ein. "Wie es aussieht, halten sich die Ausgaben ihrer Tante in Grenzen."
"Ihr seid offensichtlich gut über die Angelegenheiten von Rocheforts Tochter informiert, Giulio."
"Ich gebe Euch gegenüber gern zu, dass es mir ein großes Anliegen ist, der jungen Dame hilfreich zur Seite zu stehen, weil ihr Vater Frankreich loyal diente und zudem gut mit meinem Vorgänger befreundet war."
"Da die Baronesse de Lebrunne auf Wunsch ihres Bruders zum Vormund seiner Tochter bestimmt wurde, scheint er ihr vertraut zu haben."
"Der Comte de Rochefort war blind gegenüber den Fehlern seiner Schwester, sonst würde seine Tochter sich nicht in dieser für sie offensichtlich schwierigen Situation befinden. Natürlich bin ich geneigt, die Befürchtungen der jungen Dame hinsichtlich ihrer Tante ernstzunehmen, doch die Baronesse scheint klug genug zu sein, um sich vorsichtig zu verhalten. Sie gibt jedenfalls nur so viel Geld aus, wie nötig ist, um ihrer Nichte einen angemessenen Lebensstil zu ermöglichen. Dass sie und ihr Mann jetzt ebenfalls diesem Lebensstil frönen und auf Kosten der Comtesse leben, muss man hinnehmen. Aber alles hält sich in einem angemessenen Rahmen; nichts, was die Befürchtung der jungen Comtesse unterstützt, weshalb ihrer Tante die Vormundschaft wahrscheinlich nicht entzogen wird."
"Dann sollte die junge Dame sich möglichst rasch nach einem annehmbaren Ehemann umsehen, denn ich vermute, bei ihrer Heirat erlischt die Vormundschaft der Tante über sie, nicht wahr?"
"So ist es, Eure Majestät. Allerdings bedarf die Comtesse für eine Eheschließung der Zustimmung der Tante - der Fall stellt sich demnach als nicht ganz so einfach dar, wie er sein könnte."
"Es sei denn, die Comtesse findet die Gunst von jemandem, der mehr zu sagen hat als ihre Tante", meinte die Königin nachdenklich. Sie sah erneut zu Mazarin und murmelte: "Deshalb also habt Ihr dafür gesorgt, dass die junge Rochefort eine Einladung zum Hofball erhielt."
"Majestät haben mich vollkommen durchschaut", bestätigte der Geistliche lächelnd und neigte leicht sein Haupt vor ihr. "Bedauerlicherweise musste ich jedoch auch das Ehepaar Lebrunne einladen, da Comtesse de Rochefort unter der Vormundschaft ihrer Tante steht. Sie hätte der jungen Dame sonst nicht gestattet, nach Paris zu kommen."
"Alle Feinde der Baronesse de Lebrunne sind meine Freunde", murmelte Königin Anna und schaute wieder interessiert auf die Gäste des heutigen Balles, dabei nach Marguerite de Rochefort suchend, die sie in der Menge der Tanzenden fand. Sie hatte das junge Mädchen bereits einige Male mit verschiedenen Herren tanzen sehen und zweifelte keinen Augenblick daran, dass das hübsche, junge Ding bereits mehrere Herzen in Flammen gesetzt hatte. An Heiratsanträge würde es gewiss nicht mangeln, aber sie schätzte, dass die Baronesse de Lebrunne alle ablehnte, damit sie weiterhin ein Luxusleben auf Kosten ihrer Nichte führen konnte.
"Ich wünsche, die nähere Bekanntschaft von Comtesse de Rochefort zu machen", erklärte die Königin an Mazarin gewandt. "Allerdings ohne die Begleitung ihrer Verwandten, dafür werdet Ihr doch sorgen, Giulio?"
"Ich bin sicher, dass sich das einrichten lässt. Madame de Colignon wird die Comtesse begleiten, wenn es Euch recht ist, Majestät?"
"Es ist mir recht - und meinen Mann wird es sicherlich auch freuen, die junge Rochefort ein wenig näher kennenzulernen. Wenn mich nicht alles täuscht, könnte man durchaus etwas arrangieren, damit die Comtesse rasch einen Mann ihrer Wahl heiraten kann."
Mazarin neigte erneut seinen Kopf und lächelte breit.
***
Baronesse de Lebrunne, die nichts davon bemerkte, dass die Königin und Richelieus Nachfolger sie eine Zeitlang beobachteten, war es leid, noch länger bei Aro di Volturi und seinem jüngeren Bruder, der ihr zuvor die Cour gemacht hatte, zu verweilen, fand sie es doch unerträglich, mit welch bewundernden Blicken die beiden italienischen Adligen ihrer Nichte beim Tanzen zusahen. Gekränkt erhob sie sich, in der Absicht, zu ihrem Mann zu gehen. Doch dann bemerkte sie verwundert, dass jener sich nicht mehr bei den Eheleuten Fournier und deren Bekanntenkreis aufhielt. Sie sah sich im großen Saal auf, konnte ihren Ehemann jedoch nirgends mehr erblicken.
Himmel, wo trieb sich Roger nun wieder herum? Er würde doch wohl nicht ausgerechnet auf dem königlichen Ball ein Abenteuer suchen und sich mit einer der Damen oder einer Bediensteten heimlich in einem leeren Zimmer des Schlosses vergnügen!
Adrienne kannte ihren Mann gut genug, um zu wissen, dass dies kein abwegiger Gedanke war.
Schlecht gelaunt ging sie langsam im Saal umher, dabei hin und wieder einige ihrer Bekannten grüßend, während sie ihren Ehemann suchte. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie Roger endlich im Gespräch mit einigen anderen Herren fand, die alle sehr dem Wein zusprachen. Nun, wenigstens war ihr Gemahl keinem Weiberrock erlegen, auch wenn es ihr nicht besonders gefiel, dass er allem Anschein nach inzwischen ziemlich viel getrunken haben musste.
Sie gesellte sich umgehend an die Seite ihres Mannes, der, kaum dass er sie sah, gut gelaunt begrüßte und den anderen Herren, die Adrienne unbekannt waren, als seine Gemahlin vorstellte.
Wie es sich für wohlerzogene Männer gehörte, neigten Rogers Gesprächspartner leicht das Haupt vor ihr und einer von ihnen versicherte ihr, sehr erfreut zu sein, sie kennenzulernen.
"Vielen Dank, meine Herren", gab sie zurück und verzog ihren Mund zu einem kühlen Lächeln. "Entschuldigt bitte, dass ich Euch der Gesellschaft meines Gatten beraube, aber ich muss dringend etwas Wichtiges mit ihm besprechen."
Rogers Gesprächspartner lächelten verständnisvoll, während der Baron von der Aussicht, dass seine Frau mit ihm reden wollte, nicht besonders erbaut war. Doch er ließ es zu, dass sich Adrienne in seinen Arm unterhakte und mit ihm den großen Saal durch eine der vielen Türen verließ. Sie traten auf den Flur hinaus.
"Nun?", fragte Lebrunne gereizt. "Was gibt es denn so Wichtiges?"
"Nicht hier!", gab seine Frau in gedämpftem Ton zurück und ließ ihre Blicke rasch zu den Dienstboten schweifen, die neben den Türen postiert waren. "Komm, lass uns irgendwohin gehen, wo wir uns ungestört unterhalten können."
"Warum musst du unbedingt jetzt ein Gespräch mit mir führen? Das hat doch sicher bis Morgen Zeit!"
"Nein, nicht für mich!"
Entschlossen führte Adrienne ihren Mann mit sich den Flur entlang, bis sie einen Nebengang entdeckte, der schwach beleuchtet und menschenleer war. Sie zerrte ihn mit sich dort hinein bis zu einer Stelle, an der sie ihn gerade noch erkennen konnte. Dann löste sie ihren Arm aus seinem und stellte sich im frontal gegenüber.
"Wie kommst du eigentlich dazu, vor aller Öffentlichkeit mit meiner Nichte, diesem kleinen Biest, zu tanzen?!", zischte sie ihn in gedämpften, jedoch vorwurfsvollen Ton an. "Was soll man denn davon halten?!"
"Da ist doch nichts dabei!", entgegnete Roger ärgerlich. "Wie du bereits sagtest, ist das Kind mit uns verwandt. Warum soll ein Onkel denn nicht mit seiner Nichte tanzen?"
Adrienne stieß ein wütendes Schnauben aus, was ihr Mann mit einem leichten Grinsen quittierte. Doch dann wurde er wieder ernst und fuhr fort: "Ich hielt es für angebracht, mit Marguerite zu tanzen, damit nicht wieder einer dieser aalglatten Italiener sie dazu auffordert. Es stört mich nämlich sehr, dass sie sich an deine Nichte heranmachen!"
"Sei unbesorgt, diese Herren hegen keine ernsthaften Absichten, sondern wollen sich lediglich auf dem Ball amüsieren", sagte Adrienne gelangweilt.
"Ach? Wie kommst du denn zu dieser Erkenntnis, holde Gattin?!"
"Conte Aro sprach davon, dass er sich danach sehnt, bald wieder in die Heimat zurückzukehren - und er wirkte dabei äußerst glaubhaft."
"Kann schon sein, aber er sprach nicht davon, dass er mit seinen Brüdern allein nach Italien zurückfahren will, oder?"
"Was soll das heißen?!", fuhr Adrienne erstaunt auf.
"Meiner Meinung nach ist vor allem dieser Aro sehr erpicht darauf, deine Nichte als Braut heimzuführen."
"Unsinn! Was veranlasst dich zu dieser Annahme?!"
Daraufhin berichtete Lebrunne seiner Frau, wie geschickt Aro es vorhin anstellte, sich als Tanzpartner an Marguerites Seite zu schmuggeln, während er selbst sich neben der kleinen Fournier wiederfand. Und auf seine leise Drohung gegenüber dem schwarzhaarigen Conte hätte ihm dieser nur ein spöttisches Grinsen gezeigt.
"Deine Nichte hingegen strahlte er an wie ein Honigkuchenpferd", beendete der Baron seine Ausführungen. "Glaub mir, er ist hinter ihr her!"
"Nun ja... könnte schon sein", murmelte Adrienne. "Doch vielleicht treibt dieser Mann auch nur seine Spielchen, ohne sich darüber Gedanken zu machen. Schließlich sind wir hier auf einem Silvesterball, es ist der letzte Tag des Jahres und da will man sich vor allem amüsieren. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Conte Aro wirklich heiraten will - schon gar nicht so ein launisches Geschöpf wie Marguerite, dieses kleine Biest."
"Immerhin hat dieses kleine Biest, wie du die Tochter deines Bruders zu nennen beliebst, wegen diesem Conte Aro meinem guten Freund Rouven einen Korb gegeben, als er sie um den ersten Tanz bat. Außerdem sieht es ganz so aus, als ob Marguerite die Gesellschaft dieses schmierigen Italieners genießt, denn sie strahlt ihn ebenfalls an und wirkt so, als würde sie bei ihm alles um sich herum vergessen."
"Das hat sicher nichts zu bedeuten! Die Volturi-Brüder scheinen sich mit dem Gedanken zu tragen, noch im Januar nach Italien zurückzufahren."
"Hat das einer dieser Italiener gesagt, mein Schatz?"
"Nicht so direkt, aber die Art, wie Conte Aro von seinem Heimweh sprach..."
"Dieser Mann besitzt eine schnelle Zunge, mit der er viel Gewäsch von sich gibt. Das meiste davon ist schwer zu fassen, doppelzüngig, um genau zu sein", unterbrach Lebrunne seine Frau. "Möglicherweise lag es tatsächlich nicht in seiner Absicht zu heiraten, als er mit seinen Brüdern nach Paris kam, aber nun, da er deine Nichte kennt, trägt er sich bestimmt mit dem Gedanken, um ihre Hand anzuhalten. Schließlich scheint er überaus entzückt von ihr zu sein und sie ist darüber hinaus eine gute Partie."
"Man sagt, dass die Volturi-Brüder selbst eine überaus gute Partie sind", wandte Adrienne ein. "Sie haben es gewiss nicht nötig, sich nach einer reichen Ehefrau umzusehen..."
Die Baronin erinnerte sich bei diesen Worten an Caius, spürte die plötzliche Hitze auf ihren Wangen und war froh darüber, dass ihr Ehemann in dem abgedunkelten Teil des Schlosses nicht sehen konnte, dass sie rot wurde. Der junge Graf gefiel ihr recht gut und sie hätte nichts dagegen, sich einmal heimlich mit ihm zu treffen... der hübsche Caius, dessen Worte für sie eindeutig gewesen waren, hegte ganz gewiss noch keine Gedanken an eine ernsthafte Bindung, sondern wollte sich amüsieren, ob das Objekt seiner Begierde nun verheiratet oder ledig war.
"Die Leute können viel erzählen, wenn der Tag lang ist", erwiderte der Baron verächtlich. "Vielleicht haben die Volturi-Brüder dieses Gerücht um ihren angeblichen Reichtum selbst gestreut, damit niemand auf die Idee kommt, dass sie in Wahrheit 'Goldgräber' sind. [1] Schließlich ist allgemein bekannt, dass man auf großen Bällen, vor allem wenn sie von den Herrschern gegeben werden, meistens viele junge, unverheiratete Damen kennenlernen kann - potenzielle Ehefrauen, die oft über eine stattliche Mitgift verfügen."
"Ich bin davon überzeugt, dass deine Einschätzung der Volturi-Brüder als 'Goldgräber' vollkommen falsch ist."
"Selbst, wenn sie tatsächlich sehr wohlhabende Männer sind, Adrienne, bin ich ganz und gar dagegen, dass einer von ihnen deine Nichte zur Frau nimmt!"
"Diese Meinung teile ich mit dir", pflichtete die Baronesse ihm bei. "Aber was sollen wir tun, Roger? Wir können Marguerite ja schlecht einsperren. Es würde auffallen, wenn sie in nächster Zeit Einladungen erhält und wir ihr verbieten auszugehen. Vermutlich hat das kleine Biest sogar schon seine Dienstboten-Freundin Lefevre darin instruiert, in diesem Falle herumzuerzählen, dass wir sie daran hindern. Das dürfte ein ganz schlechtes Licht auf uns werfen."
"Wer redet denn davon, dass Marguerite nicht mehr ausgehen darf? Wir werden sie natürlich immer begleiten, aber wir müssen nicht jede Einladung annehmen! Darüber wird sich niemand wundern, andere machen es auch so, wenn sie heiratsfähige Töchter haben."
"Nun gut, warum nicht? Dein Vorschlag klingt vernünftig."
"Es wäre mir auch sehr lieb, wenn du dich wieder mit Rouven versöhnst. Er kann unmöglich etwas gesagt oder getan haben, das dein abweisendes Verhalten ihm gegenüber rechtfertigt."
"Mein Verhalten ihm gegenüber resultiert vor allem aus deinem lächerlichen Verdacht, ich könnte dich mit ihm betrügen!"
"Tut mir leid, Adrienne, inzwischen habe ich eingesehen, dass meine Eifersucht unbegründet war", behauptete Lebrunne. "Bitte, lass deinen Ärger nicht an meinem Freund aus, der gar nichts dafür kann."
"Woher kommt diese plötzliche Einsicht?", fragte seine Frau misstrauisch.
"Bitte, meine Liebe, du weißt genau, wie empfindlich ich darauf reagiere, wenn du mir mit alten Geschichten kommst! Also lassen wir das!"
"Schön, aber ich sehe keinen Grund dafür, mein distanziertes Verhalten gegenüber deinem Freund Guignot aufzugeben."
"Er ist mein Freund und könnte gut zu unserem Verbündeten werden."
"Wie das?"
"Nun, Rouven ist ganz vernarrt in deine Nichte und angesichts der Tatsache, dass sie sehr eigenwillig ist, wäre es doch für uns alle eine gute Lösung, wenn wir Marguerite mit ihm verheiraten würden."
"WIE BITTE?!"
"Rouven interessiert sich hauptsächlich für Marguerite und sehnt sich danach, dies widerspenstige Geschöpf zu zähmen. Wenn wir ihm ihre Hand geben, wäre er uns sicher sehr dankbar und hätte auch gewiss nichts dagegen, wenn wir alle zusammen auf dem Landsitz eurer Familie leben würden."
"Warum sollte Rouven sich das Leben mit einem solchen Trotzkopf schwermachen, wo er doch einige andere heiratsfähige Mädchen kennt, die ein sehr viel angenehmeres Wesen als Marguerite haben?"
"Deine Nichte ist ausgesprochen hübsch und Rouven scheint verliebt zu sein."
"Nach allem, was ich heute Abend beobachten konnte, erwidert Marguerite die Gefühle deines Freundes für sie nicht."
"Mir wäre es auf jeden Fall lieber, wenn wir deine Nichte zu einer Heirat mit Rouven zwingen als dass sie sich mit diesem Aro di Volturi einlässt."
"Marguerite soll überhaupt nicht heiraten!"
"Dann wird in naher Zukunft einer der Gäste heute Abend bei dir um ihre Hand anhalten - und wie willst du eine Ablehnung gegenüber einem jungen Edelmann aus gutem Hause rechtfertigen? Das würde genauso auffallen wie ein Einsperren Marguerites. - Du solltest meinen Vorschlag wenigstens ernsthaft in Erwägung ziehen und darüber nachdenken. Deine Nichte mit Rouven zu verheiraten wäre die beste Lösung für uns alle."
"Und wenn dein guter Freund uns nach der Heirat aus dem Schloss wirft?"
"Das wird er nicht tun, glaub mir", versicherte Roger.
"Woher nimmst du dein Vertrauen in deinen Freund?", fragte Adrienne irritiert.
"Es ist weniger das Vertrauen in meinen Freund als das Vertrauen in nicht ungefährliche Ingredienzien", meinte der Baron spöttisch. "Falls sich Rouven als falscher Freund erweist und uns loswerden will, wird er möglicherweise bald unpässlich und Marguerite hat alle Hände damit zu tun, ihren kranken Gemahl zu pflegen - wenn sie selbst nicht auch krank wird... Doch ich könnte mir vorstellen, dass ein unbedarftes junges Ding wie sie nach der Hochzeitsnacht ganz zahm sein wird... vor allem, wenn man sie gegen ihren Willen mit einem Mann verheiratet hat, der sie in der Brautnacht mit Gewalt nimmt, falls sie sich nicht fügt."
"Du hast wohl an alles gedacht, was?!", erkundigte sich Adrienne, die über die Worte ihres Mannes ein wenig erschrocken war. Zwar wollte sie selbst Marguerite auch gern loswerden, aber doch auf eine andere Art und vor allem ganz weit weg von ihr, so dass sie sich mit den Konsequenzen einer Entführung nicht auseinandersetzen musste.
"Hör zu, im Grunde möchte ich nicht, dass es so weit kommt, aber wir leben recht gut, seitdem du die Vormundschaft über deine Nichte hast. Wer weiß, wenn man sie mit Rouven verheiratet, kommt sie womöglich zur Besinnung und fügt sich. Schließlich kannst du bestimmen, wen sie zum Manne nimmt, nicht wahr?"
"Im Grunde hast du recht..."
"Bei manchen Mädchen kommt die Liebe während der Ehe - das könnte bei einem so unerfahrenen Ding wie Marguerite auch so sein. Da Rouven in sie verliebt ist und sie sicherlich verwöhnen wird, findet sie womöglich mit der Zeit auch Gefallen an ihm. Dann ist sie uns am Ende sogar dankbar, dass wir sie zu dieser Ehe zwangen."
"Das halte ich zwar für sehr unwahrscheinlich, aber wenn Rouven nach unseren Regeln mitspielt, hätten wir das kleine Biest als seine Ehefrau wenigstens unter Kontrolle. Niemand wird es Rouven verübeln, wenn er wenig Neigung zeigt, mit seiner jungen Frau auszugehen, sondern lieber mit ihr zurückgezogen auf dem Familiensitz der Rocheforts leben will. Alle Welt wird denken, dass sie ihre Liebe genießen."
"Ganz genau!"
"Es gibt da nur noch ein Problem, Roger: Wie halten wir unsere Nachbarin, die alte Madame de Colignon, von uns fern?"
"Indem wir jeglichen Kontakt deiner Nichte mit ihr unterbinden. Als Ehemann kann Rouven es seiner Frau verbieten."
"Hm... nun ja, möglicherweise erledigt sich dieses Problem auch von selbst."
"Wie meinst du das, Adrienne?"
"Marcus di Volturi scheint Madame de Colignon die Cour zu machen. Sieht ganz so aus, als trüge er sich mit dem Gedanken, sie zu heiraten - und unsere alte Nachbarin scheint dem nicht abgeneigt zu sein. Die beiden mögen sich offensichtlich - einfach lächerlich, nicht wahr?"
"Aber warum denn? Madame de Colignon ist Witwe und sicherlich oft einsam und diesem Conte Marcus geht es vielleicht ebenso. Soll er sie also heiraten und mit nach Italien nehmen, dann sind wir sie los!"
"Natürlich würde es mir gefallen, sie weit weg von uns zu wissen - aber im Grunde finde ich ihr Verhalten einfach skandalös. Sich in ihrem Alter noch die Cour machen zu lassen und das auf einem Ball vor aller Augen."
"Was kümmern dich die Angelegenheiten unserer Nachbarin? Gönn es der einsamen Witwe!", meinte ihr Mann und murmelte dann: "Jetzt begreife ich erst... Rouven hat das alles falsch verstanden..."
"Wovon redest du, Roger?", fragte Adrienne verständnislos.
"Rouven hegte die Vermutung, dass Madame de Colignon dein Vertrauen ausgenutzt habe, um Marguerite dabei behilflich zu sein, ihr quasi durch die Hintertür einen Ehemann zu besorgen. Er meinte, unsere Nachbarin hätte deine Nichte zu diesem Zweck mit den Volturi-Brüder bekannt gemacht."
"Wenn Madame de Colignon sie mit einem der Grafen verkuppeln will, sind diese Italiener ganz sicherlich sehr wohlhabende, angesehene Männer. Denn es ist offensichtlich, dass die alte Dame alles tut, damit es meiner Nichte gut geht - ganz im Sinne meines Bruders."
"Demnach hältst du es also für möglich, dass Rouven mit seiner Vermutung recht hat und die Colignon dein Vertrauen missbrauchte?"
"Vor allem versteht Rouven nicht, dass unsere Nachbarin eine Freundin meines Bruders ist und ihr Marguerites Wohl tatsächlich am Herzen liegt. Dasselbe dachte sie auch von mir und war gewiss der Meinung, in meinem Sinn zu handeln. Alles halb so schlimm. Dank ihr genieße ich nun wieder ein halbwegs gutes Ansehen - sicherlich haben wir es nur ihr zu verdanken, dass wir heute Abend eingeladen wurden."
"Wie auch immer, ich wünsche der alten Dame alles Gute in ihrer neuen Ehe!"
"Du bist wirklich unmöglich, Roger!"
Der Baron lachte verhalten und murmelte dann: "Versöhn dich möglichst rasch mit Rouven, damit wir bald wieder auf euren Familienstammsitz zurückkehren und die schmierigen Italiener vergessen können."
***
Marcus tanzte an diesem Abend noch zweimal mit Madame de Colignon, ehe er sich zu Aro gesellte, der es sich an einem der Tische in der Ecke gemütlich gemacht und sich ein Glas Rotwein eingeschenkt hatte.
"Du hegst doch nicht wirklich die Absicht, etwas davon zu trinken?", meinte er spöttisch und blickte den schwarzhaarigen Vampir belustigt an.
"Ganz und gar nicht", bestätigte Aro grinsend, während er seinen Blick unverwandt im Raum umherschweifen ließ, dabei Marguerite mit seinen Blicken verfolgend. "Allerdings ist es doch eine recht gute Tarnung."
"Was war eigentlich vorhin zwischen Caius und dir? Ich konnte starke Spannungen, ja sogar Hass spüren. Hat er irgendetwas angestellt?"
"Es handelte sich lediglich um ein Missverständnis, das wir inzwischen bereinigt haben."
"Ein Missverständnis - so, so...? Hat dieses Missverständnis womöglich etwas mit deiner kleinen Sirene zu tun?"
Jetzt erst schenkte Aro seinem Freund einen verwunderten Blick.
"Wie kommst du darauf, Marcus?"
"Caius findet auch großen Gefallen an Comtesse Marguerite, das war unverkennbar."
"Wem würde sie nicht gefallen? Sie ist doch wirklich sehr hübsch."
"Ja, und besitzt trotz allem ein angenehmes Wesen. Außerdem ist sie überaus in dich verliebt, Aro. Was soll daraus werden?"
"Was soll aus Madame de Colignon und dir werden, Marcus?"
"Möglicherweise haben wir beide dieselben Absichten, was die Frauen unserer Wahl betrifft. Allerdings weiß ich noch nicht, wie wir sie nach Volterra locken könnten, ohne dass es jemand aus ihrem Bekanntenkreis bemerkt."
"Nun... wir könnten einen Bericht lancieren von einem bedauerlichen Raubüberfall auf unsere Kutsche... oder wir teilen lediglich durch Eilboten mit, dass die Damen in den Stand der Ehe getreten sind und bei ihren Männern in Italien zu bleiben gedenken. Niemand wird daran Anstoß nehmen."
"Außer der Baronesse de Lebrunne und ihrem Ehemann... wir sollten dabei auch nicht diesen Guignot vergessen, den es wahnsinnig macht, dass Marguerite ihm die kalte Schulter zeigt und mit anderen Männern tanzt. Dich hasst die Hakennase ganz besonders, Aro, da ihm inzwischen klar ist, wem Marguerite ihr Herz geschenkt hat."
"Ja, ja, ich weiß... und ich genieße es, diesen Frauenheld leiden zu sehen. Kein Rock ist vor diesem Widerling sicher, der es sogar mit der Frau seines Freundes treibt. Selbst wenn ich nicht so verliebt in Marguerite wäre, würde ich sie diesem Kerl nicht in die Hände fallen lassen."
"Guignot hat nur Gefühle für Marguerite, die anderen Frauen hier sind ihm gleichgültig. Willst du etwas gegen deinen Konkurrenten unternehmen?"
"Nein, er hat genug damit zu tun, darauf zu achten, dass ihm Tante Lebrunne nicht in seine Pläne pfuscht - damit ist er vorerst beschäftigt; und die Angelegenheit Guignot erledigt sich wahrscheinlich von selbst, wenn ihr Mann erstmal dahinterkommt, dass seine Frau tatsächlich eine heimliche Affäre mit ihm unterhält."
"Glaube kaum, dass ihn das stört. Lebrunne hält selbst nichts von ehelicher Treue. Mir ist allerdings aufgefallen, dass er sich sehr von Marguerite angezogen fühlt. Du solltest besser auch auf ihn ein Auge haben."
"Lebrunne ist harmlos - um ihn mache ich mir keine Sorgen", tat Aro es ab. "Aber sag mal, Marcus, findest du es nicht seltsam, dass sich die Königin so lange mit einem Geistlichen unterhält?"
"Er ist der Nachfolger des verstorbenen Ersten Ministers - die beiden mögen sich, was Ihrer Majestät sehr gut tut; bekommt sie doch wenig Aufmerksamkeit von ihrem Gemahl, der sie nicht liebt. Kein leichtes Leben für eine einsame Frau, die nur sehr wenige echte Freunde am Hofe hat."
"Von arrangierten Ehen habe ich noch nie etwas gehalten."
"Bisher hast du überhaupt nichts von engen Liebesbindungen gehalten, Aro."
"Das ist wahr, aber manche Dinge ändern sich."
"Im Übrigen war es sehr nett von Caius und dir, mit Mademoiselle Lefevre zu tanzen."
"Nun, ich tat es, um Marguerite eine Freude zu machen. Sie macht sich Sorgen um ihre Freundin. Allerdings ahnt meine Liebste nicht, dass Louise und der Verwalter von Schloss Rochefort sich lieben, aber bisher aus Rücksicht auf Marguerite noch nicht darum baten, heiraten zu dürfen."
"Marguerite hätte gewiss ihre Einwilligung dazu gegeben."
"Das denke ich auch, aber derzeit herrscht Tante Lebrunne auf Schloss Rochefort. Sie wird dem jungen Paar wohl keine Heiratserlaubnis geben."
"Eine sehr merkwürdige Frau", meinte Marcus und schüttelte den Kopf. "Wollen wir ihren Mann und sie nicht einfach verschwinden lassen?"
"Caius hatte dieselbe Idee, aber dann bekäme Marguerite einen neuen Vormund... nein, nein, lassen wir den Dingen ihren Lauf. Guignot selbst will die Tante verschwinden lassen und hofft dabei auf die Hilfe von Baron Lebrunne. Es interessiert mich außerordentlich, ob dieser ihm tatsächlich bei seinem Vorhaben helfen wird... und wenn das der Fall ist, sind wir Vampire im Vergleich zu diesen beiden Waisenknaben."
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[1] Goldgräber = so bezeichnet man Männer, die eine reiche Frau heiraten wollen, weil sie selbst nicht über viel Geld verfügen oder gar nichts besitzen.
24. Kapitel
Wer ist so fest, den nichts verführen kann?
William Shakespeare (1564 - 1616)
~~~~~~
Caius unterhielt sich gerade mit Louise Lefevre, als das Ehepaar Lebrunne in den großen Saal zurückkehrte.
"Entschuldigt mich bitte, meine Liebe", wandte er sich an die junge Frau, verneigte sich kurz vor ihr und ging auf die Baronesse zu, während deren Mann wieder den Kreis seiner Bekannten aufsuchte, aus dem ihn seine Gemahlin gerissen hatte.
"Ich habe Euch bereits schmerzlich vermisst", begrüßte Caius sie. "Umso glücklicher bin ich jetzt über Eure Rückkehr. Hatte Euer Gatte denn etwas Wichtiges mit Euch zu besprechen?"
"Oh ja, mein Lieber, Privatangelegenheiten", entgegnete Adrienne, deren Wangen sich wieder rot verfärbten. Der Blick des jungen Grafen schien ihr alles zu versprechen, wonach sie sich sehnte. Sie riss sich zusammen und fuhr fort: "Nun, das ist momentan nicht von Belang."
"Alles, was Euch betrifft, ruft mein höchstes Interesse vor, Teuerste", schmeichelte Caius ihr. "Darf ich Euch nochmals um einen Tanz bitten?"
"Gern", sagte die Baronesse und reichte ihm lächelnd ihre Hand. Er ergriff sie und führte sie zum Parkett, wo sich bereits einige Paare für den nächsten Tanz aufstellten. Unter ihnen befanden sich auch Marcus und Madame de Colignon, wie Caius amüsiert registrierte.
Als die Musik erklang, widmete sich der blonde Vampir jedoch nur noch seiner Tanzpartnerin, der er ein charmantes Lächeln schenkte.
"Freut mich sehr, dass Ihr mir nichts nachtragt, Baronesse", murmelte er leise.
"Nachdem wir das Missverständnis zwischen uns ausgeräumt haben, gibt es keinen Grund mehr dafür", gab sie kokett zurück.
"Ihr ahnt nicht, wie glücklich mich diese Worte aus Eurem Mund stimmen, teuerste Adrienne. Verzeiht mir die Kühnheit, Euch bei Eurem Vornamen anzusprechen, aber ich fühle mich dermaßen stark zu Euch hingezogen, dass ich nicht länger so tun kann, als seien wir Fremde füreinander."
Das Gesicht der Baronesse wurde von einem dunklen Rotton überzogen und sie schlug die Augen nieder, als sei sie wieder ein unbedarftes junges Mädchen, welches zum ersten Mal auf einem Ball wäre. Ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr verspürt hatte und das ihr gut gefiel, erinnerte es sie doch an ihre Jugend... damals war sie noch ledig und besaß freie Auswahl unter den unverheirateten Edelmännern, die sie mit zahlreichen Komplimenten bedachten... damals, als sie noch die Comtesse de Rochefort war...
"Wie ich sehe, empfindet Ihr das Gleiche für mich", wisperte ihr Caius mit süßer Stimme zu und Adrienne glaubte, auf Wolken zu schweben. Nur allzu gern ließ sie sich von ihm aus der Mitte der Tanzenden in Richtung Terrasse dirigieren. Inzwischen war ihr sehr heiß geworden und sie sehnte sich nach der kühlenden Nachtluft, die ihr sicherlich gut tun würde - ebenso wie die Gesellschaft des jungen Grafen. Sie fand sich mit ihm schließlich im Garten wieder, wo Caius sie mit sich an eine Stelle der Terrasse zog, die durch das Licht aus dem Festsaal erleuchtet wurde, welches aus den mit Vorhängen zugezogenen Fenstern fiel, sie beide jedoch vor neugierigen Blicken schützte.
"Mon Dieu, was tut Ihr nur mit mir, Caius?", flüsterte sie atemlos und starrte in das Antlitz des blonden Jünglings, dessen Züge durch das gelbliche Licht, welches durch die hohen Fenster des Palastes drangen, fast golden wirkte - so schön, dass es beinahe unwirklich schien. Sie hob die Hand und streichelte ihm sanft über die Wange. Der junge Graf lächelte sie an und es hatte den Anschein, als würde sich die Farbe seiner Augen ebenfalls verändern, aber das konnte ja nicht sein. Kein Mensch besaß güldene Augen - wie irritierend das Licht doch im Dunkeln wirkte. Sie war wie in einem Traum gefangen und begann, sich nach den Lippen des blonden Jünglings zu sehnen. Er zog sie näher an sich und sie spürte seinen schlanken Leib an ihrem. Er neigte sein Haupt zu ihr hinunter und gleich... gleich...
"Adrienne!", drang da die besorgte Stimme Guignots durch die Nacht. Augenblicklich erwachte die Baronesse aus ihrem tranceartigen Zustand, wand sich rasch aus den Armen des jungen Grafen und schaute sich um. Caius folgte ihrem Blick und brummelte ärgerlich: "Was will dieser Mensch jetzt hier?!"
"Keine Ahnung", flüsterte Adrienne. "Bitte, bewahrt Contenance!"
Guignot kam näher auf die beiden zu und betrachtete sie einen Moment lang erstaunt.
"Gibt es hier ein Problem?", erkundigte sich der hakennasige Mann.
"Noch nicht!", entgegnete Caius, dessen Brauen sich bedrohlich zusammenzogen.
"Aber nein, wie kommt Ihr darauf, Rouven?", meinte die Baronesse in beschwichtigendem Ton.
"Nun, Euer Mann bemerkte, dass Ihr plötzlich verschwunden seid und wir machten uns auf die Suche nach Euch", erklärte Guignot.
"Überaus verwunderlich, wie ich finde", mischte sich Caius erneut in einem grantigen Ton ein. "Den ganzen Abend war die Baronesse meistens sich selbst überlassen. Was ist geschehen, dass Ihr Gemahl sie plötzlich vermisst?"
"Die Gedankengänge des Barons sind mir ein Rätsel", antwortete der hakennasige Mann herablassend. "Ihr müsst ihn schon selbst fragen, was immer Ihr von ihm wissen wollt. Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass ihm gefällt, in welcher Gesellschaft sich seine Frau befindet."
"Rouven! Wie könnt Ihr es wagen, derart mit Conte di Volturi zu sprechen!", empörte sich Adrienne daraufhin. "Nun, wenn es Euch auch nichts angeht, nehmt zur Kenntnis, dass Conte di Volturi so freundlich war, mich an die frische Luft zu begleiten, weil mir in dem großen Saal plötzlich überaus heiß wurde. Und nun geht! Wie Ihr wisst, grolle ich Euch immer noch!"
Caius wandte sich augenblicklich wieder der Baronesse zu und fragte: "Auf welche Weise hat dieser Mann Euch gekränkt, Teuerste?"
"Eine sehr persönliche Sache", erwiderte Adrienne verlegen.
"Das denke ich mir; und da Ihr nicht darüber sprechen wollt, muss er Euch auf das Schlimmste beleidigt haben. Selbstverständlich werde ich ihn dafür zur Rechenschaft ziehen."
"Ihr wollt mich zur Rechenschaft ziehen?!", entfuhr es den Lippen Guignots überrascht.
"Ja, ganz recht - da mir scheint, dass Ihr die Ehre dieser Dame beleidigt habt!", gab der blonde Jüngling streitlustig zurück.
"Bitte, Caius, beruhigt Euch", versuchte Adrienne, die jetzt äußerst beunruhigt wirkte, ihn zu beschwichtigen. "Monsieur Guignot kann eigentlich nichts dafür - es ist nur ein dummes Missverständnis gewesen."
"Ein Missverständnis?"
"Ja, Caius, und mein Mann trägt die Hauptlast daran."
"Bitte, Madame, beschuldigt jetzt nicht auch noch Euren Mann", meldete Guignot sich wieder zu Wort, der den Eindruck hatte, dass die Situation aufgrund des impulsiven Temperaments des jungen Italieners jeden Augenblick eskalieren konnte.
"Haltet Euch raus, Guignot!", fuhr Adrienne ihren Liebhaber unvermittelt an. "Wärt Ihr nur diskret gewesen, müssten wir jetzt nicht dieses Gespräch führen."
"Genau! Haltet Euch raus!", bekräftigte Caius die Worte der Baronesse. "Und am besten wäre es, wenn Ihr einfach verschwändet, damit Madame mir endlich unter vier Augen verraten kann, auf welche Weise ihr Gemahl dazu beitrug, dass sie böse mit Euch ist."
"Oh, das würde mich auch sehr interessieren!", gab der Lebemann zurück und heftete seinen Blick nun ebenfalls auf Adrienne, die in diesem Moment bereute, zu viel gesagt zu haben. Aber sie sah ein, dass sie den beiden Herren eine Erklärung schuldete, damit diese keine hitzige Verabredung zum Duell träfen. Das fehlte gerade noch, um ihrem Ehegespons erneut Anlass zu geben, an ihrer Treue zu zweifeln. Außerdem würde sie - eine seit Jahren verheiratete Frau - zum Gespött von ganz Paris werden, wenn es die Runde unter all ihren Bekannten machte, dass sich zwei ledige Männer wegen ihr duellierten!
"Mein Mann ist sehr eifersüchtig", begann die Baronesse daher und blickte von Caius zu Rouven und wieder zurück. Jetzt, da der Zauber der Verführung, der von dem jungen Grafen ausging, verflogen war, wirkten die Gesichter der beiden Männer durch das vom Schloss herausdringende Licht beinahe gespenstisch; und zum ersten Mal an diesem Abend verspürte sie so etwas wie ein Empfinden der Bedrohung, selbst wenn sie sich nicht erklären konnte, woher es kam. Rouven war ihr Liebhaber und Caius hatte ihr vor wenigen Minuten noch das Gefühl vermittelt, sie leidenschaftlich zu begehren. Vermutlich hatte sie zu viel von dem guten Wein getrunken, der ihr jetzt die Sinne verwirrte.
"Verzeiht mir, aber es ist für mich nicht einfach, darüber zu sprechen", fuhr sie dann fort. "Vor kurzem erst bezichtigte mich mein Mann völlig zu Unrecht, eine Affäre mit Monsieur de Guignot zu unterhalten, seinem besten Freund."
"Wie bitte?!", entfuhr es dem hakennasigen Mann.
"Ja, Rouven, so absurd es ist - er schien tatsächlich davon überzeugt zu sein, dass ich ihn mit Euch betrüge", bestätigte ihm Adrienne.
"Wirklich überaus absurd", bemerkte Caius dazu in spöttischem Ton und warf dem hakennasigen Mann einen abschätzigen Blick zu, ehe er sich wieder der Baronesse zuwandte. "Ihr habt sicherlich einen besseren Geschmack, Madame."
"Also, ich muss doch sehr bitten!", schnaubte Guignot. "Selbstverständlich besteht an der Tugendhaftigkeit der Baronesse de Lebrunne nicht der geringste Zweifel. Jemand muss Roger gegen sie und mich aufgehetzt haben!"
"Vielleicht verhält es sich aber einfach nur so, dass der Baron seiner Gattin nicht die Aufmerksamkeit schenkt, die ihr zukommt", meinte Caius. "Womöglich versucht jemand, einen Keil zwischen den Baron und Euch zu treiben, weil er selbst die Baronesse verehrt und auf diese Weise ihr näherzukommen glaubt, Monsieur Guignot. Schließlich ist sie immer noch eine recht begehrenswerte Dame, nicht wahr?"
"Ihr solltet besser Eure Zunge in Zaum halten, Conte di Volturi", zischte der hakennasige Lebemann aufgebracht. "Adrienne ist eine verheiratete Frau und damit tabu!"
"Wollt Ihr mir etwa weismachen, dass Ihr Euch immer an Moralvorschriften haltet, Guignot?!"
"Das reicht jetzt!", brachte sich die Baronesse in energischem Ton wieder in Erinnerung. "Wegen der Eifersucht meines Mannes verhielt ich mich gegenüber Monsieur Guignot kühl, um ihn und mich zu schützen und nicht erneut ein unberechtigtes Misstrauen meines Gatten hervorzurufen. Diese Erklärung sollte Euch wohl genügen, Ihr Herren, oder? Und es wäre mir lieb, wenn Ihr beide auf der Stelle damit aufhört, Euch gegenseitig als Feinde zu betrachten. - Guignot, nehmt nochmals zur Kenntnis, dass Conte di Volturi nur galant sein wollte, als er mich in den Garten hinausbegleitete. Er tat dies ohne jegliche Hintergedanken!"
"So ist es!", stimmte Caius grinsend zu und verneigte sich leicht vor der Baronesse. Dann wandte er sich um und schritt ins Schloss zurück. Adrienne und ihr Liebhaber sahen ihm nach, die eine enttäuscht, der andere konsterniert.
Guignot wusste nicht recht warum, aber ihn beschlich das dumpfe Gefühl, dass er den jungen Volturi gerade daran gehindert hatte, etwas Schlimmes zu tun. Nicht, dass er eifersüchtig darauf wäre, dass der blonde Jüngling versucht hatte, die Gattin seines Freundes zu verführen, aber irgendwie passte das ganz und gar nicht zusammen. Er hatte schließlich Augen im Kopf und gesehen, auf welche Weise derselbe Jüngling vorhin Marguerite angeschaut hatte. Niemand konnte ihm einreden, dass der junge Volturi nicht auch wie die meisten Männer im Festsaal verliebt in das schöne Mädchen war. Deshalb musste hinter dem Vorhaben der Verführung ihrer Tante ein ausgefuchster Plan gesteckt haben. Gut, dass er den beiden gefolgt war, als er bemerkte, wie der italienische Jüngling mit Adrienne in Richtung Terrasse verschwand. Seine Ausrede, Roger würde seine Angetraute vermissen, war dabei nur eine notwendige Lüge gewesen.
"Vermisst mein Gatte mich wirklich, Rouven?", klang da schon die Frage seiner heimlichen Geliebten ins Ohr, die allmählich begann, ihm auf die Nerven zu gehen. Aber er brauchte Adrienne im Augenblick noch, um auch in Zukunft in die Nähe ihrer Nichte zu gelangen.
"Keine Ahnung, Adrienne, doch ich habe dich soeben gewiss vor einer Dummheit bewahrt."
"Seit wann mischt du dich in meine Angelegenheiten ein?"
"Seit du mich in jene mit reingezogen hast. Vergiss nicht, dass ich von dir einen Auftrag erhielt."
"Scheint ganz so, als wäre dieser zum Scheitern verurteilt", murrte die Baronesse missmutig.
"Nur Geduld, ich habe einen neuen Plan", erwiderte Rouven und wandte sich seiner Geliebten zu. "So schnell gebe ich nicht auf, selbst wenn mich deine eigenwillige Nichte ignoriert. Schon sehr bald wird sie allein mir gehören, verlass dich drauf!"
"Dann ist es also wahr, was Roger mir erzählte? Du willst allen Ernstes dieses kleine Biest ehelichen?"
"Das dürfte nicht so einfach werden, auch wenn du ihr Vormund bist. Wir können es uns nicht leisten, Marguerite zu zwingen, mich zu heiraten. Wie ich hörte, scheint sie bei ihren Majestäten einen überaus guten Eindruck gemacht zu haben. Der König ist ganz entzückt von ihr. Wir sollten deiner Nichte darum keinen Anlass bieten, sich bei ihm zu beschweren. Denn selbst, wenn das Gesetz auf deiner Seite ist, meine Liebe, wird sich der König darüber hinwegsetzen. Du weißt schließlich selbst, wie launisch er ist."
"Und was sollen wir tun, damit uns das kleine Biest nicht in Misskredit bringt? Immerhin scheute sie sich nicht, mir unter vier Augen offen zu drohen. Nein, Rouven, ich will sie nicht länger ertragen als nötig und darum rate ich dir dringend, von deinem Vorhaben, sie zu heiraten, Abstand zu nehmen. Mit solch einem unverfrorenen Gör würde dir die Ehe nicht lange Vergnügen bereiten."
"Danke für deinen Rat, aber er ist unnötig! Deine Nichte hat mir heute Abend deutlich genug ihre Verachtung gezeigt und mich damit so sehr gekränkt, dass ich es kaum erwarten kann, sie in die Finger zu kriegen und mit ihr zu machen, was ich will. Danach werde ich sie sehr gut verkaufen, denn selbst, wenn sie keine Jungfrau mehr sein sollte, wird ein blondes Mädchen mit solch heller Haut einen guten Preis einbringen."
"Du scheint ja wieder zur Vernunft gekommen zu sein", stellte Adrienne fest und klang zufrieden. "Das freut mich sehr, denn es wäre doch wirklich traurig, wenn wir beide in Zukunft keinen Spaß mehr miteinander haben würden."
Es war zu dunkel, als dass die Baronesse bemerken konnte, wie Guignot sein Gesicht angeekelt verzog. Doch sie durfte keinesfalls bemerken, wie satt er sie hatte.
"Dieser Plan wird allerdings nur gelingen, wenn du dich von den Volturi-Brüdern fernhältst."
"Diese Italiener werden ohnehin bald abreisen, so dass von dieser Seite kaum etwas zu befürchten steht. Außer, dass der älteste Bruder möglicherweise Madame de Colignon ehelichen und mit sich nehmen wird."
"Tatsächlich?", fragte Guignot, dem das noch nicht aufgefallen war.
"Aber ja, die beiden haben auch oft miteinander getanzt oder sitzen beisammen und unterhalten sich. Selbst, wenn ich es skandalös finde, wie eine Dame Ihres Alters sich hier aufführt, hätte ich doch nichts dagegen, wenn sie bald aus unserem Leben verschwindet."
"Nanu, ich dachte, dass du dich gut mit der Alten verstehst?"
"Natürlich muss ich so tun und im Grunde finde ich sie auch harmlos. Jedoch wäre es besser, wenn ihr Einfluss auf Marguerite schwindet. Darum wünsche ich Madame de Colignon ein baldiges Einlaufen in den Hafen der Ehe."
"Diesem Wunsch schließe ich mich gerne an", bekräftigte Guignot, der eine Hand seiner Geliebten ergriff und einen leidenschaftlichen Kuss darauf drückte...
***
Marcus geleitete nach dem Tanz Madame de Colignon an einen einsamen Ecktisch, da er sich mit ihr allein unterhalten wollte.
"Oh, mein Lieber, jetzt brauche ich aber wirklich mal eine längere Pause", sagte die ältere Dame amüsiert, als sie sich auf den bequemen Stuhl niederließ. "Es lässt sich wirklich kaum verleugnen, dass ich kein junges Mädchen mehr bin."
"Dafür habt Ihr andere Qualitäten", meinte Marcus lächelnd. "Außerdem seid Ihr durchaus noch eine recht attraktive Dame, wenn ich das sagen darf."
"Sie dürfen, mein Lieber, denn solch galante Komplimente bekomme ich in meinem Alter nicht mehr oft zu hören."
"Das liegt gewiss nur daran, dass Ihr sehr zurückgezogen lebt, Madame, denn ich vermag es kaum zu glauben, dass nur mir allein gefällt, was ich sehe."
Madame de Colignon lachte etwas und gab schmunzelnd zurück: "Natürlich bin ich davon überzeugt, dass die zahlreichen, gut aussehenden Damen des heutigen Balles Euer Wohlgefallen finden. Vor allem Marguerite de Rochefort sticht aus der Menge deutlich hervor. Ihre Mutter wäre sicherlich sehr stolz auf sie, denn sie tritt genauso selbstsicher auf wie einst Dianne."
"Demnach ist Euch also bekannt, wer die Mutter der lieblichen Marguerite ist?"
"Oh ja, aber mein Schützling darf das nie erfahren. Das musste ich ihrem Vater versprechen."
"Dann wollen wir kein Wort mehr darüber verlieren, meine Liebe, sondern uns wieder unseren Angelegenheiten zuwenden."
"Unseren Angelegenheiten?", fragte Madame de Colignon verwundert. "Was soll das heißen?"
In diesem Moment rief laut jemand durch den Saal: "Das alte Jahr neigt sich dem Ende zu!"
"Danse Polonaise!", forderten plötzlich mehrere Stimmen im Saal. [1]
Der König erhob sich von seinem Thron und gab mit seiner Hand ein Zeichen, woraufhin die Musiker sofort erste Klänge des geforderten Tanzes ertönen ließen. Er wandte sich seiner Gemahlin zu, die sich in jenem Augenblick erhob und die ihr dargereichte Hand ihres Angetrauten ergriff, bevor sie gemeinsam mit ihm würdevoll vom Thron hinunter auf das Parkett zuschritt. Mehrere Paare bildeten sich und folgten ihnen langsam.
"Würdet Ihr gern den letzten Tanz dieses Jahres mitmachen?", erkundigte sich Marcus bei seiner Gesprächspartnerin. Diese schüttelte jedoch den Kopf.
"Nein, nein, für heute Abend habe ich genug getanzt", antwortete sie lächelnd und blickte in die Menge. "Meine Schützlinge hingegen können davon wohl einfach nicht genug bekommen. Marguerite tanzt mal wieder mit Eurem Bruder Aro und es freut mich, dass auch Louise einen hübschen Verehrer gefunden hat. Das arme Ding soll das Fest ruhig genießen, bevor wieder der Alltag für sie beginnt."
"Ihr scheint besorgt um Mademoiselle Lefevre zu sein, Madame."
"Bitte, nennt mich doch Amelie, mein Lieber."
"Gern, wenn Ihr mich Marcus nennt."
Die beiden blickten sich lange in die Augen und lächelten, während um sie herum fast alle aufgestanden waren, um die Polonaise mitzutanzen.
"Marguerite und Aro geben ein schönes Paar ab", meinte Madame de Colignon nach einer Weile. "Ich hoffe sehr, dass Euer Bruder es ernst mit dem Mädchen meint. Sie hatte es bislang nicht leicht im Leben."
"Aro hat mir indirekt eingestanden, dass er tiefe Gefühle der Zuneigung für Comtesse de Rochefort hegt. Ihr braucht Euch also nicht um Euren Schützling zu sorgen."
"Wäre er ein guter Ehemann für Marguerite, Marcus?"
"Nun, er ist nicht so oberflächlich, wie er sich hier gibt, Amelie. Lasst die beiden sich nur noch etwas näher kennenlernen, dann wird womöglich bald ein Antrag folgen."
"Glaubt Ihr, Euer Bruder hätte etwas dagegen, wenn Marguerite nach der Hochzeit wieder Louise als Gesellschafterin einstellt?"
"Nein, gewiss nicht. Er mag Louise. Sie ist eine gebildete, kluge, junge Dame, die sogar großen Eindruck auf meinen jüngeren Bruder Caius macht. Aber vielleicht trägt sich Louise mit eigenen Zukunftsplänen, habt Ihr das schon einmal bedacht, Amelie?"
"Leider ist Louise ein einfaches Waisenmädchen, das auf die Gnade und Milde anderer angewiesen ist, und zwar ein Leben lang. Ohne Mitgift wird sich niemand finden, der bereit ist, sie zur Frau zu nehmen."
"Deswegen seid Ihr also besorgt um Louise?"
"Ja, und ich vermag es leider nicht, ihr zu helfen, denn meine finanziellen Mittel sind leider zu begrenzt, um dem Mädchen eine Aussteuer mitzugeben, die einen vermögenden Mann dazu bringen könnte, sie ernsthaft als Ehefrau in Betracht zu ziehen."
"Vielleicht legt Louise gar keinen Wert darauf, einen vermögenden Mann zu ehelichen, sondern wäre mit weniger zufrieden."
"Aber das Mädchen stammt aus gutem Haus und ist von vornehmem Geblüt."
"Tatsächlich?", wunderte sich Marcus. "Warum muss sie dann als Gesellschafterin arbeiten?"
"Der Krieg forderte viele Opfer und einige vornehme Familien verloren alles. Louises Eltern leben nicht mehr und Marguerites Vater, den ich darüber informierte, nahm sie in sein Haus auf, wo sie zusammen mit seiner Tochter Erziehung und Bildung erhielt. Deshalb sind die beiden mehr wie Freundinnen oder Schwestern, zwischen denen kein Standesunterschied herrscht. Aber für die übrige Welt macht das sehr wohl einen Unterschied, wie wir beide aus Erfahrung wissen, nicht wahr? Kaum war Baronesse de Lebrunne im Haus, erinnerte sie ihre Nichte ständig daran, dass Louise nur eine Bedienstete ist, die man leicht entbehren kann. Deshalb habe ich das arme Mädchen zu mir genommen. Wo soll sie denn auch hin?"
"Louise würde bei uns in Italien für immer eine Bleibe finden", sagte Marcus in gütigem Ton.
"Dieses Anerbieten ist sehr freundlich von Euch, doch Louise würde es niemals über sich bringen, ohne Marguerite in ein fremdes Land zu reisen."
"Davon spricht auch niemand, Amelie. Selbstverständlich gehe ich davon aus, dass Louise ihre Freundin und deren Mann in ihr neues Zuhause begleitet."
"Ihr scheint ja ziemlich sicher zu sein, dass eine Hochzeit zwischen Marguerite und Aro stattfinden wird."
"Oh... nicht doch... ich spreche im Allgemeinen, denn es ist gleichgültig, für wen sich die junge Comtesse entscheidet - sie wird ihrem Mann in dessen Refugium folgen, das ist nun mal der Lauf der Dinge."
"Es würde mich überaus beruhigen, wenn Marguerite einen guten Ehemann bekommt, der zu ihr passt und sie liebt", sagte Madame de Colignon. "Zwar würde sie es nie zugeben, doch es wäre ein großes Glück für sie, jemanden an ihrer Seite zu haben, der für sie sorgt. Im Innersten sehnst sie sich nämlich nach einer Familie."
"Und Ihr, meine Liebe?", griff Marcus den Faden auf und blickte sie fragend an. "Sehnt Ihr Euch nicht auch manchmal wieder danach, mit jemandem das Leben zu teilen, der Euch aufrichtig zugetan ist?"
"Ach, mein lieber Marcus", seufzte die ältere Dame. "In meinem Alter hege ich derlei Hoffnungen nicht mehr. Mein Mann fehlt mir zwar manchmal, aber ich habe gelernt, ohne ihn oder meinen Sohn weiterzuleben."
"Gewiss war es nicht einfach", meinte der ältere Vampir mitfühlend.
"Da muss ich Euch rechtgeben, doch ich habe einen großen Bekanntenkreis; und durch meine Freundschaft mit dem Comte de Rochefort war es mir bisher vergönnt, mich ein wenig um seine Tochter und deren Freundin zu kümmern."
"Zweifellos ein Glück für die beiden jungen Mädchen, meine Liebe. Aber dennoch seid Ihr manchmal trotz Eurer Gesellschafterin sicherlich einsam, nicht wahr?", drang ihr Gesprächspartner weiter in sie. "Seht, auch ich habe meine Brüder, mit denen ich in Italien in einem großem Schloss wohne. Doch jeder hat seine Privatgemächer und oft sehne ich mich danach, jemanden an meiner Seite zu haben, der mein Leben schöner macht - ein weibliches Wesen, dem ich zugetan bin und das meine Zuneigung erwidert. Kurz gesagt: Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr mit uns nach Italien kämt."
"Aber, mein lieber Marcus, das scheint mir doch sehr überstürzt", wandte Madame de Colignon ein.
"Ich versichere Euch, teuerste Amelie, das dies ohne jegliche Hintergedanken geschieht", behauptete der Vampir lächelnd und neigte ein wenig sein Haupt vor ihr. "Ihr besucht uns und bleibt eine Weile; und falls es Euch wider Erwarten gar nicht gefällt, ist es mir eine Ehre, Euch nach Frankreich zurückzubegleiten. Denn ich verehre Euch sehr - bitte, verzeiht mir meine Kühnheit, Euch so offen meine Gefühle darzulegen. Aber da meine Brüder und ich wohl nicht mehr allzu lange in Eurem schönen Land weilen werden, bleibt mir nicht genügend Zeit, Euch angemessen zu umwerben."
"Nun, ich weiß nicht, was ich sagen soll", meinte die ältere Dame überrascht. "Das kommt so ganz unerwartet. Aber das heißt nicht, dass ich mich durch Eure offenen Worte nicht überaus geschmeichelt fühlte."
"Meine Zuneigung zu Euch ist grenzenlos", erwiderte Marcus liebevoll. "Darf ich hoffen, dass Ihr mich wenigstens ein klein wenig sympathisch findet?"
"Da Ihr so offen wart, gestehe ich Euch, dass ich Euch ebenfalls mag. Allerdings wäre es mir lieb, wenn wir uns noch ein wenig besser kennenlernten, bevor ich in Erwägung ziehe, mit Euch nach Italien zu reisen."
"Selbstverständlich, das verstehe ich gut. Bestimmt kann ich meine Brüder dazu überreden, noch eine Weile in Frankreich zu bleiben. Und Eure Worte machen mich überaus glücklich, denn ich habe kaum zu hoffen gewagt, dass Ihr die Sympathie, die ich für Euch hege, erwidert."
"Aber warum denn nicht, Marcus? Ihr seid einer der liebenswürdigsten Männer, die ich je die Freude hatte kennenzulernen."
"Ihr seid zu gütig, Amelie - und ich freue mich sehr darauf, unsere Bekanntschaft zu vertiefen."
"Ja, ich auch; es gäbe da auch schon etwas, womit sich dies bewerkstelligen ließe. Doch lasst Euch überraschen, lieber Marcus."
"Von Euch immer gern."
***
Die Tanzpaare gingen gemessenen Schrittes zu den Klängen des Polonaise-Rhythmus hinter dem Königspaar und bildeten schließlich in der Mitte des Saales einen großen Kreis. Marguerite war dermaßen darauf konzentriert, keine Fehler zu machen, um nicht aus der Reihe zu geraten, dass sie kaum ein Wort mit Aro sprach. Zu sehr war sie davon gefangen genommen, würdevoll neben ihm herzuschreiten, wobei sie sich tatsächlich wie eine Prinzessin vorkam. Erst als sie sich umwandte und wieder in sein Antlitz blickte, von dem ihr ein strahlendes Lächeln entgegenblitzte, fiel die Anspannung wieder etwas von ihr ab.
Aro verneigte sich vor ihr und nahm sie dann wieder an die Hand, um den Tanz mit ihr fortzusetzen. Dabei wisperte er ihr leise zu: "In den ländlichen Gebieten Polens ins Osteuropa pflegt man diesen Tanz, wenn man heiratet."
Marguerite errötete unwillkürlich, sank dann - wie sie es von ihrem Tanzmeister gelernt hatte - vor ihrem Partner nieder. Als sie sich erhob, gab sie leise zurück: "Wir sind hier aber nicht in Polen."
"Das ist richtig und dennoch ist dies der prächtigste Tanz des Abends - und das liegt nur an meiner zauberhaften Partnerin."
"Aro, bitte - macht mich nicht immer so verlegen."
Der Angesprochene lachte verhalten und Marguerite war froh, dass sie sich wie alle anderen Damen, von ihrem Partner in die Mitte des Saales zurückzog. Gleichzeitig pochte ihr Herz überaus schnell vor Glück. Die Andeutungen der anderen beiden Volturi-Brüder schienen sich zu bewahrheiten, denn es passte genau zu der Anspielung, die Aro gerade gemacht hatte. Natürlich gefiel er ihr und sie fühlte sich sehr zu ihm hingezogen - auch würde eine Heirat mit dem attraktiven Edelmann sie aus der Vormundschaft ihrer Tante befreien, aber ging das alles nicht ein bisschen zu rasch? Schließlich kannten Aro und sie sich kaum. Wie konnte er nur so sicher sein, in ihr die Richtige gefunden zu haben?
Marguerite kam nicht dazu, intensiver über diese Frage nachzudenken, da der Tanz weiterging, sie sich erhob und wieder zu Aro zurückkehrte. Als sie seine Hand ergriff, kam es ihr vor, als ob ein Blitz durch ihren Körper fuhr. Ohne Zweifel ließ dieser Mann sie nicht kalt... und er sah sehr gut aus.
"Ihr seid wunderschön, Marguerite", wisperte er ihr zu und lächelte. "Das schönste Geschöpf, das ich je gesehen habe."
"Ihr solltet nicht nur nach Äußerlichkeiten schauen", mahnte sie ihn leise, obwohl seine Komplimente ihr selbstverständlich gefielen. Dennoch wollte sie sich davor hüten, in Eitelkeit zu verfallen. Auf diesem Ball waren noch so viele andere schöne Frauen, was Aro gewiss bemerkt hatte.
"Für einen Liebenden ist das Wesen, dem sein Herz gehört, immer das schönste Geschöpf, Marguerite", flüsterte Aro ihr in sanftem Ton zu. "Für all die anderen hübschen Damen habe ich keine Augen mehr, denn ihr seid die Einzige, die mir wichtig ist. Und dabei war ich nicht einmal auf der Suche... das Schicksal hat uns zweifellos zusammengeführt, mein Engel."
"Ihr solltet wirklich nichts überstürzen", meinte die Comtesse verlegen, aber sie konnte nicht verhindern, dass die Worte ihres Tanzpartners ein kleines Lächeln auf ihr Antlitz hervorriefen.
"Ihr tut recht daran, mich zu ermahnen, dieses Thema lieber unter vier Augen zu besprechen."
Danach schwieg er für eine Weile und sie tanzten weiter, folgten dem Königspaar nach der Auflösung des Kreises erneut. Diesmal führten die Majestäten sie auf die Terrasse und als das letzte Paar hinaustrat, endeten sowohl die Musik als auch der Tanz. Die Paare bildeten nun einen Halbkreis um das königliche Paar, wobei Lous sich in feierlichem Ton an alle wandte: "Gleich wird das alte Jahr zu Ende gehen und es war wie immer voller Herausforderungen, die ich dank der Unterstützung meiner loyalen Untertanen gemeistert habe. Dabei ist es mir ein großes Bedürfnis, jenes Mannes zu gedenken, der uns leider für immer verlassen hat. Kardinal Richelieu, Duc du Plessis, war lange Jahre nicht nur mein Erster Minister und persönlicher Ratgeber, sondern mir auch stets ein treu ergebener, loyaler Untertan. Darum werden wir nun eine kurze Schweigeminute einlegen, um voller Dankbarkeit seiner zu gedenken."
Gehorsam senkten die Gäste ihr Haupt und legten die Hände aneinander wie zu einem stummen Gebet. Mazarin, der nach dem Ende der Musik ebenfalls auf die Terrasse getreten war, nahm die Ansprache des Königs mit zufriedener Miene zur Kenntnis. Als er sah, wie alle ohne jeglichen Widerspruch der Bitte Seiner Majestät folgten, lächelte er unwillkürlich. Natürlich war ihm klar, dass nicht alle der hier Anwesenden die Qualitäten seines einstigen Mentors zu schätzen gewusst hatten, aber sie wagten es nicht, offene Kritik an dem verstorbenen Ersten Minister zu äußern.
Der neue Erste Minister senkte nun auch leicht sein Haupt, warf jedoch einen neugierigen Blick auf Marguerite de Rochefort, die neben ihrem Tanzpartner, einem schwarzhaarigen, jungen Mann stand und gewiss um ihren einstigen Vormund trauerte. Dem armen Kind musste geholfen werden.
Als sich nach einer Weile des Schweigens die Köpfe wieder hoben, begegnete Mazarin den Augen der hübschen Königin. Sie lächelte ihm kaum merklich zu und er neigte leicht sein Haupt vor ihr. Seiner verstorbenen Eminenz war es nie gelungen, doch vielleicht konnte er die Freundschaft und das Vertrauen Ihrer Majestät gewinnen.
Im nächsten Moment tönte lautes Glockengeläut durch Paris und ein merkwürdiges Zischen war zu hören. Dann explodierten plötzlich bunte Lichter am Himmel und alle Gäste stimmten ein lautes Freudenjubeln an. Ah, welch schöne Geste des Königs, zum Jahreswechsel einen Feuermeister zu engagieren, um bei seinen Untertanen einen großen Eindruck zu machen.
Diesen Augenblick nutzte Aro, um Marguerite an die Hand zu nehmen und ihr zuzuflüstern: "Kommt, folgt mir, denn ich muss Euch dringend etwas sagen!"
Ohne zu fragen, ließ sich die Comtesse von ihrem Tanzpartner in die Dunkelheit des Gartens führen, weit entfernt von der Ballgesellschaft. Doch als er sie zu einem Baum geleitete und ihr danach galant sein Jackett um die Schultern legte, damit sie nicht fror, konnte sie noch die erleuchteten hohen Fenster des Schlosses sehen.
"Verzeiht mir, dass ich Euch von den anderen Gästen entführte, aber ich sehne mich schon den ganzen Abend danach, einmal allein mit Euch zu sein, Marguerite."
"Gewiss seid Ihr Euch bewusst, dass sich so etwas nicht schickt, Aro."
"Ihr habt doch nicht etwa Angst vor mir, oder?"
"Nein - gibt es denn dazu Anlass?", fragte das Mädchen selbstsicher.
"Keinesfalls und Ihr wisst es auch", antwortete er in einem zärtlichen Ton und begann, ihre Hand, die noch in seiner lag, behutsam zu streicheln. Sein Selbstvertrauen geriet angesichts des Mädchens, für das er heftige Gefühle empfand, ins Wangen. Unsicher suchten seine Augen die ihren und er begegnete ihrem vertrauensvollen Blick. Sie lächelte ihn an. Dermaßen ermutigt fuhr er fort: "Da bin ich durch die ganze Welt gereist und war nie um Worte verlegen, aber nun... Liebste Marguerite, meine Andeutungen eben können Euch nicht darüber im Unklaren lassen, wie sehr ich mich von Euch angezogen fühle."
"Mir geht es auch so, Aro, aber..."
"Nein, nein, lasst mich ausreden, bevor Ihr Einwände erhebt, die natürlich ihre Berechtigung haben. Doch wenn das Herz sich meldet, spielen gesellschaftliche Konventionen keine große Rolle mehr."
Aro fiel vor dem Mädchen auf die Knie und sagte: "Bitte erlaubt mir, Euch meine Liebe zu gestehen. Amors Pfeil traf mich unvermittelt, als ich Euch zum ersten Male begegnete. Eure Erscheinung, Euer freundliches Wesen, Eure liebliche Stimme und Eure Schönheit rufen meine tiefste Bewunderung hervor."
"Wie freundlich Ihr seid, Aro, aber Ihr kennt mich noch gar nicht richtig."
"Deswegen beabsichtige ich, ein wenig länger als ursprünglich geplant, in Paris zu bleiben, damit wir uns besser kennenlernen können. Denn ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich diese Chance des Schicksals nicht ergreifen würde."
"Es freut mich wirklich sehr, dass Ihr noch bleibt, Aro."
"Meine Brüder mögen Euch auch, liebste Marguerite."
"Die Sympathie liegt ganz auf meiner Seite und ich bin Euren Brüdern und Euch auch dankbar dafür, wie freundlich Ihr zu meiner Freundin Louise wart. Denn ohne Eure Unterstützung hätte sie sicherlich kein anderer Edelmann zum Tanzen aufgefordert, weil meine Tante gewiss schon überall verbreitet hat, dass Louise keine Adlige ist."
"Eure Freunde sind meine Freunde", erwiderte Aro. "Ebenso wie ich Eure Feinde auch als die meinigen betrachte. Gleich was immer Ihr auch wünscht, meine Liebste, ich bin stets auf Eurer Seite."
"Mir fehlen die Worte, um Euch meine Dankbarkeit auszudrücken. Aber bitte, erhebt Euch doch von dem kalten Boden. Ich möchte nicht, dass Ihr Euch eine Erkältung zuzieht."
Aro stand sofort auf, meinte jedoch: "Seid unbesorgt, so leicht werde ich nicht krank. Doch Ihr seid ein zartes Geschöpf, daher erlaubt mir, Euch ein wenig zu wärmen."
Er zog sie an sich, umarmte sie und streichelte ihr sanft über den Rücken. Marguerite erschauerte, jedoch nicht nur vor Wonne, sondern auch, weil der Mann, in den sie verliebt war, sich kalt anfühlte.
"Wir sollten lieber wieder ins Schloss zurückkehren, Aro", sagte sie in besorgtem Ton und schaute zu ihm auf. "Sonst mache ich mir ernsthaft Sorgen um Eure Gesundheit."
"Dazu besteht kein Anlass, liebste Comtesse", antwortete er und küsste sie auf die Stirn. "Dennoch werde ich Eurem Wunsch Folge leisten, wie ich es versprach."
"Wartet noch einen Moment", bat Marguerite und schmiegte sich eng an ihn. Dann näherte sie ihr Gesicht dem seinen und küsste ihn vorsichtig auf die Lippen.
"Oh, Marguerite - wie glücklich Ihr mich macht", hauchte Aro tonlos und streichelte ihr sanft über die Wange. Sie schloss die Augen und bat: "Lasst uns noch einen Augenblick hier verweilen, bevor ich mich aus dieser Umarmung lösen muss."
"Ihr könntet so viele Umarmungen von mir haben, wie Ihr wollt - wenn wir verheiratet sind."
"Wir sollten nichts überstürzen und außerdem dürft Ihr nicht vergessen, dass Ihr noch das Einverständnis meiner Tante braucht, die sie bestimmt nicht so schnell geben wird."
"Eure Tante lasst nur meine Sorge sein. Wenn Ihr Euch entschließt, meine Frau zu werden, wird sie uns nicht im Wege stehen."
"Ach, wenn es nur so wäre", seufzte das Mädchen.
"Es wird Eurer gestrengen Tante nicht gelingen, zwei Liebende zu trennen, Marguerite. Vertraut mir einfach!"
Diese Worte waren Musik in den Ohren der jungen Comtesse, in der wieder Hoffnung aufflammte, bald aus der Fuchtel ihrer Tante herauszukommen. Aros Ehefrau...? Vielleicht... wenn er sie wirklich liebte und sie mit Freundlichkeit und Respekt behandelte, wenn er ein anständiger Mann war... warum nicht? Doch das würde vorerst ein Geheimnis zwischen ihm und ihr bleiben...
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[1] "Danse polonaise" (frz.) bedeutet übersetzt "polnischer Tanz" und ist bei uns unter dem Begriff "Polonaise" bekannt. Dabei handelt es sich um einen polnischen Nationaltanz, bei dem die Paare in ruhigem Tempo in einer Art Reigen und mit bestimmten Figuren (nicht vorgegeben) möglichst würdevoll durch den Saal schreiten. Allerdings entstand der populäre Name "Polonaise" erst um 1730.
Der "danse polonaise" bildete sich Ende des 16. Jahrhunderts als Prozessionstanz in den polnischen Adelshöfen zur Ehrerbietung der 'demokratischen' Adelsrepublik Polen-Litauen heraus. Auf dem Land wurde er meistens bei Hochzeitsfeiern getanzt.
Nach Frankreich gelangte dieser Tanz durch Heinrich III. von Frankreich, der einst König von Polen gewesen war. Durch seinen Hofe wurde der "danse polonaise" im 16./17. Jahrhundert verbreitet und an den europäischen Adelshöfen allmählich populär.
Beispiel für eine Polonaise auf einem festlichen Ball: youtube.com/watch?v=o3e1OH1BpjA
Kapitel 25
Gemeinheit verträgt sich nur so lange mit ihresgleichen,
solange sie sich davon irgendeinen Nutzen verspricht.
Wilhelm Vogel (19.-20. Jh.)
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Am 1. Januar Anno 1643 herrschte Stille in den Haus am Marais, in welchem Marguerite mit ihren Verwandten einquartiert war, denn die Herrschaften waren erst in den frühen Morgenstunden des neuen Jahres zurückgekehrt, wo die Dienstboten noch auf sie warteten, um sie sodann in ihre Schlafgemächer zu begleiten.
Adrienne, obzwar müde, fiel es jedoch schwer einzuschlafen. Zum einen ärgerte sie sich darüber, dass Rouven ihr Tête-à-tête mit Caius gestört und ihr damit wahrscheinlich eine schöne Liebesnacht und vielleicht sogar den Beginn einer vielversprechenden Affäre zunichte gemacht hatte, zum anderen ließ sie der Gedanke nicht los, ob an den Vermutungen ihres Mannes über die Heiratsabsichten von Aro di Volturi bezüglich ihrer Nichte nicht doch etwas Wahres dran sein könnte. Allerdings hatte Aro auf sie nicht gerade den Eindruck eines Mannes gemacht, der irgendetwas ernst nähme. Schließlich hatte auch Caius mit ihrer Nichte getanzt, doch danach galt seine ganze Aufmerksamkeit nur ihr, der Baronesse de Lebrunne. Der hübsche Jüngling nahm sicherlich auch nicht alles so ernst, was ihr nur recht war. Ach, wenn Rouven doch nur nicht dazwischen gekommen wäre! Wirklich sehr ärgerlich! Zum Glück war es ihr gelungen, ein Duell zwischen den beiden zu verhindern, aber danach hatte Caius sich von ihr zurückgezogen, ohne nochmals ihre Nähe zu suchen. Stattdessen wählte er sich als Tanzpartnerin die kleine Fournier für den Danse Polonaise, dabei hatte sie gehofft, ihn mit Caius tanzen zu können. Und ihr Mann? Als sie mit Rouven in den Ballsaal zurückkehrte, war er bereits so betrunken, dass er kaum noch stehen konnte. Welch ein Glück, dass er ihren kleinen Flirt mit Caius nicht mitbekommen hatte. Rogers letzter Eifersuchtsanfall war nicht besonders angenehm gewesen und sie wünschte keine Wiederholung desselben.
Glücklicherweise halfen ihr am Ende einige Bekannte ihres Mannes, Roger in die Kutsche zu hieven, was ihre Nichte mit angeekelter Miene schweigend beobachtet hatte. Marguerite sagte auch nichts, als sie vor ihrem Haus ankamen, sondern klingelte sogleich nach der Dienerschaft, die ihren Onkel aus dem Wagen herausheben und in sein Zimmer bringen sollten. Das eigenwillige Mädchen verschwand gleich danach, ohne eine 'Gute Nacht' zu wünschen, aber sie musste dem kleinen Bastard immerhin zubilligen, dass sie dafür sorgte, ihren Mann wohlbehalten ins Bett bringen zu lassen. Sie würde es schon noch eine Weile ertragen, mit diesem ungezogenen Fratz der De Winter unter einem Dach zu leben. Es war ja nicht von Dauer und Rouven schien wirklich sehr verärgert über Marguerites Verhalten zu sein, so dass es sich lediglich um ein oder zwei Wochen handeln konnte, bis sie sie endlich los wäre. Von seinen Plänen bezüglich einer Ehe mit Marguerite - falls er das jemals wirklich ernst gemeint hatte - schien Rouven jedenfalls gründlich geheilt zu sein.
"Seine Wut scheint jedenfalls so groß zu sein, dass dies das Verschwinden des kleinen Bastards beschleunigen dürfte", dachte Adrienne zufrieden. "Und mit etwas Glück werde ich Madame de Colignon auch bald vom Halse haben, so dass niemand lange lästigen Fragen über Marguerites Verbleib stellt. Schließlich ist bekannt, dass sich auf einem Hofball auch manche Goldgräber tummeln, die nicht davor zurückschrecken, reiche Erbinnen zu entführen."
Zufrieden lächelte die Baronesse und entspannte sich zusehends bei dem Gedanken, dass man das Familienvermögen wieder an sie, eine echte Rochefort, übertragen würde, sobald Marguerite unauffindbar verschwunden war und blieb. Dann konnte sie Paris für immer den Rücken kehren und sich mit ihrem Gemahl auf das Schloss ihres Bruders zurückziehen, um dort den Rest ihres Lebens in Ruhe zu verbringen. Bei Hofe war sie ohnehin unerwünscht, wie das Verhalten des Königspaares, die Marguerite alleine zu sich baten und ihre Verwandten damit offen brüskierten, deutlich gezeigt hatte. Doch auf dem Lande kümmerte man sich nicht groß um die Intrigen bei Hofe und sie konnte sich dann endlich wieder ihrem Mann zuwenden, um seine Zuneigung zurückzugewinnen. Als Herrin von Rochefort würde sie schon dafür sorgen, dass unter dem Dienstpersonal keine jungen Dinger mehr waren - und vielleicht teilte Roger dann wieder häufiger das Bett mit ihr und zeugte einen Erben, es war noch nicht zu spät dazu...
*
Im Gegensatz zu ihrer Tante war Marguerite nicht müde, sondern immer noch aufgeregt, da ihr das Liebesgeständnis und der Heiratsantrag von Aro nicht aus dem Kopf gingen. Es kam überraschend und schnell, aber dennoch fühlte sie sich glücklich, da sie es noch nicht richtig fassen konnte. Und dann dieser Kuss... es war schön, obwohl seine Lippen so kalt waren... aber wen wunderte dies? Schließlich hatte Aro in fürsorglicher Weise sein Jackett um sie gelegt, damit sie nicht fror; doch dafür musste er unter der Kälte leiden. Gut, dass sie nicht so lange draußen geblieben waren. Sie könnte es sich nie verzeihen, wenn Aro wegen seiner Liebe zu ihr krank würde. Beim Abschied hatte sie ihm noch geraten, gleich ein heißes Bad zu nehmen, sobald er zu Hause ankam, worauf er nur gelacht, ihr die Hände geküsst und versichert hatte, nicht so anfällig für Krankheiten zu sein und Kälte überaus gut ertragen zu können. Sogar bis zur Kutsche hatte er sie noch begleitet, obwohl es ihr wegen ihres betrunkenen Onkels etwas peinlich war. Aber ein wahrer Edelmann wie Aro sah darüber hinweg. Sie konnte sich wirklich glücklich schätzen, solch einen Verehrer gefunden zu haben.
"Ihr wirkt überaus vergnügt, Comtesse", wagte da Arlette, die ihrer Herrin beim Entkleiden half, sie anzusprechen. "Gehe ich recht in der Annahme, dass es Euch auf dem Hofball gefallen hat?"
"Oh ja, es war sehr schön", antwortete Marguerite gut gelaunt. "Aber auch ziemlich überwältigend. Noch nie habe ich derart viele Menschen auf einem Raum gesehen. Anfangs fürchtete ich, dass man in so einer Menge verloren geht, aber während des Balles in einem anderen großen Saal fanden sich einige Gruppen zusammen und es entstand rasch eine gewisse Ordnung. Hinzu kam, dass viele Paare tanzten, so dass man sich trotz des Stimmengewirrs und der Musik recht gut unterhalten konnte."
"Sicherlich hattet Ihr viele Verehrer, nicht wahr?"
"Ja, es gab kaum einen Tanz, den ich ausließ."
"Habt Ihr auch den König und die Königin zu Gesicht bekommen?"
"Nun, sie baten mich vor ihren Thron, um mich kennenzulernen. Seine Majestät kannte sogar meinen Vater und war überaus freundlich zu mir."
"Oh, es muss überwältigend sein, vor den Majestäten zu stehen."
Marguerite lachte und meinte: "Ja, das kann man sagen. Doch du solltest nicht vergessen, dass sie auch nur Menschen sind. Aber sie haben mich beide freundlich empfangen und dafür bin ich dankbar."
"Gab es viele hübsche Männer auf dem Ball?", erkundigte sich Arlette interessiert.
"Genügend ledige Männer, aber ob sie hübsch zu nennen sind, ist sicherlich Geschmackssache", erwiderte Marguerite amüsiert, während ihre Zofe das Nachthemd holte und ihr hineinhalf.
"Gab es denn wenigstens einen oder zwei, die Euch besonders gut gefielen, Comtesse?"
"Das bleibt abzuwarten. Leider war auch Monsieur Guignot dabei, der mir gegenüber sehr aufdringlich war."
Arlette machte große Augen und fragte dann erstaunt: "Er war aufdringlich? Das sieht ihm gar nicht ähnlich."
"Du täuscht dich gewaltig in Monsieur Guignot. Nimm dich lieber vor ihm in Acht. Auf dem Ball erfuhr ich, dass er einen gewissen Ruf innerhalb der vornehmen Kreise genießt."
"Was denn für einen Ruf?"
"Er soll ein großer Lebemann sein, weshalb keine Familie daran interessiert sein dürfte, ihn als Schwiegersohn zu gewinnen. Ich hoffe nur, dass eine gewisse junge Dame, die ich auf dem Ball kennenlernte, sich einem würdigeren Verehrer zugewandt hat."
"Dabei ist Monsieur Guignot immer so freundlich..."
"Nicht ohne Grund, Arlette, denn er hat ja ein Ziel und das ist alles andere als ehrenwert. Hast du mir denn nicht selbst zugetragen, dass meine Tante und er sich näher stehen als erlaubt?"
"Hm... obwohl ich es nicht begreifen kann... er könnte eine Hübschere haben."
"Was du nur an diesem hässlichen Kerl findest, Arlette! Er ist nur darauf aus, Mädchen und Frauen zu verführen, dazu aufdringlich und eitel. Hüte dich lieber vor ihm, bevor er dich ins Unglück stürzt."
"Er ist nur freundlich zu mir, weiter nichts..."
"Bin ich nicht auch freundlich zu dir?"
"Doch, Comtesse, sehr sogar - aber Ihr seid kein Mann!"
"Das ist wahr! Und ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich darüber bin, kein Mann zu sein! Doch du solltest dich lieber nach einem Jüngling deines Alters umschauen, wenn du auf der Suche nach einem Gefährten bist, der dich liebt. Guignot benutzt Frauen doch nur zu seinem Vergnügen, ohne etwas für sie zu empfinden."
"Aber..."
"Bitte, hör auf, diesen Kerl in Schutz zu nehmen und schlag ihn dir aus dem Kopf, meine Liebe! Du hast etwas Besseres verdient. Jede anständige Frau hat etwas Besseres verdient als einen wie ihn", schnitt Marguerite ihrer Zofe das Wort im Munde ab. "Und nun geh. Wir müssen beide noch viel Schlaf nachholen. Gute Nacht."
"Ja, vielen Dank, Comtesse", sagte Arlette, senkte ihren Blick und knickste vor Marguerite. "Ich wünsche Ihnen auch eine gute Nacht."
Danach verschwand die Zofe rasch aus dem Zimmer. Kopfschüttelnd blickte das blonde Mädchen ihr nach und fragte sich, warum ein solch hübsches Ding offensichtlich sehr angetan von einem solch grässlichen Menschen wie diesem Guignot war, noch dazu, wenn er anscheinend eine Affäre mit ihrer Tante hatte. Der letzte Gedanke brachte Marguerite jedoch zum Lachen, als sie sich ins Bett legte und das Licht löschte. Danach wanderte ihr Blick zu den zugezogenen Vorhängen an ihren Fenstern, durch die das dämmrige Licht des Mondes hereinfiel. Sie erinnerte sich erneut daran, wie galant Aro zu ihr gewesen war. Ohne Vorsicht walten zu lassen, hatte der Ärmste sie mit sich in den königlichen Garten gezogen, ihr sogar sein Jackett umgelegt, damit sie nicht fror, nur um sich dann auf dem kalten Boden vor ihr hinzuknien, ihr seine Liebe zu gestehen und sie um ihre Hand zu bitten. Sie musste unwillkürlich lächeln und ihr wurde ganz warm ums Herz.
Obwohl sie sich kaum kannten, erfüllte der Gedanke, Aros Frau zu werden, Marguerite mit großer Freude, auch wenn es sicherlich töricht war, sich eine Hochzeit mit ihm bereits jetzt schon vorzustellen. Es würde ihr auch gefallen, mit ihm auf Reisen zu gehen und fremde Länder kennenzulernen. Sie war auch noch nie in Italien gewesen, obwohl sie Italienisch, Spanisch und Englisch lernen musste, weil ihr Vater der Meinung war, es gehöre zu einer guten Ausbildung für junge Damen. Glücklicherweise hatte sie Louise gehabt, die mit ihr zusammen Privatunterricht erhielt und darum gemeinsam mit ihr diese Sprachen einüben konnten. Zwar hatte sie es bisher nicht gebraucht, aber wenn sie Aro heiratete, wäre Italien ihre neue Heimat und sie könnte sich ohne Probleme mit den dortigen Menschen verständigen. Ach, wenn Papa doch nur hier wäre! Aro gefiele ihm bestimmt als Schwiegersohn und gäbe bestimmt seine Einwilligung zu ihrer Heirat...
OH NEIN! Papa war ja nicht mehr hier, sondern hatte die Vormundschaft seiner Schwester übertragen! Was hatte er sich nur dabei gedacht?!
Tante Adrienne und deren Mann lebten seit dem Tode Kardinal Richelieus, ihres einstigen Vormundes, bei ihr auf dem Landsitz recht gut. Hinzu kam, dass ihre Tante als Vormund weitgehend uneingeschränkte Handlungsvollmacht über ihr Vermögen besaß und bestimmen konnte, wie sie es einsetzte. Sie hätte keinerlei Interesse daran, ihr Mündel zu verheiraten! Wenn Aro offiziell bei ihr um ihre Hand anhielte, war zu erwarten, dass Tante Adrienne allerlei Einwände gegen eine Heirat vorbrächte und ihre Zustimmung verweigerte.
"Sie wird jeden abweisen, der um meine Hand bittet, nur um die Kontrolle über mein Eigentum zu behalten und damit machen zu können, was sie will", dachte Marguerite bitter. "Aro stellt es sich zu einfach vor, meine Tante davon zu überzeugen, ihre Einwilligung zu geben."
Sie drehte sich zur Seite und spürte, wie ihr Herz schwer wurde. Tränen stiegen ihr in die Augen, denn ihr fiel beim besten Willen nichts ein, womit man ihre Tante daran hindern konnte, über ihr weiteres Leben zu bestimmen. Zwar hatte sie sich bisher an die Hoffnung geklammert, dass ihre Eingabe an den Hof, jemand anderen als neuen Vormund für sie einzusetzen, erfolgreich verlaufen würde, doch es sah nicht gut aus, wie ihr Monsieur Cayot durch die Blume zu verstehen gegeben hatte, weil ihr Vater seine Schwester testamentarisch als Vormund für sie wünschte.
"NEIN! Ich lasse mich nicht so schnell unterkriegen!", dachte die Comtesse plötzlich entschlossen und wischte sich energisch die Tränen vom Gesicht. "Falls meine Tante tatsächlich ihre Einwilligung verweigert, werde ich einfach mit Aro fortfahren, ihn in Italien heiraten und sie vor vollendete Tatsachen stellen! Dann kann sie gar nichts mehr gegen mich tun!"
Mit diesem festen Vorsatz im Herzen rollte sich Marguerite auf die Seite, dachte wieder voller Sehnsucht an Aro und schlief darüber schließlich ein...
***
Rouven de Guignot kehrte mit äußerst übelster Laune nach Hause zurück. Der Plan, den er mit Adrienne ausgeheckt hatte, war leider nicht aufgegangen, denn Marguerite schien es gleichgültig zu sein, ob er Streit mit ihrer Tante hatte oder nicht. Aufdringlich fand sie ihn! Aufdringlich! Das hatte noch keine Frau zu ihm gesagt!
"Nun gut, kleine Comtesse, du lässt mir keine andere Wahl als dich dazu zu zwingen, mich zu lieben!", dachte Guignot verärgert. Wozu gehörte er schließlich einem magischen Zirkel von auserwählten Männern an, die heimlich der verbotenen schwarzen Kunst fröhnten? Und in diesem Kreis kannte man Mittel und Wege, das Herz einer widerspenstigen Jungfrau für sich zu gewinnen. Es gab da ein gewisses Ritual, wozu man das Blut eines Weibes benötigte sowie etwas, dass dem Mädchen gehörte, das man für sich gewinnen wollte. Seine Zirkelbrüder wären bestimmt entzückt, endlich dieses Ritual erproben zu können.
Die Laune des hakennasigen Mannes hob sich etwas, zumal er sich daran erinnerte, dass sein Freund Roger de Lebrunne ihn dazu ermutigt hatte, sich um Marguerite zu bemühen. Der Baron war sehr daran interessiert, sie mit ihm zu verheiraten, weil er auch nach der Eheschließung seiner Nichte auf Schloss Rochefort wohnen bleiben und es sich wohlsein lassen wollte. Guignot hätte nichts dagegen, denn der Landsitz bot sicherlich genügend Platz, um Lebrunne ein eigenes Refugium zu gewähren. Schließlich war er ein langjähriger, guter Freund, den man eventuell auch für den Zirkel gewinnen könnte. Gewiss wäre Roger von den Möglichkeiten, die ihre Geheimgesellschaft ihm bot, fasziniert und würde womöglich ebenfalls eintreten. Von dieser Seite hatte er also nichts zu befürchten. Blieb nur noch Adrienne, die ihm im Wege stand, da sie es kaum erwarten kannte, dass Marguerite endlich aus ihrem Leben entschwand!
"Tja, teure Bettgenossin, da du dich nicht umstimmen lässt, bleibt mir leider nichts anderes übrig, als dich aus dem Weg zu schaffen, damit ich mit deiner schönen Nichte eine gute Ehe führen kann", dachte Guignot spöttisch und ohne jegliches Mitleid mit der Baronesse. Da er sie nur allzu gut kannte, konnte er sich lebhaft ausmalen, dass Adrienne ihm und seiner jungen Frau mit ihrer Eifersucht das Leben schwer machte, sobald er Marguerite geheiratet hatte. Es war bedauerlich, aber unglücklicherweise nicht zu ändern, dass er eine seiner Geliebten loswerden musste. Doch weil sie ihm stets eine willige Gespielin war, die es verstand, ihm Wonnen zu verschaffen, würde er es irgendwie einrichten, dass sie nichts davon merkte, wenn man sie vom Leben zum Tode beförderte...
***
Madame de Colignon und Louise kamen in der Kutsche zeitgleich mit den drei Volturi-Brüder vor ihren jeweiligen Häusern an. Als die Frauen ausstiegen, ließ die ältere Dame nochmals einen Blick zu dem gegenüberliegenden Gebäude schweifen und sah direkt in die Augen von Marcus, der sie ebenfalls ansah. Kaum hatten sich ihre Blicke getroffen, eilte er zu ihr hin und verneigte sich.
"Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Fahrt?", erkundigte er sich in freundlichem Ton.
"Ja, danke der Nachfrage", erwiderte Madame de Colignon und sagte zu Louise: "Geht ruhig schon mal ins Haus, Kind."
Die junge Gesellschafterin folgte dieser Anweisung ohne Umschweife, während sich die ältere Dame wieder ihrem Kavalier zuwandte. "Wollt Ihr noch auf ein Gläschen Wein mit zu mir kommen?"
"Sehr freundlich von Euch, aber nein - Danke! Ihr seid gewiss müde und braucht Schlaf."
"Dann versprecht mir bitte, zusammen mit Euren Brüdern morgen Nachmittag meine Gäste zu sein."
"Wir kommen gern, Amelie, vielen Dank. Ich wünsche Euch eine angenehme Nachtruhe."
"Ebenfalls, lieber Marcus."
Die beiden tauschten einen liebevollen Blick aus, bevor die ältere Dame in ihr Haus verschwand. Äußerst widerwillig wandte sich Marcus von ihr ab und ging langsam über die Straße zu dem Haus, das sie für die Zeit ihres Aufenthaltes gemietet hatten. Aro und Caius standen abwartend vor der Tür und grinsten etwas.
"Du siehst sie ja bald wieder", meinte der blonde Jüngling gut gelaunt.
"Das weiß ich - und dennoch fiel es mir schwer, mich von ihr zu trennen. Wir haben uns aufs Angenehmste miteinander unterhalten und sie gestand mir, dass ich ihr ebenfalls sympathisch sei."
"Das hätte ich dir auch sagen können", gab Aro zurück.
"Nicht doch! Es ist etwas völlig anderes, dies aus dem Munde der Frau zu hören, zu der man sich hingezogen fühlt", erwiderte Marcus. "Außerdem hat Madame de Colignon uns für morgen Nachmittag eingeladen und ich habe zugesagt."
"Schön, es spricht nichts nichts dagegen", sagte der schwarzhaarige Vampir. "Wird Marguerite auch kommen?"
"Weißt du das denn nicht bereits?", wunderte sich Marcus.
"Bedaure, aber nichts dergleichen habe ich gesehen, als ich die Hand der kleinen Comtesse in meiner hielt."
"Nun, dann kommt sie wahrscheinlich auch nicht."
"Sei nicht traurig, Aro", meinte Caius aufmunternd. "Da ich ebenfalls gut Klavier spielen kann, werde ich unsere zukünftige Schwester morgen Nachmittag unterhalten."
"Womöglich lädt sie Marguerite noch ein", meinte Aro hoffnungsvoll.
"Es war ein überaus langer Abend für das Mädchen und mich würde nicht wundern, wenn die kleine Sirene den ganzen Tag lang schläft", gab Marcus zu bedenken.
"Aber Louise wird das nicht tun, wenn Ihre Dienstherrin aufsteht", sagte Caius. "Ich freue mich darauf, dieses nette Mädchen wiederzusehen, da man mit ihr interessante Gespräche führen kann."
"Demnach ist sie dir also nicht zu albern?", neckte ihn Aro.
"Nein, zum Glück ist sie keine dumme Gans!", gab Caius zurück. "Im Gegensatz zu Tante Lebrunne. Es gibt wohl kaum eine eitlere und törichtere Frau als dieses launische Ding - oh, ihr hättet sehen sollten, wie blöd dieser Guignot uns anstarrte, als er die Baronesse und mich im Garten fand. Bin mir sicher, er ahnte, dass wir uns über nahe gekommen waren."
Aro runzelte die Stirn.
"Wie bitte? Du solltest dich doch von der Tante fernhalten, Caius", zischte er ihm leise zu.
"Aber sie war ganz scharf darauf, mit mir zu flirten. Warum soll ich mich denn dagegen sträuben, wenn sie sich mir dermaßen anbietet? Beinahe hätte ich ein Problem gelöst und Marguerite von dieser Furie befreit."
"Ach ja! Und was dann?! Wo hättest du sie denn versteckt?!", fuhr Aro den Jüngeren in gedämpftem Ton an.
"Der königliche Garten ist groß und es gibt viele hohe Hecken und Sträucher", tat Caius es ab. "Außerdem hatten die meisten Gäste zu diesem Zeitpunkt schon zu viel getrunken. Jedenfalls hat außer diesem Guignot kein Mensch auf Marguerites Tante geachtet - bestimmt hätte sie auch keiner vermisst."
"Außer Guignot!"
"Den hätte ich selbstverständlich gleich mit weggeschafft - keine Zeugen, kein Ärger. Mein Abend wäre gerettet gewesen."
"Reg dich nicht auf, Aro", beschwichtigte Marcus seinen Freund in ruhigem Ton. "Es ist doch nichts passiert und wir sollten lieber reingehen, ehe noch irgendjemand etwas von diesem merkwürdigen Gespräch mitbekommt."
Der schwarzhaarige Vampir brummelte ärgerlich, folgte aber diesem Vorschlag und trat als Erster ins Haus.
"Francois!", rief er laut. Doch statt des Lakaien erschien die schlanke Gestalt Demetris mit einem Leuchter in der Hand.
"DU HIER?!", entfuhr es Aro und seine beiden Brüder starrten den Jüngling ebenso überrascht an wie ihr Anführer.
"Ja", antwortete Demetri und neigte leicht sein Haupt. "Francois ist ausgegangen, um etwas zu essen, da Ihr es ihm erlaubtet, Meister Aro. Er meinte jedoch, ich könne hier auf Euch warten, bis Ihr vom Ball am Hofe zurückkehrt."
"Das ist richtig!", bestätigte Aro und deutete in Richtung des Wohnzimmers. "Wir sollten uns dort drinnen weiter unterhalten, denn ich nehme an, dass du uns wichtige Nachrichten aus Volterra bringst?"
Demetri nickte und alle begaben sich in das Wohnzimmer. Aro ließ sich auf dem Sofa nieder, Caius setzte sich auf einen Sessel am Kamin und Marcus lehnte sich stehend gegen dessen Sims, die Augen gespannt auf den Jungen gerichtet.
"Warum also dürfen wir dich so rasch wieder in Paris begrüßen?", erkundigte sich Aro interessiert bei seinem jungen Vasallen und schaute ihn eindringlich an.
"Ich habe mich beeilt, um Euch möglichst rasch die Nachricht zu überbringen, dass es mit der Inquisition in Volterra vorbei ist", erwiderte Demetri lächelnd. "Alle Vorwürfe gegen den Padre wurden bestätigt und die von ihm Beschuldigten, die noch im Gefängnis saßen, freigelassen. Sie erhielten sogar ihr Eigentum wieder zurück. was für einige der angesehenen Familien in Volterra die Rettung bedeutete, während andere, die durch die Prozesse viel Geld verloren, nun verarmt dastehen."
"Ihnen kann geholfen werden", meinte Aro leichthin. "Mich interessiert lediglich, wie die weltliche Gerichtsbarkeit mit dem Padre, dem wir diese vermaledeite Hexenjagd zu verdanken haben, verfahren ist?"
"Er wurde dem reinigenden Feuer übergeben, von dem er den Menschen immer predigte, und jetzt ist nur noch Asche von ihm übrig."
"Perdu", murmelte Aro in gespieltem Bedauern. "Ist nur zu hoffen, dass der Papst nicht einen neuen Inquisitor schickt, um diesen Vorfall zu untersuchen."
"Das ist bereits während des laufenden Prozesses gegen den Padre geschehen; doch was bei der Anklage gegen den Beschuldigten herauskam, war für die Kirche dermaßen peinlich, dass der Gesandte des Papstes sich gezwungen sah, sich öffentlich zu entschuldigen. Nach der Verkündung und der Vollstreckung des Urteils ist der Delegierte sofort abgereist. Glaubt mir, Meister, so schnell wird sich kein Inquisitor wieder in Volterra blicken lassen."
"Dein Bericht ist höchst erfreulich", sagte Caius und grinste. "Einer Rückreise in unsere Heimat dürfte demnach nichts mehr im Wege stehen."
"Niemand wird es jetzt mehr wagen, unsere Meister der Hexenkunst zu bezichtigen, nicht einmal hinter vorgehaltener Hand", gab Demetri in selbstsicherem Ton zurück. "Und wer es dennoch tut, erhält seine verdiente Strafe durch uns."
"Ausgezeichnet!", erwiderte Aro mit breitem Lächeln und warf seinen beiden Brüdern verschwörerische Blicke zu. "Natürlich werden wir nach Hause zurückkehren, aber erst, wenn wir einige wichtige Angelegenheiten hier geregelt haben."
"Wichtige Angelegenheiten?", erkundigte sich Caius erstaunt. "Welche?"
"Unsere Damen", antwortete der schwarzhaarige Vampir amüsiert. "Außerdem habe ich mir geschworen, denjenigen, die meiner Braut in spe derzeit noch das Leben schwer machen, eine Lektion zu erteilen. Meiner Ansicht nach ist das längst überfällig, besonders was eine gewisse Baronesse und den besten Freund ihres Mannes betrifft."
Caius grinste und Marcus nickte lächelnd, dabei einen sehnsuchtsvollen Blick auf das Fenster werfend, hinter dessen Vorhängen sich die Aussicht auf das gegenüberliegende Haus verbarg, in dem seine Angebetete wohnte.
"Dabei werde ich dich gerne unterstützen", versprach der blonde Vampir. "Diese Angelegenheiten werden hoffentlich nicht lange auf sich warten lassen?"
"Ich denke nicht", meinte Aro und wandte sich dann wieder Demetri zu. "Überbringe allen unseren Dank für die gute Arbeit und sorge dafür, dass im Palazzo Frauengemächer für drei neue Familienmitglieder hergerichtet werden - eines davon neben meinem Privatgemach, das zweite neben dem Privatgemach von Meister Marcus und das dritte in der Nähe von Meister Caius' Zimmer."
Der schwarzhaarige Vampir sah nochmals zu seinen Brüdern und fragte: "Das ist doch in Eurem Sinne, oder?"
Marcus und Caius nickten und wirkten überaus zufrieden.
"Euer Auftrag ist so gut wie erledigt", versprach Demetri und verneigte sich vor den drei Brüdern.
"Es freut mich sehr, dass Felix und du zu uns gestoßen seid", wandte sich Aro in freundlichem Ton an den jüngeren Vampir. "Loyale Familienmitglieder, die sich als so nützlich erweisen, sind uns die liebsten. Eine gute Heimreise, mein Junge."
Demetri verneigte sich erneut und verschwand augenblicklich.
"Wahrhaft gute Nachrichten", meinte Marcus, als er wieder mit seinen Brüdern allein war, und ließ sich nun auf das Sofa neben Aro nieder, dabei den Blick auf diesen gerichtet. "Damit meine ich nicht nur, dass wir vor der Inquisition vorerst in Ruhe gelassen werden, sondern auch, dass anscheinend eine baldige Verlobung ins Haus steht, nicht wahr?"
"Ah, du kennst mich zu gut, alter Freund", gab Aro zurück und lächelte. "Es ist mir gelungen, mit Marguerite für eine Weile allein zu sein und ihr endlich meine Gefühle für sie zu offenbaren."
Caius horchte interessiert auf.
"Was hat sie dazu gesagt?", fragte der blonde Vampir nach.
"Sie empfindet genauso wie ich und sie hat mich geküsst", erklärte sein Meister und wirkte dabei auf einmal richtig glücklich. "Ich habe ihr einen Antrag gemacht und sie hätte gerne sofort JA gesagt, aber den Konventionen gehorchend bat sie mich darum, dass wir uns erst besser kennenlernen, ehe sie meine Frau wird. Außerdem verhehlte mir mein Engel nicht die Befürchtung, dass ihre gestrenge Tante die Zustimmung zu einer Heirat verweigern wird."
"Die Baronesse hat gar keinen Grund, dich als Gemahl ihrer Nichte abzulehnen", sagte Marcus. "Denn du bist doch von gleichem Stande wie die kleine Sirene und alles andere als ein armer Mann."
"Adrienne de Lebrunne betrachtet ihre Nichte nicht als legitime Erbin, sondern als Bastard ihres Bruders, weshalb Marguerite ihrer Meinung nach nichts von dem Vermögen der Rocheforts zusteht. Da sie das jedoch nicht beweisen kann, plant sie Böses, das es zu verhindern gilt."
"Selbstverständlich werde auch ich dir dabei helfen, deine Braut zu beschützen, Aro", versprach Marcus. "Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Baronesse offen etwas gegen ihre Nichte unternimmt."
"Da hast du vollkommen recht - sie hat Guignot zu einer Gemeinheit angestiftet und dieser tut so, als ob er der Baronesse helfen wolle, während er in Wirklichkeit davon träumt, Marguerite selbst zu heiraten, denn er ist schrecklich in sie verliebt."
"Das kann man ihm nicht verdenken, schließlich ist die kleine Sirene ein überaus hübsches Mädchen."
"Umso erstaunlicher ist es für mich, wie solch ein hässlicher Vogel dazu kommt sich einzubilden, irgendeine Chance bei Marguerite zu haben", stieß Caius in ärgerlichem Ton heftig hervor und wirkte mit seinen zusammengezogenen Augenbrauen wieder so, als ob er jemanden umbringen wolle. "Dazu ist er noch überaus aufdringlich. Wer könnte sich schon in diese Hakennase verlieben?!"
"Viele der weiblichen Gäste des Hofballes waren sehr angetan von ihm", klärte Marcus ihn auf. "Die meisten von ihnen kannten ihn und hegten überaus positive Gefühle für ihn. Er muss ein wirklich guter Liebhaber sein und normalerweise äußerst charmant, wie man so hört. Selbst die junge Fournier war anfangs verliebt in ihn. Doch sie hat heute Abend einige jüngere Herren kennengelernt, die sich mehr um sie bemühten als Guignot, der tatsächlich nur Augen für Comtesse de Rochefort hatte."
"Sie interessiert sich nicht im Geringsten für diesen Typ, sondern findet ihn überaus aufdringlich", sagte Aro. "Darüber bin ich ziemlich erleichtert, denn Baron de Lebrunne unterstützt die Heiratspläne seines Freundes bezüglich Marguerite."
"Den Baron solltest du besser genauer im Auge behalten, mein Freund", ermahnte ihn Marcus. "Er war schon recht wütend, als du ihm während des Tanzes seine Nichte ausgespannt hast."
"Ja, das ist mir doch überaus gut gelungen, nicht wahr? - Aber was genau befürchtest du von Seiten Lebrunnes, Marcus? Der Typ ist harmlos, liebt hübsche, junge Mädchen und gönnt sich hin und wieder durch einen Seitensprung eine Erholung von der Ehe mit seiner anstrengenden Gattin, die jedem auf die Nerven gehen würde."
"Vielleicht unterschätzt du ihn, Aro. Ich konnte jedenfalls spüren, dass er starke Sympathie für deine kleine Sirene empfindet."
"Harmlos, wie gesagt", tat der schwarzhaarige Vampir es ab. Dann wandte er sich wieder Caius zu und sagte in strengem Ton: "Ich wiederhole mich zwar ungern, aber ich sage dir nochmals: Versuche nie wieder, Tante Lebrunne zu verführen."
"Es war doch nur ein Spiel und du kannst nicht ernsthaft etwas dagegen haben, wenn ich meinen Durst an ihr stille und sie dann verschwinden lasse. Willst du sie denn nicht loswerden?!"
"Natürlich will ich das, aber damit müssen wir selbst uns nicht die Hände schmutzig machen, wenn Menschen, die der Baronesse nahe stehen, bereits so etwas planen."
"Wie bitte?!", entfuhr es Caius ungläubig.
"Ja, mein Sohn, so ist es! Also entspanne dich und genieße das Schauspiel. Danach wird alles sehr viel leichter für uns sein, denn der Baron ist harmlos und Guignot kommt gewiss nicht ungeschoren davon."
"Verrate uns doch, was du gesehen hast, Aro!", drang der blonde Vampir in ihn.
"Und euch beiden die Überraschung verderben? Nein, nein, dann hätten wir drei nur halb so viel Spaß. Außerdem ist erst etwas geplant, doch ob alles genauso läuft, wie die Herren sich das wünschen, bleibt abzuwarten. Es wird auf jeden Fall höchst amüsant, das verspreche ich euch."
Kapitel 26
Es ist wohl Gift, doch steht eindeutig Honig drauf.
Philipp Zvetanov (*1979)
~~~~~
Marguerite war trotz ihrer Sorgen schließlich doch eingeschlafen und wurde erst durch ein sanftes Rütteln geweckt, das durch die freundlichen Worte ihrer Zofe: "Comtesse, es ist Zeit aufzustehen!" begleitetet wurde.
"Wie spät ist es, Arlette?"
"Halb eins."
"Trotzdem, wir waren doch gestern so lange weg. Warum sollte ich jetzt aufstehen?!", fragte Marguerite, die keinerlei Anstalten machte, ihre Augen zu öffnen, sondern einfach liegen blieb.
"Eure Tante wünscht, Euch zu sehen", antwortete Arlette. "Sie erwartet Euch in einer halben Stunde unten im kleinen Esszimmer."
"Mon Dieu, was hat sie nur dazu bewogen, überhaupt aufzustehen?", murrte die Comtesse und schlug nun doch die Augen auf. "Braucht die Baronesse etwa keinen Schlaf?"
"Ich kann nichts dafür, Comtesse, sondern befolge nur die Befehle Eurer Tante", erwiderte die Zofe in entschuldigendem Ton.
"Das weiß ich doch, Arlette", sagte Marguerite begütigend. "Es sollte auch kein Vorwurf gegen dich sein. Mich wundert nur, dass meine Tante bereits aufgestanden ist und mich sehen will."
"Jedenfalls ließ sie vor einer Stunde durch ihre Kammerzofe bestellen, dass wir für ein spätes Frühstück im kleinen Esszimmer herrichten sollen. Sie erschien zwischendurch, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung sei, ordnete an, Euch und den Baron zu wecken, und verschwand danach im kleinen Salon. Ihre Zofe meinte, sie hätte am frühen Morgen einen Brief erhalten und wolle ihn beantworten."
Marguerite horchte interessiert auf. War das etwa schon die Antwort auf ihre Eingabe, Tante Adrienne ihrer Vormundschaft zu erheben?
Durch diese Neuigkeit angetrieben, stand die Comtesse rasch auf, wusch sich und forderte dann ihre Kammerzofe auf, ihr ein bequem sitzendes Kleid auszusuchen.
"Das grüne oder das blaue, Comtesse?"
"Nehmen wir das grüne, passend zum ersten Tag des Jahres."
Eine halbe Stunde später, nachdem sie angekleidet und frisch frisiert war, lief Marguerite die Treppe zum kleinen Esszimmer hinunter, gespannt darauf, ob ihre Tante etwas wegen des Briefes sagen würde. Als sie den Raum betrat, saß die Baronesse bereits mit ihrem Mann am Tisch. Letzterer machte allerdings den Eindruck, gleich wieder einschlafen zu wollen. Er sah blass und elend aus, so dass Marguerite fast ein wenig Mitleid mit ihrem Onkel bekam.
"Ah, da bist du ja endlich!", begrüßte Adrienne sie von oben herab. "Wird auch langsam Zeit, dass du aufstehst."
"Warum denn? Was haben wir an einem Tag wie diesem schon zu versäumen, nachdem wir die halbe Nacht auf einem Ball waren?", gab das Mädchen gleichgültig zurück und setzte sich auf ihren Platz.
"Meine Rede", stimmte der Baron ihr in klagendem Ton zu. "Man hätte uns ruhig weiterschlafen lassen können."
"Normalerweise schon, aber wir haben eine Einladung zu einer kleinen Nachmittagsgesellschaft von Madame de Colignon erhalten", sagte Adrienne streng und warf ihrem Mann einen ärgerlichen Blick zu, bevor sie sich wieder an ihre Nichte wandte und mit süffisantem Lächeln fortfuhr: "Da ich annehme, dass du die Einladung unserer lieben Freundin nicht abzuschlagen gedenkst, habe ich mir erlaubt, ihr bereits schriftlich zuzusagen. Nur deshalb ließ ich euch beide wecken."
"Oh, das ist ja großartig!", entfuhr es Marguerite erfreut, dachte sie doch gleich daran, dass Madame de Colignon bestimmt auch ihre Nachbarn, die Volturi-Brüder, eingeladen hatte und sie heute schon Aro wiedersehen würde. "Dann sollte ich mich besser umziehen gehen und..."
"Madame erwartet ihre Gäste erst gegen halb fünf, Kind", schnitt ihre Tante ihr das Wort im Munde ab, behielt aber das süffisante Lächeln bei. "Wir haben also noch reichlich Zeit und du solltest wenigstens eine Kleinigkeit zu dir nehmen. Ich habe extra angeordnet, eine Kanne Kaffee aufzubrühen, damit wir alle drei richtig wach werden!" [1]
"Oh, aber ich möchte jetzt nichts essen und Kaffee mag ich auch nicht", erwiderte Marguerite.
"Kaffee ist gesund und macht munter", gab Adrienne zurück. "Und nach diesem langen Fest gestern bei Hofe ist es genau das, was wir drei jetzt brauchen. Du wirst dich also überwinden und wenigstens eine Tasse davon trinken! Er ist teuer genug!"
"Oh bitte, Adrienne, fang nicht schon morgens einen unnötigen Streit an", stöhnte ihr Mann und hielt sich den Kopf. "Wenn das Mädchen keinen Kaffee mag, dann lass sie doch in Ruhe!"
Die Baronesse wandte sich ihrem Mann mit einem ärgerlichen Blick zu und antwortete streng: "Jeder halbwegs vernünftige Mensch würde meine Anweisung, Kaffee zubereiten zu lassen, gewiss dahingehend verstehen, dass mein Bestreben nur das Ziel beinhaltet, unsere Lebensgeister wieder zu wecken, um später auf der Gesellschaft unserer geschätzten Nachbarin einen guten Eindruck zu machen. Wer weiß, wen sie noch dazu eingeladen hat? Schließlich gehören sehr einflussreiche Leute zu ihrem Bekanntenkreis."
"Ihr habt recht, Tante", sagte Marguerite, worauf ihr der Baron ein dankbares Lächeln schenkte.
"Freut mich, dass du zur Vernunft gekommen bist", meinte Adrienne, überrascht von dieser raschen Nachgiebigkeit ihrer Nichte. Allerdings entging ihr keineswegs, wie ihr Mann das Mädchen anlächelte, was ihr äußerst missfiel. Um seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen, sprach die Baronin ihn erneut an: "Ein wenig merkwürdig erscheint es mir allerdings, dass Madame de Colignon einen Tag nach dem Silvesterball bei Hofe schon eine Gesellschaft gibt, obwohl ihr doch klar sein müsste, dass die meisten der gestern Geladenen noch müde sein dürften."
"Ihre Gesellschaft wird wohl nicht groß sein, sondern nur aus guten Bekannten bestehen, die über diese Einladung gewiss genauso erfreut sein dürften wie unsere Marguerite", meinte Roger und zwinkerte dem jungen Mädchen mit einem verschmitzten Lächeln zu. Die Comtesse, obzwar überaus verwundert über den Humor, den der Mann ihrer Tante an den Tag legte, konnte nicht anders als sein Lächeln zu erwidern. Dieses augenscheinliche Einverständnis zwischen den beiden erzürnte Adrienne im tiefsten Inneren und sie fragte sich, was nur in ihren Mann gefahren war? Roger, der ohnehin eine Schwäche für junge Dinger besaß, hatte sich offenbar den Kopf von dem kleinen Bastard verdrehen lassen! Nun, sie würde ihn zu gegebener Zeit schon wieder zur Vernunft bringen. Jetzt galt es, Contenance zu bewahren und dieses Spielchen mitzuspielen.
"So, so?", knüpfte Adrienne daher an den letzten Satz ihres Mannes an und betrachtete sich nun erneut ihre Nichte, deren Miene bei dieser Aufmerksamkeit wieder ernst wurde. "Mademoiselle scheint es demnach in Paris und auf großen Gesellschaften zu gefallen, wie? Jedenfalls sah es gestern auf dem Ball ganz danach aus."
"Ja, es war doch sehr schön", entgegnete Marguerite offen und blickte ihrer Tante unerschrocken in die Augen. "Alle auf dem Ball waren überaus freundlich zu mir. Lediglich die aufdringliche Art von Monsieur Guignot störte mich etwas."
"In diesem Punkte stimme ich völlig mit dir überein, mein Kind", behauptete die Baronesse. "Mir ist wahrhaftig nicht entgangen, dass viele der männlichen Gäste dir die Cour machten und ich hoffe, dass keiner von ihnen so aufdringlich war wie Monsieur Guignot."
"Nein, sie haben sich tadellos genommen, Tante, und ich konnte einige neue Bekanntschaften machen", erklärte das Mädchen. "Und da es üblich scheint, in Paris Gesellschaften zu geben, möchte ich meinen Geburtstag am 14. Januar hier in diesem Hause feiern und dazu einige meiner neuen Bekannten einladen."
"Sieh an", sagte Adrienne mit falschem Lächeln. "Mademoiselle schmiedet sogar schon Pläne. Nun ja, eine hübsche Idee, mein Kind. Leider wird nichts daraus werden, da wir gleich nach Dreikönig auf das Anwesen deines Vaters zurückkehren, ganz wie ich es vorgesehen hatte."
"Aber wir können das doch verschieben!", protestierte Marguerite.
"Hm... mal sehen", erwiderte ihre Tante, auf deren Antlitz sich nun ein selbstzufriedenes Lächeln abzeichnete. "Möglicherweise wäre ich geneigt, deiner Bitte zu entsprechen. Es kommt ganz darauf an, wie du dich verhältst. Ich hoffe, wir haben uns verstanden?"
"Sei nicht so streng zu der Kleinen, Adrienne", mischte sich der Baron ein.
"Halt dich bitte da raus, mein Lieber", erwiderte seine Frau, die ihm kurz einen bösen Blick zuwarf, ehe sie sich wieder ihrer Nichte zuwandte. "Habe ich mich klar ausgedrückt, mein Kind?"
"Ja, Tante", antwortete Marguerite, der deutlich anzusehen war, wie wenig ihr dies gefiel. Doch sie war fest entschlossen, ihren Geburtstag in Paris zu feiern und Aro so oft wie möglich zu sehen. Madame de Colignon half ihr bestimmt bei der Lösung ihres Problems, sich mit dem Mann, in den sie verliebt war, offiziell zu verloben. Womöglich gab es Mittel und Wege, ihre Tante zur Zustimmung einer Heirat mit dem italienischen Adligen zu bewegen...
***
"Herr?!"
Die Stimme seines Dieners drang nur allmählich in das Bewusstsein Guignots ein, der immer noch im Bett lag. Die Kränkung durch Marguerite und seine Grübelei darüber, wie er es am besten anstellte, sie dennoch für sich zu gewinnen, hatten ihn lange wach gehalten und er schlief erst ein, als sich der neue Tag bereits anzukündigen begann.
"Herr, ist alles in Ordnung mit Euch?"
Warum ließ ihn sein Diener denn nicht in Ruhe? Schließlich war Neujahr und es war nichts Ungewöhnliches, dass man nach einer langen Ballnacht den nächsten Tag im Bett verbrachte.
"Herr...?"
Langsam schlug Guignot die Augen auf und sein Blick fiel sofort auf das besorgte Gesicht des kleinen Mannes.
"Was ist los?", murrte Guignot verärgert. "Hatte ich dir für heute nicht frei gegeben?"
"Doch, Herr, und ich wollte gerade losgehen, als mir ein Bote eine Nachricht für Euch brachte."
"Eine Nachricht? Was für eine Nachricht?"
"Bitte, Herr, was denkt Ihr von mir? Selbstverständlich lese ich versiegelte Schreiben an Euch nicht!"
"Also schön, leg den Brief hin und geh! Ich werde ihn später lesen."
"Aber Herr, der Bote wartet auf Antwort!"
"Mon Dieu, Kerl, warum sagst du das nicht gleich?!", stieß Guignot verärgert hervor und sah sich genötigt, sich im Bett aufzusetzen und das Schreiben von seinem Diener entgegenzunehmen. Er brach das Siegel auf und las erstaunt, dass ihn Madame de Colignon für heute Nachmittag zu einer kleinen Gesellschaft einlud. Höchst ungewöhnlich, wenn man bedachte, dass die alte Dame gestern selbst bis zum Ende des königlichen Balles geblieben war.
"Herr, der Bote wartet", erinnerte ihn sein Diener zaghaft.
"Ja, ja, bestell ihm, dass ich die Einladung annehme", entgegnete Guignot grimmig. "Du kannst danach auch gehen. Ich komme schon allein zurecht."
"Sehr wohl, danke, Herr!"
Der kleine Diener verneigte sich und verließ danach rasch den Raum, während ihm der hakennasige Mann mit den Augen folgte. Dabei fragte er sich insgeheim, warum ihn die Colignon überhaupt einlud. Sie musste doch mitbekommen haben, dass ihr Schützling Marguerite nichts von ihm wissen wollte. Schließlich erinnerte er sich aber, dass sich die Alte mit Roger und seiner Frau gut vertrug und nach außen hin vermutlich den Schein wahren wollte, um ihre wahre Absicht zu verschleiern. Nun gut, es konnte nicht schaden, sich das Haus seiner Gegenspielerin von innen anzusehen und außerdem gab dies ihm Gelegenheit... er ließ seinen Blick langsam zu dem dunkelbraun glänzenden Sekretär wandern, der an der gegenüberliegenden Wand seines Bettes stand und der in seinem Geheimfach verbotene Substanzen barg, einige davon äußerst gefährlich. Darunter befand sich eine ganz besondere, die er für mächtige Feinde vorgesehen hatte - ihre Wirkung war langsam, aber gewiss...
Guignot grinste ein wenig. Das Schicksal schien seinen Plänen in die Hände zu spielen. Auf der Gesellschaft im Hause von Madame de Colignon herrschte sicherlich genügend Ablenkung, so dass er sein Vorhaben erfolgreich ausführen konnte - und in wenigen Tagen hätte seine Angebetete keine mächtige Verbündete mehr...
***
Marguerite konnte es kaum erwarten, zur Gesellschaft von Madame de Colignon aufzubrechen, glaubte sie doch, dort Aro wiederzusehen. Darum war sie nach dem Frühstück, zu dem ihre Tante sie und den Baron gedrängt hatte, gleich nach oben geeilt, hatte Arlette zu sich bestellt und den ganzen Nachmittag mehrere Kleider anprobiert, bis sie sich für ein hellblaues entschied. Danach bemühte sich ihre Zofe, ihre Haare hübsch herzurichten, doch Marguerite war mit keiner der Frisuren, die Arlette aus ihrem Haar formte, zufrieden. Schließlich meinte die junge Kammerfrau seufzend: "Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich machen soll. Dabei seht ihr mit allen Kunstwerken, die ich auf Eurem Kopf zaubere, reizend aus. Was ist nur mit Euch los, Comtesse?"
"Tut mir leid, Arlette, vermutlich bin ich zu aufgeregt", erklärte Marguerite in entschuldigendem Ton. "Natürlich freue ich mich über die Einladung von Madame de Colignon, aber vermutlich sind auf der Gesellschaft heute Nachmittag auch einige ihrer adligen Bekannten, die am Hofe des Königs dienen, weshalb ich möglichst vorteilhaft aussehen will."
"Wenn es so ist, solltet Ihr nur einen Teil Eures Haares am Hinterhaupt aufgesteckt tragen, während das übrige Haar an den Seiten herabfällt. Das ist zur Zeit bei Hofe eine der beliebtesten Frisuren der Damen", meinte Arlette.
"Woher weißt du das?"
"Unsere Küchenmädchen gehen doch jeden Tag auf den Markt einkaufen, da hört man so allerlei."
"Und natürlich unterhältst du dich mit ihnen darüber."
"Selbstverständlich, Comtesse, warum auch nicht? Schließlich essen alle Bediensteten zusammen in der Küche."
"Also schön, dann tue, was du für richtig hältst. Ich vertraue dir."
Wenig später begutachtete sich Marguerite kritisch im Spiegel. Sie war zwar immer noch nicht zufrieden, aber das lag sicherlich nur an ihr selbst, weil die Aussicht, Aro wieder zu begegnen, sie innerlich in höchste Aufregung versetzte, obwohl sie es kaum erwarten konnte...
*
Baronesse de Lebrunne und ihr Ehemann hingegen hatten es nicht so eilig wie ihre Nichte, auf der Gesellschaft Madame de Colignons zu erscheinen. Als Marguerite um halb fünf ihre Zofe zu ihrer Tante schickte, um sie daran zu erinnern, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits von ihrer Gastgeberin erwartet wurden, kam Arlette mit der Antwort zurück, dass es sich um eine zwanglose Gesellschaft handele, bei der man nicht so genau auf die Uhrzeit achtete. In der Einladung habe auch nur gestanden, dass man die Gäste ab halb fünf erwarte.
"Mon Dieu, meine Tante liebt es, mich warten zu lassen!", entfuhr es der Comtesse ärgerlich. Sie wandte ihren Blick erneut ihrer Zofe zu. "Was genau hat die Baronesse gemacht, als du bei ihr warst?"
"Oh, da sich Eure Tante gerade ankleiden ließ, durfte ich das Zimmer nicht betreten. Doch eine ihrer Zofen war so freundlich, ihr Eure Anfrage mitzuteilen und überbrachte mir dann auch die Antwort der Baronesse."
"Offensichtlich scheint meine Tante es nicht besonders eilig zu haben!"
Aber einige Minuten später klopfte eine Bedienstete an die Tür des Privatzimmers der Comtesse und informierte diese darüber, dass die Herrschaften aufzubrechen gedachten.
Kurz vor fünf Uhr traf Marguerite mit ihren Verwandten schließlich im Hause ihrer mütterlichen Freundin ein, wo ein Diener sie empfing, der ihnen die Winterumhänge abnahm, und ein anderer Diener sie in den großen Salon führte. Dort saßen oder standen bereits andere Gäste, die sich bei Wein oder heißen Getränken, wobei es sich vermutlich um heiße Schokolade oder Kaffee handelte, sowie süßem Gebäck miteinander unterhielten. Natürlich ließ Marguerite ihre Augen schnell über die anderen Gäste wandern, konnte Aro und seine Brüder jedoch nicht entdecken.
Währenddessen kam Madame de Colignon, kaum dass sie die Neuankömmlinge bemerkt hatte, auf sie zu und hieß sie freundlich willkommen.
"Es freut mich sehr, dass Ihr Euch die Zeit genommen habt, zu meiner kleinen Neujahrfeier zu kommen."
Adrienne und Marguerite knicksten leicht, während sich der Baron lächelnd vor der Hausherrin verneigte.
"Wir haben für Eure freundliche Einladung zu danken, Madame", erwiderte er dann.
Die Gastgeberin nickte lächelnd und tauschte einen vertraulichen Blick mit Marguerite, ehe sie sich wieder dem Ehepaar Lebrunne zuwandte: "Bitte nehmt Platz und genießt die kleinen Köstlichkeiten, die ich für den heutigen Tag zubereiten ließ."
Das Ehepaar kam dieser freundlichen Aufforderung nach, während Marguerite ihrer mütterlichen Freundin ein dankbares Lächeln schenkte, bevor sie sich von ihren Verwandten trennte, um sich auf eines der drei Sofas neben Louise zu gesellen, das etwas abseits von den anderen stand.
"Warum hast du dich so zurückgezogen?", erkundigte sich Marguerite verwundert, nachdem sie sich zu ihrer Freundin gesetzt hatte.
"Nun ja, viele der Gäste von Madame gehören gehobenen Kreisen an. Sogar eine ihrer jüngeren Nichten, die derzeit im Dienste der Königin steht, heute jedoch einen freien Tag erhielt, ist da. Sie unterhält sich seit ihrer Ankunft mit ihrer Tante und da wollte ich nicht stören", erklärte Louise. "Wie Ihr wisst, bin ich überaus dankbar, dass Madame mich überhaupt bei sich aufgenommen hat, Comtesse. Sie bestand sogar auf meiner Anwesenheit bei dieser kleinen Neujahrsfeier, obwohl ich nicht von Adel bin und hier eigentlich nichts zu suchen habe."
"Ach Unsinn, Louise, du bist genauso wertvoll wie jeder andere Mensch auch", widersprach Marguerite. "Außerdem ziehe ich deine Gesellschaft immer noch derjenigen aller anderen vor, seien sie nun von Adel oder nicht."
"Sehr freundlich von Euch, das zu sagen, Comtesse, aber Ihr wisst selbst, dass das nicht immer so bleiben wird."
"Wie kommst du denn darauf?"
"Der gestrige Hofball hat mir sehr deutlich gezeigt, wie viele der Edelmänner ihre Augen wohlgefällig auf Euch ruhen ließen, so dass Ihr in naher Zukunft gewiss zahlreiche Heiratsanträge erwarten dürft."
Marguerites Wangen färbten sich nach diesen Worten in einen leichten Rotton, dennoch hielt sie Louises Blick stand.
"Mag sein, dass es so kommt", gab sie danach zögerlich zu. "Dennoch bist und bleibst du meine beste Freundin, so wie Madame de Colignon mir wie eine zweite Mutter ist. An unserem Verhältnis wird sich nie etwas ändern, Louise, glaub mir."
"Ja, ich glaube Euch gern", sagte die junge Dame lächelnd. "Doch Euer zukünftiger Gemahl hat womöglich etwas dagegen, dass Ihr Umgang mit mir pflegt, da ich nicht von Adel bin, sondern mir als Gesellschafterin mein Brot verdienen muss. Nicht alle Edelleute sind so nobel wie Euer Vater und Ihr oder gar Madame de Colignon."
"Nun, die Conte di Volturi finden dich offensichtlich ebenfalls sympathisch und schauen nicht auf dich herab."
"Das ist richtig und ich bin dem jungen Conte di Volturi für seine freundliche Aufmerksamkeit, die er mir angedeihen ließ, überaus dankbar", gab Louise zu und nickte etwas. "Er zeigte keinerlei Hochmut und schien sich gerne mit mir zu unterhalten. Doch man muss bedenken, dass er sehr jung ist und deshalb womöglich vieles leicht nimmt. Schließlich kokettierte er auch mit Eurer Tante, was der Baronesse anscheinend gefiel, und forderte sie sogar zum Tanz auf - all dies kam mir vor wie ein Spiel, aber ich nehme es ihm nicht übel. Er ist ein junger Mann, der sich sicherlich nichts Böses dabei denkt."
"Oh, ich weiß, dass Caius dich mag", erwiderte Marguerite. "Und seine beiden älteren Brüder waren doch auch freundlich zu dir, nicht wahr?"
"Die Conte di Volturi begegnen aller Welt höflich, Comtesse, was lediglich von guter Erziehung zeugt. Weshalb sollten sie mir gegenüber unfreundlich sein, selbst wenn ich für die Herren vermutlich nur eine unwichtige Nebenerscheinung bin? Immerhin macht Conte Marcus Madame de Colignon derzeit den Hof und will sich dabei von seiner besten Seite präsentieren, wie das nun einmal üblich ist. Und Conte Aro scheint per se viel für Damen übrig zu haben, macht charmante Komplimente und versteht es sogar, Eure Tante zu umgarnen."
"Ach wirklich? Er kann meine Tante umgarnen?"
"Jedenfalls setzte sie ihm kaum etwas entgegen, sondern schien recht angetan zu sein, als sie hörte, dass seine Brüder und er in diesem eleganten Viertel wohnen und wohl über beträchtlichen Reichtum und ein großes Anwesen in Italien verfügen."
"Wer erzählt denn so etwas? Nicht einmal ich weiß davon!"
"Ihr wart die meiste Zeit mit Tanzen beschäftigt, Comtesse, und habt wohl deshalb nicht die Gerüchte über die italienischen Brüder gehört, die in Umlauf waren, nachdem sich Conte Aro einige Zeit mit Madame Fournier und ihren Bekannten unterhalten hat. Jedenfalls war Monsieur Fournier ebenfalls sehr angetan von Conte Aro, zumal er ein wenig mit seiner Tochter Agnes getändelt hatte."
"Aro versicherte mir, dass das nichts zu bedeuten habe!", entfuhr es Marguerite heftig. Dann schlug sie sich auf den Mund und schaute sich um. Aber niemand schien ihren Ausruf mitbekommen zu haben und die Volturi-Brüder waren immer noch nicht da. Dafür fiel der Comtesse jetzt auf, dass sich Guignot unter den Gästen befand und sich auf das Sofa gesetzt hatte, auf dem sich Madame de Colignon mit einer jungen Frau befand und plauderte. Das musste die Nichte sein, die bei Hofe diente. Es war ein hübsches Mädchen mit einem runden Gesicht und haselnussbraunen Haaren. Bestimmt hatte sie bereits einen oder mehrere Edelleute als Verehrer.
"Ich bin sicher, dass er es ernst mit Euch meint", sagte da Louise gerade und gewann damit die Aufmerksamkeit ihrer Freundin zurück. "Ganz offensichtlich verehrt Conte Aro Euch, Comtesse, das konnte jedermann sehen, der nicht die Augen davor verschloss."
"Glaubst du wirklich, dass jeder auf dem Ball es bemerkte?", fragte Marguerite beunruhigt.
"Man müsste schon sehr ignorant sein, wenn nicht", antwortete Louise. "Und Ihr gebt ihm den Vorzug vor allen anderen Männern, nicht wahr?"
"Du hast recht. Dennoch wünsche ich, dass es vorerst geheim bleibt."
"Wenn ich Eure Bevorzugung gestern bemerkte, haben es andere sicherlich auch gesehen. Trotzdem solltet Ihr Euch deswegen keine Sorgen machen. Es war ein Silvesterball und ich bezweifle, dass man an einem solchen Abend vieles wirklich ernst nimmt, sondern dem allzu reichlichen Genuss des guten Weines zuschreibt."
"Nun, das hoffe ich doch nicht", sagte die Comtesse und neigte ihren Kopf ein wenig zu dem ihrer Freundin vor, um ihr ins Ohr zu flüstern: "Gestern Nacht erhielt ich einen Heiratsantrag und ich denke nicht, dass der Mann, der um meine Hand warb, damit einen Scherz machen wollte."
Überrascht blickte Louise sie an, dann fragte sie leise: "Wer ist es?"
"Conte Aro - aber das darf im Moment noch keiner wissen! Bitte versprich mir, es für dich zu behalten!", bat Marguerite sie leise.
"Selbstverständlich. - Aber geht das nicht ein bisschen zu rasch, Comtesse? Ihr kennt euch doch kaum!"
"Ja, das sagte ich Aro auch und er versteht mich. Aus diesem Grunde will er seinen Aufenthalt in Paris verlängern, damit wir uns beide besser kennenlernen können. Ich hoffe sehr, dass ich meine Tante ebenfalls dazu überreden kann, noch länger hier zu verweilen. Sie drohte bereits damit, bald wieder auf unser Landgut zurückzukehren."
"Die Ernsthaftigkeit dieser Aussage Eurer Tante ist höchst zweifelhaft. Der Baron und sie sind doch gestern einigen ihrer alten Bekannten wiederbegegnet und wollen vermutlich ihre Beziehungen mit ihnen festigen. Würde mich außerdem nicht wundern, wenn der Baron versuchte, sein Ansehen bei Hofe wieder zu glätten."
"Nun, dann verstehe ich endlich, warum er mich in meiner Bitte bei meiner Tante unterstützte, noch länger in Paris zu bleiben. Und wer könnte es ihm verübeln, seinen Ruf wiederherstellen zu wollen und hier zu verweilen? Auf Schloss Rochefort gibt es für ihn keinerlei Abwechslung und seine Frau kontrolliert alles."
"Ich würde liebend gerne nach Rochefort zurückkehren - aber Eure Tante hat mich ja verbannt, leider", seufzte Louise.
"Ohne meine Tante wäre es dort auch wieder schön", meinte Marguerite. "Allerdings glaube ich, dass Aro lieber in seine Heimat zurückkehren möchte; und wenn ich tatsächlich seine Frau werde, dann muss ich mit ihm gehen."
"Vorerst kann es Euch gleich sein, wo Conte Aro leben will", erwiderte ihre Freundin in ernstem Ton. "Zum einen wollt Ihr ihn doch erst mal besser kennenlernen, nicht wahr? Außerdem ist es äußerst fraglich, dass Eure Tante ihre Zustimmung zu dieser Verbindung geben wird, selbst wenn Ihr Conte Aros Antrag annehmen wollt."
"Sie wird alle Anträge um meine Hand ablehnen, da sie die Herrschaft über Rochefort nicht aufgeben will! Genau das ist mein Problem! Darum hoffe ich doch so sehr darauf, dass man meinem Gesuch stattgeben und ihr die Vormundschaft entziehen wird."
Louise schwieg, um ihrer Freundin die Laune nicht zu verderben, wusste sie doch, dass Marguerites Antrag auf die Enthebung ihrer Tante aus der Vormundschaft für sie kaum Aussicht auf Erfolg hatte. Die einzigen, die der Comtesse vielleicht helfen konnten, waren entweder der Erste Minister oder die Majestäten. Aber Marguerite de Rochefort kannte diese Personen nicht gut genug, um auf ihre Gunst hoffen zu dürfen. Vielleicht gelang es Conte Aro, Baronesse de Lebrunne zu einer Meinungsänderung zu bewegen, obwohl sich Louise das kaum vorstellen konnte.
"Keiner der Conte di Volturi scheint hier zu sein. Hat Madame die Brüder denn nicht eingeladen?", erkundigte sich Marguerite.
"Oh doch, sie hat sie eingeladen", gab Louise sofort zurück. "Wie ich Euch bereits sagte, wirbt Conte Marcus um Madame. Er scheint tatsächlich ernste Absichten zu hegen und sie ermutigt ihn darin."
"Heißt das, dass Madame de Colignon wieder heiraten wird?"
"Das scheint nicht ausgeschlossen."
"Warum hat Madame de Colignon wohl diesen Guignot eingeladen, Louise?"
"Ich glaube, dass sie ihn amüsant findet. Jedenfalls ist er ziemlich beliebt in Paris, vor allem bei den Damen."
"Ja, von seinem Ruf habe ich schon gehört. Trotzdem kann ich es kaum glauben. Er ist kein schöner Mann und hat nichts Besonderes an sich."
"Wie ich hörte, kann Monsieur Guignot überaus charmant sein."
"Mir fiel lediglich seine Aufdringlichkeit auf, die er mir gestern auf dem Ball zuteil werden ließ. Warum konnte er mich nicht in Ruhe lassen? Ich gab ihm doch deutlich zu verstehen, dass ich keine nähere Bekanntschaft mit ihm wünschte."
"Aber, Comtesse, genau das hat ihn gereizt. Offensichtlich gefallt Ihr ihm und er wollte nur die Chance erhalten, Euch seine angenehmen Seiten zu zeigen."
"Daran hatte ich kein Interesse, zumal er sehr gut mit meinen Verwandten befreundet ist."
"Eure Tante scheint ihm keineswegs gewogen zu sein."
"Das ist gleichgültig. Guignot ist ein Freund des Barons, weshalb ich ihm nicht traue - mal abgesehen davon, dass ich diesen hässlichen Mann von Anfang an unsympathisch fand."
"Für sein Aussehen kann er nichts und benimmt sich ansonsten doch recht gesittet."
"Du hast recht, ich bin voreingenommen und ungerecht gegenüber Monsieur Guignot. Dennoch wünsche ich keine nähere Bekanntschaft mit ihm und werde ihn geflissentlich ignorieren, so gut ich kann."
*
Während sich Marguerite mit ihrer Freundin unterhielt, ließ Guignot immer wieder flüchtig seinen Blick zu seiner Angebeteten wandern, darauf achtend, dass die hübsche Comtesse dies nicht bemerkte. Nachdem er eine Weile mit vielen seiner Bekanntschaften kurz geplaudert hatte, näherte er sich mit zwei gefüllten Weingläsern dem Sofa seiner Gastgeberin, die dort zusammen mit einer jungen Dame saß und angeregt plauderte.
"Verzeiht, Madame, ich habe mir erlaubt, Euch und Eurer reizenden Sitznachbarin etwas zu trinken zu besorgen", unterbrach er höflich die Konversation der beiden Frauen.
Überrascht sahen Madame de Colignon und ihre Gesprächspartnerin zu ihm auf, worauf der hakennasige Mann zuerst der Gastgeberin und danach der jungen Dame eines der Gläser reichte.
"Vielen Dank, Monsieur Guignot", sagte die ältere Dame und lächelte dann. "Ihr versteht es wirklich, Euch mit solcherlei Aufmerksamkeit beliebt zu machen. Nun beginne ich zu erahnen, woher Euer guter Ruf resultiert. Bitte, nehmt Platz. Darf ich Euch meine Nichte, Giselle de Roux, vorstellen? Sie steht seit drei Monaten als Kammerjungfer in den Diensten Ihrer Majestät."
"Freut mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen, Mademoiselle de Roux", wandte sich Guignot mit freundlicher Höflichkeit an die junge Dame und verneigte sich leicht, ehe er sich neben die Hausherrin niederließ. "Wie gefällt es Euch bei Hofe, Mademoiselle?"
"Nun, es war anfangs etwas ungewohnt, aber ich bin für meine neue Aufgabe sehr dankbar. Ihre Majestät ist mir gegenüber huldvoll und Seine Majestät begegnete mir bisher freundlich", erklärte das junge Mädchen. "Darüber hinaus war Ihre Majestät so freundlich, mir für heute freizugeben, nachdem ich die Einladung meiner Tante erhielt."
"Kommt Ihre Majestät denn ohne Kammerjungfer aus?", fragte Guignot.
"Aber ja, ich bin doch nicht ihre einzige Zofe", antwortete Giselle und lachte verhalten. Dann wandte sie sich wieder an ihre Tante. "Die Königin war gestern sehr angetan von Comtesse de Rochefort, mit dessen Vater Ihr doch befreundet wart. Da Ihre Majestät eine kleine Feier am Dreikönigstag zu machen gedenkt, würde es mich nicht wundern, wenn Eure junge Bekannte dazu eine Einladung erhielte."
"Das wäre natürlich eine sehr große Ehre und ein deutlicher Gunstbeweis", meinte Madame de Colignon beeindruckt. "Allerdings sollten wir erst einmal abwarten, ob deine Vermutung Wirklichkeit wird. Schließlich hat Ihre Majestät die Comtesse de Rochefort nur einmal gesehen, weshalb zweifelhaft ist, dass sie ihr solch eine Ehre erweist."
"Nun, mich würde es nicht wundern", mischte sich Guignot in das Gespräch ein. "Comtesse de Rochefort ist eine überaus beeindruckende Schönheit und gestern ruhten viele wohlgefällige Blicke auf ihr."
"Vielleicht zu viele für ein dermaßen junges Mädchen", gab Madame de Colignon zurück. "Es könnte ihr den Kopf verdrehen."
"Auf mich wirkte sie nicht so", widersprach Giselle ihrer Tante. "Vielmehr scheint sie von zurückhaltendem Wesen und hat fast den ganzen Abend nur mit denselben Leuten verbracht. Außerdem schien sie die Gesellschaft unserer charmanten Gäste aus Italien vorzuziehen."
"Wen nimmt das Wunder, Kind? Die Conte di Volturi sind äußerst wohlerzogene Herren, die zudem noch in meiner unmittelbaren Nachbarschaft wohnen und mir bereits einige Male vor dem Ball ihre Aufwartung machten. Für diese Bekanntschaft muss sich niemand schämen."
"Aber sie sind nicht hier, liebe Tante. Habt Ihr sie nicht eingeladen oder haben sie Euch abgesagt?"
"Sie wurden von mir persönlich eingeladen und sagten zu. Vermutlich kommen sie lediglich etwas später. Vergiss nicht, Kind, dass sie wie die meisten meiner Gäste bis zum Ende auf dem Hofball geblieben sind."
"Genau wie Comtesse de Rochefort", bemerkte Giselle. "Bitte, Tante, würdet Ihr so freundlich sein, mich mit der Comtesse bekannt zu machen?"
"Gerne, mein Kind", sagte Madame de Colignon und erhob sich. Ihre Nichte tat es ihr gleich und sie schritten gemeinsam zu dem Sofa, auf dem Marguerite und Louise saßen. Guignot folgte den beiden Damen mit den Blicken und einem selbstzufriedenem Gesichtsausdruck. Sein Plan verlief bis jetzt genau so, wie er es sich vorgestellt hatte...
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[1] 1582 berichtete ein Arzt aus Augsburg namens Leonhard Rauwolf darüber, wie er in Aleppo 1573 zum ersten Mal Kaffee genossen hatte. In Italien war das Getränk ab 1592 bekannt und bereits 1645 gab es in Venedig ein Kaffeehaus, in London ab 1652. In Frankreich entstanden Kaffeehäuser zwar erst ca. 1659, aber das Getränk dürfte schon vorher in Adelskreisen bekannt gewesen und als Luxusartikel genossen worden sein.
Kapitel 27
Klatsch ist ein unbezahlter Spion.
~ Aus Venedig ~
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Erfreut registrierte Marguerite, dass Madame de Colignon mit ihrer Nichte auf sie zukam, und schenkte den beiden ein strahlendes Lächeln. Louise, die das ebenfalls bemerkte, senkte verlegen ihren Blick und traf Anstalten, sich vom Sofa zu erheben und zu verschwinden.
"Es wäre schön, wenn Ihr noch einen Augenblick bleiben würdet, Louise", sprach die Herrin des Hauses sie daraufhin an. Als die Gesellschafterin innehielt und sie überrascht ansah, wandte sich die ältere Dame an ihre Begleiterin und fuhr fort: "Es ist mir ein Vergnügen, Euch die Comtesse Marguerite de Rochefort sowie Mademoiselle Louise Lefevre vorzustellen, mein Kind."
Giselle nickte den jungen Mädchen mit freundlichem Lächeln zu, während sich die Gastgeberin nun an Marguerite und Louise wandte und weitersprach: "Dies, meine lieben Freundinnen, ist meine Nichte Giselle de Roux."
"Sehr erfreut", antwortete Marguerite, während ihre Freundin lediglich nickte und ein wenig lächelte. "Bitte, wollt Ihr und Mademoiselle de Roux Euch nicht zu uns setzen, Madame?"
"Meine Nichte hat sicherlich nicht dagegen", meinte die ältere Dame. "Mich jedoch bitte ich zu entschuldigen, da ich mich auch um meine anderen Gäste kümmern muss. Wir haben gewiss später die Gelegenheit, uns ein wenig zu unterhalten, Comtesse."
"Das würde mich sehr freuen", gab Marguerite zurück und schaute mit leisem Bedauern ihrer mütterlichen Freundin einen Moment lang nach, während sich Giselle neben sie gesellte. Dann wandte sie sich der Nichte von Madame de Colignon zu. "Wie ich hörte, dient Ihr bei Hofe, Mademoiselle de Roux?"
"Ja, das ist wahr", erwiderte die junge Frau freundlich. "Und mir trug man zu, dass Ihr Euch das erste Mal in unserer schönen Hauptstadt befindet, Comtesse. Hattet Ihr schon Gelegenheit, Paris ein wenig kennenzulernen?"
"Leider nicht, da wir erst einige Tage vor dem Ball hier ankamen."
"Bedauerlicherweise konnte ich gestern nicht dabei sein, doch ich hörte, dass Ihr auf dem Hofball einen großen Eindruck hinterlassen habt", erklärte Giselle. "Ihre Majestäten halten Euch für ein wohlerzogenes, reizendes Mädchen."
"Oh, das ist zu viel der Ehre", wehrte Marguerite, deren Wangen sich ob dieses Lobes leicht röteten, verlegen ab. "Sie schenkten mir nur wenige Minuten ihrer kostbaren Zeit."
"Glaubt Ihr wirklich, der König und die Königin hätten Euch nicht während des Abends beobachtet, Comtesse? Ihr seid eine der wenigen weiblichen Gäste, die in den gehobenen Kreisen von Paris unbekannt waren, und das erregt natürlicherweise die Neugier all jener, die bei Hofe dienen."
"Ihr seid sehr freundlich, Mademoiselle de Roux, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass ich den Leuten so wichtig bin."
"Für eine ansehnliche, junge Adlige aus gutem Hause und im heiratsfähigen Alter interessiert man sich bei Hofe sehr", behauptete Giselle. Dann lachte sie ein wenig und erklärte: "Allerdings geriet die Linie Rochefort ein wenig in Vergessenheit, nachdem Euer Vater sich vor einigen Jahren auf sein Landgut zurückzog. Welch ein Glück, dass meine Tante ihre Verbindungen spielen ließ und man Euch aufgrund dessen zum letzten Ball des Jahres einlud."
"Ja, wofür ich Eurer Tante zu großem Dank verpflichtet bin."
"Nun, wenn mich nicht alles trügt, waren einige Herrschaften der allerhöchsten Kreise über Euer Erscheinen beim Fest ebenfalls sehr erfreut. Deshalb erschreckt bitte nicht, wenn Ihr bald eine Einladung bei Hofe erhaltet."
Marguerite starrte Giselle überrascht an, dann wechselte sie einen raschen Blick mit Louise, die dem Gespräch schweigsam gelauscht hatte.
"Wie ich hörte, seid Ihr seit geraumer Zeit als Gesellschafterin bei meiner Tante tätig, Mademoiselle Lefevre?", wandte sich Madame Colignons Nichte nun ihr zu. "Sie lobt Eure Bildung und gute Erziehung in den höchsten Tönen."
"Sehr freundlich von Madame de Colignon", erwiderte Louise verlegen. "Und ich bin Eurer Tante für ihre Güte und Freundlichkeit, mir eine Stellung in ihrem Haushalt zu geben, überaus dankbar - mehr als Worte es zu sagen vermögen."
Giselle schien mit dieser Antwort äußerst zufrieden und nickte mit huldvollem Lächeln, ehe sie fortfuhr: "Mich hingegen freut es, dass meine Tante nun nicht mehr so allein auf ihrem Landgut ist. Natürlich hat meine Mutter sie mehrfach zu überreden versucht, nach Paris zu ziehen, damit wir öfter mit ihr zusammenkommen können, aber meine Tante zieht das ruhige Landleben dem Leben in der Stadt vor, selbst wenn es manchmal einsam ist. Das verstehe, wer will."
"Das Landleben hat durchaus seine Vorteile, Mademoiselle de Roux", sagte Marguerite. "Man kann oft ausreiten und muss sich nicht immer allzu streng nach gesellschaftlichen Konventionen richten, da man sein eigener Herr ist. Außerdem versichere ich Euch, dass mein Vater und ich sehr gerne die Gesellschaft Eurer Tante aufsuchten. Sie ist eine sehr feine Dame und mein Vater schätzte sie sehr, genau wie ich es tue."
"Der Verlust Eures Vaters tut mir leid", antwortete Giselle mit aufrichtigem Bedauern in der Stimme. "Gewiss ist es nicht leicht, wenn man gezwungen ist, allein zurecht zu kommen. Denn natürlich weiß ich, dass Seine verstorben Eminenz Euer Vormund war, es Euch nichtsdestotrotz jedoch überließ, Eure Besitzungen auf dem Lande nach eigenem Gutdünken zu regeln."
"Wofür ich Seiner Eminenz sehr dankbar bin."
"Aber ist es denn nicht sehr schwer, als junges Mädchen plötzlich eine so große Verantwortung zu tragen?"
"Mein Vater hat mich auf meine Stellung als Gutsherrin vorbereitet, mir alles beigebracht; und überdies habe ich einen hervorragenden Gutsverwalter, den mein Vater selbst eingestellt hat. Der junge Mann ist überaus loyal. Bisher war alles, was er mir zur Kontrolle vorlegte, in Ordnung. Doch seid versichert, Mademoiselle de Roux, auch mein verstorbener Vormund bestand darauf, dass man ihm die Bücher vorlegt. Daraus könnt Ihr ersehen, dass Kardinal Richelieu mich keineswegs mit meinen Aufgaben allein ließ. Er hatte nur keine Zeit, persönlich auf Schloss Rochefort zu erscheinen."
"Zweifellos hatte Seine verstorbene Eminenz Euer Wohl im Sinn. Ich hoffe, dass dies auch auf die Baronesse de Lebrunne zutrifft, der man die Vormundschaft über Euch nach dem Tode des Kardinals übertrug."
"Nun, man wird Ihr gewiss auf die Finger sehen", meinte Marguerite und ließ ihren Blick über die Gäste schweifen, um ihre Tante zu suchen. Diese saß mit einigen Damen zusammen und schwatzte ununterbrochen, während der Baron, der eben noch mit einigen der anwesenden Herren geplaudert hatte, sich gerade umwandte, um sich auf das Sofa zuzubewegen, in dem Guignot saß und scheinbar gedankenverloren in sein halbvolles Weinglas starrte.
"Was wollte eigentlich Monsieur Guignot vorhin bei Eurer Tante und Euch, Mademoiselle de Roux?", erkundigte sich Marguerite neugierig.
"Ach, er war so freundlich, uns jeweils mit einem Glas Wein zu versorgen", antwortete Giselle. "Nicht ungewöhnlich von Monsieur Guignot, er ist ein recht aufmerksamer Zeitgenosse."
"Wie ich hörte, soll er bei vielen Leuten äußerst beliebt sein. Hält er sich oft bei Hofe auf?"
"Nein, obwohl er dort wohlgelitten ist und viele Bekannte unter den Adligen hat, die seine Gesellschaft zu schätzen wissen."
"Kennt Ihr ihn näher, Mademoiselle de Roux?"
"Nur flüchtig, da er - wie gesagt - kaum bei Hofe ist; höchstens als Gast bei Festen wie dem gestrigen."
"Merkwürdig, er ist doch nicht von Adel, oder?"
"Comtesse, bei Hofe kommt es nicht so sehr darauf an, wer man ist, sondern wen man kennt - und Monsieur Guignot kennt genügend einflussreiche Personen. Er ist ein harmloser Zeitgenosse, jemand der genug Geld hat, um gut zu leben, und es versteht, die Leute zu unterhalten. Möglicherweise hegt er die Absicht, eines Tages eine adlige Dame zu heiraten, eine Witwe oder eine Erbin, wer weiß das schon? Jedenfalls liegt ihm viel daran, bei der Damenwelt den besten Eindruck zu hinterlassen."
"Mein Onkel nannte ihn seinen Freund - aber dass er Heiratsabsichten hat, höre ich zum ersten Mal."
"Es ist nur eine Vermutung von mir, denn ewig wird er doch kein Junggeselle bleiben wollen."
"Warum nicht? Auf diese Weise trägt er nicht zu viel Verantwortung."
"Oh, Comtesse, auch ein Monsieur de Guignot wird nicht jünger und ich vermute, dass er eines Tages heiraten wird, um ein ruhigeres Leben führen zu können - womöglich auch ein luxuriöseres wie jetzt. Es hat sicherlich seinen Grund, dass er kaum einen der Hofbälle auslässt und dabei so liebenswürdig wie möglich zu sämtlichen Damen der Gesellschaft ist", erzählte Giselle munter weiter, offensichtlich erheitert von ihrer eigenen Mutmaßung.
"Glaubt Ihr denn, dass dieser Mann eine Frau glücklich machen könnte?", frage Marguerite in einem Ton, aus dem ihr Zweifel an der Ehetauglichkeit Guignots deutlich herauszuhören war.
"Warum denn nicht? Gewiss wird er der Frau dankbar sein, die ihm ein gutes Leben bietet. Was mich betrifft, so gönne ich es ihm."
Marguerite schwieg dazu, bedauerte aber schon jetzt die zukünftige Gattin Guignots, falls es diesem Mann jemals gelang, eine Frau dazu zu bringen, ihn zu heiraten...
***
"Warum sitzt du hier allein herum?", fragte Lebrunne seinen Freund, nachdem er sich neben ihn auf die Couch gesellt hatte. "Unter den Gästen sind so viele nette Damen."
"Mich interessiert nur eine einzige davon", antwortete Guignot leise und ließ seinen Blick kurz zu Marguerite wandern, die sich immer noch im Gespräch mit Mademoiselle de Roux befand.
Der Baron, der seinem Blick gefolgt war, wandte sich daraufhin wieder an ihn und murmelte: "Durch Anschmachten wirst du das Herz meiner Nichte bestimmt nicht gewinnen. Misch dich lieber unter die Gäste und flirte mit den Damen, wovon einige ganz besonders reizend sind. Vielleicht gelingt es dir auf diese Weise, Marguerites Aufmerksamkeit zu erregen."
"Und wenn nicht?"
"Nun, dann hattest du wenigstens angenehme Gesellschaft, anstatt hier rumzusitzen und vor dich hin zu leiden. Mach dir nur keine Sorgen, meine Gattin und ich sind uns dahingehend einige, dass wir unsere kleine, verwöhnte Nichte lieber mit dir vermählen werden als mit einem dieser Italiener."
"Bist du dir da wirklich sicher, Roger?"
"Ja, es ist mir gelungen, meine bessere Hälfte davon zu überzeugen. Allerdings plante Adrienne heute Vormittag, bald abzureisen, wie sie beliebte, unserer Nichte mitzuteilen."
"Wie? Aber das darf nicht geschehen!"
"Nanu? Du klingst beinahe ebenso besorgt wie Marguerite, nachdem meine Frau ihr dies eröffnete."
"Will das Mädchen etwa in Paris bleiben?"
"Ja, sie sprach davon, hier ihren Geburtstag feiern zu wollen", erklärte Lebrunne. "Meiner Meinung nach ist der wahre Grund allerdings der, dass sie diese Italiener wiedersehen will. Ein Umstand, der mir gar nicht passt."
"Die Volturi-Brüder sind unser geringstes Problem, da ich deine Frau und dich als Verbündete habe. Jetzt muss ich nur noch etwas tun, um die Zuneigung Marguerites zu gewinnen."
"Warum machst du dir so viele Gedanken darum? Wir werden das Mädchen zwingen, dich zu heiraten."
"Das sollte aber das letzte Ausweg sein. Es wäre viel besser, wenn ich sie in mich verliebt machen könnte."
"Bisher ist dir das nicht gelungen und meiner Meinung nach vergebliche Mühe, da sie nur diese Italiener im Kopf hat."
"Ach, Roger, es gibt andere Mittel und Wege, um das Herz einer Jungfrau zu gewinnen. Wir sollten uns nach diesem Fest unbedingt unter vier Augen treffen, damit du durch mich erfährst, welche Möglichkeiten manchen Männern offenstehen. Sogar die Probleme mit deiner Frau könnte man lösen."
"Tatsächlich?", fragte Lebrunne verwundert und sah seinen Freund erstaunt an. "Sie wäre überglücklich, mir einen Erben zu schenken. Aber die Hoffnung darauf haben wir längst aufgegeben."
"Auch dafür stehen uns Möglichkeiten offen", murmelte Guignot. "Doch hier ist nicht der richtige Ort, um darüber zu sprechen. Wir müssen uns treffen. Am besten morgen Vormittag."
"Na schön, warum nicht? Zu Hause langweile ich mich ohnehin nur und meine Göttergattin wird die übelste Laune haben, dessen bin ich sicher. Überall hört man nur, wie sehr Marguerite von allen bewundert wird. Etwas, dass Adrienne ganz sicher nicht freut."
"Tja, die Launenhaftigkeit deiner Gattin lässt mich auch manchmal verzweifeln."
"Welch merkwürdige Aussage, nachdem du mir gerade angedeutet hast, über Möglichkeiten zu verfügen, wie man Probleme lösen kann. Das interessiert mich wirklich außerordentlich."
"Es wird mir ein Vergnügen sein, dir einen Blick in meine Geheimnisse zu geben - natürlich hoffe ich, dass du erkennst, wie hilfreich das sein kann, und dich uns anschließt."
"Uns? Du sprichst vermutlich von Leuten, mit denen du dich heimlich triffst."
Guignot nickte und flüsterte dann: "Das muss geheim bleiben. Wie du weißt, sind bestimmte Zusammenkünfte verboten."
"Hab schon davon gehört... hm, wir werden uns morgen Vormittag darüber unterhalten."
"Komm zu mir ins Haus, ich werde meinem Diener freigeben. Der Kerl soll nicht alles wissen, was ich mache."
"Ist mir nur recht. Und nun, mein Lieber, lass uns aufstehen und unter die Gäste von Madame de Colignon mischen. Es ist sehr erfreulich, dass diese Italiener nicht dabei sind."
"Was das betrifft, Roger, irrst du dich. Die Brüder Volturi sind gerade angekommen."
Guignots Blick war plötzlich zum Eingang des Salons gewandert, wohin nun auch Lebrunne seine Augen richtete und erkannte, dass die verhassten Italiener soeben den Raum betraten. Sofort ließ der Baron seinen Kopf in Richtung seiner Nichte wandern und sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Marguerites Augen begannen zu strahlen...
***
Kaum hatte Madame de Colignon, die sich gerade mit einigen Damen unterhielt, wahrgenommen, dass ihre Nachbarn vom Hause gegenüber eingetroffen waren, kam sie auf die Brüder zu und begrüßte sie herzlich. Aro und Caius verneigten sich leicht, während Marcus zusätzlich zu dieser Geste der Höflichkeit die Hand der Gastgeberin ergriff und einen Kuss daraufhauchte.
"Bitte verzeiht, dass es meinen Brüdern und mir nicht vergönnt war, früher zu kommen", entschuldigte sich Marcus mit einem leichten Ton des Bedauerns in seiner Stimme. "Wir wurden von Nachrichten aus der Heimat aufgehalten."
"Oh, hoffentlich keine unangenehmen, mein Lieber?"
"Nein, nein, ganz im Gegenteil", erklärte Marcus rasch. "Sie sind überaus erfreulich, weshalb wir Euer kleines Fest umso mehr genießen können. Wie geht es Euch, Madame?"
"Sehr gut, danke der Nachfrage und Euch, ihr Herren?"
"Ausgezeichnet", behauptete Marcus und lächelte breit, da er sich daran erinnerte, welch köstliche Mahlzeit sie vor etwa einer Viertelstunde außerhalb der Stadtmauern eingenommen hatten. Jetzt waren seine Brüder und er wieder in der Lage, die Gesellschaft von Menschen zu ertragen, ohne Gefahr zu laufen, einen von ihnen anzufallen. Selbst Caius schien sich gefangen zu haben und war seit der guten Nachricht aus Volterra völlig entspannt.
"Bitte, bedient Euch", lud Madame de Colignon die drei Brüder freundlich ein.
"Vielen Dank", erwiderten die drei. Dann ließen Aro und Caius die ältere Dame mit ihrem Freund allein, um Marguerite und Louise begrüßen zu gehen. Sie fanden die beiden immer noch auf der Couch mit einer ihnen unbekannten, jungen Dame sitzend vor und senkten leicht ihren Kopf vor den dreien. Marguerite erhob sich sofort und reichte Aro die Hand, die jener ergriff und einen Kuss andeutete.
"Wie schön, dass wir uns so bald wiedersehen", meinte Marguerite und tauschte einen tiefen Blick mit ihrem Verehrer aus, der sie ebenso anstrahlte wie sie ihn. Danach ließ Aro seine Augen fragend zu der ihm Unbekannten gleiten und die Comtesse, die dies richtig zu deuten verstand, beeilte sich zu sagen: "Mademoiselle de Roux, darf ich Ihnen die Conte Aro und Caius di Volturi vorstellen? - Meine Herren, dies ist Mademoiselle Giselle de Roux, eine Nichte von Madame de Colignon."
"Sehr erfreut, Mademoiselle", kam es beinahe synchron von den Lippen der beiden Vampire, die die junge Frau anlächelten. Dann fuhr Aro liebenswürdig fort: "Eine hübsche Überraschung unserer geschätzten Gastgeberin, eine ihrer Verwandten einzuladen. Wohnt Ihr in Paris, Mademoiselle?"
"Ja, aber die meiste Zeit bin ich in den Diensten Ihrer Majestät, die so gütig war, mir zu gestatten, an der Feier im Hause meiner Tante teilzunehmen", erwiderte Giselle, die ihren Blick wohlgefällig über die beiden italienischen Herren gleiten ließ, von denen man ihr ebenfalls berichtet hatte.
"Wie freundlich von Ihrer Majestät", gab Aro zurück. "Aber ich hoffe doch, dass Euer Dienst Euch nicht davon abhält, Eure Familie regelmäßig zu sehen. Man vermisst Euch daheim sicherlich sehr."
Giselle lächelte geschmeichelt, ehe sie antwortete: "Nun, unserer Familie ist die Ehre, die ein Dienst am königlichen Hofe bedeutet, durchaus bewusst und wir akzeptieren es daher gerne, wenn man mich daheim nicht mehr so oft sieht wie früher. Aber es ist der Lauf der Welt, dass Mädchen erwachsen werden und aus dem Hause gehen müssen, selbst wenn wir lieber noch blieben."
"Schade, dass keine Musik gespielt wird", meinte Caius, den das Gespräch zwischen Aro und der jungen Frau zu langweilen begann. Er interessierte sich überhaupt nicht für Mademoiselle de Roux, die zu der Kategorie der albernen, jungen Gänse gehörte, deren Gesellschaft er gerne meiden würde.
"Meine Tante hätte sicherlich nichts dagegen, wenn einer der Gäste etwas vorzutragen wünscht", sagte Giselle freundlich und wandte sich dann wieder Marguerite zu. "Wie ich hörte, sollt Ihr ausgezeichnet spielen und singen, Comtesse. Würdet Ihr uns die Freude machen, etwas vorzutragen?"
"Was denn? Hier vor so vielen Menschen, die ich nicht kenne?", fragte Marguerite, die offensichtlich keine Lust dazu hatte. Caius jedoch erkannte den Vorschlag von Mademoiselle de Roux sofort als Gelegenheit, sich aus dem Umfeld dieser langweiligen Nichte ihrer Nachbarin zu entfernen.
"Nur Mut, Comtesse", ergriff der blonde Vampir das Wort und lächelte das Mädchen, dem sein Herz heimlich gehörte, aufmunternd an. "Kommt, lasst uns zum Cembalo gehen. Es wird mir eine Freude sein, für Euch die Noten umzublättern. Und wenn Ihr wollt, kann ich auch singen, sobald Ihr ein Stück ausgewählt habt, das Ihr vortragen wollt."
"Ihr würdet uns wirklich eine große Freude machen, Comtesse", bat Giselle nochmals herzlich.
Einerseits schmeichelte Marguerite die Bitte der jungen Hofdame sehr, andererseits war es ihr etwas unangenehm, vor so vielen Fremden zu spielen. Dann begegnete sie Aros Blick, der sie anzuflehen schien; und als ihr möglicher Bräutigam ihr zudem leicht zunickte, gab sie nach. Immerhin würde sie Caius an ihrer Seite haben, was ihr ein wenig Sicherheit vermittelte.
"Also schön", sagte Marguerite und wandte sich Caius zu. "Lasst uns also zum Cembalo gehen."
"Gerne, ich freue mich schon auf Euer Spiel", erwiderte der blonde Vampir, bevor er Louise anschaute und fragte: "Wollt Ihr uns nicht auch begleiten, meine Liebe? Eure Freundin wäre Euch dafür sicherlich dankbar."
"Wir können uns doch nicht alle am Cembalo versammeln", meinte Marguerite erheitert. "Vielleicht möchte Louise auch gerne einmal tanzen. Sie hat so wenig Gelegenheit dazu."
Dabei warf die Comtesse Aro einen Blick zu und er verstand.
"Bitte, verzeiht mir, Mademoiselle de Roux", sagte der schwarzhaarige Vampir zu der jungen Frau, mit der er sich gerade erst bekannt gemacht hatte, und wandte sich Marguerites Freundin zu: "Würdet Ihr mir die Freude machen, mit mir zu tanzen, Mademoiselle Lefevre?"
"Natürlich, wenn Ihr es wünscht", erwiderte die Angesprochene und errötete etwas.
In diesem Moment näherten sich Madame de Colignon und Marcus zusammen der kleinen Gruppe.
"Nanu, Comtesse, wollt Ihr etwa schon wieder aufbrechen?", wunderte sich die ältere Dame, da Marguerite und Caius sich anschickten, zu gehen.
"Nein, Madame, Eure Nichte bat mich nur darum, etwas Musikalisches auf Eurem Cembalo vorzutragen", erklärte Marguerite. "Und Conte Caius di Volturi hat sich bereit erklärt, mir die Noten umzublättern."
"Ach, welch eine hübsche Idee", meinte Madame de Colignon. "Das wird meine Gäste überaus erfreuen. Vielen Dank, mein liebes Kind."
Marguerite knickste leicht und Caius senkte kurz den Kopf, ehe sich die beiden Richtung Cembalo bewegten, das sich in der Mitte des Salons befand. Madame de Colignon und Marcus hingegen gingen auf Aro, Giselle und Louise zu. Danach machte sie ihren Verehrer und ihre Nichte miteinander bekannt, wie es sich gehörte.
***
"Schau nur, Roger, wie Madame de Colignon mit ihrer Nichte und den beiden älteren Volturi-Brüder zusammensteht. Es würde mich sehr wundern, wenn sie mit diesen Italienern nicht ein Komplott schmiedet, eure Nichte mit einem der drei zu verheiraten", murrte Guignot, während Lebrunne die kleine Versammlung unweit von ihnen stumm beobachtete. Natürlich passte es dem Baron auch nicht, dass Marguerite mit dem jüngeren Bruder verschwunden war und dies offensichtlich mit dem Segen der Madame de Colignon. Sollte Guignot am Ende doch recht behalten mit dem, was er sagte? Aber was hätte die ältere Dame davon, Marguerite mit Aro oder Caius zu verkuppeln?
"Vielleicht ist alles bloß ein Zufall", wehrte Lebrunne nach einer Weile ab. "So groß ist die Gesellschaft nicht und man muss davon ausgehen, dass unsere Gastgeberin alle Geladenen persönlich kennt. Sie geht mal zu diesen, dann zu jenen... womöglich hat dies nichts zu bedeuten."
Roger glaubte selbst nicht, was er sagte, doch wollte er Guignot nicht beunruhigen. Schließlich hatte er seine eigenen Pläne und vorerst sollte sein Freund glauben, dass er ihn tatsächlich mit Marguerite verheiraten wollte. Es sprach ja im Grunde auch nichts dagegen - mit der Zeit würde er Rouven schon wieder loswerden. Aber im Moment brauchte er ihn noch. Außerdem interessierte es ihn tatsächlich sehr, welches Geheimnis ihm sein Freund mitzuteilen bereit war. Vielleicht konnte er dieses neue Wissen zu seinem eigenen Vorteil nutzen.
Plötzlich erklang Musik im Raum, die Lebrunne wieder in die Gegenwart zurückholte. Er schaute sich nach der Quelle der Klänge um und sah, wie Marguerite am Cembalo saß. Neben ihr am Instrument stand dieser blonde Jüngling, der sich ebenfalls für seine Nichte zu interessieren schien, jedoch keineswegs so aufdringlich wirkte wie Aro. Vermutlich hatte der Junge sich bereiterklärt, die Noten für Marguerite umzublättern, auf der nun die Aufmerksamkeit der gesamten Gesellschaft ruhte. Kein Wunder, war sie doch ein überaus attraktives, junges Mädchen... und wie sehr sie ihrer mutmaßlichen Mutter glich, dieser Milady de Winter, der Geliebten seines Schwagers.
Der Baron verzog seinen Mund zu einem leicht verächtlichen Lächeln, als er daran dachte, wie eifersüchtig seine Gemahlin auf Marguerite reagierte. Ihr Hass auf das Mädchen ließ sich nicht allein durch die zweifelhafte Herkunft ihrer Mutter erklären, sondern gewiss auch auf die Schönheit derselben zurückführen. Eine Schönheit, die Marguerite geerbt hatte. Er selbst schaute das Mädchen ebenfalls gerne an, sie war eine Augenweide. Gerade deshalb musste sie so rasch wie möglich verheiratet werden, am besten mit Guignot, bevor noch dieser Aro oder einer der Hofschranzen des Königs auf die Idee kam, um ihre Hand anzuhalten. Natürlich würde Adrienne einen Antrag Volturis ablehnen, aber bei den französischen Edelleuten musste man vorsichtig sei, um nicht einen wichtigen Mann bei Hofe zu verärgern. Er war wirklich nicht erpicht darauf, nochmals in Ungnade zu fallen - und das nur wegen des kleinen Bastards seines Schwagers. Wenn sie jedoch unter der Haube wäre, sähe die Sache anders aus... ja, ja...
Jetzt begannen Marguerite und der junge Volturi zusammen im Duett das Lied " Une jeune filette"[1] zu singen, das mittlerweile zu einem Volkslied avanciert war. Es klang auch sehr hübsch und man hörte gebannt dem Gesang der beiden zu. Eigentlich gaben sie ein nettes Paar ab, passten sowohl vom Äußeren als auch vom Alter recht gut zusammen. Doch leider war der junge Volturi nicht sein Freund und würde sich gewiss nicht so leicht übertölpeln lassen wie der verliebte Guignot, der ihm völlig vertraute. Nein, bedauerlicherweise konnte er es nicht zulassen, dass Marguerite und der blonde Jüngling zusammen kamen. Außerdem würde seine bessere Hälfte schon dafür sorgen, hatte sie selbst doch Gefallen an dem jungen Mann gefunden. Ihm war das ganz recht, denn Adrienne ging ihm manchmal ganz gehörig auf die Nerven.
Während Lebrunne sich kaum am Anblick seiner Nichte sattsehen konnte, nahm er aus den Augenwinkeln wahr, wie sich seine Angetraute der Gruppe um Madame de Colignon näherte, die sich inzwischen wieder auf die Couch neben ihre Nichte gesetzt hatte, um dem Lied zu lauschen, so wie die meisten der Gäste es taten.
Als der Gesang endete, ernteten Marguerite und der junge Volturi viel Applaus und eine Menschentraube versammelte sich um das Cembalo, so dass Lebrunne die beiden jungen Leute nicht mehr sehen konnte. Guignot saß neben ihm und schnaubte ärgerlich.
"Gemach, mein Lieber, es ist doch nur natürlich, dass man Marguerite für ihren Vortrag bewundert. Gönn es der Kleinen, bald ist es für sie ohnehin mit solcherart Aufmerksamkeit vorbei."
"Mag sein, dennoch missfällt es mir", zischte Guignot wütend. "Die Colignon hat dies absichtlich eingefädelt, um mir vorzuführen, wie wenig Chancen ich habe, Marguerites Zuneigung zu gewinnen. Wie boshaft kann ein Weib eigentlich sein?"
"Beruhige dich, Rouven", versuchte der Baron seinen Freund zu beschwichtigen. "Ich glaube nicht, dass dieser musikalische Vortrag eine Idee unserer Gastgeberin war, sondern eher, dass Marguerite selbst Lust dazu hatte. Wie du weißt, klimpert sie gerne auf dem Instrument herum, und nun hat sie eben mehr Publikum als üblich. Gönn ihr doch die Freude, bevor sie mit dir in den Ehestand tritt und du sie auf ihr Landgut einsperrst und für dich haben kannst, so oft du willst. Bis dahin wirst du diesen Rummel um deine zukünftige Braut ertragen. Reiß dich zusammen!"
"Du hast recht, ich sollte mich nicht so gehenlassen", stimmte Guignot ihm zu, hatte jedoch sichtlich Mühe, sich wieder zu fangen. Dann erhob er sich, um sich in die Menge um Marguerite und Caius zu mischen...
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[1] "Une jeune filette" (Jehan Chardavoine) ist ein Lied aus der Renaissance, das 1576 zum ersten Mal veröffentlicht worden ist. Leider habe ich den Text dazu nicht gefunden, weshalb ich an dieser Stelle nur erwähne, dass es gesungen wird. - Um einen Eindruck von dem Lied zu haben, könnt ihr es bei Youtube nachhören unter: youtube.com/watch?v=-_Ai_pLVw2s
Falls jemand von euch mehr über dieses Lied weiß, würde ich mich sehr freuen, wenn ihr dieses Wissen mit mir teilt. Danke im Voraus.
Kapitel 28
Es gibt kein Geheimnis außer zwischen Zweien.
~ Aus Wales ~
~~~~~
Höchst erstaunt von dem Applaus über ihren Vortrag, bei dem Caius sie gesanglich begleitet hatte, sah Marguerite sich danach damit konfrontiert, dass sich viele Gäste um das Cembalo versammelten, an dem sie immer noch saß, und sie mit bewundernden Blicken ansahen.
"Ein hervorragendes Spiel." - "Welch schöne Stimmen." - "Noch etwas, bitte." -
Solche und ähnliche Komplimente schwirrten durch den Raum und das Mädchen wusste nicht recht, wie sie damit umgehen sollte. Ihre Augen suchten Caius, der sich inzwischen neben sie auf den langen Hocker hinter dem Cembalo gesetzt hatte und sie anlächelte.
"Nur keine Sorge, ich übernehme", wisperte er ihr zu, ehe er sich in lautem Ton an die um das Cembalo Versammelten richtete: "Meine Damen und Herren, wie wäre es mit einem Tanz? Dazu werde ich Euch gerne aufspielen."
Allgemeines Klatschen folgte nach diesen Worten, während der blonde Jüngling seine Hände auf die Tasten legte und die ersten Töne einer Gigue anstimmte, worauf sich die meisten Gäste, die sich um das Cembalo versammelt hatten, in einen etwas abgeteilten Bereich des Salons zum Tanz aufstellten. Danach begann Caius die Gigue zu spielen und die Paare fingen an, sich dazu zu bewegen.
Erfreut registrierte Marguerite dies, warf dem blonden Jüngling einen dankbaren Blick zu und beobachtete danach lächelnd, wie Aro mit Louise tanzte.
*
In der Zwischenzeit hatte sich Adrienne zu Madame de Colignon und ihrer Nichte auf die Couch gesetzt, nachdem Aro und Louise zum Tanzen gegangen waren und Marcus, der neben dem Sitzmöbel stand, mit mildem Lächeln Marguerite und Caius am Cembalo beobachtete, ohne Baronesse de Lebrunne zu beachten.
Giselle wandte sich an Adrienne und sagte: "Eure Nichte spielt tatsächlich hervorragend."
"Vielen Dank, Mademoiselle de Roux", erwiderte die Angesprochene und zwang sich zu einem Lächeln, während es ihr in Wahrheit innerlich missfiel, dass der Bastard ihres Bruders solch ein Lob aus dem Mund einer Hofdame der Königin erhielt und es war beileibe nicht das erste. Bereits kurz nach ihrer Ankunft sprach man voller Bewunderung über die junge Comtesse de Rochefort, vor allem in ihrer Gegenwart. Vermutlich meinten die anderen Gäste es als Kompliment für ihre Familie, ahnten sie doch nicht im Geringsten, wie sehr Adrienne ihre Nichte hasste. Als ihr überdies zu Ohren kam, welch einen guten Eindruck Marguerite beim gestrigen Ball auf "hochstehende Persönlichkeiten", was lediglich eine bekannte Umschreibung für die Majestäten war, gemacht hatte und gemunkelt wurde, dass sie wahrscheinlich bald offiziell bei Hof eingeladen werde, fiel es ihr schwer, die Fassade der fürsorglichen Tante aufrecht zu erhalten. Aber sie musste es tun, da ansonsten sofort ein Verdacht auf sie fiele, sobald Marguerite spurlos aus Paris verschwand. Das fehlte ihr noch, dass der kleine Bastard ihres Bruders zu einer Mätresse des Königs avancierte und damit womöglich großen Einfluss gewann.
Verärgert ließ Adrienne ihren Blick über die Menge der Anwesenden schweifen und erkannte, dass Rouven sich in der Nähe ihrer Nichte aufhielt, die immer noch neben dem hübschen Caius am Cembalo saß und keinerlei Anstalten machte, sich zu erheben.
Warum bloß drehte sich alles um Marguerite, die doch keinerlei herausragenden Fähigkeiten besaß außer ihrem guten Aussehen? Im Gegensatz zu vielen der Anwesenden fand Adrienne die musikalische Darbietung ihrer Nichte nicht besonders gut, da sie schon von wirklich vornehmen Frauen bessere Vorträge gehört hatte. Nichtsdestotrotz schien sich alle Welt plötzlich in den kleinen Bastard verliebt zu haben, worin Adrienne ihre Vermutung bestätigt sah, dass Marguerite ganz nach ihrer Mutter geraten zu sein schien, dieser intriganten blonden Hexe, die es wie keine andere verstanden hatte, ihrem Bruder den Kopf zu verdrehen, um dafür zu sorgen, dass er ihre Tochter - die von wer weiß wem stammte - als sein eigenes Kind anerkannte. Nun, man konnte Milady immerhin zubilligen, gut für ihren Sprössling gesorgt zu haben! Doch damit war bald Schluss, denn gleich morgen würde sie Rouven aufsuchen, um ihn erneut aufzufordern, das Verschwinden ihrer verhassten Nichte möglichst noch in den nächsten Tagen voranzutreiben. Es war einfach unerträglich, mit dieser ungezogenen Göre länger als nötig unter einem Dach zu leben!
"Bitte, entschuldigt mich", wandte sich Adrienne an Madame de Colignon und ihre Nichte, erhob sich dann und verschwand in der Menge.
"Baronesse de Lebrunne wirkt irgendwie unzufrieden", meinte Giselle daraufhin zu ihrer Tante.
"Vielleicht ist sie noch vom gestrigen Ball ermüdet und nur ihrer Nichte zuliebe auf meiner Gesellschaft erschienen", vermutete die ältere Dame. "Sei ein bisschen nachsichtig mit ihr, mein liebes Kind."
"Natürlich, Tante Amelie."
"Da wir nun unter uns sind, würde ich gern wissen, welchen Eindruck du von Louise Lefevre gewonnen hast, Giselle."
"Sie wirkt wohlerzogen und freundlich, genau wie Ihr sagtet, Tante."
"Höre, mein Kind, ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Es geht um Louise, die mir sehr am Herzen liegt. Das arme Mädchen ist früh verwaist und weiß nichts über ihre Herkunft. Es wäre auch besser, wenn niemand davon erführe, kannst du mir das versprechen?"
"Selbstverständlich, Ihr wisst, wie verschwiegen ich bin."
Madame de Colignon senkte ihre Stimme zu einem Flüstern und begann: "Gut, dann wisse, dass Louise aus verarmtem Adel stammt, wovon sie selbst aber nicht die geringste Ahnung hat. Sie ist die Tochter einer guten Bekannten von mir, die leider kurz nach der Geburt ihres Kindes verstarb. Daraufhin sorgte ich dafür, dass das Mädchen in einem Kloster großgezogen wurde, wo es auch eine gute Erziehung und Bildung erhielt. Als einige Jahre später der Comte de Rochefort auf der Suche nach einer Gesellschafterin für seine Tochter war, schlug ich ihm Louise für diese Position vor, da die beiden Mädchen annähernd im gleichen Alter sind. Marguerites Vater holte Louise also zu sich und so wuchs sie mit seiner Tochter auf, erhielt denselben Unterricht und die beiden wurden Freundinnen."
"Ja, die Comtesse scheint Mademoiselle Lefevre wirklich sehr zu schätzen."
"Wie gesagt ist Louise eine wohlerzogene, gebildete, junge Dame, die bedauerlicherweise keine Eltern mehr hat. Leider werde auch ich nicht jünger, Giselle, und es bereitet mir Sorge, was aus dem Mädchen wird, wenn ich nicht mehr bin. Vergiss nicht, dass sie von edlem Geblüt ist und eigentlich ein Teil der gehobenen Gesellschaft wäre, wenn das Schicksal ihr nicht so übel mitgespielt hätte."
"Verschwörer kommen nie ungeschoren davon, Tante Amelie, denn ich nehme an, die Verarmung der Familie Eures Schützling resultiert daraus."
"Du irrst dich, mein Kind! Die edle Familie, aus der Louise stammt, hatte damit nichts zu tun. Die Notlage ist viel eher den Wirkungen des Krieges geschuldet. Vor vielen Jahren waren die Verhältnisse in Frankreich völlig ungeordnet, bis es König Henri gelang, dies zu beseitigen." [1]
"Dann tut es mir überaus leid für Mademoiselle Lefevre."
"Nun, da du weißt, wie es um das Mädchen steht, bitte ich dich, etwas für sie zu tun. Mir wäre wohler, wenn ich wüsste, dass sie gut versorgt ist."
"Warum bittet Ihr nicht einfach Comtesse de Rochefort darum? Sie verfügt doch über ausreichende Mittel, um für ihre Freundin zu sorgen."
"Sie würde selbstverständlich alles für Louise tun, was in ihrer Macht liegt. Bedauerlicherweise ist diese Macht momentan beschnitten und Marguerite de Rochefort befindet sich in einer Situation, in der sie weder frei über ihre eigene Person noch über ihren Besitz verfügen kann. Ihre Tante, die Baronesse de Lebrunne, die derzeit die Vormundschaft über sie innehat, entließ Louise aus dem Dienst als Gesellschafterin Marguerites - und zwar gegen den ausdrücklichen Wunsch der Comtesse. Deshalb wende ich mich an dich, Giselle. Du solltest außerdem wissen, dass Louise bei einer Heirat etwas Geld zur Verfügung stehen wird."
"Aber sagtet Ihr nicht gerade, dass Mademoiselle Lefevre aus verarmtem Adel stammt?"
"Das ist richtig, allerdings hat Comte de Rochefort ein wenig Geld für Louise angelegt, da er sie fast wie eine zweite Tochter betrachtete und ihr eine kleine Mitgift mitgeben wollte, damit sie wenigstens einen Mann des gehobenen Bürgertums oder aus niederem Adel heiraten kann. Außer mir und dem Familienanwalt weiß niemand davon, nicht einmal Louise. Nur dich habe ich jetzt in dieses Geheimnis eingeweiht, das du keiner Menschenseele verraten darfst."
"Nochmals versichere ich Euch meiner Verschwiegenheit, Tante Amelie. Doch was erwartet Ihr, dass ich für Mademoiselle Lefevre tun soll?"
"Du könntest dich nach einer guten Stellung für sie umhören oder nach einem ehrenwerten Mann Ausschau halten, der zu ihr passt."
Ein leichtes Grinsen glitt über Giselles Antlitz.
"Was haltet Ihr von Monsieur Guignot als potentiellen Ehekandidaten?", fragte sie dann mit leichtem Spott in der Stimme.
"Bitte, Kind, ich sprach von einem ehrenwerten Mann!", ermahnte ihre Tante sie streng.
"Ist Monsieur Guignot das denn nicht?", tat Giselle erstaunt, grinste aber immer noch.
"Du kennst den Ruf dieses Mannes sehr genau, so wie alle in Paris!"
"Verzeiht, Tante, ich konnte nicht anders - natürlich werde ich für Mademoiselle Lefevre gerne tun, was ich kann."
"Das ist nett von dir, mein Kind, vielen Dank."
"Und was ist mit Comtesse de Rochefort, Tante? Soll ich auch etwas für sie tun?"
"Nun, ich glaube, Marguerite kann für sich selbst einstehen. Außerdem erzähltest du mir doch selbst davon, welch einen guten Eindruck sie gestern auf dem Silvesterball hinterlassen hat. Ich bin mir fast sicher, dass jetzt alles ohne weitere Intervention seinen Lauf nehmen wird."
Marcus, der scheinbar die ganze Zeit Caius und die Tanzenden beobachtet hatte, war nichts von dem leise geführten Gespräch zwischen Madame de Colignon und ihrer Nichte entgangen. Er lächelte milde, nahm sich aber vor, mit Aro zu sprechen, um zu verhindern, dass Louise mit irgendeinem Mann verheiratet wurde, da sie sich doch bereits heimlich mit dem jungen Verwalter von Schloss Rochefort einig war. Die beiden liebten sich und wünschten sich nichts sehnlicher als zu heiraten; und da Marcus gerade selbst überaus verliebt war, fühlte er sich beinahe genötigt, den beiden jungen Leuten zu helfen...
*
Marguerite bemerkte mit Verwunderung, dass ihre Tante direkt auf sie zukam. Allerdings konnte man ihrem Gesichtsausdruck deutlich anmerken, dass sie verärgert war. Mon Dieu, was mochte ihr jetzt wieder missfallen?
Doch merkwürdigerweise beachtete die Baronesse sie nicht, sondern gesellte sich einfach neben die Seite des Cembalos, an der Caius saß, und beobachtete ihn beim Spielen. Schlagartig erkannte Marguerite, dass ihre Tante sich für Aros jüngeren Bruder interessierte und vermutlich nur deswegen ein saures Gesicht zog, weil er hier bei ihr vor dem Cembalo saß, anstatt mit ihrer Tante zu tanzen. Wenn die Baronesse sich nicht immer so selbstgerecht gäbe, könnte man nachsichtig mit ihr sein, obwohl sie sich als verheiratete Frau der Lächerlichkeit preisgab, einem Jüngling nachzulaufen. Kein Wunder, dass ihr Mann die Gesellschaft anderer weiblicher Wesen suchte. Die stoische Langmut, mit der er das impertinente Verhalten seiner Gattin ertrug, ließ dennoch darauf schließen, dass er sie trotz allem liebte.
Erneut spürte Marguerite ein wenig Mitleid mit dem Baron, der sich in letzter Zeit manches Mal auf ihre Seite gestellt hatte, wenn seine Frau sie wieder einmal piesackte. Es war sehr freundlich von ihm gewesen, sich heute Vormittag für sie einzusetzen, damit sie ihren Geburtstag in Paris feiern konnte.
Die Comtesse blickte gedankenverloren auf die Menge der Tanzenden und in diesem Moment schaute gerade Aro zu ihr hin. Als ihre Augen sich trafen, lächelte er noch breiter, nickte ihr mit dem Kopf unmerklich zu und widmete sich dann wieder Louise, die ebenfalls kurz zu ihr hinübersah und lächelte. Wieder einmal fand Marguerite, dass ihr potentieller Bräutigam ein sehr aufmerksamer, wohlerzogener Mann war und es überaus für seinen Charakter sprach, wie freundlich er sich gegenüber ihrer Freundin verhielt. Er behandelte sie genauso höflich wie alle anderen Damen dieser Gesellschaft und bewies damit einmal mehr eine bessere Erziehung als ihre Tante, die Louise als ein Dienstmädchen ansah, welches ihr nicht gut genug erschien, um mit der Baronesse de Lebrunne an einem Tisch zu essen. Dabei besaß Louise eine sehr große Bildung und könnte jederzeit eine gute Stellung als Gouvernante oder Gesellschafterin in einer hochstehenden Familie bekleiden, was beinhaltete, dass sie mit der Familie zusammen die Mahlzeiten einnahm. Jeder vernünftige Mensch wusste dies, nur Tante Adrienne anscheinend nicht.
Marguerite bemerkte einen Augenblick später, dass die Tanzpaare sich auflösten, und nahm erst jetzt wahr, dass die Musik geendet hatte. Sie wandte sich mit fragendem Blick wieder Caius zu, der sie anlächelte und gerade damit beginnen wollte, etwas zu ihr zu sagen, als sich ihre Tante einmischte.
"Wie wäre es, wenn du nun etwas spieltest, damit Conte di Volturi auch die Gelegenheit erhält, zu tanzen, mein Kind?", schlug die Baronesse vor.
"Wenn Ihr es wünscht, werde ich dies gerne tun, Tante", gab Marguerite in kühlem Ton zurück.
"Das ist nicht nötig!", warf da eine weibliche Stimme ein und die Comtesse schaute sich überrascht um. Aro und Louise standen neben ihr und ihre Freundin, die soeben gesprochen hatte, fuhr fort: "Ich werde gerne für die Gesellschaft spielen und allen die Gelegenheit geben, miteinander zu tanzen."
"Danke, meine Liebe", erwiderte Marguerite und ließ ihre Augen zu Aro wandern, der eine Hand ihrer Freundin ergriff und einen Kuss andeutete. Dann wandte er sich der Comtesse zu und fragte: "Würdet Ihr mir die Freude machen, mit mir zu tanzen?"
"Sehr gerne", antwortete Marguerite und erhob sich, worauf Louise umgehend ihren Platz einnahm und ihre Finger auf die Tasten gleiten ließ. Caius, der immer noch auf der Bank vor dem Cembalo saß, drehte lächelnd seinen Kopf zu ihr um.
"Mademoiselle Lefevre, wie schön, Euch wiederzusehen", begrüßte der blonde Vampir die junge Gesellschafterin. "Ich hoffe, Ihr seid wohlauf?"
"Ja, danke der Nachfrage, Conte di Volturi, und wie geht es Euch?", erwiderte Louise freundlich.
"Kann nicht klagen", behauptete Caius. "Vor allem in solch netter Gesellschaft wie hier geht es mir besonders gut."
"Dann solltet Ihr die Gelegenheit ergreifen, um zu tanzen", forderte Louise ihn auf und ließ ihre Augen auf einen Punkt hinter ihm wandern. Als hätte er die Baronesse vorher nicht bemerkt, wandte sich der blonde Jüngling jetzt um und tat überrascht, als er Adrienne erblickte, obwohl er sie natürlich gesehen, aber nicht beachtet hatte.
"Baronesse!", rief er aus und erhob sich umgehend von der Sitzbank, um die Hand, die Adrienne ihm reichte, zu ergreifen und einen Kuss darauf anzudeuten. Dann schaute er mit seinen Augen in ihre und murmelte: "Natürlich freue ich mich auch, Euch wiederzusehen."
"Das hoffe ich doch, vor allem nach dem gestrigen Missverständnis", gab sie leise zurück und hatte das Gefühl, sich nicht aus seinem Blick lösen zu können. Das gewinnende Lächeln und der Charme des jungen Mannes schienen ihr Herz gefangen zu nehmen, wie sie es noch nie erlebt hatte.
"Hättet Ihr Lust, mit mir tanzen, Baronesse?"
"Aber natürlich, Conte di Volturi."
Caius ignorierte geflissentlich den warnenden Blick, den Aro ihm zuwarf. Er genoss es viel zu sehr, dass Marguerites Tante auf genau die Art reagierte, wie er es erwartete; und egal, was auch immer sein Meister sagte, wenn diese Frau so dumm war, sich mit ihm allein irgendwohin zurückzuziehen, wollte er sie sich als Nachspeise einverleiben. Zudem sorgte er auf diese Weise dafür, dass Marguerite einen ihr übel gesinnten Menschen ein für alle Mal los wurde.
"Habt Ihr einen besonderen Wunsch, was den Tanz betrifft, Comtesse?", wandte sich in eben diesem Augenblick Louise an Marguerite.
"Nein, spiel ruhig etwas, dass dir gefällt", forderte die junge Dame ihre Freundin auf.
"Ja, meine Liebe, tut das", pflichtete Caius, der sich beim Klang von Louises Stimme sofort zu jener umdrehte, bei. "Und seid versichert, dass Eure Aufmerksamkeit nicht in Vergessenheit gerät, Mademoiselle Lefevre."
Louise nickte allen lächelnd zu und ließ dann die ersten Töne einer Courante erklingen.
"Welch ausgezeichnete Wahl", lobte Caius und wandte sich wieder Adrienne zu. "Kommt, Baronesse, lasst uns zusammen tanzen."
Marguerite beobachtete ungläubig, wie der blonde Jüngling ihre Tante umschmeichelte und wie leicht sich diese auf den Flirt mit ihm einließ. Sie sah zu Aro auf und bemerkte, mit welch missbilligender Miene ihr Verehrer das Verhalten seines jüngeren Bruders betrachtete, ohne etwas zu sagen. Als Caius dann mit ihrer Tante verschwand, um sich in die Reihe der Tanzpaare zu gesellen, wisperte Marguerite ihrem möglichen Bräutigam in spe zu: "Verzeiht mir, Aro, aber ich habe keine Lust mehr zu tanzen. Wollen wir uns stattdessen nicht ein wenig zurückziehen, um uns zu unterhalten?"
"Eine gute Idee", meinte der schwarzhaarige Vampir, der seine Aufmerksamkeit nun wieder auf seine Liebste richtete. "Mir ist mit einem Male ebenfalls die Lust aufs Tanzen vergangen."
Sie schlenderten langsam zu einem Sofa in ihrer Nähe, auf dem derzeit niemand saß, und ließen sich dort nieder.
"Wie schön, dass wir endlich einmal Gelegenheit erhalten, unter vier Augen ein Gespräch zu führen", begann Marguerite lächelnd.
"Ihr könnt kaum ermessen, wie glücklich mich diese Worte machen, liebste Marguerite", erwiderte Aro strahlend. "Worte vermögen kaum auszudrücken, wie sehr ich mich nach Euch sehnte, nachdem wir uns gestern nach dem Ball trennen mussten. Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass Ihr eine erholsame Nacht hattet."
"Ich fand nur ein wenig Schlaf, denn meine Tante ließ meinen Onkel und mich bereits am Vormittag wecken", erzählte das Mädchen. "Sie fand, dass wir wegen der Einladung zu dieser Gesellschaft unbedingt wieder zu Kräften gebracht werden müssten und zwang uns beide dazu, Kaffee zu trinken."
"Es heißt im Allgemeine, dass dieses exotische Getränk ein sehr gutes Mittel sei, um munter zu werden. Vermutlich hegte die Baronesse dabei nur die besten Absichten", meinte Aro, ohne wirklich davon überzeugt zu sein. "Denn gewiss war Eurer Tante klar, wie gern Ihr die Einladung von Madame de Colignon annehmen würdet."
"Wenn man es so betrachtet, könnte man ihr das zugute halten, ja. Aber lasst uns das Thema wechseln. Wie geht es Euch?"
"Nun, da ich Euch wiedersehe, blühe ich auf und bin Madame de Colignon überaus dankbar für diese Einladung."
"Ja, ich auch."
Aro lächelte und fragte leise: "Ihr habt doch hoffentlich nicht vergessen, was ich Euch gestern unter vier Augen sagte, liebste Marguerite?"
"Nein, wie könnte ich das...?", hauchte sie kaum hörbar und ihr Wangen färbten sich rötlich, während sie kurz ihren Blick verlegen zu Boden senkte. "Natürlich hat es mein Herz berührt und ich bin Euch wirklich überaus zugetan... doch wir kennen uns kaum..."
Sie schaute wieder zu ihm auf und bat: "Bitte, erzählt mir doch etwas von Euch und Eurer Heimat. Ich war noch nie in Italien, würde es aber gern kennenlernen."
"Dem steht wirklich nichts im Wege...", begann Aro und wollte gerade weitersprechen, als er bemerkte, dass Guinot sich ihnen eiligst näherte und vor dem Sofa stehenblieb, um mit einem missbilligen Blick auf Marguerite und ihn hinabzusehen. Auch die junge Frau wandte sich dem unwillkommenen Dritten mit fragendem Blick zu.
"Kann ich etwas für Euch tun, Monsieur Guignot?", erkundigte sich der schwarzhaarige Vampir.
"Ist es erlaubt, mich zu erkundigen, ob Ihr wohlauf seid, Comtesse?", wandte sich der hakennasige Mann direkt an Marguerite, ohne Aro zu beachten.
"Es geht mir gut", entgegnete sie ungeduldig. "Was hat Euch dazu veranlasst, Euch um meine Gesundheit zu sorgen? Sehe ich denn leidend aus?"
"Im Grund nicht, allerdings hatte man den Eindruck, dass Ihr und Eurer Begleiter tanzen wolltet. Als Ihr Euch mit ihm hierher zurückzogt, wunderte man sich sehr", erklärte Guignot.
"Ihr sprecht, als würden sich sämtlich Gäste Gedanken um mich machen, obwohl vermutlich Ihr allein dies tut und Euch aufspielt, als wäret Ihr mein Vormund", gab Marguerite in kaltem Ton zurück. "Allerdings geht es Euch gar nichts an, was ich tue oder nicht tue."
"Verzeiht, Comtesse, ich war nur um Euch besorgt", behauptete Guignot und warf rasch einen bösen Seitenblick auf Aro, der ihn nicht aus den Augen ließ, dessen Mundwinkel sich jedoch leicht spöttisch nach oben verzogen hatten. "Wenn Conte di Volturi allerdings keinerlei Lust mehr zum Tanzen hat, würde es mir eine große Ehre sein, mit Euch zu tanzen, Comtesse."
"Sehr freundlich von Euch, aber es war nicht mein Begleiter, der seine Meinung änderte, sondern ich", erwiderte Marguerite kühl. "Eure Sorge um mich ist also völlig unbegründet, vielen Dank. Ihr könnt nun wieder zu der Gesellschaft zurückkehren und eine andere Dame um den Tanz bitten."
"Es ging mir nicht um den Tanz, Comtesse de Rochefort, sondern einzig und allein um Euer Wohlbefinden. Als Freund Eures Onkel fühle ich mich in gewisser Weise auch für Euch verantwortlich, liebes Kind, und würde mich gerne an Eurem Gespräch mit Conte di Volturi beteiligen, wenn Ihr erlaubt", erklärte Guignot und setzte sich einfach auf das Sofa neben den freien Platz auf Marguerites Seite. Rasch wechselte die junge Frau einen Blick mit Aro, bevor sie sich wieder ihrem unwillkommenen Verehrer zuwandte.
"Ganz wie Ihr wünscht, Monsieur Guignot. Conte di Volturi wollte mir gerade etwas über seine Heimat erzählen. Ich hoffe, es langweilt Euch nicht."
"Keineswegs, es interessiert mich sehr, wo Euer Begleiter und seine Familie in Italien wohnen."
"Nichts Spektakulärer, lieber Freund, nur ein altes Castell, in dem unsere Familie schon seit vielen Generationen wohnt."
"Demnach stammt Ihr auch aus altem Adel, Conte di Volturi?"
"Könnte man so sagen, und Ihr, Monsieur Guignot? Erzählt mir doch etwas über Eure Familie", forderte Aro den hakennasigen Mann auf.
"Oh, da gibt es nicht viel zu berichten und es dürfte für Euch völlig uninteressant sein."
"Das zu beurteilen überlasst ruhig Comtesse de Rochefort und mir, mein lieber Guignot. Was mich betrifft, würde ich gern mehr über Euch erfahren, zum Beispiel, womit Ihr Euren Wohlstand erreichtet."
"Habe lange Jahre Geschäfte gemacht, wodurch ich viel in der Welt herumgekommen bin. Dabei habe ich mich immer was auf die Seite gelegt, so dass ich mich seit geraumer Zeit als Privatmann zurückziehen kann."
"Als Geschäftsmann wart Ihr sicherlich auch in meiner schönen Heimat, nicht wahr?"
"Ja, einige Mal bin ich in Italien gewesen. Wo genau residiert die Familie Volturi?"
Aro lachte und schüttelte den Kopf.
"Ihr seid führwahr recht neugierig", meinte der schwarzhaarige Vampir. "Doch ich sagte Euch schon einmal, dass wir dies nur unseren engsten Freunden verraten, da wir nicht jeden in unserer Residenz zu empfangen bereit sind, Monsieur Guignot."
"Ein aufrechter Mann hat nichts zu verbergen, Conte Aro. Warum also wollt Ihr mir nicht Euren genauen Aufenthaltsort in Italien nennen?"
"Weil es Euch bisher nicht gelungen ist, mein Vertrauen zu gewinnen, Guignot."
"Wollt Ihr mich etwa beleidigen, Volturi?"
"Keineswegs, mein Lieber, aber ich kenne Euch nicht und deshalb vertraue ich Euch nicht. Gewiss werdet Ihr auch nicht jedem Eure Geheimnisse verraten, nicht wahr?"
"Geheimnisse? Ich habe keine Geheimnisse", behauptete Guignot.
"Ach wirklich? Seid Ihr Euch da ganz sicher?" hakte Aro in ironischem Ton nach.
"Selbstverständlich! Welche Geheimnisse sollte ich schon haben?"
"Nun, das müsst Ihr selbst am Besten wissen, Guignot."
"Und außerdem interessiert es hier niemanden, welche Geheimnisse Ihr verbergt", mischte sich Marguerite ein, die diese für sie sinnlose Unterhaltung mit zunehmendem Ärger verfolgt hatte. "Conte Aro wollte mir etwas über seine Heimat erzählen und wenn Euch dies nicht interessiert, zwingt Euch niemand dazu, unserem Gespräch beizuwohnen, Monsieur Guignot."
"Mein liebes Kind, die Andeutungen von Conte Aro entbehren jeder Grundlage", verteidigte sich Guignot. "Ich habe keine Geheimnisse! Das ist einfach lächerlich!"
"Nanu, hier scheint ja eine lebhafte Diskussion im Gange zu sein", ließ sich da eine männliche Stimme vernehmen und alle drei blickten auf. Vor ihnen standen Monsieur Fournier mit seiner Gattin sowie Marcus, Caius mit der Baronesse und ein anderer männlicher Gast, der vor allem Marguerite wohlgefällig musterte. Fournier, der eben gesprochen hatte, fuhr mit amüsierter Miene fort: "Eben noch sehr gesprächig, scheint es unseren Freunden plötzlich die Sprache verschlagen zu haben."
Aro gewann als Erster die Fassung wieder, grinste und antwortete: "Das mag daran liegen, dass wir völlig unerwartet von Euch unterbrochen wurden."
Fournier grinste daraufhin ebenfalls und fragte: "Ist es erlaubt, sich an diesem Gespräch zu beteiligten?"
"Warum denn nicht?", gab Aro zurück, erhob sich und wandte sich an Fourniers Frau. "Bitte, nehmt Platz, Madame."
"Vielen Dank, Ihr seid sehr galant", erwiderte die ältere Dame und setzte sich neben Marguerite, die Aro erstaunt musterte, sich danach zu einem Lächeln zwang und sich freundlich an ihre neue Sitznachbarin wandte. "Es freut mich sehr, Euch wiederzusehen, Madame de Fournier. Wo hat Ihr denn Eure Tochter Agnes gelassen? Sie ist doch hoffentlich wohlauf?"
"Aber ja", sagte die Angesprochene lächelnd. "Agnes hat gestern auf dem Ball andere junge Leute kennengelernt und unterhält sich jetzt mit ihren neuen Freunden. Und wie geht es Euch, Comtesse?"
"Danke, recht gut."
Guignot, dem die neue Situation alles andere als gefiel, hatte seine ganze Aufmerksamkeit dermaßen auf Marguerite und Madame Fournier gerichtet, dass er das mehrmalige Räuspern einer männlichen Stimme völlig überhörte.
"Manche Personen kennen nicht einmal die einfachsten Regeln der Höflichkeit", ließ sich diese männliche Stimme nach einer Weile laut und verächtlich vernehmen. "Findet Ihr nicht auch, Guignot?!"
Da er direkt angesprochen worden war, sah sich der hakennasige Mann gezwungen, seine Aufmerksamkeit demjenigen zuzuwenden, der ihn in solch hochmütigem Ton ansprach. Es war jener unbekannte Gast, der ihn nun direkt fragte: "Hat man es versäumt, Euch die Hofetikette zu vermitteln?"
"Keineswegs!", widersprach Guignot und erhob sich. "Wie kommt Ihr auf solch einen Gedanken?"
"Nun, vor Euch steht eine Dame, der Ihr nicht Euren Platz angeboten habt", erklärte der Fremde unfreundlich und ließ seinen Blick zu Baronesse de Lebrunne wandern, die immer noch an der Seite von Caius stand und deren Miene dieselbe Überraschung über diese Ermahnung der Höflichkeit spiegelte wie zuvor diejenige Guignots. Dieser verstand jetzt, was der Fremde ihm sagen wollte, verneigte sich rasch ein wenig vor Adrienne und sagte in entschuldigendem Ton zu ihr: "Verzeiht, Baronesse, ich war gerade in Gedanken und habe Euch nicht bemerkt. Bitte, setzt Euch."
"Danke", antwortete Adrienne, die zwar keinerlei Lust verspürte, ihren Platz neben Caius zu verlassen und sich zu ihrer Nichte auf das Sofa zu setzen, aber die jetzige Situation ließ ihr keine andere Wahl.
"Darf man erfahren, worüber Ihr Euch gerade den Kopf zerbracht, obwohl Ihr Euch in solch reizender Gesellschaft befandet?", erkundigte sich der Fremde bei Guignot, wobei er erneut kurz einen wohlgefälligen Blick auf Marguerite warf, ehe er sich wieder dem hakennasigen Mann zuwandte.
"Nun... ich habe Sorgen", gab Guignot unwillig zu, was den penetranten Unbekannten zufrieden zu stellen schien.
"Tut mir leid, das zu hören", behauptete der Fremde. Dann wandte er sich von Guignot ab und Fournier zu und bat: "Würdet Ihr mich vorstellen, lieber Freund?"
"Sehr gern", versicherte der Angesprochene, der umgehend noch ein wenig näher an das Sofa herantrat und sich etwas räusperte. Als Marguerite und seine Frau ihn ansahen, machte er den Unbekannten mit dem jungen Mädchen bekannt, was Guignot mit steigendem Ärger zur Kenntnis nahm. Bedauerlicherweise blieb ihm nichts andere übrig, als seine Wut hinunterzuschlucken, denn der Fremde war ein gewisser Francois de Hervais, von dem er schon gehört hatte. Der hochgewachsene, elegant gekleidete Mann war der Sohn eines Comte, erst seit kurzer Zeit bei Hofe und hatte bereits einen guten Eindruck auf Seine Majestät gemacht, der ihn zu einem seiner Kammerdiener ernannt hatte. Eine überaus passende Partie für Marguerite de Rochefort, für die der junge Mann sich offensichtlich sehr interessierte.
"Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, mir den nächsten Tanz zu schenken, Comtesse?", fragte der Fremde in ebenjenem Augenblick Marguerite und verneigte sich etwas vor dem jungen Mädchen."
"Gerne, Monsieur de Hervais", behauptete die Comtesse, erhob sich und reichte ihm ihre Hand, da gerade wieder Musik einsetzte. Sie gingen gemeinsam auf die Tanzfläche, während Guignot ihnen für einen Moment betreten nachblickte. Dann suchte er den Blick Adriennes, die ebenfalls wenig erbaut davon war, dass ihre Nichte von einem der Höflinge seiner Majestät zum Tanz aufgefordert worden war. Rasch tauschten sie einen Blick miteinander und sie nickte ihrem Liebhaber unmerklich zu. Dieses kleine Zeichen beruhigte Guignot etwas. Für Adrienne galt demnach also noch ihre Vereinbarung, so dass er sich gewiss sein konnte, dass sie niemandem so schnell die Hand ihrer schönen Nichte geben würde - nicht einmal einem Comte de Hervais, auch wenn dieser allem Anschein nach einer der neuen Günstlinge des Königs war.
Als Guignot seinen Blick auf Aro richtete, spürte er einen kleinen Triumph in sich, denn im Antlitz des schwarzhaarige Italieners war unerkennbar Wut zu lesen, die zweifelsohne dem jungen Adligen galt, der gerade Comtesse de Rochefort zum Tanz aufgefordert hatte. Unwillkürlich musste Guignot lächeln, da nun offenbar auch sein aalglatter Konkurrent einmal die Erfahrung machte, wie es sich anfühlte, wenn man nicht das bekam, was man wollte...
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[1] Hier ist Heinrich IV., der Vater von Ludwig XIII., gemeint.
Kapitel 29
Kein festeres Band der Freundschaft als gemeinsame Pläne und gleiche Wünsche.
~ Marcus Tullius Cicero (106 - 45 v. Chr.) ~
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Marcus lächelte mild, spürte er doch die Eifersucht Aros auf den jungen Mann, der soeben die Angebetete seines Bruders zum Tanz aufgefordert hatte. Er legte ihm leicht eine Hand auf die Schulter, so dass sich Aros Aufmerksamkeit sofort ihm zuwandte.
"Wir müssen uns unterhalten", wisperte Marcus ihm zu und zog ihn leicht von der Gruppe weg.
"Schön, mein Lieber", erwiderte der schwarzhaarige Vampir, der seine Augen kaum von Hervais nehmen konnte. "Du bist beunruhigt, weil Madame de Colignon die kleine Lefevre gut versorgt wissen will? Dagegen ist doch nichts einzuwenden. Sie macht sich eben Gedanken um das Mädchen, was meiner Meinung nach sehr für die Frau deines Herzens spricht."
"Ganz deiner Meinung, Aro, denn Amelie weiß nicht, wem Louises Herz gehört, du jedoch schon. Wir können nicht zulassen, dass das Mädchen gegen ihren Willen mit irgendeinem Mann verheiratet wird, nur weil sich bisher noch nicht die Gelegenheit für sie ergab, mit Marguerite zu sprechen."
"Wie du weißt, steht zwischen Marguerites Möglichkeit, ihrer Freundin die Heirat mit dem jungen Verwalter zu ermöglichen, die boshafte Tante Adrienne. Warum also sollte ich meine Liebste mit diesen Problemen belasten?"
"Wenn wir nichts unternehmen, lässt Mademoiselle de Roux ihre Beziehungen spielen und ich konnte spüren, dass sie keineswegs eine Stellung für Louise im Sinn hatte. Amelies Nichte gefällt vielmehr der Gedanke, sie mit einem Mann zu verkuppeln... einem Mann, der uns allen allmählich auf die Nerven zu gehen beginnt..."
Marcus ließ seinen Blick zu Guignot wandern, der missmutig immer noch die Tanzenden beobachtete.
"Meine Güte, habe ich eben etwa genauso gewirkt?", fragte Aro, der dem Blick seines Bruder gefolgt war.
"Allerdings - wir müssen bald handeln, sonst kannst du deine Vermählung mit Marguerite vergessen. Dieser Hervais hegt ernste Absichten auf ihre Hand und wird ihr vermutlich in naher Zukunft einen Antrag machen. Die Lebrunnes können es nicht wagen, ihn abzulehnen, da der junge Mann ein Günstling des König ist. Vermutlich hat jemand aus den allerhöchsten Kreisen Hervais dazu ermutigt, Marguerite den Hof zu machen."
"Du denkst an Ihre Majestät?"
"Ja, Aro."
"Aber warum sollte die Königin dies tun? Es kann ihr doch egal sein, wen Marguerite heiratet!"
"Ihre Majestät verabscheut Baronesse de Lebrunne und würde alles tun, um sie zu ärgern. Da sie inzwischen weiß, dass Marguerite sich nichts sehnlicher wünscht, als aus der Vormundschaft ihrer Tante befreit zu werden, hält sie eine Ehe mit einem jungen Adligen vermutlich für eine passende Lösung."
"Es sei denn, Marguerite würde sich verloben, bevor der junge Hervais die Gelegenheit erhält, ihr einen Antrag zu machen."
Marcus nickte.
"Wir können nicht mehr allzu lange warten, unsere Damen für uns zu gewinnen, damit sie wenigstens mit uns nach Italien reisen."
"Madame de Colignon ist das geringste Problem. Sie würde gerne deiner Einladung folgen, wenn sie sich nicht für Marguerite und Louise verantwortlich fühlte. Und Marguerite zögert nur, mir ihr Ja-Wort zu geben, weil es sich nicht schickt, einen Antrag zu schnell anzunehmen."
"Sie kennt dich auch noch nicht sehr gut, Aro, da ist es nur natürlich, vorsichtig zu sein. Aber gewiss wirst du Mittel und Wege finden, um dich mit ihr zu treffen und sie davon zu überzeugen, dass sie dir vertrauen kann."
"Kann sie das?", spottete Aro und grinste leicht. "Immerhin werde ich sie verwandeln, wenn sie sich zu einer Verbindung mit ihr entschließt - doch das weiß sie noch nicht."
"Sie liebt dich und wird es akzeptieren, glaub mir. Aber was ist mit Louise?"
"Wir könnten sie nach Italien mitnehmen. Caius mag sie recht gern."
"Louise liebt einen jungen Mann und es liegt in unserer Hand, dazu beizutragen, dass sie ihn heiratet. Es ist völlig unnötig, das Mädchen mit nach Italien zu nehmen."
"Du suchst also einen Weg, um zu verhindern, dass Mademoiselle de Roux die liebe Louise mit irgendeinem Mann verkuppelt?"
"Ja, denn Amelies Nichte ist fest dazu entschlossen - selbst wenn es nicht Guignot ist."
"Nichts einfacher als das! Caius könnte sich zum Schein mit ihr verloben, bis Marguerite meine Frau geworden ist. Danach ermöglichen wir Louise und ihrem Schatz zu heiraten, ehe wir nach Italien zurückkehren."
"Glaubst du wirklich, Caius spielt da mit?"
"Warum denn nicht? Immerhin schätzt er Louise und betrachtet sie als gute Freundin. Außerdem wird es ihm Vergnügen bereiten, einer in seinen Augen albernen >>Hofschranze<< wie Mademoiselle de Roux einen Strich durch die Rechnung zu machen."
"Nun gut, wir könnten ihm unsere Idee unterbreiten. Aber wo hält sich Caius eigentlich wieder auf?"
Aro und Marcus ließen ihre Augen durch den Raum schweifen und entdeckten ihren jüngeren Bruder am Cembalo, auf dem Louise spielte. Zufrieden tauschten die beiden älteren Vampire einen Blick aus und Marcus murmelte: "Er wird von der Idee, sich mit Louise zu verloben, überaus entzückt sein."
*
Noch bevor sie die ersten Tanzschritte machten, erklärte Marguerites neuer Tanzpartner, der sie glücklich anstrahlte: "Bereits gestern habe ich Euch schon bewundert, aber erst heute war es mir vergönnt, mit Euch bekannt gemacht zu werden, Comtesse de Rochefort."
"Ihr seid sehr freundlich", gab das Mädchen höflich zurück und begann sich zu den Klängen der Musik zu bewegen, ebenso wie ihr Partner. "Demnach wart Ihr also auch auf dem Silvesterball?"
"Sehr richtig! Und trotz der vielen Gäste seid Ihr mir besonders aufgefallen."
"Ach wirklich? Warum denn, Monsieur de Hervais?"
"Eine hübsche, junge Frau, die so gut tanzt, erregt immer meine Bewunderung, Comtesse. Und später erfuhr ich durch eine Bekannte, dass Ihr die Tochter von Comte de Rochefort, dem ehemaligen Hauptmann der roten Garde, seid. Es ist schön, dass Ihr nun endlich in die Gesellschaft eingeführt wurdet."
Marguerite lächelte etwas und schwieg, wünschte sie sich doch insgeheim, mit Aro zusammen zu sein, selbst wenn der junge Adlige ein gutes Benehmen an den Tag legte. Als sie zu tanzen begannen, musste sie leider feststellen, dass ihr Tanzpartner auch recht neugierig war.
"Warum hat uns Euer Vater denn nicht früher das Vergnügen gemacht, Euch bei Hofe einzuführen?", fragte Hervais wenige Augenblicke später.
"Vor einigen Jahren fand er mich wohl zu jung und später litt er unter starken gesundheitlichen Problemen, die es uns leider nicht möglich machten, an großen, gesellschaftlichen Ereignissen in Paris teilzunehmen."
"Das tut mir wirklich leid, Comtesse. Ich hätte mir gewünscht, Euch früher kennenzulernen."
"Danke, Monsieur de Hervais. Darf ich erfahren, was Euch außer dem Silvesterball nach Paris führt?"
"Oh, ich diene am Hofe, habe aber einige Tage frei. Aus diesem Grunde hat mich die Einladung Madame de Colignons überaus gefreut. Allerdings hätte ich nicht erwartet, Euch hier wiederzubegegnen."
"Warum denn nicht? Der verstorbene Mann von Madame de Colignon war ein guter Freund meines Vaters und auch unsere geschätzte Gastgeberin ist dies seit vielen Jahren."
"Das konnte ich ja nicht ahnen, Comtesse, aber es freut mich sehr - vor allem, weil ich dadurch endlich die Gelegenheit erhalte, mich mit Euch bekannt zu machen."
Marguerite lächelte gezwungen, da die Konversation mit Monsieur de Hervais sie zu langweilen begann. Dennoch konnte man dem jungen Mann keinen Vorwurf machen, denn vermutlich war diese Art der Gesprächsführung bei Hofe durchaus üblich und er kannte nichts anderes. Wahrscheinlich wollte er sie auch näher kennenlernen, selbst wenn sie sich nicht für ihn interessierte. Schließlich konnte Monsieur de Hervais nichts dafür, dass sie sich in Aro di Volturi verliebt hatte. Warum, um alles in der Welt, bekam sie keine Gelegenheit, allein mit ihrem potenziellen Bräutigam in spe zu sprechen?
*
Während Marguerite mit Hervais tanzte, begann Madame de Fournier ein Gespräch mit Adrienne, die sich dem schlecht entziehen konnte, auch wenn sie sich wünschte, Caius hätte sie erneut zum Tanz aufgefordert. Aber der hübsche, blonde Jüngling war verschwunden, kaum dass Monsieur Hervais ihre Nichte zum Tanze aufgefordert hatte, und Guignot stand nach seinem kurzen Blickwechsel mit ihr wie eine Salzsäule da und starrte auf die Tanzenden. Was war nur mit Rouven los?
"Eure Nichte hat gestern auf dem Ball die Aufmerksamkeit vieler junger Herren aus gutem Hause erregt", begann Madame de Fournier, worauf Adrienne höflich lächelte und schwieg. "Der junge Comte de Hervais scheint sehr angetan von der Comtesse zu sein. Er ist eine überaus gute Partie und scheint zudem bei Hofe sehr angesehen zu sein."
"Ach wirklich?", erkundigte sich Adrienne, nun neugierig geworden. "Die Familie ist mir unbekannt."
"Neuer Adel", erklärte die ältere Dame und lächelte. "Das müssen die alten Familie wohl ertragen."
"Wem sagt Ihr das?". seufzte die Baronesse leise.
"Nichtsdestotrotz scheint der alte Hervais ein sehr ehrenwerter Mann zu sein, wie mir mein Gatte verriet. Und sein Sohn besitzt überaus gute Manieren. Gestern tanzte er zweimal mit meiner Tochter, aber nur, um mehr über Comtesse de Rochefort zu erfahren, da er sah, wie sich Eure Nichte mit meiner Agnes unterhielt. Er nahm an, dass sie beide gute Freundinnen sind."
"Mir scheint, dass der junge Mann keine Manieren besitzt, wenn er sich gegenüber Eurer Tochter so ungalant verhält", gab Adrienne zurück.
"Er verhielt sich nicht ungalant, denn Agnes bemerkte nichts davon, mein Mann aber sehr wohl. Wie dem auch sei - die Familie ist sehr angesehen und mein Mann ergriff sofort die Gelegenheit, sich mit dem jungen Hervais bekannt zu machen. Wie Euch zweifellos bewusst sein sollte, können uns gute Kontakte zu Leuten, die am Hofe dienen, recht nützlich sein."
"Natürlich, ich verstehe durchaus."
"Unsere Tochter soll nicht unter dem früheren Fehler meines Mannes leiden", erklärte Madame de Fournier. "Außerdem hat sie drei Verehrer, die ernsthafte Absichten auf ihre Hand haben. Wenn es auch nicht unbedingt der junge Hervais ist, so befinden sich doch zwei seiner Freunde, die ebenfalls bei Hofe dienen, darunter."
"Freut mich sehr für Eure Tochter, Madame."
"Vielleicht können wir im Frühjahr eine Doppelhochzeit feiern, Baronesse."
"Wie meint Ihr das?". fragte Adrienne und runzelte die Stirn.
"Unsere Agnes und Eure Nichte", antwortete die ältere Dame und wirkte äußerst zufrieden, während sich in Adrienne Unruhe breit zu machen begann.
"Meine Nichte scheint mir noch zu unreif, um zu heiraten", wandte die Baronesse ein.
"Ach, junge Mädchen sind vor der Heirat immer nervös", meinte Madame de Fournier gut gelaunt. "Das hat nichts zu sagen. Eure Nichte ist im richtigen Heiratsalter und Gerüchten zufolge gibt es einige der jungen, adligen Herren, die nicht abgeneigt wären, um ihre Hand anzuhalten. Francois de Hervais ist einer davon und - wenn mich nicht alles täuscht - interessieren sich auch zwei der Volturi-Brüder für Eure Nichte. Nun ja, sie ist ein überaus reizendes Mädchen. Meine Agnes ist ganz vernarrt in sie."
"Es überrascht mich sehr, das zu hören", sagte Adrienne. "Marguerite lebte bisher sehr zurückgezogen und ist auch vom Wesen ziemlich zurückhaltend. Deshalb war ich äußerst erstaunt, als sie mir heute Vormittag erzählte, dass es ihr auf dem Ball gefallen hätte und sie gerne etwas länger in Paris verweilen würde. Mit Heiratsabsichten habe ich allerdings nicht gerechnet - jedenfalls nicht so rasch, denn meine Nichte ist doch keineswegs sehr gesprächig."
"Oh, ein zurückhaltendes Wesen wird bei einer Frau sehr geschätzt, Baronesse", erklärte Madame de Fournier. "Darüber hinaus versteht es Comtesse de Rochefort doch sehr gut, Konversation zu betreiben. Und alle sind überaus gerührt von ihrer Freundschaft mit Mademoiselle Lefevre."
"Eine Freundschaft, die ich für unangemessen halte! Mademoiselle Lefevre war nichts weiter als ihre Gesellschafterin, weshalb mich Ihr gestriges Erscheinen auf dem Hofball ein wenig empörte. Was hat sich Madame de Colignon dabei nur gedacht?!"
"Die Zeiten ändern sich und Verbindungen zwischen Adligen und Bürgerlichen sind heutzutage keineswegs unüblich."
"Äußerst bedauerlich", erwiderte Adrienne ungehalten. "In meiner Jugend wäre das undenkbar gewesen."
Dann stutzte sie kurz und fragte: "Sagtet Ihr gerade, dass zwei der Volturi-Brüder sich für meine Nichte interessieren würden?"
"Oh bitte, Baronesse, habt Ihr das etwa nicht bemerkt? Conte Aros kleines Manöver gestern beim Tanz, als er sich durch einen Trick als Tanzpartner an die Seite Eurer Nichte schmuggelte, verriet ganz eindeutig seine Vorliebe für die Comtesse."
"Conte Aro meint das vielleicht alles nicht so ernst, denn sein Benehmen ist sämtlichen Damen gegenüber äußerst galant, eingeschlossen Mademoiselle Lefevre."
"Ja, da muss ich Euch zustimmen. Er war überaus freundlich zu unserer Tochter, die sich im Übrigen über das Manöver von Conte Aro beim Tanzen sehr amüsierte. Agnes nahm es ihm auch deshalb nicht übel, weil sie davon überzeugt ist, dass nur seine große Verliebtheit in Eure Nicht ihn zu diesem Handeln trieb."
"Eure Tochter besitzt wenig Lebenserfahrung und der Hang junger Mädchen zu Liebesgeschichten spielt dabei wohl ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle. Aber von den Volturi-Brüdern interessiert sich doch nur Conte Aro für meine Nichte."
"Dann muss Euch wohl entgangen sei, wie verliebt Conte Caius Eure Nichte angesehen hat."
"Conte Caius?", entfuhr es Adrienne leise. Dann schüttelte sie den Kopf und lächelte. "Madame, das muss ein Irrtum sein. Der junge Mann unterhielt sich doch überwiegend mit Mademoiselle Lefevre und auch ein wenig mit mir, forderte mich sogar zum Tanz auf."
"Nun, ich habe Euch gesagt, was ich gestern sah", meinte Madame de Fournier.
"Die Volturi-Brüder werden bald nach Italien zurückkehren", klärte Adrienne ihre Sitznachbarin auf, obwohl ihr die Beobachtung von Madame de Fournier keine Ruhe ließ. Caius hatte doch gestern ganz eindeutig ihr selbst die Cour gemacht! Nein, nein, die ältere Dame musste etwas völlig missverstanden haben! Die Worte, die Caius' an sie richtete, waren recht eindeutig gewesen. Andererseits war er heute nach dem Tanz rasch wieder verschwunden. Allerdings nicht mit Marguerite - nein, mit dieser hatte er sich an das Cembalo gesetzt... warum eigentlich? Und dann, als diese kleine Lefevre auftauchte, hatte Caius sich sofort diesem nichtssagenden Ding zugewandt und sie selbst ignoriert... interessierte er sich am Ende für die kleine Lefevre...? Unsinn! Das war alles Unsinn! Und dennoch... Aros Aussage gestern, dass sie reich genug wären, um sich eine Frau nach Wahl zu nehmen... welch merkwürdige Rede das doch war...
Wie auch immer! Marguerite musste so schnell wie möglich verschwinden! Vor allem jetzt, da in baldiger Zukunft womöglich Heiratsanträge junger Adliger ins Haus standen, die sie nicht ohne Weiteres ablehnen konnte. Verdammt! Ihr Mann hatte recht: Entweder mussten sie Marguerite so schnell wie möglich mit irgendjemandem verheiraten, zur Not mit Rouven, oder der kleine Bastard ihres Bruders wurde die Ehefrau eines angesehenen Adligen aus Frankreich und gelangte dadurch in den Besitz des Vermögens und aller Güter der Familie de Rochefort. Ein unerträglicher Gedanke!
Nein! Das durfte niemals geschehen! Und wenn sie selbst dafür sorgen musste, dass Marguerite auf Nimmerwiedersehen verschwand! Sie musste weg! Sie musste einfach verschwinden!
*
Caius, der neben dem Cembalo stand und interessiert zusah, mit welcher Leichtigkeit Louise ihre Finger über die Tasten gleiten ließ, zuckte etwas zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Sofort fuhr er herum und war überrascht, Aro und Marcus vor sich zu sehen.
"Wir müssen miteinander reden", raunte ihm Aro zu.
"Hat das nicht Zeit?", murrte der blonde Jüngling.
"Nein, komm bitte. Es ist wirklich wichtig", wisperte ihm Marcus zu, der spürte, dass Caius auf weitere Forderungen Aros mit Widerstand reagieren würde.
"Na schön", gab der jüngere Vampir nach und folgte seinen Brüdern zu einem Tisch, auf dem Weingläser und vier Karaffen standen, zwei mit Rotwein und zwei mit Weißwein. Während sich die drei jeweils ein Glas mit Rotwein eingossen, wandte sich Caius in ärgerlichem Flüsterton an Aro: "Du kannst dir deine Ermahnungen bezüglich Tante Adrienne sparen. Warum darf ich nicht meinen Spaß mit ihr haben, bevor sie...?"
"Es geht nicht darum!", schnitt ihm Aro in ebenso leisem Ton das Wort im Munde ab.
"Ach nein?"
"Nein, wir wollen mit dir etwas anderes besprechen", mischte sich Marcus ein. "Es geht um Louise, die dringend unsere Hilfe braucht."
"Louise braucht unsere Hilfe?", wiederholte Caius erstaunt. Dann fasste er sich und fragte: "Wer macht ihr Schwierigkeiten?"
"Im Moment noch niemand", sagte Marcus und ging mit seinen beiden Brüdern in eine Nische, wo sie sich ungestört weiter unterhalten konnten. Hier fuhr der ältere Vampir fort: "Zufällig wurde ich Zeuge einer Unterhaltung zwischen Madame de Colignon und ihrer Nichte. Unsere fürsorgliche Nachbarin sorgt sich um Louises Zukunft und bat daher Mademoiselle de Roux, sich entweder nach einer guten Stellung für die junge Dame umzusehen oder nach einem passenden Ehemann."
"Die übliche Vorgehensweise, um einem jungen Mädchen zu helfen", meinte Caius. "Weshalb sollte Louise also unsere Hilfe brauchen, wenn sich Madames alberne Nichte darum kümmern will?"
"Was, wenn Louise eigene Pläne hat?", fragte Marcus.
"Würde mich nicht wundern. Sie ist sehr intelligent und überaus gebildet."
"Deinen Worten ist eindeutig zu entnehmen, dass du Louise magst und sie sogar bewunderst."
"Ja, das ist wahr. Sie hätte ein besseres Leben verdient, auch wenn sie keine Adlige ist!"
"Diese Meinung teilen wir, mein Lieber", mischte sich Aro ein. "Deshalb wäre es dir doch sicherlich ein Anliegen, Louise zu helfen, nicht wahr?"
"Natürlich würde ich ihr helfen. Aber wie denn?"
"Du solltest wissen, dass Louise heimlich einem anderen jungen Mann zugetan ist, der ihre Gefühle erwidert. Die beiden können jedoch leider im Moment nicht heiraten, da Marguerites Tante sicherlich etwas dagegen hat", erklärte Marcus in ruhigem Ton.
"Die Tante könnte man beseitigen und ich wäre gerne dazu bereit", gab Caius grinsend zurück.
"Oh, uns schwebte da eine ganz andere Lösung vor", erwiderte Marcus und erläuterte dem blonden Vampir dann den Vorschlag Aros.
"Nette Idee", meinte Caius, nachdem er von Marcus alles erfahren hatte. "Am besten gefällt mir, dass dies Tante Adrienne wohl sehr schockieren würde. Natürlich verlobe ich mich gerne zum Schein mit Louise, mal ganz abgesehen davon, dass ich auch nichts dagegen hätte, mich wirklich mit ihr zu verloben."
"Hast du dich etwa in Louise verliebt?", erkundigte sich Marcus erstaunt.
"Nicht wirklich, aber ich glaube, dass ich sie lieben könnte, wenn wir uns näher kennenlernen würden", räumte Caius ein. "Es macht mir wirklich Freude, in ihrer Nähe zu sein."
"Bitte, Junge, denk daran, dass Louise einen anderen Mann liebt und unser Plan es vorsieht, dass sie ihn heiraten kann", ermahnte ihn Marcus.
"Keine Sorge", beruhigte ihn der blonde Vampir und lächelte. "Auch mir liegt viel an Louises Glück, selbst wenn Marguerite sie sicherlich in Italien vermissen wird."
"Falls meine Liebste meinen Antrag annimmt", meinte Aro zweifelnd. "Momentan machen ihr für meinen Geschmack zu viele Herren die Cour."
"Marguerite liebt nur dich, Bruder", entgegnete Caius amüsiert. "Du hast gar keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Sie wird deinen Antrag bestimmt annehmen, lass ihr doch ein bisschen Zeit."
"Genau das ist das Problem", wandte Marcus ein. "Allem Anschein nach haben wir nicht mehr so viel Zeit."
"Hört mal zu, ihr beiden", sagte Caius. "Wir haben es hier nur mit Menschen zu tun - mit Menschen, denen wir weit überlegen sind. Also lasst uns noch ein Weilchen mit ihnen spielen und macht euch nicht so viele Sorgen. Du, Aro, solltest Marguerite auf keinen Fall bedrängen und dich, Marcus, bitte ich darum, deinem Schwarm, Madame de Colignon, zu sagen, dass ich Louise liebgewonnen habe, ihr einen Antrag machen und - Louises Einverständnis vorausgesetzt - mich mit ihr heute noch verloben möchte."
"Che sorpresa! [1] Du kommst aber schnell zur Sache, mir wird schon ganz schwindelig", witzelte Aro, dann richtete sich der Blick der drei Vampire auf die junge Frau hinter dem Cembalo. "Bevor du die Verlobung verkündest, solltest du Louise über den Grund dieser Schein-Verlobung aufklären. Vielleicht will sie ja nicht mitspielen."
Caius sah seinem Meister wieder in die Augen und murmelte: "Marcus sagte doch, dass sie sich mit dem jungen Verwalter von Schloss Rochefort einig ist und die beiden sich lieben. Ich bin mir sicher, dass sie alles tun wird, damit sie seine Frau werden kann. Und nun entschuldigt mich bitte, ich muss mit meiner zukünftigen Braut dringend etwas besprechen."
"Dann werde ich dafür sorgen, dass Louise am Cembalo abgelöst wird", versprach Marcus.
"Danke, das wäre äußerst hilfreich", antwortete Caius und nickte ihm zu. Der ältere Vampir lächelte und machte sich auf den Weg zu Madame de Colignon...
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[1] Che sorpresa = Was für eine Überraschung!
Kapitel 30
Gefahr erfindet List.
~ Sir Francis Bacon (1561-1626) ~
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"Marcus, mein Lieber, wir haben Euch schon vermisst", wurde der ältere Vampir von Madame de Colignon begrüßt, als er wieder ihre Nähe suchte.
"Wie schön, dies aus Eurem Munde zu hören", antwortete Marcus lächelnd. "In meinem Alter wird einem nicht oft gesagt, dass man vermisst wird."
Die ältere Dame lächelte und meinte dann verschmitzt: "Natürlich habe ich bemerkt, dass Ihr Euch gerade mit Euren Brüdern unterhalten habt. Welche Geheimnisse mögt Ihr wohl ausgetauscht haben?"
"Keinerlei Geheimnisse, liebste Amelie. Mein jüngerer Bruder hat uns gerade etwas für Aro und mich sehr Unerwartetes gestanden und deshalb muss ich mit Euch sprechen."
"Hoffentlich nichts Unangenehmes?"
"Im Grunde nicht, aber wer weiß, wie sich das Ganze entwickelt... Nun, Caius hat uns anvertraut, dass er Mademoiselle Lefevre sehr liebgewonnen hat und um ihre Hand anhalten möchte."
"Wie bitte?!", entfuhr es Madame de Colignon überrascht.
"Aro und ich haben genau wie Ihr auf diese Neuigkeit reagiert", erklärte Marcus.
"Verzeiht mir, mein Lieber, aber das kommt alles so plötzlich."
"Völlig verständlich, liebste Amelie, aber nichtsdestotrotz eine schöne Entwicklung, oder? Caius hat Eure Gesellschafterin tatsächlich sehr gerne und ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, dass er Ihr einen Antrag macht?"
"Natürlich nicht."
"Freut mich, das zu hören. Deshalb bitte ich Euch darum, jemanden zu finden, der Mademoiselle Lefevre am Cembalo ablöst, damit mein jüngster Bruder sich Ihr erklären kann."
"Selbstverständlich, das ist kein Problem. Bitte wartet hier einen Augenblick, lieber Marcus, ich bin gleich zurück."
Mit äußerst zufriedener Miene beobachtete der alte Vampir, wie seine Angebetete umgehend ihre Nichte aufsuchte und mit ihr einige Worte wechselte. Mademoiselle de Roux nickte, erhob sich von ihrem Platz und ging direkt auf das Cembalo zu, während Madame de Colignon zu ihm zurückkehrte.
"Ich erklärte meiner Nichte, dass Ihr sie auch einmal gern auf dem Cembalo spielen hören wollt, was Giselles Eitelkeit schmeichelte und sie dazu antrieb, Euren Wunsch umgehend zu erfüllen."
"Vielen Dank, liebste Amelie. Ich verneige mich vor Eurer Klugheit", antwortete Marcus, ergriff ihre Hand und deutete mit einer leichten Verneigung einen Handkuss an. "Es könnte da allerdings bald noch eine kleine Überraschung geben, meine Liebe."
"Das neue Jahr fängt ja mit vielerlei Neuigkeiten an", meinte sie amüsiert. "Was also kommt noch auf mich zu?"
"Caius setzte Aro und mich davon in Kenntnis, dass er sich - sollte Louise einverstanden sein - noch heute auf Eurer Gesellschaft mit ihr verloben möchte."
"Mon Dieu! Euer kleiner Bruder scheint ja ein recht leidenschaftliches Temperament zu besitzen. Hoffentlich ist das nicht zu viel für meine ruhige Louise."
"Das glaube ich kaum. Die beiden scheinen sich gut zu verstehen und womöglich schlummert auch in Eurer jungen Gesellschafterin ein Feuer, das noch nicht richtig entfacht worden ist."
Madame de Colignon lachte verhalten und schüttelte den Kopf.
"Oh, Marcus, mir würde das alles viel zu schnell gehen. Aber es spricht sehr für Euren jüngsten Bruder, dass er trotz aller Leidenschaft die Wünsche Louises respektieren will."
"Und nun zu uns, meine Liebe. Was würdet Ihr davon halten, wenn Ihr uns auf unserer Rückreise nach Italien begleitet? Dort ist das Klima etwas milder als in Frankreich und ich würde mich sehr über Eure Gesellschaft in meiner kleinen Residenz freuen."
"Klingt überaus verlockend, lieber Marcus. Daher werde ich es mir ernsthaft durch den Kopf gehen lassen. Allerdings fiele es mir schwer, Marguerite allein zu lassen, so lange ihre Verwandten noch die Vormundschaft über sie besitzen."
"Bis zu unserer Abreise wird auch diese Angelegenheit gewiss geregelt sein, glaubt mir."
Madame de Colignon sah Marcus in die Augen und fragte leise: "Versprecht Ihr mir das?"
"Ja, das verspreche ich Euch."
"Dann kann ich davon ausgehen, dass Euer Bruder Aro es ernst mit Marguerite meint?"
"Er liebt sie sehr und wünscht sich nichts sehnlicher als mit ihr für immer zusammen zu sein."
"Nun, wenn alles geregelt ist... womöglich könnte ich dann mit Euch nach Italien kommen."
"Nichts würde mich glücklicher machen, Amelie."
*
Louise nahm wohl wahr, dass Caius sich wieder neben das Cembalo gesellt hatte und sie beim Spielen zu beobachten schien. Als wenig später allerdings Mademoiselle de Roux auftauchte, wunderte sie sich sehr. Ihr Erstaunen wuchs noch, als sich die junge Hofdame nach Beendigung des Stücks sogleich mit den Worten an sie wandte: "Würdet Ihr mir nun freundlicherweise Euren Platz an dem Instrument einräumen, meine Liebe? Jemand hegt den Wunsch, von mir etwas vorgetragen zu bekommen."
"Selbstverständlich", erwiderte Louise und erhob sich von der Sitzbank, damit sich die Nichte der Hausherrin vor das Cembalo platzieren konnte und ein Stück zu spielen begann.
"Wie wäre es, wenn Ihr Euch nun ein wenig erholen würdet, Louise?", fragte Caius, der plötzlich dicht neben ihr stand.
"Eine gute Idee", antwortete das Mädchen und folgte dem blonden Jüngling in eine gemütlich hergerichtete Sitzecke mit zwei eleganten Sesseln, auf denen sie gemeinsam Platz nahmen.
"Wie gefällt es Euch auf dieser Gesellschaft, Louise?"
"Es ist eine recht angenehme Atmosphäre. Die Gäste scheinen sich jedenfalls alle wohlzufühlen."
"Und wie fühlt Ihr Euch?"
"Gut, denn ich habe ein Dach über dem Kopf, ein Bett zum Schlafen und lebe mit einer sehr mitfühlenden Dame zusammen in einem beheizten Haus. Dafür bin ich sehr dankbar."
"Darf ich Euch etwas zu trinken und Gebäck holen, Louise?"
"Das ist sehr freundlich von Euch, Caius, aber ich kann doch selbst..."
"Nein, nein, bitte lasst mich etwas für Euch tun!", unterbrach sie der blonde Jüngling, erhob sich und kehrte bald mit einer Tasse Kaffee und einem Teller voll Gebäck, das er ihr beides reichte, zurück. Nachdem er sich wieder auf seinen Platz gesetzt hatte, erklärte er: "Es war mir ein Bedürfnis, etwas für Euch zu tun, Louise, denn ich habe Euch sehr gern."
Das Mädchen errötete, senkte den Blick und nahm einen Schluck aus ihrer Tasse.
"Eure Verlegenheit finde ich überaus reizend", sagte Caius und lächelte, als sie ihn verwundert ansah.
"Warum macht Ihr mir solche Komplimente? Ihr wisst doch, dass wir gesellschaftlich nicht auf gleicher Stufe stehen, Conte di Volturi."
"Ach was! Conte di Volturi. Gerade eben habt Ihr mich Caius genannt und ich wünsche, dass Ihr mich immer so nennt, denn ich bin Euer Freund."
"Bitte, ich verstehe nicht ganz, was Ihr mir damit sagen wollt...?"
"Ihr habt gute Freunde, Louise, mehr als Ihr glaubt - und die gesellschaftlichen Konventionen scheren mich einen Dreck! Für mich seid Ihr ein wunderbarer Mensch, eine liebenswerte Dame, die ich überaus bewundere. Daher ist es mir ein großes Anliegen, Euch in jeder Weise zu helfen, damit Ihr Euer Glück findet."
"Welch seltsame Dinge sprecht Ihr da? Macht Ihr Euch über mich lustig?"
"Nein, Louise, auf keinen Fall!", versicherte ihr Caius rasch. "Eigentlich wollte ich Euch nur sagen, dass sich Madame de Colignon Gedanken um Euch macht und mit Ihrer Nichte darüber sprach, Euch gut zu versorgen."
"Woher wisst Ihr das?"
"Es gibt einige Personen hier, die ein äußerst scharfes Gehör besitzen und mir dies zutrugen. Aber darum geht es nicht, Louise! Vielmehr bat Madame de Colignon Ihre Nichte, sich nach einer guten Stellung oder einem passenden Ehemann für Euch umzusehen."
"Was?!", Louise starrte Caius entsetzt an. "Wie kommt Madame de Colignon dazu, über mein Leben bestimmen zu wollen?!"
"Sie macht sich Sorgen, was aus Euch wird, falls ihr etwas zustößt. Ihr liegt der Madame nämlich sehr am Herzen."
"Ja... ja natürlich", murmelte die junge Frau und senkte erneut ihren Blick, während sie die Tasse und den Teller mit dem Gebäck auf einem kleinen Tisch neben sich abstellte. Caius erkannte, dass ihre Hände leicht zitterten. Behutsam legte er seine darüber und murmelte: "Mir liegt auch sehr viel an Euch, Louise, und deshalb bitte ich Euch, den Vorschlag, den ich Euch gleich unterbreite, nicht falsch zu verstehen. Denn es geht nur darum, Euch zu beschützen."
"Wovor wollt Ihr mich denn beschützen?", fragte Louise leise und man hörte deutlich, dass sie den Tränen nahe war.
"Vor einer Heirat mit einem Mann, den Ihr nicht liebt", erklärte Caius behutsam. "Diese Mademoiselle de Roux würde nämlich nichts lieber tun, als Euch mit jemandem aus ihrem Bekanntenkreis zu verkuppeln. Wie ich Euch kenne, würde Euch das sicherlich nicht gefallen."
"Nein, denn ich will mir meinen Gemahl selbst auswählen!", gab das Mädchen zurück und schaute wieder zu Caius auf, der erkannte, dass es in ihren Augen feucht schimmerte. "Wenigstens dieses Recht sollte man mir zugestehen, wenn ich schon nicht von edler Geburt bin und keinerlei Mitgift habe."
"Ja, genau so habe ich Euch eingeschätzt und ich stimme Euch zu, dass nur Ihr allein das Recht habt, einen Ehemann für Euch zu wählen. Und um nicht erst in die Verlegenheit zu geraten, einem von Mademoiselle de Roux' Bekannten einen Korb geben zu müssen, solltet Ihr Euch am besten zum Schein verloben."
"Zum Schein verloben...?"
"Ja, und zwar mit mir!"
"Caius!"
"Bitte, beruhigt Euch! All dies dient nur dazu, Euch möglichen Ärger zu ersparen, den Ihr vielleicht auf Euch zieht, wenn Ihr den Antrag von einem der adligen Hofschranzen aus Mademoiselle de Roux' Bekanntschaft ablehnt. Doch als Verlobte eines angesehenen Mannes wird man Euch erst gar keinen Antrag unterbreiten."
"Kein Mensch wird mir glauben, dass ich mit Euch verlobt bin!"
"Doch, sobald ich dies offiziell verkünde, wird es niemand wagen, Euch mit einem Heiratsantrag zu belästigen!"
"Aber, Caius, eine Verlobung ist ein Eheversprechen!"
"Na und? Der Gedanke, mein Leben mit Euch zu teilen, ist mir sehr angenehm."
"Und wenn ich Euch sagte, dass es da jemanden gibt...?"
"Jemanden, der in Paris lebt?"
"Nein, nicht in Paris... aber ich liebe ihn und er erwidert meine Gefühle."
"Das ist kein Problem für mich, Louise, ich sprach ja auch von einer Schein-Verlobung in Paris. Später können wir diese Verlobung immer noch lösen."
"Nun, ich weiß nicht... irgendwie gefällt mir das Ganze nicht."
"Es ist das Beste, was Ihr in dieser Situation tun könnt. Mademoiselle de Roux wird Euch sonst in naher Zukunft mit einem Anwärter auf Eure Hand konfrontieren und wie wollt Ihr die zweifelhafte Ehre, die Gattin eines Edelmannes zu werden, abschlagen? Wie ich Euch kenne, werdet Ihr Euch dareinfügen, nur um Madame de Colignon keine Schande zu bereiten. Habe ich etwa nicht recht?"
"Vermutlich... ach, Caius, warum gerate gerade ich in solch eine Situation. Bin ich im Grunde denn nicht eine unwichtige Person, die man in Ruhe lassen könnte?"
"Madame de Colignon meint es eben gut mit Euch - auch wenn etwas gut Gemeintes nicht immer zu etwas Gutem führen muss."
"Ihr habt recht mit allem, was Ihr sagt. Was soll ich denn jetzt bloß machen?"
"Verlobt Euch mit mir! Noch während dieser Gesellschaft, damit es überall bekannt wird, dass Ihr nicht mehr zu haben seid!"
"Darüber möchte ich erst einmal nachdenken - die ganze Angelegenheit verwirrt mich", sagte Louise, erhob sich und eilte aus dem Saal. Caius sah ihr betreten nach. Das war nicht ganz so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Hilfesuchend sah er sich um, ob er irgendwo Marguerite entdeckte, und fand sie am Büffet, welches sie nachdenklich betrachtete. Zielstrebig lenkte er seine Schritte zu ihr und gesellte sich neben sie. Sie schaute hoch und schien erfreut, ihn zu sehen.
"Marguerite, darf ich Euch um etwas bitten?", sprach Caius sie behutsam an.
"Kommt darauf an", antwortete das Mädchen. "Worum handelt es sich?"
"Es geht um Louise", erklärte der blonde Jüngling. "Ich fürchte, ich habe sie mit meinem Anliegen erschreckt, was gar nicht in meiner Absicht lag. Sie hat gerade fluchtartig diesen Raum verlassen. Bitte, Ihr seid doch Ihre Freundin. Könntet Ihr nicht einmal nach ihr sehen und Ihr versichern, dass alles, was ich zu ihr sagte, mein voller Ernst war?"
Marguerite runzelte verwundert die Stirn.
"Ihr scheint sehr besorgt um Louise zu sein", meinte sie dann. "Und es ist normalerweise nicht ihre Art, einfach jemanden stehen zu lassen. Um Himmels willen, was habt Ihr meiner Freundin bloß gesagt, das sie so sehr erschreckte?"
"Es war ein ernstgemeinter Vorschlag, der nur ihrem eigenen Wohl dient. Aber offenbar vertraut Louise mir nicht, wenngleich ich alles tun würde, um ihr zu ihrem Glück zu verhelfen."
"Mon Dieu, das klingt alles sehr verworren. Nun gut, ich schaue lieber mal nach Louise."
Die Comtesse nickte Caius kurz zu und verließ danach ebenfalls eilig den Raum. Aro näherte sich mit raschen Schritten seinem jüngeren Bruder und fragte ihn dann leise: "Was hast du jetzt wieder angestellt? Warum ist Louise aus dem Saal gerannt und weshalb folgt Marguerite ihr jetzt?"
"Mein Vorschlag unserer Schein-Verlobung war offenbar zu viel für Louise, obwohl ich ihr die Umstände, die dazu führten, genau erklärt habe. Doch es hat sie sehr aufgeregt. Deshalb bat ich Marguerite, nach ihr zu schauen. Vielleicht kann sie sie beruhigen."
"Manchmal sind Menschen mir ein Rätsel. Vielleicht ist es besser, wenn ich Marguerite folge."
"Nein, Aro, halt dich da raus! Wer außer der engsten Freundin kann ein Mädchen besser verstehen?"
"Na schön, dann warten wir mal ab!"
*
Marguerite lief den Korridor des Hauses entlang und fand Louise endlich am Ende des Ganges an einem Fenster stehend, die Hände an der Wand abgestützt, den Kopf auf die Hände gelehnt. Sie weinte leise.
"Um Gottes willen, was ist denn bloß geschehen, Louise?!", fragte Marguerite besorgt und legte ihr beruhigend eine Hand auf den Rücken.
Ihre Freundin drehte sich zu ihr, das Gesicht voller Tränen und murmelte: "Ach, Comtesse, nur weil ich eine Waise und nicht von edler Geburt bin, darf ich mir da nicht wenigstens einen eigenen Ehemann aussuchen?"
"Doch, natürlich", antwortete Marguerite verwundert. "Aber ich verstehe nicht...?"
"Nein, das könnt Ihr auch nicht", erwiderte Louise, die sich rasch mit den Handrücken die Tränen aus den Augen wischte. Dann wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu und erklärte: "Conte Caius verriet mir gerade, dass jemand ein Gespräch zwischen Madame de Colignon und ihrer Nichte belauschte. Thema des Gespräches war meine Zukunft, um die Madame sich sorgt. Deshalb bat sie Mademoiselle de Roux darum, mir entweder eine gute Stellung oder einen Ehemann zu besorgen. Ist das zu fassen?!"
"Madame de Colignon meinte es sicher gut", sagte Marguerite. "Als lebenserfahrene, vorausschauende Frau möchte sie dich eben wohl versorgt wissen, falls ihr etwas geschieht. Doch mach dir keine Sorgen, meine Liebe, sobald ich aus der Vormundschaft meiner Tante befreit bin, nehme ich dich wieder in meinen Dienst."
"Sehr freundlich von Euch, Comtesse. Allerdings war Conte Caius der Meinung, dass Mademoiselle de Roux mich mit einem aus ihrem Bekanntenkreis verkuppeln will, einem Adligen bei Hofe, und keineswegs nach einer Stellung für mich Ausschau halten will."
"Wie kommt er denn darauf?"
"Es klang für mich, als wisse er mehr, ließ sich darüber aber nicht weiter aus. Stattdessen schlug er mir vor, mich mit ihm zum Schein zu verloben."
"Wie bitte?!"
"Die gleiche Reaktion wie Ihr jetzt zeigte ich auch, doch Caius versicherte mir, dass dies lediglich zu meinem Schutz geschähe, um mir die Verlegenheit zu ersparen, von einem mir unliebsamen Bewerber einen Antrag zu bekommen."
"Ein äußerst gewagter Schritt, der mir doch recht übertrieben erscheint."
"Caius meinte, dass ich aus Rücksicht auf Madame de Colignon dazu neigen würde, mich auf die Ehe mit einem ungeliebten Mann einzulassen... leider fürchte ich, dass er damit recht hat."
"Aber du kannst doch den Antrag abschlagen, Louise."
"Ach, Comtesse, gerade diese Freiheit besitze ich nicht. Falls tatsächlich ein Adliger aus dem Bekanntenkreis von Mademoiselle de Roux um meine Hand anhält, wäre ich töricht, dies auszuschlagen. Denn wenn ich das tue, fürchte ich, wird dieser Adlige aus gekränkter Eitelkeit alles unternehmen, um meinen guten Ruf zu zerstören - und wem wird man mehr glauben?"
"Dann wäre der Vorschlag von Caius doch gar nicht so schlecht, denn dies schützt Euch vor einem unliebsamen Antrag."
"Aber ich bin nicht in Conte Caius verliebt, er allerdings ließ hin und wieder Bemerkungen in seinen Vorschlag an mich einfließen, die darauf schließen lassen, dass er mehr für mich empfindet."
"Tatsächlich?"
"Ja, er sprach zwar davon, dass wir die Verlobung wieder leicht lösen könnten, erklärte jedoch auch, dass er nichts dagegen hätte, sein Leben mit mir zu teilen."
"Mir schien ebenfalls, als ob er dich sehr gerne hätte..."
"Ach, Comtesse, was soll ich nur tun. In meinem Kopf dreht sich alles."
"Und wenn du einfach seinen Vorschlag annehmen würdest? Wäre das wirklich so schlimm?"
"Mir erscheint es nicht richtig! Außerdem gibt es da schon jemanden, dem mein Herz gehört."
"Was? Wer ist es? Kenne ich ihn?"
"Ja, Comtesse, ich wollte schon länger mit Euch darüber sprechen. Doch dann kam Eure Tante nach Rochefort und wir hatten keine Gelegenheit mehr, unter vier Augen ein längeres Gespräch zu führen. Ansonsten hätte ich Euch gestanden, dass der junge Verwalter von Rochefort und ich uns ineinander verliebt haben und heiraten wollen."
"Oh!", entfuhr es Marguerite und sie schwieg eine Weile, ehe sie weitersprach: "Wie kommt es, dass ich davon nichts gemerkt habe?"
"Ihr wart traurig wegen des Verlustes Eures Vaters und dann verschied auch noch Euer Vormund. In dieser Situation wollte ich Euch erstmal nicht mit meinen Angelegenheiten behelligen."
"Sehr rücksichtsvoll von dir, Louise, aber du hättest es mir ruhig sagen können. Es wäre ein Lichtblick in dieser traurigen Zeit gewesen und natürlich habe ich nichts dagegen, dass ihr beiden Euch vermählt. Seid Ihr heimlich verlobt?"
"Nein, Comtesse, wir wollten es offiziell machen, sobald sich eine Gelegenheit ergeben hätte."
"Aber du könntest einem unliebsamen Bewerber um deine Hand doch erklären, dass du bereits verlobst bist."
"Wer würde mir glauben? Und was ist schon ein Schlossverwalter in den Augen eines Adligen? Man würde mich verspotten und meine Verlobung als Grundlage nehmen, um sowohl meinen als auch den Ruf meines Liebsten zu beschmutzen. - Außerdem war ich von Caius' Vorschlag so verwirrt, dass ich ihm erzählt habe, einen anderen zu lieben. Doch er meinte, für ihn stelle das kein Problem dar."
"Wenn es sich so verhält, sehe ich keinen Grund, warum du dich nicht zum Schein mit Caius verloben solltest. Gewiss will er dir wirklich nur helfen."
"Möglich, aber was soll ich tun, wenn er die Verlobung mit mir später nicht lösen will?"
"Sprach Caius denn nicht selbst davon, dass er sich nur zum Schein mit dir verloben will?"
"Ja, schon..."
"Na also, Caius ist meiner Meinung nach ein Ehrenmann, der sein Wort dir gegenüber halten wird. Komm, Louise, trockne deine Tränen und sei guten Mutes. Kehren wir in die Gesellschaft zurück. Dort gehst du gleich zu Caius, um ihm deine Entscheidung mitzuteilen."
"Ihr ratet mir also, mich zum Schein mit ihm zu verloben?"
"Ja, das ist doch erstmal eine gute Lösung, um dir etwaige potenzielle Ehemänner vom Leib zu halten."
"Aber, Comtesse, wenn ich Caius' Vorschlag annehme, beabsichtigt er noch heute auf dieser kleinen Feier unsere Verlobung bekannt zu geben."
"Und damit weiß Mademoiselle de Roux, dass der Wunsch ihrer Tante an sie hinfällig geworden ist. Ausgezeichnet!"
*
Caius und Aro hatten sich zu Marcus und Madame de Colignon gesellt, als Marguerite und Louise wieder in den Saal zurückkehrten und ebenfalls auf sie zukamen.
"War dir nicht wohl, Louise?", erkundigte sich Madame de Colignon besorgt. "Du wirkst sehr blass."
"Es ist nichts, Madame, mir hat lediglich ein wenig frische Luft gefehlt."
"Ich hoffe, es geht Euch wieder besser?", fragte Caius und sah die junge Gesellschafterin aufmerksam an.
"Ja, vielen Dank", gab sie zurück.
"Ihr beiden solltet auch einmal tanzen", schlug Marguerite vor und zwinkerte Caius zu. Dieser verstand sofort und wandte sich erneut an deren Freundin: "Darf ich bitten?"
"Gerne", behauptete Louise und entfernte sich mit Caius etwas von der Gruppe um Madame de Colignon. Da in der Mitte des Saals noch getanzt wurde, zogen sich die beiden in eine ruhige Nische zurück, wo niemand sie beachtete, und Louise fragte leise: "Ihr steht doch zu Eurem Wort, dass wir uns nur zum Schein verloben und später diese Verlobung wieder lösen, Caius?"
"Selbstverständlich."
"Also gut, die Comtesse konnte mich davon überzeugen, bei dieser Farce mitzuspielen. Dennoch drängt es mich, Euch daran zu erinnern, dass mein Herz einem anderen gehört - auch wenn Ihr mir im Grunde sympathisch seid."
"Und ich versichere Euch, dass diese Verlobung nur deshalb notwendig ist, damit Ihr jenen jungen Mann heiraten könnt. Seid unbesorgt, meine Liebe, und vertraut mir. Außerdem würde ich gleich gerne mit Euch tanzen, damit es keine allzu große Überraschung ist, wenn ich unsere Verlobung verkünde."
*
Adrienne, die gerade mit ihrem Mann den Tanz beendet hatte, bemerkte voller Eifersucht, dass Caius gerade Louise in die Mitte des Raumes zum nächsten Tanz führte. Sie konnte nicht nachvollziehen, was der hübsche Jüngling an diesem nichtssagenden Ding fand. Es war überhaupt nicht notwendig, dass er die Gesellschafterin der Hausherrin zu einem Tanz aufgefordert hatte. Der einzige Platz, den sie ihr zubilligte, war die Sitzbank hinter dem Cembalo, um für die Herrschaften hier aufzuspielen.
"Komm, mein Schatz, lass uns zu Madame de Colignon gehen", sprach ihr Mann sie gerade von der Seite an. "Deine Nichte ist bei ihr und die beiden Italiener. Wir sollten hin und wieder darauf achten, welche Gespräche in Gegenwart des Kindes geführt werden."
"Du hast recht, Roger", stimmte Adrienne ihm zu und sie gingen gemeinsam zu der Hausherrin, wo sich die Baronesse zwischen dieser und Marguerite auf das Sofa platzierte. Dann lächelte sie erst Madame de Colignon an, bevor sie sich in freundlichem Ton an die beiden Volturi-Brüder wandte: "Nun, meine Herren, wollt Ihr Euch nicht setzen?"
"Nein, vielen Dank", erwiderte Aro in ebenso freundlichem Ton. "Wir überlassen die Sitzgelegenheiten gerne den Damen. Auf der Heimreise nach Italien sitzen wir noch genug."
"Demnach habt Ihr also vor, Paris in Bälde zu verlassen?", erkundigte sich der Baron interessiert.
"Ja, wir brechen in ein paar Tagen auf", behauptete der schwarzhaarige Vampir.
"Oh, warum diese Eile?", wollte Adrienne wissen, die sich insgeheim über diese Neuigkeit freute.
"Wir erhielten Nachricht, dass wir zu Hause dringend gebraucht werden", erklärte Aro. "Wir hatten ohnehin nicht vor, allzu lange in Paris zu verweilen, Baronesse."
"Wollt Ihr mit der Abreise nicht wenigstens bis zum 15. Januar warten?", fragte Marguerite, aus deren Ton deutlich ihr Bedauern herauszuhören war.
"Vielleicht könnten wir es einrichten", meinte Aro und tat so, als wüsste er nicht, warum sie dies fragte. Die Bemerkung mit der Heimreise hatte er ohnehin nur in das Gespräch eingeflochten, um Marguerite zu einer Entscheidung zu drängen. "Warum ist Euch dies so wichtig, Comtesse?"
"Weil ich am 14. Januar eine kleine Geburtstagsfeier geben möchte und Euch gerne dazu einladen würde", erklärte sie.
"Welch eine hübsche Idee!", ließ sich Madame de Colignon begeistert vernehmen. "Ich bin überaus entzückt davon."
Die ältere Dame wandte sich sogleich an Adrienne und fuhr fort: "Wie großzügig von Euch, Eurer Nichte diese Freude zu machen."
"Nun... wie könnte ich dem Kind diesen kleinen Wunsch abschlagen. Sie hat nicht so oft Gelegenheit, mit Menschen zusammenzukommen", erklärte die Baronesse, wütend darüber, wie Marguerite es auch diesmal wieder geschafft hatte, ihren Willen durchzusetzen. "Natürlich würde ich mich freuen, wenn Ihr ebenfalls zu dieser kleinen Feier kommt, Madame."
"Um nichts in der Welt würde ich mir das nehmen lassen, Baronesse", antwortete die ältere Dame.
"Und Ihr, Aro?", wandte sich Marguerite erneut an den schwarzhaarigen Vampir. "Werdet Ihr mir die Freude machen, zusammen mit Euren beiden Brüdern ebenfalls zu meinem Geburtstagsfest zu kommen?"
"Das kann ich leider nicht versprechen, Comtesse", gab der Angesprochene zurück. Als er das entsetzte Gesicht Marguerites sah, fühlte er sich genötigt zu sagen: "Natürlich werde ich versuchen, dies einzurichten."
Adrienne, die all dies mitbekam, freute sich innerlich, denn es sah ganz so aus, als ob sie mit ihrer Einschätzung von Aros Person recht behielte: Er war ein Windhund, der mit allen Frauen flirtete und es niemals ernst meinte. Bald wäre es fort aus Paris und womöglich käme es gar nicht erst zu dieser Geburtstagsfeier, weil Marguerite auf seltsame Weise unauffindbar verschwand.
"Nun, was mich betrifft, versichere ich Euch, dass ich zu Eurem Geburtstagfest dasein werde", sagte Marcus lächelnd zu Marguerite und ließ seinen Blick dann liebevoll zu Madame de Colignon schweifen. Natürlich entging auch dies nicht der Aufmerksamkeit der Baronesse, die jedoch in dem ältesten Bruder keinerlei Bedrohung sah. Er machte offensichtlich der Gastgeberin den Hof und blieb womöglich bei ihr in Frankreich, während seine beiden Brüder nach Italien zurückkehrten.
"Ihr seid uns willkommen, Conte di Volturi", behauptete der Baron gegenüber Marcus und lächelte diesen an. "Unsere Nichte wird sich über jeden Freund freuen, der zu ihrer kleinen Feier kommt. Danach kehren wir aufs Land zurück, wo wir sehr selten Gelegenheit haben, um zu feiern."
"Ja, das Landleben bietet viele Vorteile", erwiderte Marcus lächelnd, sah zu Marguerite und zwinkerte ihr zu. Sie lächelte daraufhin, wenngleich sie darüber verwirrt war, dass Aro gerade etwas über seine baldige Heimkehr nach Italien erzählt hatte.
Marcus wandte sich wieder Madame de Colignon zu und sagte: "Eure Nichte spielt übrigens auch recht gut das Cembalo."
"Sie würde sich darüber freuen, dieses Lob aus Eurem Munde zu hören, mein Lieber", meinte die Gastgeberin. "Sie ist gleich mit dem Stück fertig und ich sollte mich umhören, welche der jungen Damen Lust hat, auch etwas auf dem Instrument darzubieten. Bitte, entschuldigt mich."
Die ältere Dame erhob sich vom Sofa und verschwand unter ihren Gästen. Bald darauf war das Musikstück verklungen und die Tanzgruppe in der Mitte löste sich auf. Wenig später kehrte Madame de Colignon mit ihrer Nichte zurück und ließ sich diesmal auf einem bequemen Sessel nieder, während sich Giselle auf den freien Platz neben die Baronesse setzte.
"Euer Spiel auf dem Cembalo hat mir überaus gut gefallen, Mademoiselle de Roux", wandte sich Marcus an die junge Frau und deutete eine leichte Verneigung an. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Gastgeberin, verneigte sich auch ein wenig vor ihr und fragte: "Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, mir den nächsten Tanz zu schenken?"
"Ja, gern. Doch wir müssen uns ein wenig gedulden, denn Mademoiselle de Fournier, die gerade getanzt hat, möchte erst etwas trinken und sich ein wenig ausruhen, bis sie für uns zum nächsten Tanz aufspielt."
"Damit hat es keine Eile", versicherte ihr Marcus.
"Darf ich Euch ebenfalls um den nächsten Tanz bitten, Comtesse?", wandte sich nun Aro an Marguerite, die immer noch verwirrt wirkte. Sie sah ihn nachdenklich an, bevor sie sagte: "Sehr gerne."
Plötzlich hörte man, wie jemand einige Akkorde auf dem Cembalo anschlug, und alle Gäste richteten ihre Aufmerksamkeit auf das Instrument. Dahinter saß Caius, der augenblicklich aufhörte, auf dem Cembalo zu spielen. Stattdessen erhob er sich von der Sitzbank dahinter, nahm Louise, die in seiner Nähe gestanden hatte, an der Hand und schritt mit ihr gemessen in die Mitte des Saales. Alle Augen waren auf die beiden gerichtet. Der blonde Jüngling räusperte sich etwas, dann begann er mit lauter, klarer Stimme zu sprechen: "Meine Damen und Herren, ich habe die Freude Ihnen mitzuteilen, dass ich mich soeben mit Mademoiselle Louise Lefevre verlobt habe."
Einen Moment lang herrschte Stille, dann begannen die Leute zu klatschen und Glückwunschrufe klangen durch den Raum.
"Welch erfreuliche Wendung der Dinge", bemerkte Giselle erfreut. "Wie schön, dass das neue Jahr mit einer so guten Neuigkeit aufwartet."
Madame de Colignon und Marcus tauschten einen wissenden Blick aus und lächelten verschmitzt. Marguerite lächelte auch und über Aros Antlitz glitt ein spöttisches Grinsen.
Baron de Lebrunne wirkte zunächst erstaunt, dann musste er ebenfalls unwillkürlich grinsen.
"Wer hätte das gedacht?", meinte er und wandte sich zu seiner Frau um. "Die kleine Lefevre hat einen Ehemann gefunden. Nun ja, ich gönne es dem Mädchen. - Aber, Adrienne, was ist mit dir?"
Der Baronesse war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen, ihr Mund stand offen und sie schien gar nicht wahrzunehmen, dass ihr Mann mit ihr sprach.
"Adrienne...?", fragte Roger erneut.
Sie starrte immer noch sprachlos geradeaus, dann fiel sie plötzlich vom Sofa und rührte sich nicht mehr...
*
Der Ohnmachtsanfall ihrer Tante wunderte Marguerite nicht, war ihr doch klar, dass der Grund dafür aus der Verkündung der Verlobung zwischen Caius und Louise herrührte. Hatte Tante Adrienne sich etwa wirklich eingebildet, ein junger Mann wie Caius wäre ernsthaft in sie verliebt?
Glücklicherweise schien sonst keiner der Anwesenden etwas über die wahre Ursache der Ohnmacht von Baronesse de Lebrunne zu ahnen, nicht einmal deren Mann. Jener hielt sich vielmehr schon die ganze Zeit in dem Zimmer auf, in dem ihre Tante unterbracht wurde, nachdem sie bewusstlos geworden war. Die Herrin des Hauses ließ sofort nach einem Arzt schicken, der auch bald darauf eintraf und nach einer kurzen Untersuchung mitteilte, dass die Baronesse sehr erschöpft sei und viel Schlaf brauche. Ansonsten müsse man sich keinerlei Sorgen um sie machen.
Daraufhin kehrte Madame de Colignon beruhigt zu ihren Gästen zurück, denn sie sah auch nach der plötzlichen Ohnmacht von Baronesse de Lebrunne keinen Grund, ihre Feier zu unterbrechen.
Marguerite selbst stand im langen Korridor unweit des Raumes, in dem ihre Tante lag, an einem Fenster und blickte nachdenklich nach draußen. Sie verspürte keinerlei Lust, zu der Gesellschaft zurückzukehren, sondern schämte sich insgeheim für Tante Adrienne. Sobald es dieser besser ging, würde sie ihren Onkel bitten, nach Hause zu fahren. Dort konnte sie sich immerhin in ihr eigenes Gemach zurückziehen und sich unter der Bettdecke verkriechen.
Ein seltsamer Tag war das heute gewesen. Zwar hatte sie Aro wiedergesehen und er behauptete, dauernd an sie denken zu müssen. Doch sie erhielt keinerlei Gelegenheit dazu, sich allein mit ihm zu unterhalten. Immerzu tauchten andere auf, die ihre Zweisamkeit störten. Allen voran dieser Guignot, der sich tatsächlich einbildete, auf sie aufpassen zu müssen! >Kind< hatte er sie genannt - >Kind!<. Was bildete sich dieser Fatzke eigentlich ein? Je mehr sie mit ihm zu tun hatte, desto weniger konnte sie ihn ausstehen. Dieser abscheuliche Mann tat wirklich alles, um ihr das Leben schwerzumachen!
Und dann Aro! Warum um alles in der Welt wollte er plötzlich so dringend nach Italien zurück? Hatte er ihr nicht erst gestern seine Liebe gestanden und um ihre Hand angehalten? Er hatte ihr zugesichert, ihr Zeit zu lassen, über seinen Antrag nachzudenken. Und jetzt wusste er nicht einmal, ob er so lange in Paris bleiben konnte, um mit ihr ihren Geburtstag zu feiern? Was sollte das nur bedeuten? Seine Augen und seine Worte sagten ihr doch überdeutlich, dass er Gefühle für sie empfand. Sie verstand das alles einfach nicht...
"Marguerite", hörte sie da plötzlich eine leise Stimme hinter sich.
Ihr Herz stockte, denn sie wusste genau, wem diese Stimme gehörte. Dennoch wandte sie sich nicht um. Zu sehr hatten seine Abreisepläne, mit denen er sie unvermutet konfrontierte, sie gekränkt.
"Marguerite, es tut mir leid", wisperte er und sie spürte, dass er dich hinter ihr stand. Behutsam berührten seine Hände ihre Schultern. "Marguerite, natürlich reise ich nicht bald ab! Das war nur eine Behauptung, um Eure Tante und Euren Onkel zu täuschen. Die beiden sehen es nicht gern, dass wir zusammen sind."
Jetzt erst wandte sie sich zu ihm um und schaute ihm ernst in die Augen.
"Wie konntet Ihr mich nur dermaßen erschrecken, Aro?", fragte sie in leisem, vorwurfsvollem Ton. "Beinahe hätte ich geglaubt, dass ich Euch nichts bedeute."
"Aber, Marguerite, ich liebe Euch über alles! Nichts auf der Welt könnte mich dazu bringen, Euch allein unter der Fuchtel Eurer fürchterlichen Tante und ihres Mannes zurückzulassen. Es sei denn, Ihr schickt mich weg, weil ich Euch lästig bin."
"Nicht doch, Aro, Ihr wisst, dass ich gerne mit Euch zusammen bin - aber niemals sind wir ungestört!"
"Nun, jetzt stört uns doch niemand, Marguerite, und ich wollte wissen, ob Ihr noch länger Bedenkzeit braucht, über meinen Antrag nachzudenken. Bitte verzeiht mir meine Ungeduld, doch ich leide sehr, wenn wir nicht zusammen sind."
"Ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ich nicht ebenso empfinde wie Ihr, Liebster - allein, es geht mir alles viel zu schnell. Auch diese Verlobung zwischen Caius und Louise. Warum nur mischt sich alle Welt in die Angelegenheiten meiner Freundin und in meine ein? Weshalb konnte Madame de Colignon Louise nicht in Ruhe lassen, sondern musste ihre Zukunft in die Hände ihrer Nichte legen?"
"Seid Madame de Colignon nicht böse, mio Amore, sie wollte Eure Freundin nur gut versorgt wissen. Natürlich war ihr Hauptanliegen, ihr eine gute Stellung zu verschaffen. Woher sollte die Madame denn ahnen, dass ihre Nichte plante, Louise mit Guignot zu verheiraten?"
"Was? Ist Mademoiselle de Roux noch bei Trost?"
"Seht Ihr, deshalb habe ich Caius vorgeschlagen, sich mit Louise zum Schein zu verloben, um sie vor Nachstellungen eines Guignot oder eines etwaigen anderen Wüstlings, sei er von Adel oder nicht, zu schützen. Denn Ihr müsst wissen, dass Giselle de Roux keineswegs so angetan von Louise ist wie ihre Tante oder Ihr, Marguerite, sondern vielmehr auf sie herabschaut."
"Kaum zu glauben, dass diese Person zur Familie von Madame de Colignon gehört", murmelte Marguerite. "Die arme Louise. Sie hat niemandem etwas getan und dennoch gibt es Menschen wie meine Tante oder Mademoiselle de Roux, die sie verachten und zu demütigen trachten."
"Dadurch, dass sich mein kleiner Bruder mit Eurer Freundin verlobte, haben alle diese Leute eine symbolische, kräftige Ohrfeige erhalten."
"Aber Louise liebt einen anderen. Wird Caius die Verlobung später wirklich wieder lösen? Immerhin scheint er selbst doch viel für Louise übrig zu haben, sonst wäre er zu dieser Schein-Verlobung niemals bereit gewesen."
"Caius will ihr zu ihrem Glück verhelfen. Aber lassen wir die beiden. Was ist mit uns, Marguerite?"
"Lasst mir noch etwas Zeit, Aro, bitte!"
"Wie lange wollt Ihr mich warten lassen, mein Engel? Ihr seid die Frau, nach der ich mich immer gesehnt habe, ohne es zu ahnen, und nun, da wir uns begegnet sind, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als mein Leben mit Euch zu teilen. Wenn Ihr wollt, bin ich auch gerne bereit, mit Euch in Frankreich zu leben - es liegt ganz allein in Eurer Hand, Liebste. Und falls es Euch beruhigt, dann lasst einen Ehekontrakt aufsetzen, in dem ihr festlegt, dass alle Eure Besitzungen und Euer Vermögen Euch allein gehören. Mein Wunsch beschränkt sich darauf, Euer Mann zu sein und Euch glücklich zu machen und zu beschützen."
"Oh, Aro, das ist das Schönste, was jemals zu mir gesagt wurde", seufzte Marguerite, schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn innig auf den Mund. Er erwiderte den Kuss, umarmte sie und zog sie eng an sich.
"Nun, Carissima, steht Eure Entscheidung nicht längst schon fest?", flüsterte er, nachdem sie ihre Lippen voneinander gelöst hatten.
Marguerite sah ihm lange in die Augen, dann fragte sie wispernd: "Versprecht Ihr mir, dass Ihr mir die Welt zeigt?"
"Ja, Liebste."
"Und Ihr nehmt mich mit nach Italien?"
"Selbstverständlich, mio Amore."
"Könnten wir in Paris heiraten, so wie meine Eltern?"
"Wenn Ihr es wünscht, mein Engel."
"Also schön, dann nehme ich Euren Heiratsantrag an."
Aro strahlte sie an, zog sie an sich und sie küssten sich wieder innig...
Kapitel 31
Du kannst für die nächsten Tage zwar Pläne machen -
aber das Los der nächsten Tage kennst du noch nicht.
~ Anonymus ~
~~~~~
Nachdem Marguerite gestern Abend mit ihren Verwandten nach Hause fuhr, war Aro ihrer Kutsche heimlich gefolgt und hielt sich seitdem immer in der Nähe des Hauses seiner Braut auf, sehr darauf bedacht, dass weder sie noch deren Verwandtschaft ihn bemerkte.
Am frühen Morgen gesellte sich dann Caius zu ihm und meinte amüsiert: "Dachte ich mir doch, dass ich dich hier finde, nachdem die Lebrunnes mit ihrer Nichte aufgebrochen sind und du dich kurz danach eilig von Madame de Colignon verabschiedet hast. Erst war Marcus darüber höchst amüsiert, aber nachdem du bis jetzt nicht mehr zu unserem hiesigen Aufenthaltsort zurückgekehrt bist, fing er an, sich Sorgen zu machen. Er meinte, du könntest aus lauter Verliebtheit in Marguerite deine Selbstbeherrschung verlieren."
"Das hast du gerade erfunden!", entgegnete Aro.
"Nein, keineswegs", widersprach Caius. "Unser lieber Bruder meinte, dass deine Vernarrtheit in Marguerite beinahe Züge von Besessenheit trägt. Es würde ihn sicher beruhigen, wenn du bald nach Hause kämst."
"Das liegt keineswegs in meiner Absicht. Ich muss Marguerite vor den Launen ihrer Tante schützen, wenn es notwendig sein sollte."
"Aber Tante Adrienne soll doch völlig erschöpft sein - jedenfalls hat Marcus mir das erzählt!"
Aro lächelte und meinte: "Viel wahrscheinlicher ist, dass Marguerites Tante über deine Verlobung mit Mademoiselle Lefevre schockiert war."
"Damit muss sie sich abfinden!", meinte Caius mit einem gemeinen Lächeln. "Es freut mich, dass meine Verlobung ihrem Hochmut einen Schlag versetzte."
"Warum hast du der Baronesse überhaupt die Cour gemacht, wenn du sie dermaßen verabscheust?"
"Es bereitet mir eben Vergnügen, intrigante Schlangen in Sicherheit zu wiegen, bevor ich meinen Durst an ihnen stille."
"Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du die Baronesse nicht anrühren darfst? Ihr vorzeitiges Verschwinden würde den Plan gefährden, den Guignot sich ausgedacht hat."
"Dabei soll Marguerites Tante eine Rolle spielen?"
"Oh ja, die Hakennase hat sich etwas ganz Perfides für seine Geliebte ausgedacht."
"Den Kerl sollten wir besser auch aus dem Weg räumen."
"Nur Geduld, Caius, zu gegebener Zeit werden wir unseren Spaß mit ihm haben", erklärte Aro. "Wie geht es eigentlich Louise? Hat sie sich mittlerweile ein wenig beruhigt?"
"Glücklicherweise konnte ich sie gestern Abend noch allein sprechen, als die meisten anderen Gäste bereits gegangen waren und einige sich von unserer Gastgeberin verabschiedeten. Ich habe ihr nochmals versichert, dass sie mir vertrauen kann und ich ihr helfen werde, ihren jungen Verwalter zu heiraten. Ich hoffe, der Kerl hat sie auch verdient."
"Darin sollten wir uns nicht einmischen, Bruder, sie liebt ihn und das ist alles, was zählt. Doch um deine ernsthaften Absichten nach Außen zu demonstrieren, wäre es angebracht, wenn du Louise einen Ring zu eurer Verlobung schenken würdest und dazu noch eine andere kleine Kostbarkeit. Schließlich soll Madame de Colignon ebenfalls daran glauben, bevor wir sie zu einem Teil unserer Familie machen, sobald wir mit ihr und Marguerite in Italien sind."
"Weißt du, Aro, auf die Idee bin ich auch schon gekommen", erwiderte Caius spöttisch. "In wenigen Stunden wird einer unserer Mitglieder aus Volterra mit dem Schmuck eintreffen, den ich Louise schenken will. Du erinnerst dich doch sicherlich noch an das Geschmeide mit den eingefassten Türkisen, den ich vor etwa 230 Jahren aus dem Privatbesitz dieses Geizhalses in Venedig mitgehen ließ?"
"Oh ja, es passt ausgezeichnet zu Louise. Sie wird sich gewiss sehr darüber freuen."
"Das glaube ich auch. Nun erzähl mal, was zwischen Marguerite und dir vorgefallen ist. Seit sie sich aus der Gesellschaft zurückzog, weil ihre Tante bewusstlos war, sah dich dort auch niemand mehr."
"Sie wartete im Flur unweit der Tür des Zimmers, in dem man die Baronesse untergebracht hatte, und ich leistete ihr Gesellschaft. Bei dieser Gelegenheit waren wir endlich mal allein und ich konnte sie davon überzeugen, meinen Antrag anzunehmen. Glücklicherweise weiß weder ihre Verwandtschaft noch sonst eine Menschenseele davon."
"Freut mich für dich", meinte Caius, der plötzlich ein wenig betreten wirkte. Doch er fing sich rasch wieder und fuhr fort: "Dann gibt es im Grunde also nichts mehr, was uns in Paris noch hält, so dass wir bald abreisen können."
"Nicht so hastig, Caius! Erst sollten wir noch die Intrige beobachten, die Tante Adrienne mit Guignot eingefädelt hat. Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir bald ein größeres Festmahl abhalten können."
"Soll mir recht sein, so lange nur nicht Marguerite und Louise dadurch in Gefahr geraten."
"Werden sie nicht, denn Guignot ist fest entschlossen, Marguerite zu seiner Frau zu machen - und Louise interessiert ihn überhaupt nicht. Mir schien er ganz froh darüber zu sein, dass du dich mit ihr verlobtest."
Plötzlich zog Caius seinen Meister weiter hinter eine Häuserfassade und starrte von dort auf den Eingangsbereich des Hauses, in dem Marguerite mit ihren Verwandten wohnte. Aro folgte seinem Blick und murmelte: "Sieh an, so früh also verlässt Lebrunne bereits das Haus. Seine Neugier scheint größer zu sein als die Sorge um seine Angetraute."
"Wohin will er denn?", erkundigte sich Caius.
"Er ist mit Guignot verabredet. Wenn mich nicht alles täuscht, ist dies der Auftakt der Infamie, die diese Hakennase geplant hat."
"Wollen wir dem Baron folgen?"
"Tu das, wenn du willst. Ich halte mich lieber in der Nähe von Marguerite auf, denn wer weiß, wie ihre Tante sich ihr gegenüber verhält, sobald sie sich erholt hat."
"Glaube nicht, dass Adrienne so rasch wieder auf die Beine kommt. Schließlich war sie doch ein bisschen verliebt in mich."
"Davon wird sie nun wohl geheilt sein", spottete Aro. "Aber noch eins, Caius, bevor du Lebrunne heimlich verfolgst: Reiß dich bitte zusammen! Wir wollen doch gemeinsam mit unseren anderen Familienmitgliedern das Festmahl genießen. Pass genau auf, wann sich Guignot und Lebrunne erneut verabreden. Wenn mich nicht alles täuscht, dürfte dies der Termin für unser Festmahl sein."
"Mach dir keine Gedanken", gab der blonde Vampir höhnisch zurück. "Kurz vor Sonnenaufgang war ich unterwegs und habe gefrühstückt. Außerdem finde ich weder Lebrunne noch Guignot besonders appetitlich. - Bis später, Aro."
Der schwarzhaarige Vampir beobachtete, wie sich Caius behutsam an die Fersen des Barons heftete, darauf achtend, von diesem nicht bemerkt zu werden. Aber Lebrunne schien dermaßen in seine Gedanken vertieft, dass er seine Umgebung kaum beachtete.
Plötzlich tauchte Francois an Aros Seite auf und hielt etwas in rosafarbenes Seidenpapier Eingewickeltes in den Händen, das wie ein kleiner Blumenstrauß aussah.
"Was willst du denn hier?!", zischte der schwarzhaarige Vampir den Diener an.
"Verzeiht mir, Meister Aro, aber Meister Marcus und Meister Caius wiesen mich an, Schneerosen für Euch zu besorgen, da ihr diese Blumen benötigen würdet, um einer Dame Eure Aufwartung zu machen", erklärte Francois in demütigem Ton.
Überrascht starrte Aro den Bediensteten an, dann entspannten sich seine Züge wieder und er brachte sogar ein kleines Lächeln zustande, mit dem er Francois bedachte.
"Eine großartige Idee meiner Brüder", meinte er und nahm den Strauß endlich entgegen. "Hab Dank, dass du dir die Mühe machtest, diese Blumen für mich zu besorgen. Entschuldige, dass ich gerade so unleidlich zu dir war, aber ich bin heute Morgen ein wenig nervös."
"Vielleicht solltet Ihr frühstücken, bevor Ihr die besagte Dame besucht", schlug Francois vor.
"Nein, das ist nicht nötig", widersprach Aro. "Jetzt geh zurück nach Hause. Womöglich benötigt Meister Marcus noch deine Dienste."
Francois verneigte sich leicht und verschwand danach genauso rasch wie er aufgetaucht war.
Aro öffnete das Seidenpapier ein wenig und lugte neugierig hinein. Die Schneerosen sahen gut aus und dufteten süß. Wahrlich ein passendes Geschenk für seine zukünftige Gefährtin. Da sie gerade erst erwacht war, wollte er noch etwas warten, bis sie in Ruhe ihr Frühstück eingenommen und sich angekleidet hatte, bevor er ihr seine persönliche Aufwartung machte. Da die Tante immer noch schlief, wäre er heute zum ersten Mal allein und ungestört mit Marguerite in ihrem Haus. Wie wundervoll...
***
Marguerite erwachte erst, als die Sonne hell durch die Vorhänge schien, die vor den Fenstern im Zimmer hingen. Für einen Wintertag war es beinahe zu sonnig, aber das machte ihr nichts aus. Sie war so glücklich wie nie. Bald würde sie Aros Ehefrau sein, obwohl ihre Tante noch gar nichts davon wusste... heimlich verlobt! Das fühlte sich zwar verboten, aber auch irgendwie gut an. Vor einer Verwandten, die ihr nicht wohlgesonnen war, verbarg man besser sein eigenes Glück - wenigstens für einige Zeit, bis man sie vor vollendete Tatsachen stellte und sie nichts mehr dagegen tun könnte.
Die Comtesse gähnte herzhaft und räkelte sich etwas, setzte sich dann langsam auf und erhob sich aus dem Bett. Sie klingelte nach ihrer Kammerzofe und kurz darauf erschien Arlette.
"Wünscht Ihr, heute Morgen in Eurem Zimmer zu frühstücken?", fragte die Bedienstete.
"Ja, den Anblick meiner Verwandten möchte ich mir gern ersparen", erwiderte Marguerite. "Wie geht es meiner Tante?"
"Sie schlief ruhig durch und ist bis jetzt noch nicht erwacht", klärte Arlette sie auf. "Der Baron verbrachte die ganze Nacht bei ihr im Zimmer und schickte bereits am frühen Morgen nach einem Apotheker. Dieser untersuchte Eure Tante und versicherte, dass sie genesen und wohlauf sei und man sie am besten schlafen lasse, bis sie von selbst wieder wach werde."
"Ein guter Rat", meinte Marguerite und lächelte etwas. "Es scheint tatsächlich so, als hätte meine Tante sich gestern zu wenig Schlaf gegönnt. Mein Onkel war völlig außer sich vor Sorge. Dermaßen aufgewühlt habe ich noch keinen Mann erlebt."
"Niemand hätte vermutet, dass der Baron noch so viel Zuneigung für seine Gattin empfindet. Schließlich zetert sie oft mit ihm herum, wenn er mal zu Hause ist, bis er laut wird."
"Hat sich der Baron jetzt hingelegt?"
"Nein, Comtesse, nachdem der Apotheker ihm versicherte, dass die Baronesse außer Gefahr sei, nahm er ein kleines Frühstück auf seinem Zimmer ein, machte sich frisch und verließ das Haus. Er sagte, er sei heute Morgen mit einem Freund verabredet und wisse nicht, wann er zurückkomme."
"Dann wird es heute Vormittag angenehm ruhig hier sein", meinte Marguerite zufrieden. "Recht erfreuliche Neuigkeiten am zweiten Tag des Jahres. Bring mir nun auch ein Frühstück und danach hilf mir beim Ankleiden. So lange meine Tante schläft, kann ich einige private Angelegenheiten erledigen, von denen sie nichts wissen muss."
"Oh, habt Ihr etwa Geheimnisse, Comtesse?", fragte Arlette amüsiert.
"Ja, und sie gehen dich nichts an", gab das junge Mädchen ebenso amüsiert zurück. "Geh jetzt und sorg dafür, dass ich ein üppiges Frühstück bekomme. Ich habe nämlich großen Appetit."
"Selbstverständlich, Comtesse."
***
Als Baron de Lebrunne an die Tür seines Freundes klopfte, öffnete ihm Guignot selbst und bat ihn herein.
"Du hast deinen Diener also wirklich fortgeschickt?", erkundigte sich Roger, nachdem er in die Stube eingetreten war, wo er sich seines Winterumhangs entledigte.
"Ja, ich gab ihm einige Tage frei und er war überglücklich", erklärte sein Freund. "Möchtest du ein Glas Wein?"
"Nein, danke, hab gerade gefrühstückt und mir dabei von der Köchin tatsächlich einen Kaffee aufbrühen lassen. Meine Frau hat recht, dieses exotische Getränk macht einen wirklich munter und das habe ich nach dieser unruhigen Nacht gebraucht."
"Wenn du zu müde bist, können wir unser Gespräch auch auf einen späteren Zeitpunkt vertagen, Roger."
"Ach was! Adrienne schläft gerade und weiß daher nicht, dass ich dich aufsuche. Sie muss ja nicht alles wissen. Doch dieser plötzliche Ohnmachtsanfall gestern... mir ist nie in den Sinn gekommen, dass meine Frau tatsächlich erschöpft sein könnte."
"Wie geht es ihr?", erkundigte sich Guignot, obwohl es ihm im Grund gleichgültig war.
"Der Apotheker untersuchte sie heute früh und sagte, sie brauche nichts weiter als Schlaf, wäre ansonsten aber gesund."
"Das freut mich wirklich für deine Gattin und dich. Und wie geht es deiner bezaubernden Nichte?"
"Sie wirkte gestern nach dem Vorfall sehr gefasst, hat sich jedoch gleich nach unserer Heimkehr in ihr Zimmer zurückgezogen. Das Mädchen kann gut für sich selbst sorgen."
"Hat sie denn nichts über die Verlobung ihrer Freundin mit dem jungen Volturi gesagt?"
"Nein, nach Adriennes Ohnmacht wartete sie die ganze Zeit vor dem Zimmer, das uns Madame de Colignon freundlicherweise zur Verfügung stelllte. Vermutlich hat es Marguerite mehr mitgenommen als sie uns zeigt. Sobald meine Frau nämlich wieder einigermaßen bei Kräften war, bestand das Mädchen darauf, sofort nach Hause zurückzukehren. Offenbar besitzt sie doch so etwas wie Familiensinn."
"Gut möglich, obwohl deine Angetraute es ihr nach deinen eigenen Worten nicht leicht macht."
"Lassen wir das, Rouven, du hast mich zu dir gebeten, um mir etwas anzuvertrauen, das nicht für jedermanns Ohren bestimmt ist, oder?"
"Ja, du hast recht, mein Freund. Komm, setzen wir uns", forderte Guignot den Baron dazu auf und machte eine einladende Geste zu seinem Sofa. Roger ließ sich nicht zweimal bitten und nahm darauf Platz, während der hakennasige Mann es sich auf einem bequemen Sessel ihm gegenüber bequem machte. Dann begann er in gedämpftem Ton: "Was ich dir jetzt erzähle, muss unter uns bleiben. Bitte versprich mir, es niemandem zu verraten."
"Wenn du mir nicht traust, hättest du mich erst gar nicht darauf ansprechen sollen", murrte der Baron, dem das geheimnisvolle Getue seines Freundes allmählich auf die Nerven fiel.
"Natürlich vertraue ich dir", beschwichtigte ihn Guignot. "Mir liegt nur viel daran, dir klarzumachen, wie gefährlich das Wissen um den Gegenstand unserer folgenden Unterhaltung ist, wenn es außenstehende Personen, die unser Tun nicht begreifen, erfahren. Deine Familie und du selbst könnten dann in Gefahr sein."
"Was hat meine Familie damit zu tun? Denkst du, ich beabsichtige, meine Frau oder meine Nichte darin einzuweihen?"
"Natürlich nicht - und nach deinen Worten zu schließen willst du mein Geheimnis also wahren."
"Falls es dich beruhigt, Rouven, dann schwöre ich dir, dass alles unter uns bleibt."
"Schön, diese Versicherung reicht mir aus", erwiderte der hakennasige Mann und wirkte äußerst zufrieden. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und begann: "Vor ein paar Jahren machte ich die Bekanntschaft eines Mannes der allerhöchsten Kreise. Wir unterhielten uns und wenige Tage danach lud er mich in sein Haus ein. Dort lernte ich andere Männer von Adel und aus gehobenen, bürgerlichen Kreisen kennen, die mich für würdig befanden, in ihren Geheimbund einzutreten. Wir treffen uns in unregelmäßigen Abständen, entweder um unsere Erfahrungen und Kenntnisse auszutauschen oder um etwaige Probleme, die einer unserer Brüder hat, zu lösen."
"Hm... einige Männer, die sich heimlich treffen, um sich gegenseitig zu unterstützen. Klingt unspektakulär. Warum also diese Geheimniskrämerei?", wunderte sich Lebrunne.
"Oh, es geht nicht nur darum, dass wir unsere Probleme besprechen und dafür Lösungen finden wollen", meinte Guignot. "Vielmehr haben unsere Treffen den Zweck, unsere Erkenntnisse und Erfahrung mit den Dingen, die hinter der äußeren Welt liegen, auszutauschen, um das zu bekommen, was immer wir uns ersehnen."
"Du sprichst demnach von Magie?"
"Ja, sie ist eine Wissenschaft für sich und eine Möglichkeit, unliebsame Hindernisse aus dem Weg zu räumen."
"Aber das Praktizieren von Magie ist streng untersagt."
"Und dennoch trifft sich unser Zirkel seit Jahren, ohne jemals behelligt worden zu sein."
"Dann habt ihr bis jetzt großes Glück gehabt", meinte der Baron.
"Nein, Roger, das ist kein Glück, sondern die Anwendung von Magie, die uns vor unseren Verfolgern schützt."
"Das glaubst du wirklich?"
"Selbstverständlich, da wir bei unseren unregelmäßigen Treffen immer unsere Rituale abhalten."
"Und warum erzählst du mir das alles?"
"Nun, du könntest dich uns anschließen, Roger, und dein Leben würde sich bald in eine sehr positive Richtung entwickeln."
"Danke, mein Freund, aber die momentane Entwicklung reicht mir."
"Aber macht dir deine Frau denn nicht das Leben schwer?"
"Verheiratete Männer haben nicht immer etwas zu lachen. Das wirst du schon noch merken, sobald du mit Marguerite verheiratet bist. Möglicherweise wird meine Frau ruhiger, sobald sie die Verantwortung für ihre Nichte los ist. Ich hoffe nur, du stehst danach auch zu deinem Wort?"
"Das verspreche ich dir, Roger! Sobald es mir gelungen ist, Marguerites Liebe mit einem starken Zauber an mich zu binden, wird sie es kaum erwarten können, meine Frau zu werden. Und auch danach wird sie mir eine liebevolle Gemahlin sein, die mir jeden Wunsch von den Augen abliest. All das kann Magie bewirken!"
"Das muss ich erst sehen, bevor ich es glaube", erwiderte der Baron und lachte etwas.
"Mich wundert es nicht, dass du noch daran zweifelst", sagte Guignot lächelnd. "Für Menschen, die sich nie ernsthaft mit der Magie befasst haben, ist all dies schwer zu glauben. Doch ich versichere dir, dass unsere Anwendung von Zaubersprüchen und dazugehörigen Ritualen an geheimen Treffpunkten bereits mehrmals erfolgreich war und die gewünschten Ergebnisse einbrachte. Du solltest es probieren, vor allem im Falle deiner Gemahlin. Wäre dein Leben denn nicht um ein Vielfaches einfacher, wenn sie ihre herrischen und eifersüchtigen Charakterzüge ablegte?"
"Schon, aber vielleicht wäre die Lösung unserer Probleme, dass sie mir endlich den ersehnten Sohn schenkt. Sie sprach selbst immer wieder davon, wie sehr sie dies bedauert."
"Auch dafür gibt es ein Ritual", griff Guignot das Thema sofort wieder auf. "Wenn du es wünscht, könnte ich dieses Problem lösen. Das würde dich gewiss von der Wirksamkeit der Magie überzeugen, nicht wahr?"
"Falls du das tatsächlich schaffst, gestehe ich es ein", versicherte ihm der Baron, der ihn nun mit unverhohlenem Interesse anstarrte. "Schon lange habe ich meinen Wunsch nach einem Stammhalter aufgegeben, aber wenn du mir dazu verhelfen könntest... meine Dankbarkeit wäre unermesslich."
"Gut, ich werde dir diesen Wunsch erfüllen. Vielleicht wirst du dann in Erwägung ziehen, ein Mitglied des magischen Zirkels zu werden, dem ich angehöre."
"Schon möglich..."
"Fabelhaft! Du bekommst deinen Sohn und ich die Liebe deiner Nichte und ihre Hand dazu."
"Ihre Hand habe ich dir schon zugesichert und meine Frau wird sich dem nicht in den Weg stellen."
"Dann ist es also abgemacht?!", fragte Guignot gespannt.
Als der Baron ihm die Hand reichte, schlug er ein und schüttelte sie. Die beiden Männer grinsten sich verschwörerisch an.
"Wann gedenkst du, deine Rituale zu vollziehen?", erkundigte sich Roger dann.
"Wenn es soweit ist, sende ich dir eine kurze Nachricht", antwortete Rouven. "Es wäre auch von Vorteil, wenn du es einrichten könntest, dass deine Frau an dem Ritual teilnimmt."
"Wie? Ich denke, die Existenz eurer Bruderschaft sowie eure Treffpunkte und Rituale sollen geheim bleiben?"
"Natürlich, deshalb musst du ihr dieses Pulver verabreichen, sobald du meine Nachricht erhältst", erklärte Guignot, der sich in der Zwischenzeit erhoben und aus einem Regal ein kleines Briefchen gezogen hatte, welches er nun dem Baron reichte. "Diese Menge reicht aus, damit sie tief und fest schläft. Am besten schüttest du es ihr in ein Glas Wein oder mischt es in ihr Dessert. Sie wird es nicht merken, da das Pulver keinerlei Geschmack hat."
"Nun... das kriege ich schon hin", murmelte Roger, der das Briefchen an sich nahm und es voller Interesse betrachtete. Dann blickte er wieder zu seinem Freund. "Benötigst du wirklich meine Frau für das Ritual?"
"Wenn sie dir einen Sohn schenken soll, muss man das Ritual während einer feierlichen schwarzen Messe an ihr vollziehen", erklärte Rouven und nickte mit ernster Miene. Dann lächelte er erneut. "Dadurch sorge ich dafür, dass dir eine große Last von den Schultern genommen wird. Und danach vollziehe ich den Liebeszauber, der deine Nichte für immer an mich binden wird."
"Ich sehe dem Ganzen erwartungsvoll entgegen", gab der Baron zurück und erhob sich.
"Das Ergebnis wird dich sicher zufrieden stellen", behauptete Rouven. "Es wird mir eine Ehre sein, dich unserem magischen Zirkel danach als neues Mitglied vorzustellen."
Rouven nickte leicht und griff dann nach seinem Winterumhang.
"Wird Zeit, dass ich gehe. Hab noch etwas anderes vor", murmelte er, hüllte sich in seinen Umhang und nickte seinem Freund zu. "Bis bald."
***
Nachdem Marguerite gefrühstückt hatte und angekleidet war, setzte sie rasch einen Brief an Monsieur Cayot auf, in dem sie ihn um ein baldiges Treffen unter vier Augen bat. Nachdem der von ihr beauftragte Diener sich damit auf dem Weg zu dem Anwalt gemacht hatte, begab sich Marguerite hinunter in den großen Salon, in dem sich das Spinett befand. Sie ließ sich vor dem Instrument nieder, dachte an Aro und begann, ohne Noten und ohne jede Absicht einige Töne zu spielen, dabei nur dem Gefühl folgend.
Wenige Minuten später meldete ihr ein Diener, dass ein Conte di Volturi ihr seine Aufwartung zu machen wünsche. Die junge Frau war überrascht, bemerkte aber, dass ihr Herz beim Klang dieses Namens sofort schneller schlug.
"Ich lasse bitten!", sagte Marguerite und erhob sich von ihrer Sitzbank.
Als Aro wenige Minuten später den Raum betrat, fiel es ihr schwer, nicht auf ihn zuzueilen und ihm um den Hals zu fallen. Doch sie beherrschte sich und strahlte ihn an.
"Guten Morgen, Conte di Volturi", begrüßte sie ihn formell, aber dennoch freundlich, da der Diener anwesend war. "Es freut mich sehr, Euch zu sehen. Was verschafft mir die Ehre Eures Besuchs?"
"Nun, ich wollte mich nach dem Befinden Eurer Frau Tante erkundigen", behauptete Aro, der auf Marguerite zukam, sich verneigte, ihr die Hand küsste und ihr dann den in Seidenpapier gehüllten Strauß übergab.
"Wie nett, dass Ihr meiner Tante Blumen mitbringt", bedankte sich die Comtesse, als sie den Strauß entgegennahm.
"Oh, die Blumen sind für Euch, Marguerite", erwiderte Aro und lächelte breit. "Da ich nicht wusste, ob Eure Frau Tante den Duft von Blumen verträgt, hielt ich es für besser, ihr keine mitzubringen. Wie geht es der Baronesse?"
Die junge Frau warf ihrem Bräutigam einen warmen Blick zu und befreite den Strauß dann etwas von seiner Hülle, um zu sehen, welche Blumen er ihr zugedacht hatte.
"Schneerosen, wie schön!", rief sie erfreut aus. "Vielen Dank, Conte di Volturi."
Danach wandte sich Marguerite an den Diener: "Richte die Blumen in einer schönen Vase her und bring sie dann auf mein Zimmer."
"Sehr wohl, Comtesse", sagte der Angesprochene, nahm den Strauß entgegen und verneigte sich etwas. "Habt Ihr noch Wünsche?"
"Für meinen Gast und mich einen leichten Wein und etwas Obst", befahl Marguerite, die dann zu Aro sah und sich erkundigte: "Habt Ihr darüber hinaus noch Wünsche?"
"Nein danke, sehr freundlich", antwortete Aro und beobachtete amüsiert, wie der Diener eilig das Zimmer verließ. Vermutlich würde er nicht nur die Befehle seiner jungen Herrin weitergeben, sondern das Gesinde auch darüber informieren, dass Comtesse de Rochefort ganz allein einen Herrn empfangen hatte. Mit der Tratscherei und dem Ausführen der Befehle wäre die Dienerschaft dann erst mal eine Weile beschäftigt.
Kaum waren sie allein, kam Marguerite auf ihn zu, umschlang seinen Hals mit beiden Armen und küsste ihn. Er spürte ihre leidenschaftliche Sehnsucht nach ihm und erwiderte ihren Kuss, sie dabei mit beiden Armen umfassend und an seinen Leib drückend. Che sorpresa! [1] Dieses Mädchen war sogar imstande, längst vergessene Empfindungen aus seiner Jugend als sterblicher Jüngling in ihm hervorzurufen - sein alter Körper regte sich an einer bestimmten Stelle sehr lebhaft und war kaum zu kontrollieren. Doch es gelang ihm, sich zusammenzureißen. Sie würde bald seine Gefährtin sein und dann konnten sie beide der Leidenschaft ihren Lauf lassen. Aber noch war es nicht so weit!
Mit äußerster Selbstbeherrschung löste Aro sich aus den Armen Marguerites und lächelte entschuldigend.
"Verzeiht, Liebste, aber es ist viel zu gefährlich! Jeden Moment kann ein Bediensteter hereinkommen und uns in dieser höchst unschicklichen Pose überraschen."
"Ihr habt recht", gab Marguerite zu, die sich nur widerwillig aus seiner Umarmung löste. "Wir dürfen meinen Verwandten keinen Grund geben, unserer Verbindung Steine in den Weg zu legen. Es sei denn..."
Die Comtesse überlegte und lächelte, bevor sie fortfuhr: "Wir könnten ja behaupten, dass ich guter Hoffnung sei..."
"Obwohl mir dieser Gedanke gefällt, glaube ich kaum, dass man Euch dies abnehmen wird, Marguerite", meinte Aro amüsiert. "Wir kennen uns doch nur wenige Tage und in dieser kurzen Zeit kann man noch nicht feststellen, ob eine Frau ein Kind erwartet - mal ganz abgesehen davon, dass wir keine Gelegenheit hatten, uns in einer Weise anzunähern, die dafür erforderlich wäre."
"Wie nett Ihr dies mit Worten umschreiben könnt, Aro", entgegnete seine Verlobte kokett und lachte. "Kommt, setzen wir uns. Wir haben einiges zu besprechen und zum Glück sind wir endlich einmal ungestört."
"Darauf habe ich gehofft, Carissima, und ich warte immer noch auf eine Antwort."
"Eine Antwort? Auf welche Frage denn?"
"Ihr habt mir immer noch nicht gesagt, wie es Eurer Frau Tante geht, Marguerite."
Sie lachte und ließ sich auf einem bequemen Sofa nieder. Aro setzte sich neben sie und schaute sie erwartungsvoll an.
"Also, mio Amore, wie geht es der Baronesse de Lebrunne?", fragte er erneut.
"Es geht ihr gut, sie braucht nur viel Schlaf", erwiderte die junge Frau. "Um meine Tante braucht man sich nicht zu sorgen. Vielleicht ist dies auch eine gute Gelegenheit für uns, um heimlich zu heiraten, ehe sie sich wieder erholt hat."
"Das wäre schon möglich, wenn Ihr volljährig wärt. Doch jetzt bedürft Ihr immer noch der Zustimmung Eures Vormundes für eine Eheschließung, die auch anerkannt wird."
"Meine Tante wird dem niemals zustimmen", seufzte Marguerite.
"Nun, wenn Ihr die Erlaubnis dazu von einer Person erhaltet, die gesellschaftlich über Eurer Tante steht, sähe die Sache schon anders aus", meinte Aro.
"Mir würde es schon reichen, wenn man meiner Tante die Vormundschaft über mich entzieht und sie an den Nachfolger meines vorherigen Vormundes überträgt. Er hätte sicher nichts gegen meine Eheschließung mit einem Mann wie Euch, Aro."
"Oder eine der Majestäten würde Euch erlauben, einen Mann Eurer Wahl zu ehelichen."
"Die Majestäten kennen mich doch kaum. Warum sollten sie sich für mich und meine Angelegenheiten interessieren?"
"So viel ich hörte, habt Ihr längst das Interesse der Majestäten erregt, Marguerite. Das kann sowohl Fluch als auch Segen sein. Nutzt es zu Eurem Vorteil."
"Wie denn?"
"Das neue Jahr hat erst angefangen und Ihr solltet die Ereignisse auf Euch zukommen lassen."
In diesem Moment klopfte es leicht an die Tür und eine Bedienstete trug ein Tablett mit zwei Weingläsern, einer mit Weißwein gefüllten Karaffe sowie einer Schale mit Obst herein, das sie auf dem Tisch vor dem Sofa, an dem Marguerite mit ihrem Gast saß, abstellte. Verstohlen blickte das Dienstmädchen auf den unbekannten Mann, ehe es schweigend hinauseilte.
"Ich fürchte, Ihr seid derzeit das Hauptgesprächsthema in der Gesindeküche", klärte Marguerite ihren Verlobten auf. Dann goss sie ein Glas mit Weißwein voll und reichte es ihm.
"Danke, Liebes, aber ich trinke um diese Zeit noch keinen Wein", lehnte Aro ab.
"Dann vielleicht etwas Obst, Liebster?"
"Nein, ich bin nur gekommen, um Euch zu sehen, Marguerite."
Die Comtesse errötete und blickte einen Moment verlegen zu Boden, ehe sie ihre Augen wieder auf ihn richtete.
"Wenn ich Euch recht verstanden habe, Aro, wollt Ihr unsere Heirat also in die Hände des Schicksals legen, darauf hoffend, dass die Majestäten mir aus heiterem Himmel die Wahl meines zukünftigen Ehegatten überlassen?"
"Nun, ich könnte Euch auch entführen, aber das würde Eurem guten Ruf nur schaden", spottete Aro etwas und lachte, bevor er mit einem Finger auf das Tablett deutete. "Euer Dienstmädchen hat vergessen zu erwähnen, dass Ihr ein Schreiben erhieltet."
Marguerite sah auf die besagte Stelle, entdeckte einen versiegelten Brief, nahm ihn an sich und öffnete ihn. Rasch überflog sie die Zeilen, sah dann wieder zu Aro und meinte erstaunt: "Könnt Ihr hellsehen, Liebster? Dies ist eine Einladung Ihrer Majestät zu einer Dreikönigsfeier im Palast am 6. Januar. Man bittet mich um eine sofortige Antwort, ob ich daran teilnehmen möchte."
"Das war zu erwarten", gab Aro mit zufriedenem Lächeln zurück. "Ihr habt das Gefallen Ihrer Majestät erregt - vermutlich, weil Ihr nicht wie so viele andere um den König herumscharwenzelt seid."
"Ach, die Hofgesellschaft", seufzte Marguerite. "Mein Vater erzählte mir mal, dass bei Hofe eigene Regeln herrschen und man nur wenigen vertrauen könne. Da Intrigen mich nicht interessieren, hege ich keinerlei Interesse daran, am Hof zu leben, wo ich mir diese dämlichen Regeln aneignen müsste."
"Dafür seid Ihr auch viel zu offen - womöglich ebenfalls etwas, wovon sich viele angezogen fühlen."
"Meint Ihr also, ich sollte die Einladung der Königin annehmen?"
"Natürlich, es ist eine hohe Auszeichnung für eine Debütantin und besagt, dass die Königin Euch näher kennenlernen will."
"Hoffentlich bedeutet das nicht, dass sie mir danach eine Stellung bei Hofe anbietet. Oh, Aro, ich will doch nichts weiter als mit Euch zusammen zu sein. Und ich kann es kaum erwarten, Euch mein Landgut zu zeigen, sobald wir verheiratet sind."
"Das würde ich wirklich gern sehen, Liebste."
Sie küssten sich wieder innig, doch dann löste Aro seine Lippen plötzlich von Marguerites und sah zur Tür. Keine Sekunde zu früh, dann sie wurde aufgerissen und Baronesse de Lebrunne stand mit wütender Miene in der Schwelle, auf Aro und ihre Nichte starrend.
"Was geht hier vor?", empörte sie sich.
"Tante Adrienne", rief Marguerite überrascht aus und erhob sich. "Solltet Ihr nicht besser noch im Bett bleiben und Euch ausruhen?"
"Das könnte dir so passen!", schrie die Baronesse. "Meine Kammerzofe bekam zufällig mit, wie Arlette einen Strauß weißer Rosen auf dein Zimmer tragen wollte. Als sie das Mädchen zur Rede stellte, erfuhr sie, dass du ganz allein einen männlichen Besucher empfangen hast!"
"Nun ja, mir blieb kaum etwas anderes übrig, da Euer Gemahl nicht im Haus ist und Ihr krank seid", erklärte Marguerite in ruhigem Ton. "Außerdem zählt Conte di Volturi zu unserem Bekanntenkreis, so dass nichts dagegen sprach, ihn zu empfangen."
Aro war ebenfalls aufgestanden, schritt jetzt auf Adrienne zu, verneigte sich etwas und sagte: "Ich wollte mich nach Eurem Befinden erkundigen, Baronesse. Es tut mir sehr leid, wenn mein Erscheinen Zwist zwischen der Comtesse und Euch hervorruft. Bitte verzeiht mir."
"Euch trifft keine Schuld, Conte di Volturi", wandte sich Adrienne an den Gast. "Es war der Fehler meiner Nichte und nicht der Eure. Comtesse de Rochefort wusste ganz genau, wie unschicklich es in meinen Augen ist, wenn sie alleine Besucher empfängt."
"Ich versichere Euch, dass nichts Unschickliches zwischen der Comtesse und mir vorgefallen ist", behauptete Aro in ernstem Ton. "Ihr solltet Euch besser nicht aufregen, Baronesse. Daher erlaubt mir bitte, Euch zu dem Sofa zu geleiten. Die Comtesse ließ gerade etwas Wein auftragen und ich bin sicher, dass Euch einige Schlucke davon gut tun werden."
Obwohl ihr die Anwesenheit des italienischen Grafen nicht passte, nahm Adrienne dieses Angebot an und ließ sich auf das Sofa nieder, auf dem zuvor ihre Nichte mit dem Gast gesessen hatte. Marguerite indessen bot ihr das vollgeschenkte Glas Wein an, das sie entgegennahm, ohne ihre Nichte eines Blickes zu würdigen. Stattdessen wandte sie sich mit aufgesetztem Lächeln an Aro.
"Sehr freundlich von Euch, extra herzukommen, um Euch nach meinem Befinden zu erkundigen", sagte Adrienne höflich zu dem Gast.
"Eure gestrige Ohnmacht hat meine Brüder und mich sehr betroffen gemacht", log Aro in honigsüßem Ton, während Marguerite auf einem Sessel unweit des Sofas Platz nahm und das Schauspiel interessiert beobachtete. "Wie mir Eure Nichte versicherte, geht es Euch glücklicherweise jedoch wieder besser."
"Ach? Hat sie das? So, so...", murmelte Adrienne und warf Marguerite jetzt doch einen kurzen, giftigen Blick zu, ehe sie sich wieder dem Gast zuwandte. "Vermutlich hat mein Mann meine Nichte darüber informiert, bevor er das Haus verließ, um sich geschäftlichen Dingen zu widmen."
"Was fehlte Euch denn?"
"Meine Nerven sind etwas angegriffen und man hat mir ausgiebige Bettruhe verordnet."
"Wenn das so ist, solltet Ihr rasch wieder zu Bett gehen, Teuerste", tat Aro besorgt und erhob sich erneut. "Ich werde nach Eurer Kammerzofe schicken, damit..."
"Haltet ein!", schnitt Adrienne ihm in scharfem Ton das Wort ab. "Es geht mir gut und ich möchte gern noch eine Weile hier bleiben, um mich mit Euch zu unterhalten. Bitte setzt Euch wieder hin."
"Ganz wie Ihr wünscht, Baronesse. Allerdings bin ich besorgt, denn ich möchte nicht, dass Ihr wieder einen Schwächeanfall erleidet."
"Das werde ich gewiss nicht, denn wir sind hier ganz unter uns und es ist ruhig. Die gestrige Gesellschaft war ein wenig zu viel für mich, nachdem wir am Abend zuvor die halbe Nacht auf dem Silvesterball verbrachten. Mir fehlte Schlaf und den habe ich inzwischen nachgeholt. Es geht mir also wieder einigermaßen gut."
"Freut mich zu hören, Baronesse. Meine Brüder und ich hätten nicht beruhigt abreisen können, wenn es anders wäre. Doch nun steht einer baldigen Rückkehr in unsere Heimat nichts mehr im Wege."
"Was denn? Ihr wollt tatsächlich bald nach Italien fahren, obwohl sich Euer jüngerer Bruder mit Mademoiselle Lefevre verlobt hat?"
"Die beiden werden mit der Heirat nicht lange warten und danach reisen wir alle ab."
Adrienne machte ein Gesicht, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen, nahm einen Schluck aus dem Glas und meinte: "Die gestrige Verlobung Eures Bruders Caius mit Mademoiselle Lefevre kam allerdings sehr überraschend, nicht wahr?"
"Ja, das stimmt. Andererseits bemerkten Marcus und ich gleich, dass unser jüngerer Bruder großen Gefallen an Mademoiselle Lefevre fand, nachdem er sie kennenlernte. Bevor er gestern seine Verlobung mit ihr bekanntgab, gestand er uns, dass er sich ernsthaft in sie verliebt habe und sie zur Frau zu nehmen wünsche. Da Mademoiselle Lefevre keine Familie mehr hat und auch Madame de Colignon ihrem Glück nicht im Wege stehen möchte, ist dieser Wunsch allzu verständlich."
"Stört Euch denn nicht der gesellschaftliche Unterschied, Conte di Volturi? Niemand kennt die Eltern von Mademoiselle Lefevre, wer weiß, aus welcher Schicht sie stammt!"
"Caius liebt Louise und daher ist es ihm gleich, woher sie stammt", erklärte Aro in geduldigem Ton, als würde er zu einem trotzigen, kleinen Kind sprechen. "Außerdem kennt Louise selbst ihre Eltern nicht, sondern genoss eine gute Erziehung bei frommen Frauen. Sie ist eine vernünftige, gebildete, junge Dame, derer man sich nicht schämen muss. Daher ist es Marcus und mir ebenfalls gleich, woher sie kommt. Uns liegt nur das Glück von Louise und Caius am Herzen."
"Aber Mademoiselle Lefevre war Gesellschafterin bei Madame de Colignon. Was wird man in Eurer Heimat dazu sagen, wenn bekannt wird, dass Caius' Frau aus einer niedrigen Gesellschaftsschicht kommt?"
"Das interessiert bei uns in Volterra niemanden, Baronesse. Louise wird willkommen sein."
Die Mundwinkel Adriennes verzogen sich nach unten, als sie das hörte, und sie nahm erneut einen Schluck Wein.
"In Eurer Heimat scheint man sehr liberal zu sein", meinte sie dann in missbilligendem Ton. "Wie schön für Mademoiselle Lefevre. Bleibt mir nur noch, ihr und Eurem Bruder Caius viel Glück zu wünschen."
"Das werde ich den beiden gerne ausrichten, Baronesse", versprach Aro, erhob sich wieder und verneigte sich. "Leider muss ich jetzt gehen, da noch einiges zu tun ist. Freut mich jedenfalls, Euch wieder wohlauf zu sehen, Baronesse. Bestellt doch Eurem Gatten noch die besten Grüße von meinen Brüdern und mir. Ich empfehle mich. Au revoir."
Nachdem sich Aro vor Adrienne verneigt hatte, nickte diese ihm zu und widmete sich dann wieder ihrem Wein. Diesen kurzen Augenblick nutzte der schwarzhaarige Vampir, um Marguerite zuzuzwinkern, bevor er ging. Die Comtesse sah ihm lächelnd nach und vergaß, dass sich ihre Tante noch im Raum befand. Denn kaum waren Aros Schritte verhallt, keifte die Baronesse sie an: "Was gibt es da zu grinsen, Mademoiselle?! Es ist eine Schande! Es ist einfach eine Schande!"
Marguerite wandte sich stirnrunzelnd ihrer Tante zu.
"Was ist eine Schande?", fragte sie verwundert.
"Diese Verlobung von Conte Caius mit Mademoiselle Lefevre. Gesellschaftlich ist das höchst unangemessen. Er ist von Adel und sie nicht."
"Aber Ihr habt doch gehört, dass es weder Conte Caius noch seine Brüder stört. Außerdem ist Mademoiselle Lefevre eine anständige, junge Frau, die sich nie etwas zuschulden kommen ließ."
"Das spielt keine Rolle! Sie ist gesellschaftlich ein Nichts und Caius ist ein italienischer Graf! Bei aller Verliebtheit, das kann nicht gutgehen! Caius wird nochmal bereuen, dass er sie zur Frau nahm. Ich kann nur hoffen, er kommt vor einer Eheschließung zur Vernunft! Aber seine Brüder scheinen ihm das nicht ausreden zu wollen. Das wird niemals gut gehen! Niemals!"
"Warum echauffiert Ihr Euch so darüber, Tante? Es kann Euch im Grunde doch egal sein, wen Conte Caius heiratet!"
"Oh, er ist ein so feiner, junger Mann, weshalb ich nicht verstehe, wie die kleine Lefevre es angestellt hat, ihn für sich zu gewinnen. Sie ist doch ein unscheinbares Nichts... was findet er nur an diesem nichtssagenden Ding?!"
"Louise ist ein sehr liebenswerter Mensch", verteidigte Marguerite ihre Freundin. "Und Euch geht all dies im Grunde nichts an, Tante Adrienne!"
"Sei du nur ja still!", schrie die Baronesse sie an. "Mag sein, dass die kleine Lefevre ein freundliches Wesen hat, aber sie steht gesellschaftlich weit unter Caius; und es spricht für ihn, dass er sich von Äußerlichkeiten nicht blenden lässt, auch wenn er mit dieser Eheschließung meiner Meinung nach einen großen Fehler begeht! Doch immerhin ist Caius einer der wenigen, der nicht auf dich hereingefallen ist, so sehr du dich auch herausgeputzt hast. Dir ist es nicht gelungen, das Herz von Caius zu gewinnen! Irgendwie beruhigt es mich ja, dass nicht jedermann auf dein hübsches Gesicht und deine Jugend hereinfällt! Selbst Conte Aro wird nach Italien zurückkehren, obwohl er dir die ganze Zeit die Cour machte und auch jetzt nur hier war, um dich zu sehen."
"Aber, Tante Adrienne, er wollte sich lediglich nach Eurem Befinden erkundigen."
"Halte mich nicht für einfältig, Marguerite! Conte Aro scharwenzelte um dich herum und dir hat das gefallen. Du bist offensichtlich verliebt in ihn. Aber er meint es nicht ernst mit dir, Kind!"
"Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht!", behauptete die Comtesse, die sich innerlich unbehaglich zu fühlen begann.
"Natürlich streitest du es ab", höhnte die Baronesse und lachte verächtlich. "Sieh den Realitäten ins Gesicht, Kind: Du bist von meinem Wohlwollen abhängig, egal, wie viele Herren dir den Hof machen. Doch dein Onkel und ich sind nicht unbarmherzig. Wir werden dir schon zur gegebenen Zeit einen passenden Ehemann suchen, der seriös ist. Schlag dir also diesen Aro aus dem Kopf, selbst wenn er offenbar sehr von dir eingenommen ist. Du hast ja gehört, dass er bald nach Italien zurückfährt - ohne dich, mein Kind!"
"Mir war schon klar, dass Euch eine Verbindung mit Conte Aro nicht recht sein würde", erklärte Marguerite in ruhigem Ton. "Dennoch empfand ich seine Liebenswürdigkeit als äußerst wohltuend."
"Schön, davon wirst du den Rest deines Lebens in Erinnerungen schwelgen können", gab Adrienne spöttisch zurück. "Im Übrigen: Wo ist dein Onkel? Man sagte mir, er sei schon sehr früh aus dem Haus gegangen."
"Der Aufenthalt des Barons entzieht sich leider meiner Kenntnis, Tante, denn ich schlief noch, als er das Haus verließ."
Adrienne schnaubte ärgerlich und entdeckte plötzlich, dass Marguerite ein geöffnetes Schreiben in den Händen hielt.
"Was ist das für ein Brief?", wollte sie von ihrer Nichte wissen.
"Es ist eine Einladung aus dem Palast", erklärte Marguerite. "Darin steht, dass Ihre Majestät sich sehr freuen würde, wenn ich am 6. Januar an der Dreikönigsfeier im Palast teilnehme. Man erwartet meine schriftliche Antwort umgehend."
Adrienne zog ihre Augenbrauen zusammen, was ihr ein bedrohliches Aussehen gab.
"Man hat dir mit dieser Einladung eine große Ehre erwiesen, mein Kind. Allerdings frage ich mich warum."
"Vielleicht habe ich Eindruck auf die Majestäten gemacht", sinnierte Marguerite. "Ihr habt gewiss nichts dagegen, dass ich die Einladung annehme, oder?"
"Natürlich gehen wir hin!", gab Adrienne unwirsch zurück. "Das steht außer Frage."
"Verzeiht mir, Tante, aber die Einladung war an mich allein gerichtet. Das steht ausdrücklich in dem Schreiben."
"Was?!", entfuhr es der Baronesse. "Zeig es mir!"
Sie riss Marguerite den Brief beinahe aus der Hand und überflog ihn rasch.
"Welch ein Affront!", entkam es danach ihren Lippen. "Das ist ungeheuerlich! Wie kann die Königin es wagen, mich derart zu brüskieren?!"
"Ihrer Majestät steht es frei, ihre Gäste nach Wunsch auszuwählen, Tante."
"Es gehört sich nicht, dass ein minderjähriges Mädchen ohne Vormund ausgeht", fuhr Adrienne ärgerlich fort und funkelte ihre Nichte voller Wut an. "Wenn die Königin mich nicht eingeladen hat, kannst du demzufolge ihrer Einladung auch nicht folgen. Schreib das ruhig in deine Absage an den Palast mit hinein, damit Ihre Majestät erkennt, dass sie nicht einfach die gesellschaftlichen Regeln ändern kann, wie es ihr passt!"
"Aber, Tante, ich kann diese Einladung doch nicht abschlagen!"
"Ohne mich oder deinen Onkel gehst du nirgendwo hin! Haben wir uns verstanden?!"
"Natürlich! Bin mal gespannt, ob Ihre Majestät dies einfach so hinnehmen wird, wenn ich ihr Eure Begründung für mein Ausgehverbot mitteile!"
"Bildest du dir etwa ein, dass dies die Königin interessiert? Für wen hältst du dich?"
"Für die Comtesse de Rochefort."
"Ja, genau. Eine kleine Landadlige, die noch nie bei Hofe war. Die Königin wird dich rasch vergessen haben, glaub mir!"
Adrienne sog hörbar die Luft ein und hatte Mühe, sich zu beherrschen. Die Kränkung ihrer Majestät spürte sie sehr deutlich, sah aber nicht, was sie dagegen tun könnte. Am liebsten hätte sie jemandem ihr Herz ausgeschüttet, aber ihr Gemahl war leider nicht zu Hause. Doch nichts sprach dagegen, dass sie heimlich Rouven aufsuchte, um ihm ihr Herz auszuschütten und sich von ihm trösten zu lassen...
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[1] che sorpresa! = Was für eine Überraschung!
Kapitel 32
Jeder Tag hat seine eigenen Überraschungen.
~ Anonymus ~
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Adrienne erhob sich vom Sofa, im Begriff stehend, den Salon zu verlassen, als es erneut klopfte und kurz danach ein Bediensteter mit einem Tablett in der Hand eintrat, auf dem ein Schreiben lag.
"Was gibt es?!", fragte die Baronesse in herrischem Ton.
"Verzeiht, aber ich soll dies Schreiben an Comtesse de Rochefort persönlich überbringen", entschuldigte sich der Diener demütig und schaute danach zu Marguerite.
"Heute scheint ja alle Welt deine Aufmerksamkeit zu verlangen", spottete Adrienne mit einem Seitenblick auf ihre Nichte. Dann nahm sie kurzerhand den Brief vom Tablett, öffnete ihn und überflog ihn rasch. Ärgerlich wandte sie sich wieder ihrer Nichte zu: "Kardinal Mazarin bittet dich um ein Gespräch unter vier Augen. Kannst du mir erklären, was das zu bedeuten hat?!"
"Nun, das werde ich gewiss erfahren, sobald ich bei ihm bin", antwortete Marguerite kühl. Sie wunderte sich zwar etwas über diese Nachricht von Richelieus Nachfolger, spürte zugleich jedoch die Hoffnung in sich aufkeimen, dass dieses Gesprächsangebot vielleicht etwas mit ihrem Ersuchen zu tun haben könnte, ihrer Tante die Vormundschaft über sie zu entziehen.
"Außerdem steht draußen vor der Eingangstür eine Kutsche bereit, um die Comtesse zu Seiner Eminenz zu bringen", mischte sich der Diener wieder ein, dessen Anwesenheit Adrienne für einen Moment vergessen hatte.
"Was?!", entfuhr es der Baronesse und sie starrte den Dienstboten mit aufgerissenen Augen an.
"Oh ja, und einige Gardisten des Kardinals sind als Begleitpersonen mitgekommen", fuhr der Diener fort.
"Seine Eminenz verliert wahrlich keine Zeit", meinte Adrienne verdrießlich. "Also schön, die Herren werden sich gedulden müssen, bis ich mir etwas anderes angezogen habe."
"Seine Eminenz erwartet sicherlich, dass ich seiner Bitte umgehend Folge leiste", wandte Marguerite ein. "Wenn wir ihn lange warten lassen, wird er womöglich verärgert sein."
Adrienne sah ihre Nichte nachdenklich an, dann nickte sie.
"Vielleicht hast du recht, Kind. Wir sollten sofort aufbrechen", erwiderte die Baronesse und sagte dann zu dem Diener. "Man soll unsere Winterkleidung für uns bereithalten. Wir kommen gleich."
Der Bedienstete eilte davon, um die Befehle Adriennes auszurichten. Wenig später traten Marguerite und ihre Tante, in ihre dicken Umhänge gehüllt, aus dem Haus. Die junge Frau betrachtete sich neugierig den eleganten Wagen, den Mazarin geschickt hatte. Ein Mann in dunkelroter Livree hatte bereits die Treppe des Einstiegs aufgeklappt und hielt die Tür auf. Marguerite stieg beherzt ein, doch als ihre Tante ihr folgen wollte, stellte sich der Livree-Träger vor die Kutschentür.
"Was soll das?!", keifte die Baronesse den Mann ein.
"Entschuldigt bitte, Baronesse de Lebrunne", erwiderte er. "Doch Seine Eminenz wünscht, mit der Comtesse de Rochefort unter vier Augen zu sprechen."
"Meine Nichte steht unter meiner Vormundschaft und ich erlaube nicht, dass sie allein zu Seiner Eminenz fährt!"
"Seiner Eminenz ist bekannt, dass Comtesse de Rochefort Euer Mündel ist. Deshalb darf ich Euch in seinem Namen versichern, dass alles getan wird, um sie sicher zu ihm und wieder zurück in ihr Stadthaus zu geleiten. Seht selbst, die Kutsche wird von Männern der Leibgarde Seiner Eminenz begleitet. Ihr könnt also unbesorgt sein, Baronesse."
"Entweder begleite ich meine Nichte oder sie muss sofort wieder aus der Kutsche steigen!"
"Madame, ich rate Euch dringend, Euch nicht noch mehr Feinde zu schaffen", sagte der livrierte Mann in ruhigem, gedämpftem Ton.
"Noch mehr Feinde? Was wollt Ihr mir damit sagen?", fragte Adrienne mit gerunzelter Stirn, obwohl sie natürlich ahnte, worauf er anspielte. Die Königin hatte nichts vergessen.
"Seine Eminenz hat nichts gegen Euch persönlich", fuhr ihr Gegenüber fort. "Dennoch muss ich Euch darauf hinweisen, dass man Euren Mann und Euch auf dem Hofball an Silvester zwar um Eurer Nichte willen geduldet hat, Ihr ansonsten jedoch bei Hofe eine >>Persona non grata<< [1] seid und Euch dort möglichst nicht sehen lassen solltet."
"Der Grund dafür liegt in einem Dienst, den ich vor vielen Jahren dem Vorgänger Seiner Eminenz erwies", murrte Adrienne. "Es ist nicht meine alleinige Schuld, dass es fehlschlug."
"Mag sein, davon ist mir nichts bekannt", gab der livrierte Mann in ruhigem Ton zurück. "Allerdings scheint der Hauptgrund in einer früheren Handlung Eures Gemahls zu liegen und hat weniger mit Euch zu tun, Baronesse. Doch Euer Bruder, der Comte de Rochefort, war ein verdienter Offizier Frankreichs und seine Tochter ist darum bei Hofe willkommen. Darum lasst mich bitte Eure Nichte zu Seiner Eminenz bringen."
"Könnt Ihr mir wenigstens den Anlass hierzu verraten?!"
"Seine Eminenz hegt den Wunsch, der Comtesse de Rochefort sein aufrichtiges Beileid wegen des Todes ihres Vaters persönlich auszusprechen und mit ihr ein Gespräch über einige Dinge, die damit zu tun haben, zu führen."
"Ist es dazu wirklich notwendig, dass meine Nichte zu ihm fährt? Kardinal Mazarin kann ihr seine Kondolenz doch bei anderer Gelegenheit aussprechen."
"Seine Eminenz hält es für notwendig!", erklärte der livrierte Mann nun in festem Ton, verneigte sich leicht vor Adrienne und sagte: "Seid versichert, dass ich Eure Nichte wieder wohlbehalten zu Euch zurückbringen werde. Au revoir, Madame."
Danach stieg der Mann ebenfalls in die Kutsche, schlug die Tür zu und rief: "Wir können los!"
Gleich darauf fuhr der Wagen an, begleitet von Männern, gekleidet in die Uniform der roten Garde, der Leibwache, die Kardinal Richelieu einst um sich geschart hatte. Adrienne sah ihnen nach und erinnerte sich mit Bitterkeit daran, dass ihr Bruder einst der Hauptmann dieser Truppe war und der Nachfolger Richelieus ihr dennoch den Zutritt zu seinem Haus verweigerte. Stattdessen bestellte er Marguerite zu sich, das konnte nichts Gutes bedeuten. Sie war sich sicher, dass die Königin hinter all dem steckte und nun mit Hilfe von Mazarin eine Möglichkeit suchte, sich an ihr, der Baronesse de Lebrunne, für die frühere Spionagetätigkeit im Auftrag Richelieus zu rächen. Es war ungerecht, so ungerecht!
Sobald die Kutsche ihren Blicken entschwunden war, begann Adrienne, äußerst aufgebracht, ihre Schritte zum Hause von Guignot zu lenken. Sie musste mit irgendjemandem über das Vorgefallene sprechen, sonst platzte sie...
***
Baron de Lebrunne suchte nach dem Gespräch mit Guignot mal wieder die kleine Hure auf, die er gleich nach seiner Ankunft in Paris kennengelernt hatte und die ihn für einige Zeit seine zänkische Frau vergessen ließ. Seit Adrienne die Vormundschaft über ihre Nichte innehatte, ließ sie immer mehr erkennen, dass sie sich wieder als Tochter des alten Comte de Rochefort fühlte, die das Erbe der Familie für sich selbst beanspruchte, obwohl das nach all den Jahren lächerlich war. Die legitime Erbin des Familienbesitzes und -vermögens war Marguerite, die einzige Tochter seines Schwagers. Warum nur konnte Adrienne sich damit nicht abfinden? Doch ihm zeigte das Verhalten seiner Frau deutlich, wie sehr sie sich innerlich schon von ihm entfernt hatte. Zwar war ihm bei der Heirat mit Adrienne bewusst gewesen, welch eine stolze Person er zur Gattin nahm, aber dass ihr Hochmut und ihre Habgier soweit gingen, dass sie vergaß, was sie ihm und ihrer eigenen Familie schuldete, hätte er nie für möglich gehalten. Wie dem auch sei, bald wäre er sie sicherlich für immer los.
Roger dachte an das Gespräch mit Rouven zurück und schüttelte lächelnd den Kopf. Natürlich hielt er das, was sein Freund ihm über Magie und deren Wirkungen erzählt hatte, für blanken Unsinn. Aber warum mit ihm darüber einen Disput führen? Sollte Rouven doch ruhig sein Ritual mit Adrienne durchführen. Wahrscheinlich kam sie dabei ohnehin um, wie es so vielen erging, die an Schwarzen Messen teilnahmen. Er hatte schon einiges gehört und wusste, dass die Spinner, die sich selbst als Magier ausgaben, ohne wirklich etwas davon zu verstehen, Substanzen verwendeten, die vermeintlich bestimmte Wirkungen besaßen, in Wahrheit jedoch giftig waren, so dass die meisten Teilnehmer eines magischen Rituals dabei unfreiwillig ihr Leben verloren. Wenn er Glück hatte, würde es Adrienne auch so ergehen und er wäre sie dann endlich los und wieder frei... ein Gedanke, der ihm nicht unwillkommen war. Immerhin gab es ja schon eine junge Frau, die er dann heiraten könnte und die ihm vielleicht auch Kinder schenken würde. Ärgerlich war nur, dass seine Nichte offensichtlich ein Faible für diesen Aro di Volturi besaß. Die Finte, wie dieser aalglatte Italiener ihm beim Tanzen Marguerite abspenstig gemacht hatte, war recht bemerkenswert gewesen und wäre er selbst nicht dermaßen versessen darauf, die Nichte seiner Frau zu ehelichen, hätte er darüber vermutlich gelacht. So jedoch stellte Aro di Volturi eine ernsthafte Konkurrenz für ihn dar.
Es war ein Glücksfall, dass seine Frau sich bislang gegen eine Eheschließung Marguerites sträubte. Doch das junge Mädchen war eigensinnig und widerspenstig, so dass sie sicherlich in Paris eine Dummheit begehen könnte, wenn man sie nicht an der kurzen Leine hielt. Deshalb wäre es das kleinere Übel gewesen, wenn Rouven sie verführt und geheiratet hätte. Doch sein Freund war dermaßen in Marguerite vergafft, dass er darüber hinaus all seine Verführungskünste vergessen zu haben schien und sich so schüchtern wie ein verliebter Narr benahm, anstatt sich um die Kleine zu bemühen. Rouven war deshalb nichts anderes eingefallen, als mit Hilfe eines magischen Rituals die Liebe seiner Nichte für sich zu gewinnen. Welch lächerliche Vorstellung!
Erst schüttelte Lebrunne bei dieser Vorstellung den Kopf, dann schlich sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht. Zwar war ihm nicht ganz klar, warum Rouven für dieses Ritual der Anwesenheit seiner Frau bedurfte, aber wenn er sie ihm dadurch vom Hals schaffte, sollte es ihm recht sein - selbst wenn die Wirkung dieses angeblichen Zaubers nutzlos blieb, wovon Lebrunne völlig überzeugt war. Doch obwohl er Personen, die heimlich einem magischen Zirkel angehörten, für Spinner hielt, fand er sie auch irgendwie bedrohlich und würde deshalb einen Tag nach dem durchgeführten Ritual dafür sorgen, dass man den verbotenen Umtrieben seines Freundes ein Ende bereitete...
In solcher Art Gedanken verloren schlenderte der Baron die Straßen auf dem Weg nach Hause entlang, als er seinen Augen nicht trauen mochte. Die Frau in dem Winterumhang, die ihm rasch entgegenkam, war doch seine bessere Hälfte. Woher wusste sie...?
"Adrienne!", entfuhr es ihm, als sie beinahe mit ihm zusammenstieß.
Erschrocken starrte sie zu ihm auf, schien ihn jetzt erst richtig wahrzunehmen und meinte erstaunt: "Roger, wo kommst du denn her?"
"War bei einem Freund, wie ich es den Dienstboten sagte. Haben sie es dir nicht erzählt?"
"Doch, doch... aber ich... nun ja, warst du bei Rouven?"
"Richtig! Aber verrate mir mal, was du hier draußen treibst, obwohl man dir Bettruhe verordnet hat?!"
"Oh, ich hielt es nicht mehr im Bett aus, nachdem mir meine Kammerzofe meldete, dass meine vermaledeite Nichte allein einen männlichen Besucher empfing!", begann Adrienne in empörtem Ton zu erzählen.
"Wie bitte?"
"Ja, du hast richtig gehört! Das ist doch nicht zu fassen!"
"Na ja, so schlimm finde ich es auch nicht. Immerhin hat Marguerite nach dem Tode ihres Vaters auch alleine Besucher empfangen müssen. Sie hat sich gewiss nichts dabei gedacht."
"Dieser kleine Bastard weiß ganz genau, wie sehr ich es missbillige - und dennoch tut sie es!"
"Nun, nun, du warst immerhin krank und sie wollte dich vielleicht nicht damit behelligen."
"Warum nimmst du das kleine Biest in Schutz, Roger?!"
"Das tue ich doch gar nicht. Ich führe lediglich vernünftige Gründe für Marguerites Verhalten ins Feld."
"Das würdest du lassen, wenn du wüsstest, dass es sich bei dem Besucher um Conte Aro di Volturi handelte."
"Donnerwetter! Der Kerl verliert tatsächlich keine Zeit!", entfuhr es Lebrunne und er musste wider Willen anerkennend grinsen.
"Hast du den Verstand verloren?!", fuhr seine Frau ihn an. "Findest du das Ganze am Ende noch amüsant?!"
"Irgendwie schon, obwohl mir der Umgang deiner Nichte mit den italienischen Adligen ein Dorn im Auge ist. Was wollte er?"
"Ich nehme an, dass er den Wunsch hegte, Marguerite wiederzusehen. Aber natürlich behauptete er mir gegenüber, dass er gekommen sei, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen."
"Jedenfalls ist er äußerst gewandt in gesellschaftlichen Konventionen, selbst wenn seine Absichten andere sind als er vorgibt. Wirklich unglaublich dreist!"
"Aber die Höhe ist, dass..."
"Komm, Adrienne, lass uns zusammen heimgehen. Dort kannst du mir alles ausführlich erzählen, ohne dass jemand Außenstehendes etwas mitkriegt."
"Die Dienerschaft zerreißt sich bestimmt längst das Maul darüber."
"Gesinde spricht oft, aber es ist unwichtig! Doch hier draußen braucht nicht jeder alles zu hören!"
"Du hast recht, Roger, lass uns heimgehen!"
Zu Hause angekommen, zog sich das Ehepaar sofort in den kleinen Salon zurück, nicht ohne dass der Baron vorher Wein bestellt hatte. Nachdem ein Diener das Gewünschte gebracht hatte und sie allein waren, berichtete Adrienne aufgeregt, dass die Königin eine Einladung zum Dreikönigsfest geschickt habe, die nur für Marguerite galt, und dass darüber hinaus eine Kutsche mit Rotgardisten vor der Tür ihres Hauses erschien, um ihre Nichte abzuholen, weil Kardinal Mazarin den Wunsch hege, der Comtesse de Rochefort persönlich seine Kondolenz unter vier Augen auszusprechen und noch Anderweitiges mit ihr bereden wolle. Dass sie ihre Nichte zu ihm begleite, habe man jedoch ausdrücklich untersagt.
"Wirklich sehr merkwürdig", meinte Roger, nachdem seine Frau die letzte Begebenheit erzählt hatte. "Was sollte Mazarin mit diesem Kind zu besprechen haben?"
"Genau das Gleiche habe ich mich auch gefragt", bestätigte Adrienne und nickte bekräftigend dazu. "Glaubst du, es hat etwas mit meiner Vormundschaft zu tun?"
"Wie kommst du denn darauf?", wunderte sich ihr Mann.
"Mazarins Verhalten mir gegenüber lässt auf Respektlosigkeit schließen, denn immerhin ist Marguerite mein Mündel und dennoch versagte man mir, zu bestimmen, ob sie die Einladung zu ihm annehmen darf oder nicht. Der Bedienstete des Kardinals gab mir sehr deutlich zu verstehen, dass es besser für mich sei, mir nicht die Feindschaft Seiner Eminenz zuzuziehen, falls ich meiner Nichte nicht erlaube, seiner Bitte Folge zu leisten."
"Wirklich ein starkes Stück - und höchst ungewöhnlich!"
"Denkst du nicht auch, dass man mir die Vormundschaft über meine Nichte entziehen will?"
"Wer hätte denn Interesse daran... wer, außer Marguerite?"
Der Baron und seine Frau tauschten einen intensiven Blick miteinander aus.
"Und woher sollte Seine Eminenz das wissen?", fragte Adrienne. "Ich habe darauf geachtet, dass kein Brief von ihr das Schloss verließ."
"Deine Nichte, meine Liebe, war für einige Tage bei Madame de Colignon", erinnerte Roger sie. "Von dort konnte sie einen Brief nach Paris schicken, ohne dass wir das mitbekamen. Hältst du das wirklich für so abwegig?"
"Eingedenk ihres unverschämten Wesens wäre es schon möglich, dass sie direkt eine Nachricht an Mazarin schreibt. Immerhin ist er der Nachfolger ihres früheren Vormundes und nimmt womöglich sogar ihre Beschwerden über mich ernst", meinte die Baronesse nachdenklich. "Aber ob Madame de Colignon das zugelassen hätte? Sie scheint mir doch großen Wert auf Anstand zu legen... wenn man mal davon absieht, dass sie sich in ihrem Alter noch den Hof machen lässt."
"Glaubst du tatsächlich, dass unsere gutmütige Nachbarin die Post deiner Nichte kontrolliert?"
"Nein, gewiss nicht..."
"Siehst du, wie deine Nichte es verstand, dich auszutricksen. Du hast sie ziemlich unterschätzt, Adrienne."
"Oh, dieses unverschämte Biest!"
Die Baronesse sah ihren Gemahl nach diesen Worten mit einem Ausdruck von Empörung und Verzweiflung an.
"Was soll ich nur tun, falls man mir tatsächlich die Vormundschaft über Marguerite entzieht, Roger?"
"Beruhige dich, ma Cherie, so schnell geht das nicht. Mazarin kann nicht machen, was er will. Um eine Vormundschaft über eine junge Adlige aufzuheben, bedarf es noch der Zustimmung des Königs. Warum sollte er diese geben? Du warst vorsichtig genug, kein Geld von Marguerites zukünftigem Erbe zu verschwenden."
"Du glaubst also nicht, dass man mir die Vormundschaft entzieht?"
"Erstens weiß du gar nicht, ob es bei dem Gespräch zwischen deiner Nichte und Mazarin darum geht, und zweitens kannst du ohnehin nichts daran ändern, falls es doch geschieht, weil der König aus unerfindlichen Gründen seinen Segen dazu gibt. Drittens kommt als anderer Vormund nur Mazarin in Frage und mit diesem Mann wird man vernünftig sprechen können."
"Wenn er auf Marguerite hört, dann ist dies ausgeschlossen!"
"Mazarin gilt als vernünftiger, besonnener Mann und wird vielleicht für die Klagen deiner Nichte durchaus ein offenes Ohr haben und vermutlich Verständnis zeigen, doch er weiß schließlich auch, dass junge Mädchen meistens unvernünftig sind und viele Dinge anders wahrnehmen als Erwachsene. Glaub mir, ich werde ihn schon davon überzeugen, dass Marguerite unbedingt verheiratet werden sollte."
"Auf keinen Fall!", widersprach Adrienne ihm heftig.
"Nanu? Ich denke, du warst damit einverstanden, dass wir sie mit Rouven vermählen?"
"Wie? Oh ja, natürlich... oh, mein Lieber, du hast sicherlich recht. Wie dumm von mir, nicht mehr daran zu denken..."
"Du bedarfst noch dringend der Bettruhe, Adrienne. Daher wäre es am besten, wenn du dich wieder hinlegst und nicht weiter über deine Nichte und ihre kleinen Intrigen nachdenkst. Ich kümmere mich zu gegebener Zeit schon um alles."
"Danke, Roger, ich bin so froh, dass du wieder zu Hause bist."
Sie stand auf und er erhob sich ebenfalls, um sie in ihr Zimmer zu geleiten. Vor der Tür gab sie ihm noch einen leichten Kuss auf die Wange und betrat dann ihr Gemach, wo sie sogleich nach ihrer Kammerzofe klingelte. Roger indessen ging wieder in den kleinen Salon zurück, um in Ruhe seinen Wein zu trinken und nachzudenken. Verdammt! Es passte sehr gut zu dem Temperament Marguerites, sich bei Schwierigkeiten an den Nachfolger Richelieus zu wenden, der ebenfalls ein mächtiger Mann war und ihr beizustehen vermochte, sogar gegen ihre Verwandten. Als rechte Hand des Königs und mit dem Wohlwollen der Königin bedacht, könnte er tatsächlich seinen Plänen einen Strich durch die Rechnung machen...
***
Die Fahrt zum Hause von Kardinal Mazarin verlief schweigend. Marguerite hatte nur kurz einen Blick auf ihren Begleiter geworfen, der ihr mit unbeweglichem Gesicht gegenübersaß und nicht mit ihr sprach, danach schaute sie nachdenklich aus dem Fenster. Nur am Rande hatte sie mitbekommen, dass der Livree-Träger ihrer Tante den Einstieg in die Kutsche verwehrte und falls sie Schwierigkeiten mache, sie sich Feinde zuziehen könnte. In gedämpftem Ton fiel dabei der Ausdruck >>Persona non grata<< , was im Kopf der Comtesse sofort viele Fragen aufwarf. Wer war unerwünscht und warum? Handelte es sich um ihre Tante, ihren Onkel oder um sie selbst? Nun, das Letztere war unwahrscheinlich, denn schließlich saß sie hier in der Kutsche, um zu Kardinal Mazarin gebracht zu werden, und nicht ihre Tante. Welche Geheimnisse verbarg die Baronesse wohl vor ihr? Vielleicht wusste Madame de Colignon darüber etwas, sie würde sie mal fragen.
Endlich hielt die Kutsche vor einem eleganten, großen Gebäude und als Marguerite ausstieg, sah sie sich neugierig um. Sie befanden sich in einem sauberen Viertel unweit des Palastes, den man vom Hause aus gut sehen konnte. Sicherlich praktisch für den neuen Ersten Minister.
"Comtesse, wenn Ihr mir bitte folgen würdet", wandte sich in diesem Augenblick der Livree-Träger an sie und schritt voraus, klopfte an den Eingang und wurde sogleich eingelassen. Marguerite blieb dicht hinter ihm, aufgeregt und voller Hoffnung im Herzen, bald aus der Vormundschaft ihrer Tante entlassen zu werden. Sie gingen durch einen langen Korridor, dann eine Treppe hoch und nochmals einen langen Flur entlang, bis der livrierte Mann vor einer Tür stehen blieb, einer Wache, die daneben stand, etwas zuraunte und sich dann mit einer leichten Verneigung wieder an Marguerite wandte: "Seine Eminenz erwartet Euch, Comtesse."
Der Wachmann öffnete nach diesen Worten die Tür und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie eintreten sollte. Rasch betrat sie den Raum, hörte, wie man hinter ihr die Tür schloss, und sah vor sich einen großen Schreibtisch, hinter dem ein gut aussehender, junger Mann im Gewand eines Kardinals saß und sie freundlich anblickte. Sie hatte ihn während des Silvesterballs nur am Rande wahrgenommen, fand sein Äußeres aber recht einnehmend.
"Es freut mich, dass Ihr meiner Einladung umgehend gefolgt seid, Comtesse de Rochefort", begrüßte er sie in einem warmen Ton. "Bitte, kommt näher und setzt Euch."
Mazarin deutete auf einen bequemen Sessel vor seinem Schreibtisch. Marguerite setzte sich und sah ihn gespannt an.
"Ihr ahnt gewiss, weshalb ich Euch zu mir bitten ließ, nicht wahr?", fragte er.
"Nun, vielleicht... ist es wegen meiner Eingabe bezüglich der Vormundschaft meiner Tante?"
"Zum Teil, aber auch wegen der Bitte meines Vorgängers, ein Auge auf Euch zu haben."
"Wollt Ihr damit sagen, Kardinal Richelieu hätte sich um mich Gedanken gemacht? Er kannte mich doch kaum."
"Euer Vater war ein loyaler Offizier Seiner verstorbenen Eminenz und später auch ein guter Freund. Nicht ohne Grund hat er meinen Vorgänger zu Eurem Vormund erklärt. Natürlich hoffte er, dass Ihr noch zu Lebzeiten Kardinal Richelieus heiratet. Die jetzige Situation war niemals ernsthaft erwogen worden, wie mir mein Mentor einmal unter vier Augen verriet."
"Ich bitte Euch! Euer Vorgänger war ein vielbeschäftigter Mann, der gewiss kaum Zeit hatte, sich um mich Gedanken zu machen."
"Es ist wahr, dass er viel zu tun hatte - aber dennoch nahm er alle seine Pflichten ernst. Glaubt mir, Comtesse, er hatte stets ein Auge auf Euch, selbst wenn Ihr nichts davon bemerkt habt. Dass Ihr wegen der Erkrankung Eures Vaters nicht früher bei Hofe eingeführt werden konntet, hat er sehr bedauert, denn es lag ihm viel daran, Euch persönlich kennenzulernen."
Marguerite runzelte argwöhnisch die Stirn.
"Warum?", fragte sie dann.
"Mein Mentor freute sich immer über neue Gesichter bei Hofe", antwortete Mazarin ausweichend und die Comtesse hielt es für besser, nicht weiter nachzuhaken. Die Pläne Richelieus spielten jetzt ohnehin keine Rolle mehr und sie würde nicht mehr lange in Frankreich bleiben, sobald sie Aro geheiratet hatte, da sie mit ihm in seine Heimat zu gehen beabsichtigte.
"Wie hat man über mein Gesuch, meiner Tante die Vormundschaft zu entheben, entschieden?", erkundigte sich Marguerite, um das Gespräch, das heikel werden konnte, in eine andere Richtung zu lenken, denn schließlich interessierten sie die Hofintrigen nicht.
"Bedauerlicherweise konnte man Eurer Tante nicht nachweisen, dass sie mit Eurem Geld oder Besitz leichtsinnig umgeht. Die Ausgaben bewegen sich in einem normalen Rahmen", erklärte Mazarin. "Ich fürchte, Ihr müsst die Baronesse de Lebrunne als Vormund ertragen, bis Ihr volljährig seid."
"Nein! Das ist unmöglich!", entfuhr es Marguerite und sie starrte den jungen Kardinal entsetzt an. "Diese Frau macht mir in meinem eigenen Heim das Leben schwer, wo sie kann, und hier in Paris hat sie mich schon des Öfteren verbal beleidigt!"
"Wenn Ihr das als Argument vorbrächtet, würden die älteren Herren, die über Euer Gesuch entscheiden, möglicherweise dagegenhalten, dass Ihr die Erziehung Eurer Tante nur deshalb als ungerecht empfindet, weil Ihr zu viele Freiheiten hattet, Comtesse."
"Aber ich musste doch nach dem Tode meines Vaters die Leitung unseres Gutes selbst in die Hand nehmen."
"Natürlich, das verstehe ich! Und Ihr habt das auch gut ohne große Hilfe Eures früheren Vormundes bewerkstelligt", versicherte ihr Mazarin und lächelte. "Bitte, beruhigt Euch. Mir ist durchaus bekannt, welche Charaktere Eure Tante und Ihr Mann sind, weshalb ich Euch gerne helfen will. Es gäbe auch eine Alternative, um Euch aus der Vormundschaft der Baronesse zu befreien, nämlich die Heirat. Deshalb kam es mir so gelegen, als Madame de Colignon die Bitte vorbrachte, Euch bei Hofe einzuführen."
"Wie? Sie hat Euch geschrieben?", wunderte sich Marguerite.
"Nicht mir, aber einer guten Freundin bei Hofe - und diese trug es mir zu. Daraufhin habe ich veranlasst, dass Ihr auf die Gästeliste für den Silvesterball kommt. Gezwungenermaßen musste man Eure Verwandten ebenfalls einladen, obwohl es Ihrer Majestät nicht recht gefallen hat. Doch bei einer so großen Gesellschaft kann man auch einmal weniger angenehme Gäste ertragen, nicht wahr?"
"Ich danke Euch sehr für Eure Unterstützung, Eure Eminenz."
"Es geschah gern und Ihr habt einen guten ersten Eindruck bei Hofe hinterlassen, mein Kind. An Bewunderern fehlte es Euch auf dem Ball wahrlich nicht, so dass Ihr gewiss bald mehrere Anträge ehrbarer Herrn erwarten dürft."
"Die Idee ist gut, doch ich fürchte, meine Tante wird jeden Antrag um meine Hand abweisen", erwiderte Marguerite resigniert.
"So etwas würde allerdings auffallen - und zwar nicht zu Gunsten Eurer Tante."
"Meine Tante schert sich nicht um derlei Dinge, sondern ist sehr darauf bedacht, ihren eigenen Vorteil aus allem zu ziehen. Deshalb wird sie unter allen Umständen ihre Macht über mich behalten wollen, so lange sie kann. Stellt Euch vor, sie hat mir sogar verboten, eine Einladung der Königin anzunehmen."
"Was?!", fragte Mazarin ungläubig und starrte das junge Mädchen vor ihm an.
"Heute erhielt ich eine Einladung Ihrer Majestät zum Dreikönigsfest, aber ich solle alleine kommen. Daraufhin hat mir Baronesse de Lebrunne befohlen, eine Absage auf diese Einladung zu verfassen. Natürlich wage ich das nicht, aber was kann ich nur tun, Eure Eminenz? Meine Tante ist mein Vormund und ich muss auch ihr gehorchen."
Der Kardinal erhob sich, sichtlich aufgebracht, und ging einige Male nervös hin und her. Schließlich blieb er stehen, wandte sich an Marguerite und fragte: "Ihr wollt diese Einladung doch gerne annehmen, oder?"
"Selbstverständlich, aber meine Tante verbietet es mir."
"Nehmt die Einladung Ihrer Majestät ruhig an, Comtesse. Mit Eurer Tante werde ich darüber noch ein ernstes Wort sprechen. Sie kann doch nicht vergessen haben, dass man einer Einladung der Majestäten stets folgen muss!"
"Oh, vielen Dank, Eure Eminenz!"
"Und macht Euch auch keinerlei Gedanken, falls Ihr tatsächlich beabsichtigt, den Antrag eines ehrbaren Mannes anzunehmen. Wenn Eure Tante dazu die Erlaubnis verweigert, könnt Ihr Euch immer noch an Seine Majestät wenden. Seine Autorität steht über der jedes Vormundes."
Marguerites Augen begannen zu leuchten und sie fragte zaghaft: "Glaubt Ihr denn, Seine Majestät würde meine Wahl billigen, wenn ich mich für jemanden entschieden hätte?"
"So lange es ein ehrbarer Mann von gleichem gesellschaftlichem Rang ist, wird er seine Zustimmung sicher nicht verweigern."
"Vielen Dank, Eure Eminenz, Eure Worte geben mir große Zuversicht."
Mazarin lächelte und streckte ihr seine Hand entgegen. Sie erhob sich von ihrem Sessel, neigte sich zu seiner Hand hinunter und küsste sie ehrerbietig.
"Nur Mut, mein Kind, ich lasse nicht zu, dass Eure Verwandten Euch das Leben vergiften", sagte der Kardinal, griff nach einer Klingel auf seinem Schreibtisch und läutete. Gleich darauf erschien ein Diener, dem Mazarin befahl: "Geleite Comtesse de Rochefort in den kleinen Salon und reiche ihr eine Erfrischung."
"Sehr wohl, Eure Eminenz", antwortete der Diener und verneigte sich ein wenig, während sich der Kardinal nochmals an Marguerite wandte: "Ihr müsst Euch leider noch etwas gedulden, ehe mein Bediensteter Euch wieder zu Eurem Stadtdomizil geleitet, da ich etwas mit ihm besprechen muss."
"Natürlich, Eure Eminenz. Ich danke Euch für das Gespräch", erwiderte die junge Frau und knickste leicht vor ihm, ehe sie dem Diener in den kleinen Salon folgte.
Kaum war Marguerite aus dem Zimmer gegangen, als Mazarin den livrierten Mann hereinbat.
"Nun berichtet mir, Gagnon, in welcher Weise sich Baronesse de Lebrunne aufführte, als ich Euch schickte, um Comtesse de Rochefort zu mir zu bringen", forderte der Kardinal ihn auf.
Nachdem sein Untergebener ihm dies geschildert hatte, zeichnete sich in den Zügen des jungen Geistlichen ein Ausdruck der Verachtung ab.
"Diese Frau scheint jegliche Contenance verloren zu haben", murmelte er und schüttelte den Kopf. "Hört, Cagnon, sobald Ihr die Comtesse wohlbehalten in ihr Stadthaus gebracht habt, bittet Ihr sofort die Baronesse de Lebrunne nebst Ehegatten zu einem Gespräch hierher. Es wird Zeit, ein ernstes Wort mit ihnen zu sprechen."
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[1] lat. Persona non grata = unerwünschte Person
Kapitel 33
Beziehungen schaden nur dem, der sie nicht hat.
~ Klaus Klages (*1938) ~
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Baron de Lebrunne saß immer noch im kleinen Salon und sinnierte vor sich hin, als ein Diener ihm meldete, dass vor der Tür ein Mann stehe, der ihn dringend zu sprechen wünsche.
"Ein Mann?", wunderte sich Roger, der heute niemanden mehr erwartet hatte. "Was ist das für ein Mann?"
"Es ist derselbe Mann, der vorhin die Comtesse in einer Kutsche abgeholt hat", antwortete der Bedienstete.
"Und was ist mit meiner Nichte?"
"Die Comtesse ist soeben zurückgekehrt und auf Ihr Zimmer gegangen."
"Na, dann werde ich mich mal mit diesem ominösen Herrn unterhalten", meinte der Baron, stellte das Weinglas auf dem Tisch ab, erhob sich schwerfällig und begab sich zum Hauseingang, denn er hatte nicht die Absicht, ein Faktotum Mazarins zu empfangen. Der junge Kardinal, ein Protegé Richelieus, genoss den Ruf, genauso raffiniert und undurchsichtig zu sein wie sein Mentor, weshalb Roger ihm ebenso wenig traute wie seinem Vorgänger.
"Ihr wolltet mich sprechen?", richtete der Baron das Wort an den livrierten Mann, der eine undurchdringliche Miene aufgesetzt hatte.
"Seine Eminenz, Kardinal Mazarin, wünscht, ein persönliches Gespräch mit Eurer Gemahlin und Euch", erwiderte der Angesprochene in ernstem Ton. "Ich werde Euch zu ihm bringen."
Der Livree-Träger deutete mit einer Hand auf die Kutsche, deren Tür offen stand.
"Meine Frau ist krank", erklärte Roger kühl. "Außerdem berichtete sie mir vorhin, dass sie unsere Nichte zu Seiner Eminenz begleiten wollte, man ihr jedoch deutlich zu verstehen gab, er würde sie nicht empfangen. Dieser Affront hat meine Gattin dermaßen aufgeregt, dass sie momentan wieder der Bettruhe bedarf. Das Gespräch mit Seiner Eminenz muss deshalb auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden."
"Es wäre besser, wenn Ihr keinen Widerstand leistet!", zischte der Livree-Träger ihm leise zu.
"Was fällt Euch ein, in solch einem Ton mit mir zu reden?!", empörte sich der Baron.
"Wollt Ihr tatsächlich riskieren, dass man Eure Gattin und Euch gewaltsam zu Seiner Eminenz bringt?"
"Dafür gibt es keinen Grund, wir haben nichts verbrochen!"
"Der Erste Minister wünscht Euch dringend zu sprechen und Ihr verweigert ihm diesen Wunsch!"
"Ich sagte Euch doch, dass meine Frau krank ist."
"Nun, ich warte gerne, bis sie sich angekleidet hat", entgegnete der livrierte Mann ungerührt. "Gewiss seid Ihr in der Lage, Eurer Gattin auf dem Weg zu Seiner Eminenz hilfreich zur Seite zu stehen."
"Natürlich!", brummelte Roger, der einsah, dass er sich dem Willen Mazarins beugen musste. Deshalb wandte er sich ohne jede weitere Erklärung von dessen Untergebenem ab, rief nach der Dienerschaft und trug einem Mädchen auf, der Kammerzofe seiner Frau Bescheid zu geben, damit diese ihr half, sich wieder anzukleiden. Er selbst ließ sich seinen Winterumhang bringen und wartete dann auf seine Gemahlin. Adrienne kam wenige Minuten später zu ihm. Verwirrung spiegelte sich auf ihren Zügen und sie fragte: "Was hat das alles zu bedeuten? Meine Zofe berichtete mir, dass erneut dieser Mann in der roten Livree vorgefahren sei und mit dir gesprochen habe."
"Das ist richtig, Teuerste. Der Kardinal ist nun bereit, uns zu empfangen."
"Wie bitte?!"
"Ja, meine Liebe, du hast richtig gehört. Jetzt möchte Seine Eminenz mit uns sprechen."
***
Caius war zusammen mit dem Ehepaar Lebrunne vor deren Stadthaus eingetroffen und wunderte sich, dass er Aro nicht an seinem Versteck vorfand. Doch er musste nicht lange warten, ehe sein Meister wieder eintraf, zeitgleich mit einer großen Kutsche, aus dem wenige Minuten später Marguerite entstieg und in ihr Haus zurückkehrte, während ein Mann in roter Livree mit dem Bediensteten sprach, der die Eingangstür geöffnet hatte.
"Na, was ist bei dem Gespräch zwischen Marguerite und Mazarin herausgekommen?", erkundigte sich der blonde Vampir interessiert.
"Du weißt davon?", wunderte sich Aro.
"Tante Adrienne erzählte es ihrem Mann", erklärte Caius lapidar. "Sie war sehr empört, dass sie diesem Kardinal Mazarin nicht willkommen ist."
"Oh, sie ist nicht nur bei ihm höchst unwillkommen", meinte sein Meister, der überaus gut gelaunt wirkte. "Richelieus Nachfolger sicherte zudem meiner Verlobten seine Hilfe und Unterstützung zu. Es läuft alles sehr viel besser als ich annahm. Und was ist bei dem Gespräch zwischen Lebrunne und Guignot herausgekommen?"
Statt einer Antwort gab ihm Caius wortlos seine Hand und sein Meister war in wenigen Minuten im Bilde.
"Guignot ist wirklich sehr vorsichtig", meinte der schwarzhaarige Vampir danach lediglich. "Aber das nützt ihm nichts. Wir werden ihn überwachen lassen."
"Warum hast du uns verschwiegen, dass die Hakennase Mitglied eines magischen Zirkels ist?"
"Das hätte dir doch bestimmt den ganzen Spaß verdorben, Caius."
"Spaß? Was soll das schon für ein Spaß sein, wenn sich irgendwelche Wichtigtuer heimlich irgendwo versammeln und seltsame Wörter vor sich hinmurmeln?"
"Ist dir denn immer noch nicht klar, was Guignot plant?"
"Er will einen Liebeszauber vollziehen", murmelte Caius und verzog seine Lippen zu einem verächtlichen Lächeln. "Als ob das jemals etwas genützt hätte. Dieser Kerl erinnert mich an die Zauberinnen, die im antiken Rom ihre Dienste feilboten und den Leuten auch immer irgendetwas versprachen."
"Mit dem Unterschied, dass es zu deinen Lebzeiten in Rom noch erlaubt war, Magie zu praktizieren. Doch jetzt ist es seit langem verboten und wird streng bestraft, auch hier in Paris. Vermutlich ist es gerade das, was Personen aus gehobenen Kreisen dazu treibt, dies trotzdem heimlich zu praktizieren. Die meisten Menschen glauben tatsächlich an die Wirkung von Magie, vor allem Guignot ist davon überzeugt und seine Zirkelbrüder vermutlich auch."
"Welch eine Ironie! Da verlassen wir Volterra, weil ein Inquisitor sein Unwesen in unserer Stadt treibt und Unschuldige als Hexen oder Zauberer beschuldigt, nur um hier etwas Ähnliches zu erleben."
"Mitnichten, Caius, denn offiziell ist nichts über den magischen Zirkel bekannt, dem Guignot angehört, und dessen Mitglieder werden von niemandem verfolgt; und wenn alles so abläuft, wie ich es geplant habe, muss auch nie jemand davon erfahren... es sei denn, dass es nötig wäre...", erklärte Aro und schaute wieder hoch zu dem Fenster, hinter dem sich das Gemach seiner Braut befand. Er konnte hören, wie sie mit ihrer Kammerzofe sprach und dann trat sie plötzlich an das Fenster, um nachdenklich hinauszustarren. Rasch verbargen sich die beiden Vampire, damit sie sie nicht entdeckte. Dennoch konnten sie von ihrem Versteck aus gut beobachten, dass Adrienne de Lebrunne und ihr Mann jetzt in die Kutsche stiegen, mit der Marguerite soeben gekommen war.
"Sehr seltsam", wunderte sich Caius. "Erst lässt dieser Mazarin Marguerite zu sich kommen und nun bestellt er ihre Verwandten nochmals extra zu sich."
"Richelieus Nachfolger möchte ihre Tante nur in ihre Schranken weisen", sagte Aro. "Meine Verlobte beschwerte sich nämlich bei ihm darüber, dass die Baronesse sie nicht an einer Feier bei der Königin teilnehmen lassen will - was natürlich ein Unding ist. Andererseits gefällt es mir auch nicht, dass Ihre Majestät solch ein lebhaftes Interesse an Marguerite hat. Am Ende bietet man ihr eine Stellung bei Hofe an..."
"Bei einem so hübschen Mädchen ist das doch nicht verwunderlich. Es wäre wirklich am besten, wenn du sie so schnell wie möglich heiratest, damit wir Paris endlich den Rücken kehren können."
"Du sprichst mir aus der Seele, Bruder, aber wir dürfen nichts überstürzen. Vielmehr sollten wir dafür sorgen, dass wir ebenfalls an der Dreikönigsfeier im Palast teilnehmen."
"Mach, was du für richtig hältst, doch wir sollten nicht mehr allzu lange hierbleiben."
"Guignot will sicher auch nicht mehr so lange warten. Darum sorg dafür, dass einige unserer besten Leute aus Volterra zu uns stoßen, vor allem Felix. Ihm wird es gewiss gefallen, sich einen oder zwei der ominösen Schwarzmagier zugute zu führen."
"In Ordnung, ich spreche mit Marcus", versprach Caius. "Außerdem halte ich es für angebracht, anlässlich meiner Verlobung mit Louise eine kleine Feier in unserem Hause abzuhalten. Bei der Gelegenheit kann ich meiner Braut endlich ihre Brautgeschenke überreichen."
"Was für eine nette Idee", meinte Aro lächelnd und musterte seinen jüngeren Bruder dann neugierig. "Du magst Louise sehr, nicht wahr? Willst du sie wirklich diesem Verwalter überlassen, in den sie verliebt ist?"
"Ja, das habe ich ihr versprochen."
"Du hast dieses Mädchen tatsächlich ins Herz geschlossen. Also gut, da sie Marguerites Freundin ist und sich uns gegenüber immer freundlich und respektvoll verhielt, werden wir für Louise eine Hochzeitsfeier auf dem Familienstammsitz der Rocheforts ausrichten. Ich bin sicher, dass das im Sinn meiner zukünftigen Frau ist, die gewiss alles dafür arrangieren wird. Dieses Fest ist genau das richtige für die beiden Freundinnen, um Abschied voneinander zu nehmen, bevor Marguerite, Madame de Colignon und wir nach Volterra zurückkehren."
"Madame de Colignon fährt auch mit?"
Aro bedachte Caius mit einem amüsierten Blick, ehe er antwortete: "Aber natürlich! Dir kann doch nicht entgangen sein, dass unsere charmante Nachbarin und Marcus sich gegenseitig sehr gewogen sind."
"Mir soll es recht sein", meinte der blonde Vampir. "Ich kann es gar nicht erwarten, endlich abzureisen."
***
Kaum dass sie ihr Gemach betrat, klingelte Marguerite nach ihrer Kammerzofe und wenig später war Arlette bei ihr.
"Was kann ich für Euch tun, Comtesse?"
"Ist der Bote, den ich zu Monsieur Cayot schickte, wieder zurück?", erkundigte sich Marguerite.
"Ja, und er hat mir gleich die Antwort Eures Anwaltes gegeben", erwiderte das Mädchen und zog aus der Innentasche ihres Kleides einen Brief hervor. "Da Eure Tante vorhin ausging und Eurer Onkel nicht da war, wissen die beiden nichts davon. Hier..."
Arlette reichte Marguerite das Schreiben, welches die Letztere sogleich öffnete und las.
"Gut", meinte die Comtesse danach. "Nun muss ich nur noch mit Madame de Colignon sprechen. Am besten ist es, wenn ich sie heute Mittag einlade. Sag in der Küche Bescheid, dass wir zwei Gäste erwarten."
"Sehr wohl", sagte Arlette, knickste leicht und verschwand dann rasch. Marguerite blickte ihr nach, höchst zufrieden damit, wie sich die Dinge entwickelten. Kardinal Mazarin hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er auf ihrer Seite war, so dass einer Eheschließung mit Aro im Grunde nichts entgegenstand. Nicht einmal ihre Tante würde dies verhindern können, wenn sie sich in diesem Fall an die Majestäten wandte. Aus ihr unerklärlichen Gründen genoss sie das Wohlwollen der Königin und Aro war ein italienischer Graf und somit von gleichem Range wie sie. Niemand konnte gegen diese Verbindung ernsthaft etwas einzuwenden haben - Tante Adrienne würde ganz schön in Erklärungsnot geraten, wenn man sie nach den Gründen ihrer Ablehnung zu dieser Hochzeit fragte.
"Bald, mein Liebster, bald werden wir vereint sein", dachte die junge Frau und sah gedankenverloren durch das Fenster auf die Straße. Aber was war das? Mazarins Untergebener in der roten Livree stand immer noch vor dem Haupteingang ihres Stadthauses und schien auf jemanden zu warten. Wenig später traten Tante Adrienne und ihr Gemahl hinaus, stiegen in die Kutsche ein, mit der sie vorhin zum Kardinal gebracht worden war, H
und fuhren dann mitsamt den Rotgardisten, die sie zu Pferd begleiteten, davon. Seine Eminenz verlor wahrhaftig keine Zeit, um ein ernstes Wort mit ihrer Tante zu sprechen. Bis ihre Verwandten wiederkamen, konnte sie rasch eine Einladung zum Mittagessen an Madame de Colignon schreiben, die selbstverständlich ihre Freundin Louise mit einschloss. Einen Moment lang spielte Marguerite mit dem Gedanken, auch die Volturi-Brüder einzuladen, verwarf dies jedoch wieder. Ihre Tante war heute Vormittag offensichtlich genügend aufgebracht durch Aros Besuch gewesen und die Anwesenheit von Louise würde sie auch nicht erfreuen, vor allem nicht nach dem Gespräch mit Kardinal Mazarin...
*
Der neue Erste Minister erwartete das Ehepaar Lebrunne bereits in seinem Arbeitszimmer und nahm sie, als sie den Raum betraten, mit einem Ausdruck äußersten Missfallens in Augenschein. Mit einer knappen Geste bedeutete er ihnen, vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, und die beiden folgten dieser Aufforderung. Kaum jedoch hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, so dass sie allein mit Mazarin in einem Raum waren, erhob die Baronesse ihre Stimme vorwurfsvoll gegen den Hausherrn, ehe ihr Mann es verhindern konnte: "Meine Nichte ist minderjährig und untersteht meiner Vormundschaft, weshalb ich es äußerst unerhört finde, dass Ihr durch Eure Leute veranlasst habt, sie ohne meine Begleitung zu Euch bringen zu lassen."
"Mir ist durchaus bekannt, dass die Comtesse de Rochefort Euer Mündel ist!", gab Mazarin in kühlem Ton zurück. "Allerdings hatte ich mit der jungen Dame etwas Persönliches zu besprechen, bei dem Eure Anwesenheit nicht vonnöten war, Madame!"
"Was könnt Ihr mit diesem Kind schon zu besprechen haben?!", gab Adrienne empört zurück. "Sie bedarf für alles, was sie tun möchte, meiner Erlaubnis!"
"Das ist nicht ganz richtig", widersprach ihr der Kardinal. "Wenn jemand aus den allerhöchsten Kreisen den Eindruck gewönne, dass Ihr nicht zum Wohle Eurer Nichte handelt, könnte Euch die Vormundschaft über Comtesse de Rochefort jederzeit entzogen werden!"
Die Baronesse wurde blass und starrte ihr Gegenüber genauso ungläubig an wie ihr Mann es tat.
"Wollt Ihr mir etwa drohen, Eminenz?", fragte sie tonlos.
"Das lag nicht in meiner Absicht - jedenfalls nicht, als ich die Comtesse heute Morgen zu mir bitten ließ", antwortete Mazarin. "Auch als ich das Gespräch mit Euch suchte, lag das noch nicht in meiner Absicht. Es ist ganz allein Eure Entscheidung, ob Ihr Euch neue Feinde schafft oder nicht."
"Warum wünschtet Ihr, meine Gattin zu sprechen, Eure Eminenz?", erkundigte sich Roger, ehe seine Frau erneut den Mund auftat.
"Wie ich hörte, hat Eure Gemahlin etwas dagegen, dass Comtesse de Rochefort eine Einladung Ihrer Majestät annimmt", erklärte der Kardinal dem Baron, wobei er seine Augen kurz zu Adrienne schweifen ließ, ehe er den Blick wieder auf deren Mann heftete.
"Das kann ich mir gar nicht vorstellen", widersprach Roger, der ahnungslos tat und sich an seine Frau wandte. "Stimmt das wirklich?"
"Natürlich habe ich im Prinzip nichts dagegen einzuwenden", sagte Adrienne in beinah trotzigem Ton und sah Mazarin erneut herausfordernd an. "Mir missfällt lediglich, dass meine Nichte alleine auf dieser Feierlichkeit erscheinen soll. Es schickt sich einfach nicht."
"Eure Sorge ist verständlich, aber unbegründet", behauptete Mazarin. "Meines Wissens erhielt Madame de Colignon ebenfalls eine Einladung zu der Dreikönigsfeier im Palast. Wie mir bekannt ist, war sie mit dem Comte de Rochefort befreundet und pflegt auch ein gutes Verhältnis zu Eurer Nichte. Ihr könntet sie bitten, die Comtesse mitzunehmen und ein Auge auf sie zu haben, so dass der gesellschaftlichen Form Genüge getan ist."
"Warum darf ich meine Nichte nicht zu diesem Fest begleiten?", fragte die Baronesse, die immer noch unzufrieden wirkte.
Mazarin starrte sie einen Moment lang sprachlos an, dann zogen sich seine Brauen etwas zusammen.
"Fragt Ihr das im Ernst?", erkundigte er sich nach einer Weile.
"Natürlich, schließlich sind mein Mann und ich auch von Adel. Weshalb also werden wir nicht auf das Fest der Königin eingeladen?"
"Eigentlich hatte ich nicht vor, so deutlich zu werden, aber da Ihr es unbedingt wissen wollt, sollt Ihr es erfahren", meinte Mazarin ungehalten. "Euer Gemahl war vor vielen Jahren an einem Komplott gegen Seine Majestät und den Ersten Minister beteiligt. Durch die Fürsprache Seiner Eminenz, Kardinal Richelieu, wurde er zwar begnadigt, doch Euch war gewiss bewusst, dass dies nur auf die Bitte Eures Bruder geschah, Madame, nicht wahr?"
Adrienne, deren Gesicht jetzt fast weiß war, senkte beschämt den Kopf und nickte stumm. Daraufhin fuhr der Kardinal fort: "Außerdem hat man bei Hofe Eure früheren Umtriebe nicht vergessen, Madame, als Ihr in den Diensten der Königin standet. Das werdet Ihr doch nicht etwa vergessen haben?"
Die Baronesse schüttelte den Kopf.
"Wegen der Fehler Eurer Vergangenheit seid Ihr und Euer Gemahl bei Hofe nicht wohlgelitten. Allerdings sollte Euer Mündel, die Tochter eines verdienten Offiziers, nicht darunter leiden, nur weil Ihr verstorbener Vater aus unerfindlichen Gründen Euch die Vormundschaft über sie übertrug, falls Kardinal Richelieu stirbt, bevor das Mädchen mündig ist. Die Königin wünscht, Eure Nichte näher kennenzulernen, will Euch jedoch nicht sehen. Könnt Ihr mir folgen?"
"Wenn es sich so verhält, weshalb hat man uns dann zum Silvesterball eingeladen?", erkundigte sich Roger verwundert.
"Man sah darin einen notwendigen Schritt, da Ihr ansonsten der Comtesse de Rochefort womöglich nicht erlaubt hättet, an den Hof zu kommen", klärte ihn Mazarin auf. "Nur wegen Eurer Nichte duldet man Eure Anwesenheit in Paris, Baron. Deshalb rate ich Eurer Gattin und Euch dringend dazu, sich nicht den Wünschen der Majestäten entgegenzustellen, die beide gern die Comtesse am Hof sehen würden. Wenn Ihr Euch fügt, habt Ihr nichts weiter zu befürchten - wenn nicht, macht Euch bewusst, dass Ihr Euch mächtige Feinde schafft. Wollt Ihr das?"
"Natürlich nicht!", sagte Roger rasch. "Das kann ich auch im Namen meiner Frau versichern, Eure Eminenz."
"Ja, Eure Eminenz", pflichtete Adrienne ihrem Mann in einem leisen, zaghaften Ton bei. "Selbstverständlich werden wir uns den Wünschen der Majestäten nicht entgegenstellen. Ich bin nur auf den Ruf meiner Nichte bedacht gewesen."
"Gut, demnach kann ich die Angelegenheit also als geklärt betrachten?", fragte der Kardinal.
Das Ehepaar Lebrunne nickte synchron mit dem Kopf.
"Schön, das wäre dann alles. Guten Tag!", sagte Mazarin, ohne sich von seinem Platz zu erheben. Er betätigte eine Glocke auf seinem Schreibtisch, worauf ein Bediensteter erschien. Danach gab der Kardinal seinen Besuchern mit einer Geste seiner Hand zu verstehen, dass sie gehen durften...
Kapitel 34
Mißtrauen ist's, was das eigene Wohl am sichersten bewahrt.
~ Diodorus Siculus (1. Jh. v. Chr.) ~
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Marguerite hatte in der Zwischenzeit einen Boten mit der Einladung zum Mittagessen an Madame de Colignon geschickt und sich danach an das Spinett gesetzt, wo sie eine fröhliche Melodie spielte und guter Dinge war. Etwa eine halbe Stunde später meldete ihr ein Diener, dass ihre mütterliche Freundin eingetroffen sei, was Marguerite sehr freute.
"Bitte Madame de Colignon zu mir in den Salon und bring eine kleine Erfrischung", befahl die Comtesse freundlich.
"Sehr wohl", erwiderte der Bedienstete, verneigte sich leicht und wenig später trat Madame de Colignon in den Raum. Marguerite erhob sich von ihrem Sitz hinter dem Instrument und kam auf sie zu.
"Es freut mich sehr, dass Ihr gekommen seid", begrüßte sie ihre mütterliche Freundin. "Habt Ihr Louise gar nicht mitgebracht?"
"Bedauerlicherweise ist die Ärmste ein wenig erschöpft von den gestrigen Aufregungen und lässt sich entschuldigen", erklärte die ältere Dame. "Nun ja, der Heiratsantrag des jungen Conte di Volturi kam wohl für alle sehr überraschend."
"Ja, das kann man wohl sagen", pflichtete die Comtesse ihr bei. "Kommt, setzen wir uns."
In dem Moment brachte eines der Dienstmädchen ein Tablett mit einer Schale voller Konfekt, das sie auf dem Tisch vor dem Sofa absetzte, auf dem Marguerite und ihr Gast Platz genommen hatten. Nachdem die Bedienstete den Raum wieder verlassen hatte, nahmen sich die beiden etwas aus der Schale und Madame de Colignon plauderte weiter.
"Louise scheint der unverhoffte Antrag völlig aus der Fassung gebracht zu haben", meinte sie. "Sie ist nicht imstande, darüber zu sprechen. Aber wer hätte das auch vermutet? Niemand hat bemerkt, dass der junge Conte di Volturi sich in Louise verliebt hat - nicht einmal Louise ahnte etwas davon. Sie glaubte, er mache Eurer Tante ein wenig die Cour... nun ja, junge Männer flirten hin und wieder gerne ein wenig, ohne darüber nachzudenken. Doch im Fall von Louise scheint Conte Caius zunächst ein wenig schüchtern gewesen zu sein, obwohl er so selbstsicher auftrat. Wie mir sein Bruder Marcus versicherte, meint sein jüngerer Bruder es mit Louise wirklich ernst."
"Louise ist auch ein sehr liebenswerter Mensch. Kein Wunder, dass Conte Caius sie gern hat", sagte Marguerite. "Und wenn Conte Marcus sagt, dass sein jüngerer Bruder ernste Absichten hegt, dann können wir ihm das ruhig glauben. Marcus ist ein sehr netter Mann, der überaus vertrauenswürdig wirkt. Ich glaube, er und Aro mögen Louise auch, so dass sie mit ihnen keine Schwierigkeiten haben wird. Meiner Tante hingegen missfällt die Verbindung. In ihren Augen ist diese nicht standesgemäß."
"Eure Tante ist sehr streng erzogen worden", erklärte Madame de Colignon begütigend. "Sie wird nicht die Einzige sein, die sich an einer Verbindung zwischen einem Adligen und einer Bürgerlichen stört, obwohl das auch früher durchaus vorkam. Es fällt der Baronesse eben schwer, dies zu akzeptieren. Ihr solltet für sie ein wenig mehr Verständnis aufbringen, mein Kind."
"Sie wird sich gewiss nicht mehr ändern", seufzte Marguerite.
"Wo sind eigentlich Eure Tante und Euer Onkel? Wollen sie nicht mit uns speisen?"
Daraufhin berichtete ihr Marguerite, dass sie heute Morgen zu Kardinal Mazarin gebeten worden war und er danach mit ihren Verwandten zu sprechen wünschte.
"Da sie noch nicht zurückgekehrt sind, dauert das Gespräch wohl etwas länger", meinte die Comtesse abschließend. "Aber bevor man mich zu Seiner Eminenz fuhr, sprach mein Begleiter noch mit meiner Tante, während ich bereits in der Kutsche saß, und dabei fiel der Ausdruck >Persona non grata<. Genaueres konnte ich jedoch nicht hören, aber man verwehrte meiner Tante, mich zu Seiner Eminenz zu begleiten. Wisst Ihr vielleicht Genaueres darüber?"
"Man hört so einiges, was nicht für Eure Ohren bestimmt ist, liebes Kind. Es sind alte Vorfälle, die Euch in keiner Weise betreffen."
"Bitte, verratet mir doch, worum es sich handelt!"
"Nein, tut mir leid, ich habe mich zur Diskretion verpflichtet", sagte Madame de Colignon und schüttelte den Kopf. "Diese Angelegenheiten gehen nur die Betroffenen etwas an und vermutlich würden sie selbst es gerne vergessen. Es hat weder etwas mit Eurem Vater noch Euch zu tun."
"Ach, warum verbirgt man vor mir Familiengeheimnisse?"
"Marguerite, auch Ihr habt mir Einiges unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut und daran halte ich mich. Dasselbe müsst Ihr jedoch auch anderen zubilligen, das versteht Ihr doch?"
"Ja, natürlich, Madame. Dennoch komme ich mir vor wie eine Ausgeschlossene."
"Die Angelegenheiten, um die es geht, betreffen nur den Baron und Eure Tante. Damals waren sie schon miteinander verheiratet. Es handelt sich also um sehr persönliche Dinge."
"Ich verstehe..."
"Seid deshalb nicht betrübt, meine Liebe, dazu habt Ihr gewiss keinen Grund. Wie man mir zutrug, dürft Ihr bald eine Einladung der Königin zu einer Feier in den Palast erhalten, da Ihre Majestät Euch gerne näher kennenlernen will."
"Oh ja, die habe ich schon bekommen", erklärte Marguerite und ihre Miene hellte sich sofort auf. "Außerdem sprach Conte Aro heute Vormittag bei mir vor. Beides war für Tante Adrienne Anlass genug, sich aufzuregen."
"Warum denn das?"
"Zum einen störte sie sich sehr daran, dass ich Conte Aro allein empfangen habe, weil meine Tante krank und mein Onkel außer Haus war, und zum anderen gilt die Einladung der Königin nur für mich, nicht aber für meine Verwandten."
"Höchst ungewöhnlich, doch wenn es Euch recht ist, hole ich Euch in meiner Kutsche ab und wir fahren zusammen zu der Dreikönigsfeier in den Palast. Das wird Eure Tante beruhigen."
"Eine gute Idee, Madame de Colignon, vielen Dank. Wenn ich Euch nicht hätte, wäre ich gewiss längst verzweifelt."
"Ist es denn wirklich so schlimm mit Euren Verwandten?"
"Hauptsächlich mit meiner Tante, der Baron ist eigentlich ganz nett."
"Euer Vater mochte seine Schwester sehr und war davon überzeugt, dass sie gut für Euch sorgen wird. Vielleicht besaß sie als junges Mädchen ein angenehmeres Wesen als heute, mag sein. Ich kannte sie damals nicht. Aber ich weiß, dass der Baron vor etlichen Jahren einmal einen schwerwiegenden Fehler begangen hat, den sie mittragen musste. Womöglich hat das Eure Tante so verbittert."
"Wenn es sich so verhält, tut es mir sehr leid für sie. Trotzdem ist das in meinen Augen kein Grund, dies an mir oder anderen auszulassen", sagte Marguerite, die gleichzeitig die Information in ihrem Kopf behielt, dass ihr Onkel vor Jahren einen schwerwiegenden Fehler gemacht hätte. Demnach musste also der Baron die >Persona non grata< sein, von der der livrierte Mann gesprochen hatte. Interessant.
In diesem Moment klopfte es zaghaft an die Tür und auf Marguerites Aufforderung trat ein Dienstmädchen ein und meldete: "Der Baron und die Baronesse de Lebrunne sind gerade eingetroffen, Comtesse, lassen Euch aber ausrichten, dass sie nicht an der Mittagstafel teilzunehmen wünschen."
"Haben sie gesagt, aus welchem Grund?", erkundigte sich Marguerite verwundert.
"Der Baron erklärte, dass es seiner Gemahlin nicht sehr gut gehe und sie dringend wieder ruhen müsste", antwortete das Dienstmädchen. "Er wirkte überaus besorgt um sie."
"Nun, dann müsst Ihr wohl allein mit meiner Gesellschaft vorlieb nehmen, Madame de Colignon", wandte sich die Comtesse an ihre mütterliche Freundin. "Ich hoffe, es ist Euch recht?"
"Natürlich, meine Liebe."
Marguerite sah wieder zu dem Dienstmädchen und sagte: "Lasst das Mittagsmahl im Esszimmer auftragen, wir kommen gleich."
"Sehr wohl, Comtesse."
Nachdem die Bedienstete verschwunden war, sagte das Mädchen zu ihrem Gast: "Bevor wir an die Tafel gehen, möchte ich Euch um einen Gefallen bitten."
"Wenn ich es kann, helfe ich Euch gern, mein Kind. Worum geht es?"
"Ich muss etwas Wichtiges mit meinem Anwalt besprechen, ohne dass meine Verwandten davon etwas erfahren dürfen. Wäre es möglich, dass ich Monsieur Cayot in Eurem Hause treffen könnte?"
"Geht es um Euer Gesuch?"
"Nein, diese Angelegenheit nimmt seinen Lauf und ich muss warten, wie man darüber entscheidet. Allerdings müsste ich etwas wirklich Wichtiges mit Monsieur Cayot besprechen. Es betrifft einen möglichen Ehekontrakt..."
"Oh, hab Ihr eventuell schon Heiratspläne mit einem bestimmten Kavalier?"
"Nun...", Marguerite zögerte. Madame de Colignon war zwar vertrauenswürdig, dennoch wollte sie kein Risiko eingehen. Deshalb fuhr sie fort: "Ich halte es für vernünftig, bereits im Voraus Vorkehrungen dafür zu treffen. Monsieur Cayot könnte doch bereits einen Ehekontrakt aufsetzen, den ich einem potenziellen Bewerber um meine Hand darlegen kann - vielleicht überlegt es sich der Eine oder Andere dann ja noch einmal, ob er mich wirklich heiraten möchte."
"Mir scheint, es bedarf nicht Eurer Verwandten, um mögliche Anwärter auf Eure Hand zu verscheuchen", meinte die ältere Dame leicht amüsiert. "Trotzdem verstehe ich Eure Beweggründe natürlich. Eine Frau tut gut daran, sich zu schützen. Es wäre gewiss auch im Sinne Eures Vaters."
"Wisst Ihr, ich möchte einen Ehemann, der mich wirklich liebt."
"Ja, ja, ich verstehe durchaus."
"Einen aufrichtigen Mann werden die Bedingungen des Ehekontrakts nicht stören. Außerdem ist es doch nicht unüblich, so etwas vor einer Eheschließung aufzusetzen."
"Ihr habt recht, mein Kind; üblicherweise tun das die Eltern, doch in Eurem Fall..."
"Meine Verwandten haben nicht mein Wohl im Sinn, glaubt mir, Madame."
"Also schön, dieses Argument überzeugt mich und ich überlege mir, wann und bei welcher Gelegenheit Ihr Euch mit Monsieur Cayot bei mir treffen könnt."
"Wie wäre es, wenn ich Euch morgen Nachmittag besuchte? Meinen Verwandten könnte ich ja sagen, dass Louise mich wegen ihrer bevorstehenden Hochzeit zu einem Gespräch gebeten hätte."
"Oh ja, Ihr könntet gut eine Ihrer Brautjungfern sein", griff Madame de Colignon diese Idee erfreut auf und schien davon sehr angetan zu sein. Marguerite lächelte gezwungen, wusste sie doch, dass es niemals zu dieser Heirat kommen würde. Es tat ihr leid, in diesem Fall zu ihrer mütterlichen Freundin nicht aufrichtig sein zu können. Aber schließlich war es Madames Vorschlag gewesen, Louise gut mit irgendeinem wohlhabenden Mann zu verheiraten, weshalb Caius sich zum Schein mit ihrer Freundin verlobt hatte, um sie vor diesem Schicksal zu bewahren. Ach, wenn dieser ganze Spuk doch bald vorbei wäre. Dann würde sie mit ihren beiden Freundinnen, ihrem Ehemann Aro und seinen Brüdern nach Rochefort zurückkehren und die Hochzeit zwischen Louise und ihrem Liebsten ausrichten. Wie schön, dass auch ihre beste Freundin die Liebe ihres Lebens gefunden hatte...
***
Baron de Lebrunne, immer noch fassungslos über die Unverblümtheit, mit der Richelieus Nachfolger ihnen erklärt hatte, dass sowohl seine als auch Adriennes frühere Fehler nicht vergessen waren, brachte seine Angetraute, die die ganze Heimfahrt lang kein Wort sprach, in ihr Gemach und ließ sie dann mit ihrer Kammerzofe allein, damit diese ihr beim Entkleiden half. Währenddessen stand er nachdenklich am Treppengelände und blickte hinunter. Marguerite war keineswegs so naiv, wie er gedacht hatte, sondern viel raffinierter. Nie im Leben wäre er auf die Idee gekommen, dass sie dem Nachfolger Richelieus heimlich einen Brief schreiben könnte, in dem sie sich über die Behandlung ihrer Tante beschwerte. Roger zweifelte keinen Moment daran, dass dies der Auslöser für alle nachfolgenden Ereignisse bis zu dieser unerfreulichen Unterhaltung mit Mazarin war. Madame de Colignon hatte davon sicherlich keine Ahnung gehabt und der Verdacht Guignots gegen die ältere Dame war einfach lächerlich. Nun gut, jetzt wusste er immerhin, dass Marguerite von ähnlicher Wesensart schien wie ihr Vater, der immerhin seine Heimlichkeiten mit Kardinal Richelieu hatte und dessen Aufträge meistens diskret ausführte. Hierzu passte auch Gilberts Wahl seiner Geliebten und angeblichen Ehefrau, gehörte Milady doch ebenfalls zum Spionagezirkel des verstorbenen Kardinals - wen wunderte es eigentlich, dass die beiden heimlich die Ehe schlossen?
Zweifellos war Marguerite eine echte Rochefort und von stolzer Wesensart. In dieser Hinsicht glich sie seiner Gemahlin, selbst wenn das Mädchen dies nicht so offen zeigte, sondern sich meistens sehr liebenswürdig gegen jedermann verhielt. Nun, was machte das schon? Jetzt war ihm jedenfalls klar, dass er es bei Marguerite mit einer kleinen Intrigantin zu tun hatte. Doch das würde ihr nichts nützen, wusste sie doch nicht, dass er sie durchschaut hatte und nun ebenfalls sein Spielchen mit ihr treiben würde.
In diesem Augenblick hörte er, wie unten eine Tür geöffnet wurde, und einen Moment später sah er seine Nichte mit Madame de Colignon durch die Halle schreiten. Der Baron wunderte sich einen kurzen Augenblick über die Anwesenheit der alten Dame, bevor ihm die Erkenntnis kam, dass Marguerite sie vermutlich zu Mittag eingeladen hatte. Er beschloss, die beiden zu begrüßen, und schritt die Treppen hinunter.
"Guten Tag, Madame de Colignon!", rief er laut durch die Halle, damit die Damen, die ihn bisher nicht bemerkt hatten, sich seiner Anwesenheit bewusst wurden. Sie drehten sich erstaunt herum und während Marguerite nicht gerade erfreut schien, ihn zu sehen, lächelte die ältere Dame ihn freundlich an.
"Guten Tag, Baron", begrüßte sie ihn und kam auf ihn zu. "Wie ich hörte, ist Eure Gattin immer noch leidend. Vielleicht solltet Ihr besser einen Arzt hinzuziehen? Ich bin allmählich auch etwas besorgt um die Baronesse."
"Vielen Dank für Eure Anteilnahme, Madame", erwiderte er. "Doch ich versichere Euch, dass es meiner Gemahlin schon ein wenig besser geht. Ein paar Stunden Bettruhe und sie wird sich wieder erholt haben. Zwei Feiern hintereinander waren wohl doch ein wenig viel für meine Frau."
"Freut mich, dass sich die Baronesse auf dem Weg der Besserung befindet", gab die ältere Dame zurück.
"Ihr seid sehr freundlich", meinte Lebrunne und neigte leicht sein Haupt vor ihr, bevor er einen Blick zu Marguerite warf. "Wie geht es dir, mein Kind? Hast du gut geschlafen?"
"Ja, danke der Nachfrage", antwortete das Mädchen. "Und selbst?"
"Ich wachte die ganze Nacht am Bett deiner Tante", erklärte er. "Deshalb fehlt mir Schlaf und ich muss mich entschuldigen, mich gleich in mein Gemach zurückzuziehen."
Der Baron sah wieder zu Madame de Colignon und fuhr fort: "Nachdem ich mich jetzt davon überzeugt habe, dass es meiner Gattin besser geht, werde auch ich mich ausnahmsweise einmal für ein paar Stunden hinlegen. Verzeiht mir, Madame."
"Nicht doch, mein Lieber, das ist durchaus verständlich", versicherte ihm die Angesprochene.
Der Baron ließ seinen Blick von ihr zu Marguerite und wieder zurück wandern, ehe er sagte: "Glaubt mir, ich selbst bedaure es am meisten, dadurch des Vergnügens Eurer Gesellschaft verlustig zu gehen."
"Wir können es zu einem späteren Zeitpunkt gewiss nachholen", meinte Madame de Colignon zuversichtlich. "Gelegenheit dazu haben wir in Paris genügend."
"Bestimmt", erwiderte Lebrunne mit einem kurzen Seitenblick auf seine Nichte. "Dabei fällt mir ein, dass Ihre Majestät eine Feier am 6. Januar im Palast geben soll. Jedenfalls ist mir dies zu Ohren gekommen - ebenso dass meine Nichte dazu eingeladen wurde. Habt Ihr eine Einladung bekommen, Madame?"
"Ja, man hat mir diese Ehre erwiesen", sagte die ältere Dame.
"Wärt Ihr dann wohl so freundlich, meine Nichte an diesem Tag hier abzuholen und mitzunehmen? Es wäre meiner Frau und mir eine große Erleichterung, sie in Eurer Obhut zu wissen, Madame de Colignon."
"Selbstverständlich", versprach die Angesprochene. "Macht Euch keine Sorgen, Baron."
"Vielen Dank, Ihr seid zu gütig", gab Lebrunne zurück und verneigte sich etwas vor der älteren Dame. "Wenn Ihr mich nun bitte entschuldigt? Ich muss mich zurückziehen. Wünsche einen schönen Tag, die Damen."
Nach diesen Worten nickte er Marguerite nur noch einmal kurz zu und ging wieder die Treppen hinauf. Seine Nichte und ihre mütterliche Freundin sahen ihm nach, bevor sie sich in das Esszimmer begaben.
Lebrunne jedoch kam gerade oben vor der Tür seiner Frau an, als deren Kammerzofe heraustrat.
"Hat sich meine Gattin hingelegt?", erkundigte er sich.
"Ja, Monsieur."
"Gut, dann sorg dafür, dass niemand sie stört. Ich gehe nur noch einmal kurz rein, um etwas mit ihr zu besprechen."
Die Zofe nickte und eilte dann davon, während Roger das Gemach seiner Frau betrat.
Adrienne lag mit immer noch bleichem Antlitz in ihren Kissen, lächelte jedoch etwas, als ihr Mann hereinkam und sich an ihr Bett setzte.
"Wie fühlst du dich, ma Cherie?", fragte er mit aufgesetzter Besorgnis.
"Wie schon?", gab sie giftig zurück. "Die Impertinenz, mit der mich dieser neue Erste Minister behandelte, ist unerhört. Früher wäre es undenkbar gewesen, dass..."
"Bitte, sprich nicht mehr davon", unterbrach Roger sie mit sanfter Stimme. "Die Zeiten haben sich geändert und wir müssen es wohl ertragen, für unsere damaligen Fehler geächtet zu werden."
"Die Königin trägt mir immer noch das Missverständnis von damals nach", jammerte Adrienne. "Dabei habe ich doch nur getan, was Richelieu von mir verlangte. Aber davon spricht niemand mehr!"
"So ist es! Richelieu hat jeden geopfert, der in seinen Augen versagte. Du hattest nur Glück, dass dein Bruder so gut mit dem Kardinal konnte."
"Dabei ist es diese Freundschaft gewesen, die mich erst in jene Situation brachte! Ansonsten hätte Richelieu mir nicht die Stellung bei Ihrer Majestät verschafft!"
"Lassen wir das!", meinte Roger. "Es bringt uns doch nicht weiter, wenn wir uns wegen dieser alten Geschichten immer noch Vorwürfe machen. Diese Dinge liegen lange zurück! Wir müssen uns eben - so gut es geht - mit den Gegebenheiten arrangieren."
"Ja, das müssen wir wohl. Aber eins sage ich dir: Sobald die Dreikönigsfeier vorbei ist, kehren wir auf unseren Familienstammsitz zurück", erwiderte Adrienne gereizt. "Das kleine Biest wird schon sehen, dass ihr dort ihre Beziehungen zu hohen Herrschaften nichts nützen."
"Sei doch vernünftig", ermahnte ihr Mann sie. "Ist dir immer noch nicht klar, dass man nur auf so etwas wartet? Es könnte dafür ausschlaggebend sein, dir tatsächlich die Vormundschaft zu entziehen. Ist dir entgangen, dass Mazarin so etwas andeutete? Und deshalb, Teuerste, werden wir dieses miese Spiel mitspielen, welches deine Nichte uns aufgezwungen hat. Das Mädchen will doch ihren Geburtstag hier feiern, also lassen wir sie ihn hier feiern. Soll sie einladen, wen sie will. Und danach wird uns schon etwas einfallen, um sie dazu zu bringen, Rouvens Frau zu werden. Niemand wird etwas dagegen haben, wenn sie ihn aus freien Stücken heiratet."
"Wie willst du dieses Kunststück bewerkstelligen?", fragte Adrienne spöttisch. "Ganz offensichtlich ist sie doch in diesen Aro verliebt, auch wenn er bald abreisen wird."
"Von dieser Abreise bin ich noch nicht völlig überzeugt. Aber lass das nur meine Sorge sein, Cherie. Wir werden deiner Nichte für eine Weile entgegenkommen, was sie gewiss durcheinanderbringt. Dann sehen wir weiter. Vergiss Mazarins impertinentes Verhalten. Wer weiß, wie lange er seine Stellung innehat?"
"Du planst doch nicht wieder irgendeinen Umsturz mit Freunden?", erkundigte sich seine Frau alarmiert.
"Wo denkst du hin? Ich bin weder wahnsinnig noch lebensmüde. Aber Rouven hat gewisse Ideen..."
"Wir können uns glücklich schätzen, dass du einen so guten Freund hast, der auf unserer Seite ist."
"Du sagst es, Adrienne, du sagst es... Kümmere dich also um nichts und überlass es uns Männern, deine intrigante, kleine Nichte zu bändigen. Sie wird nochmal den Tag verfluchen, an dem sie Mazarin einen Beschwerdebrief über dich schrieb..."
Kap 35
Vertrauen und Zweifel teilen sich den Weg.
~ Andrea Gerlach ~
~~~~~
Einen Tag später saßen Adrienne und ihr Ehemann am späten Vormittag gemeinsam mit Marguerite bei einem großen Frühstück zusammen, als eines der Dienstmädchen eintrat und der Comtesse auf einem Tablett ein Schreiben brachte.
"Ihr habt doch nichts dagegen, dass ich es gleich lese, Tante?", wandte sich das junge Mädchen an die Baronesse, die immer noch recht blass aussah.
"Nein, natürlich nicht", meinte die Angesprochene müde, beobachtete jedoch genauso interessiert wie ihr Ehemann, wie Marguerite den Brief entsiegelte und aufmerksam las.
"Es ist eine Einladung an Euch, den Baron und mich von Madame de Colignon", erklärte Marguerite, nachdem sie mit dem Lesen fertig war, und lächelte etwas. "Sie richtet die Verlobungsfeier für Mademoiselle Lefevre und Conte Caius di Volturi aus."
"Scheint, als ob der junge Volturi es tatsächlich sehr ernst mit der kleinen Lefevre meint", kommentierte der Baron gut gelaunt und bedachte seine Angetraute mit einem amüsierten Blick.
Adrienne jedoch verzog keine Miene, sondern widmete sich ihrem Ei. Irritiert wandte sich Lebrunne von seiner Gattin ab und fragte seine Nichte: "Wann ist diese Verlobungsfeier, liebes Kind?"
"In zwei Tagen ab dem späten Nachmittag gegen halb fünf."
"Selbstverständlich gehen wir da gerne hin", meinte der Baron und schien sich wirklich zu freuen.
"Ich für meinen Teil werde dieser Feier fernbleiben!", erklärte seine Gattin plötzlich in einem festen Ton und hob nun ihren Blick zu ihrem Mann, die Augenbrauen ärgerlich zusammen gezogen.
"Nun, ich bin sicher, dass du dich in zwei Tagen wieder besser fühlen wirst, meine Liebe", versuchte ihr Mann sie aufzumuntern, doch Adrienne schüttelte vehement den Kopf.
"Darum geht es nicht, Roger! Ich bin aus tiefster Überzeugung gegen diese Verbindung, so dass es mir unmöglich ist, dies zu feiern. Meiner Meinung nach begeht der junge Volturi einen schweren Fehler, jemanden zu heiraten, dessen Herkunft unbekannt ist. Sie kommen aus zwei verschiedenen Welten, das kann einfach nicht gut gehen!"
"Erstens übertreibst du es mit dieser Schwarzseherei, Adrienne, und zweitens geht es uns nichts an, wen der junge Volturi zu heiraten gedenkt. Mademoiselle Lefevre ist ein sehr nettes, wohlerzogenes Mädchen und darüber hinaus fügsam, was meiner Meinung nach eine hervorragende Voraussetzung für eine gute Ehe ist."
"Du kannst machen, was dir beliebt, Roger! Ich werde dieser Verlobungsfeier fernbleiben!"
Der Baron seufzte tief und sah zu Marguerite, die ihrem Gespräch neugierig gelauscht hatte.
"Nun ja", ergriff das junge Mädchen wieder das Wort, nachdem ihre Verwandten nichts mehr sagten. "Da Mademoiselle Lefevre mir nahe steht wie eine Schwester, werde ich selbstverständlich hingehen. Ihr habt doch nichts dagegen, Tante?"
Adrienne sah ihren Mann empört an, ohne ihrer Nichte eine Antwort zu geben. Stattdessen übernahm der Baron dies, der in freundlichem Ton erwiderte: "Natürlich kannst du an der Verlobungsfeier deiner Freundin teilnehmen, ich selbst werde dich dorthin begleiten. Allerdings fahre ich danach sofort wieder hierher zurück, denn deine Tante braucht gewiss noch meinen Beistand."
Marguerite nickte lächelnd und widmete sich dann wieder ihrem Frühstück. Seit dem Gespräch mit Kardinal Mazarin verhielten sich die Lebrunnes ihr gegenüber sehr viel netter, obwohl immer noch offensichtlich war, dass Tante Adrienne sie nicht mochte und vieles hinunterschluckte, was ihr nicht passte. Vermutlich hatte der Baron seine Gattin dazu angehalten, wofür Marguerite ihm innerlich dankbar war. So, wie die Dinge derzeit lagen, war sie äußerst zufrieden damit.
Marguerite hatte ihren Verwandten aber nicht alles erzählt, was in der Einladung stand. Im Postskriptum unter der Unterschrift von Madame de Colignon hatte jene noch kurz angemerkt, dass ein sehr geschätzter Freund der Familie sie grüßen lasse. Dieser kurze Satz war der zwischen Madame de Colignon und ihr vereinbarte Code dafür, dass Monsieur Cayot ebenfalls im Haus ihrer mütterlichen Freundin sein würde. Es schien sich alles zum Besten zu fügen und Marguerite war guter Dinge, was ihre Zukunft betraf, denn alles sich gemäß ihren Wünschen zu fügen...
***
Der Nachmittag im Hause verlief ebenfalls sehr ruhig, da sich Onkel und Tante nach dem Mittagessen in ihre Gemächer zurückzogen, um zu ruhen, während Marguerite es sich im Wohnzimmer mit einem Roman gemütlich machte und eine Tasse heiße Schokolade genoss. Da in zwei Tagen Louises Verlobungsfeier anstand, war es unnötig, heute Madame de Colignon aufzusuchen. Doch Marguerite konnte sich kaum auf die Lektüre konzentrieren, weil ihre Gedanken ständig zu Aro abschweiften, den sie schmerzlich vermisste. Sie musste sich noch bis zur Verlobungsfeier gedulden, bis sie ihn wiedersah. Wie sollte sie es so lange nur aushalten?
Nach etwa einer Stunde klopfte es zaghaft an die Tür.
"Ja, bitte?", rief Marguerite verwundert und eines der Dienstmädchen trat ein.
"Verzeiht bitte, Comtesse, aber Mademoiselle Lefevre ist hier und fragt an, ob Ihr Zeit für sie hättet."
Überrascht blickte Marguerite auf, lächelte dann und legte rasch das Buch beiseite.
"Natürlich habe ich Zeit für sie. Bitte Mademoiselle Lefevre zu mir herein und bring danach noch eine Tasse heiße Schokolade und etwas Gebäck."
"Sehr wohl, Comtesse."
Als wenig später Louise das Wohnzimmer betrat, erhob sich Marguerite und kam lächelnd auf sie zu, ihr beide Hände leicht entgegengestreckt. Ihre Freundin erwiderte das Lächeln und ergriff die dargebotenen Hände, welche die Comtesse dann leicht drückte.
"Herzlich willkommen, Louise", begrüßte sie sie herzlich. "Ich freue mich sehr über deinen Besuch. Bitte, nimm Platz und wärm dich etwas auf. Das Mädchen wird dir gleich eine heiße Schokolade bringen."
"Danke, das ist sehr freundlich von Euch", gab Louise zurück und setzte sich zusammen mit Marguerite auf das bequeme Sofa, während das Dienstmädchen inzwischen erneut erschien und die gewünschten Sachen auf dem Tisch abstellte. Nachdem die Bedienstete wieder verschwunden war, fragte Marguerite: "Wie geht es dir, meine Liebe? Hast du dich ein wenig von den unerwarteten Ereignisse, die in dein Leben traten, erholt?"
"Ach, ich weiß nicht", antwortete Louise. "Ehrlich gesagt bin ich hier, weil ich Euren Rat brauche."
"Meinen Rat?"
"Ja, Comtesse, denn ich bin mir nicht sicher, ob Conte Caius' Vorschlag mit der Scheinverlobung keine Finte seinerseits war, um mich tatsächlich für sich zu gewinnen."
"Wie kommst du darauf?"
"Zum einen ist es für eine Scheinverlobung nicht nötig, eine kostspielige Feier auszurichten, und zum anderen hat Caius mir überdies sehr wertvolle Geschenke gemacht - seht selbst", erklärte Louise und zeigte Marguerite ihre Hand, an der ein wunderschöner, goldener Ring mit einem eingefassten Türkis prangte. "Außerdem versicherte er mir bei unserem letzten Gespräch, bei dem er mir den Verlobungsring an den Finger steckte und mir darüber hinaus eine dazu passende, kostbare Halskette schenkte, wie gerne er mit mir zusammen sei, wie sehr er mich schätze und dass es ihm ein großes Anliegen sei, mich glücklich zu machen. Bei solchen Worten gewinnt man doch den Eindruck, dass Caius aufrichtig in mich verliebt ist, oder etwa nicht?"
"Nun ja, Caius hat keinen Hehl daraus gemacht, wie gern er dich hat", meinte Marguerite, die etwas überrascht über die wertvollen Geschenke war. "Möglicherweise hält er es für erforderlich, all dies zu arrangieren, um diese Verlobung so glaubhaft wie möglich zu machen und vielleicht will er dir mit der Feier auch eine Freude machen, nachdem einige Personen auf dich herabsahen wie..."
"Oh ja, er ist sehr freundlich und aufmerksam mir gegenüber, Comtesse, und genau das macht mich nervös. Könnte es nicht sein, dass er mich tatsächlich heiraten will und diese angebliche Scheinverlobung in Wahrheit eine echte Verlobung ist?"
"Aber Caius hat dir doch sein Wort gegeben, nicht wahr?"
"Ja, das hat er."
"Lass dich nicht beunruhigen, Louise, ich vertraue Caius und ich bin sicher, dass deine Sorgen unbegründet sind."
"Wäre es nicht besser, wenn ich meinem Liebsten nach Rochefort schreibe und davon berichte, ehe er von anderen erfährt, dass ich verlobt bin?"
"Nein, denn diese Verlobung dient nur deiner Sicherheit und wird aufgelöst, sobald wir Paris verlassen haben. Vertrau Caius doch einfach, Louise."
"Mir wäre es lieber, wenn ich mich offiziell mit Andre verlobte und ihn dann heirate."
"Hab noch ein wenig Geduld, Louise, es wird mir eine Freude sein, Eure Hochzeit in Rochefort auszurichten."
"Demnach seid Ihr also davon überzeugt, dass ich Caius vertrauen kann?"
"Selbstverständlich. Er hat dich gern und gab dir zudem sein Wort. Beruhige dich, meine Liebe, und trink einen Schluck. Das wird dir gewiss gut tun."
"Danke, Ihr seid immer überaus freundlich zu mir, Comtesse."
Marguerite lächelte ihr aufmunternd zu und nahm dein Stück Gebäck. Louise schien ruhiger zu werden, nahm die Tasse und wollte sie gerade zum Munde führen, als plötzlich die Tür zum Wohnzimmer aufflog und Baronesse de Lebrunne mit wütendem Gesicht hereinstürmte.
"Hatte ich nicht gesagt, du sollst niemanden allein empfangen?!", keifte sie ihre Nichte an.
Marguerite bedachte sie mit einem verwunderten Blick, ohne sich von ihrem Platz zu erheben, und antwortete dann in ruhigem Ton: "Was spricht dagegen, dass ich Mademoiselle Lefevre empfange, die mich um ein Gespräch bat?"
"Mademoiselle Lefevre?", echote Adrienne fassungslos und bemerkte erst jetzt, wer auf dem Sofa neben ihrer Nichte saß.
"Guten Tag, Baronesse", sagte Louise, die sich beim Eintritt von Marguerites Tante sofort erhoben hatte.
"Guten Tag, Mademoiselle Lefevre", erwiderte die Angesprochene tonlos und starrte die junge Frau für einen Moment an, als ob sie einen Geist sähe.
"Geht es Euch nicht gut, Tante?", erkundigte sich Marguerite, der die Baronesse wie eine Geisteskranke erschien.
"Doch... doch, doch...", versicherte ihr Adrienne. "Entschuldige bitte... Entschuldigt, Mademoiselle Lefevre... ich weiß nicht, was über mich gekommen ist..."
Die Baronesse ließ sich auf einen der gepolsterten Stühle nieder und schüttelte den Kopf. Dann wandte sie sich wieder an ihre Nichte: "Meine Kammerzofe berichtete mir, dass du einen Besucher empfangen hast und ich befürchtete... oh, sie hätte mir sagen müssen, dass es eine Frau ist. Nun, das wird Konsequenzen für das dumme Ding haben!"
"Bitte, Tante, Eure Kammerzofe hielt es sicherlich für ihre Pflicht, Euch dies zu melden", wandte Marguerite ein. "Gewiss wünschtet Ihr, dass sie Euch berichtet, falls ich Besuch erhalte. Woher sollte Eure Zofe denn wissen, dass es Euch wichtig ist, ob der Besuch männlich oder weiblich ist? Daher bitte ich Euch, von einer Strafe abzusehen."
"Nun gut, vielleicht habe ich meine Instruktionen nicht genau formuliert", räumte Adrienne ein. Dann schaute sie zu Louise, die immer noch stand, und schenkte ihr ein aufgesetztes Lächeln. "Wie schön, dass Ihr uns auch einmal besucht, Mademoiselle Lefevre. Bitte, setzt Euch ruhig wieder. Wie geht es Euch?"
"Gut, Madame, danke der Nachfrage."
"Verzeiht, dass ich bisher nicht dazu kam, Euch zu gratulieren. Das hole ich nun nach: Herzlichen Glückwunsch zu Eurer Verlobung mit Conte Caius di Volturi, Mademoiselle Lefevre. Ihr müsst überglücklich sein, eine so gute Partie machen zu können."
"Vielen Dank, Madame."
"Und dazu noch ein so gut aussehender Mann mit ausgezeichneten Manieren", fuhr Adrienne mit falschem Lächeln fort. "Wie ich hörte, feiert Ihr demnächst Eure Verlobung mit ihm."
"Ja, und Madame de Colignon ist so freundlich, sie für mich auszurichten. Ich bin ihr dafür überaus dankbar."
"Das verstehe ich gut, Mademoiselle Lefevre. Wenn man keine Eltern oder andere Verwandten hat, ist man auf die Güte anderer Menschen angewiesen und es steht Euch wohlan, dafür dankbar zu sein."
Louise lächelte gezwungen über diese gemeine Anspielung hinweg, während Marguerite meinte: "Meine Freundin ist selbst ein sehr liebenswerter Mensch, so dass jeder ihr gerne zur Seite steht. Denn Mademoiselle Lefevre tut dies auch für andere und ist freundlich und gütig zu jedermann. Eine Eigenschaft, die auch manch anderem Menschen gut anstünde."
"Du hast vollkommen recht, liebes Kind", antwortete die Baronesse. "Doch deine Freundin muss darüber hinaus noch andere Talente besitzen, die mir bisher entgangen sind."
"Was meint ihr damit, Madame?", fragte Louise erstaunt.
"Es würde mich schon sehr interessieren, wie es Euch gelungen ist, das Herz des jungen Grafen di Volturi zu gewinnen."
"Das ist mir bisher auch ein Rätsel, Madame."
"Ihr scheint in der Tat eine äußerst kluge Person zu sein, denn es ist klug, die eigenen Talente vor anderen zu verbergen."
"Ich versichere Euch, dass ich nichts zu verbergen habe, Madame."
"Oh, meine Liebe, jede Frau hat ihre kleinen Geheimnisse - das versteht sich von selbst. Ich hoffe nur, es gelingt Euch auch nach der Hochzeit, Euren Mann zu halten."
"Tante Adrienne! Mäßigt Eure Zunge!", rief Marguerite sie zur Ordnung. "Es ist unnötig, Mademoiselle Lefevre mit falschen Unterstellungen zu kränken!"
"Verzeiht mir, Mademoiselle Lefevre, es lag keineswegs in meiner Absicht, Euch in irgendeiner Weise zu nahe treten zu wollen. Ich hielt es nur für ratsam, Euch darauf hinzuweisen, dass man auch in der Ehe etwas tun muss, um den Mann bei Laune zu halten. Schließlich bin ich seit Jahren verheiratet und es ist nicht immer leicht."
"Ich finde, dass solche Art von Gesprächen nicht hierher gehören", ermahnte Marguerite ihre Tante. "Es steht Euch nicht zu, meine Freundin mit derlei Ratschlägen zu versorgen. Schließlich seid Ihr weder ihre Mutter noch ihr Vormund."
"Tut mir leid, liebes Kind, ich habe es nur gut gemeint", behauptete Adrienne und bedachte Louise mit einem spöttischen Blick. "Jedenfalls wünsche ich Euch für die Zukunft alles Gute und viel Glück. Ihr könnt es gewiss gebrauchen."
Danach erhob sich die Baronesse von ihrem Stuhl und verließ ohne weiteres Wort das Wohnzimmer.
"Mach dir nichts aus den Gemeinheiten meiner Tante, Louise", wandte sich Marguerite in tröstendem Ton an ihre Freundin. "Sie ist nur neidisch auf dich, weil Caius dir den Vorzug vor ihr gibt. Er gefällt ihr selbst nämlich überaus gut und sie hat gewiss gehofft, dass er eine Affäre mit ihr beginnt."
"Nun ja, Caius ist wirklich ein hübscher und charmanter, junger Mann. Gewiss gefällt er vielen Frauen, so dass die Baronesse nicht die Einzige sein dürfte, die mich beneidet. Keiner ahnt schließlich, dass wir uns nur zum Schein verlobt haben - wobei ich hoffe, dass Caius wirklich zu seinem Wort steht."
"Das tut er gewiss - und ich verrate dir noch etwas, aber es muss unter uns bleiben."
"Natürlich, Comtesse, ich habe immer alle Eure Geheimnisse bewahrt."
Marguerite beugte sich zum Ohr ihrer Freundin und flüsterte: "Ich habe den Antrag von Aro angenommen."
"Nein!", entfuhr es Louise und sie starrte die Comtesse fassungslos an. "So schnell?!"
"Oh, ich weiß, er ist der Richtige!"
"Ihr seid verliebt und solltet nicht übereilt handeln."
"Ich weiß, dass es im Grunde verrückt ist, aber ich kann nicht anders. Außerdem drängt Aro mich zu nichts. Weißt du, dass er mir sogar vorschlug, einen Ehekontrakt aufsetzen zu lassen, in dem festgeschrieben ist, dass mein Besitz mein alleiniger Besitz bleibt."
"Was?! Das ist in der Tat höchst ungewöhnlich."
"Ja, nicht wahr? Er sagte, dass ihm nur wichtig sei, dass wir für immer zusammen sind."
"Nun... nun ja... er scheint Euch aufrichtig zu lieben."
"Wenn wir zusammen sind, bin ich überglücklich - ich kann es mit Worten kaum beschreiben."
"Das freut mich für Euch, Comtesse. Genauso geht es mir mit Andre."
"Ist es nicht schön, dass wir die Liebe fürs Leben gefunden haben, Louise?"
"Ja, Comtesse."
"Ach, und ich bitte dich noch um eines: Nenn mich doch endlich bei meinem Vornamen."
"Aber das gehört sich doch nicht."
"Ach komm, Louise, du bist meine Freundin und für mich fast wie eine Schwester. Deshalb finde ich es unpassend, dass du mich immer noch Comtesse nennst. Ich heiße Marguerite."
"Es ist sehr freundlich von Euch, aber ich fürchte, dass ich das nicht kann."
"Überleg es dir, Louise! Immerhin bist du jetzt die Verlobte eines Grafen und niemand wird sich daran stören, wenn wir uns beim Vornamen nennen. Immerhin sind wir seit Jahren befreundet."
"Von dieser Seite habe ich es noch nie betrachtet. Aber Eure Tante hat gewiss etwas dagegen."
"Das kann dir gleichgültig sein. Meine Tante wird bald nichts mehr zu sagen haben, weil ich verheiratet sein werde."
"Ihr klingt so zuversichtlich, Comtesse, obwohl Ihr für die Eheschließung die Zustimmung Eurer Tante braucht und ich fürchte, sie wird wenig davon erbaut sein, wenn Conte Aro bei Ihr offiziell um Eure Hand anhält."
"Nun, ich hatte gestern erst ein vertrauliches Gespräch mit Kardinal Mazarin, dem Ersten Minister", begann Marguerite gut gelaunt zu erzählen. "Er gab mir deutlich zu verstehen, dass er mich gerne in all meinen Angelegenheiten unterstützen will und dass ich mich bei etwaigen Schwierigkeiten an ihn wenden könne. Außerdem ließ er mich wissen, dass der König über meinem Vormund stehe... und dass meine Tante mir nicht verbieten darf, eine Einladung der Königin abzulehnen."
"Oh, Ihr habt eine Einladung Ihrer Majestät erhalten?"
"Ja, hat Madame de Colignon dir das nicht erzählt?"
"Wir haben nicht darüber gesprochen, Comtesse, vor allem deshalb nicht, weil ich mich unwohl gefühlt habe und auf Anweisung von Madame im Bett bleiben sollte."
"Das tut mir leid, aber jetzt geht es dir doch wieder besser, oder?"
"Natürlich, Comtesse, sonst wäre ich nicht hier", versicherte Louise ihrer Freundin lächelnd. Dann verdüsterte sich jedoch ihre Miene und sie fragte: "Die Baronesse hat Euch ernsthaft verboten, eine Einladung der Königin anzunehmen?"
"Ja, und zwar nur deshalb, weil die Einladung sie und ihren Ehemann ausschloss."
"Höchst ungewöhnlich, da die Baronesse doch Euer Vormund ist."
"Scheint die Königin nicht zu interessieren. Allerdings habe ich etwas aufgeschnappt, was ich mir nicht erklären kann und auch Madame de Colignon wollte mir nichts Genaueres darüber sagen", erzählte Marguerite. "Aber einer der Leute, die mich zu Kardinal Mazarin begleiteten, gab meiner Tante zu verstehen, dass sie eine >>Persona non grata<< sei. So viel ich auch Madame de Colignons Andeutungen heraushören konnte, scheint mein Onkel damit gemeint zu sein. Doch was kann er nur verbrochen haben, dass man weder ihn noch meine Tante bei Hofe nicht sehen will?"
"Das weiß ich auch nicht genau, aber während des Silvesterballs kam mir hin und wieder verhalten und sehr leise zu Ohren, dass sich einige der Gäste darüber empörten, dass man >>Verschwörer<< bei Hofe eingeladen habe, womit man vor allem Baron de Lebrunne und Monsieur de Fournier meinte."
"Verschwörer?", fragte Marguerite überrascht. "Ich bitte dich, sieh dir meinen Onkel an. Er ist doch viel zu bequem, um sich in eine Verschwörung verwickeln zu lassen. Das muss ein Missverständnis sein."
"Wer weiß? Als er jünger war, könnte Euer Onkel durchaus damit zu tun gehabt haben. Warum wohl verfügen die Lebrunnes über so wenig Vermögen?"
"Aber wenn der Baron und Monsieur de Fournier tatsächlich in eine Verschwörung verstrickt waren, hätte man sie doch hingerichtet, oder etwa nicht?"
"Gewiss hat Eurer Vater um Gnade für seinen Schwager ersucht und man hat es ihm gewährt. Deshalb wohl behandelt Euch der Baron mit mehr Freundlichkeit als seine Frau es tut."
"Könnte sein... hm... mein Vater war sicherlich um den guten Rufen unseres Namens besorgt, denn wer hat schon gern einen Verräter in der Familie? Das fällt doch auf uns alle zurück", meinte Marguerite nachdenklich. "Vermutlich wurde die Begnadigung nur gewährt, weil Kardinal Richelieu seinerzeit ein gutes Wort für unsere Familie einlegte."
"Möglich, ich weiß es nicht. Euer Vater sprach nie über so etwas."
"Ich wünschte, ich wüsste mehr über unsere Familie", seufzte die Comtesse. "Himmel, ein begnadigter Verschwörer in unserer Familie, wenn auch nur angeheiratet, beschmutzt den Namen Rochefort und Papa hält es nicht für nötig, mich darüber zu unterrichten! - Umso schleierhafter ist mir, warum man mich bei solch einer Verwandtschaft bei Hofe einlädt, warum die Majestäten so freundlich zu mir waren und der neue Erste Minister mir sein Wohlwollen zusichert. Weshalb will die Königin mich unbedingt kennen lernen?"
"Ganz gewiss macht man einen Unterschied zwischen der Familie Rochefort und der Familie Lebrunne", erwiderte Louise in ernsthaftem Ton. "Euer Vater war ein loyaler Diener der Krone und hatte mit dieser Verschwörung nicht das Geringste zu tun. Auch seine Schwester dürfte nichts von den Umtrieben ihres Gemahls gewusst haben, ist unglücklicherweise jedoch mit ihm verbunden, so dass sie die Ablehnung und den Abstieg des Barons mittragen muss."
"Mag sein, aber ich finde es dennoch ein wenig unverständlich", meinte Marguerite. "Normalerweise misstraut man Angehörigen eines Verschwörers. Deshalb sollte ich mich wohl besser vor diesen intriganten Hofleuten in Acht nehmen. Ich hoffe nur, dass ich die Dreikönigsfeier im Palast unbeschadet überstehe und nicht Unbedachtes mir über die Lippen kommt."
"Ach, ich glaube nicht, dass man Euch mit Misstrauen begegnet", gab Louise zurück. "Ihr habt doch bisher nicht am Hofleben teilgenommen und gedenkt es auch in Zukunft nicht zu tun. Was sollte Euch daher also passieren? Auf dem Ball fand man Euch reizend und alle Augen ruhten wohlgefällig auf Euch. Vermutlich wartet man nur darauf, dass Ihr bald heiratet - und da Eure Wahl auf einen Edelmann bei Hofe fallen könnte, wird die Königin wissen wollen, mit wem sie es zu tun bekommen könnte. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum sie Euch näher kennen lernen will."
"Meinst du?"
"Das erscheint mir vernünftig, denkt Ihr nicht auch?"
"Vielleicht hast du recht. Außer dir weiß doch niemand, wen ich heiraten will. Ach, wenn es doch nur schon so weit wäre..."
Kapitel 39
Es ist keine Kunst, ein Mädchen zu verführen,
aber ein Glück, eines zu finden, das es wert ist, verführt zu werden .
~ Soren Kierkegaard (1813 - 1855) ~
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Eigentlich gehörte es sich nicht für eine junge Dame ihres Standes, sich einfach mit dem Mann ihres Herzens während der Bekanntgabe einer Verlobung in den Garten zu stehlen, von dort aus auf eine Mauer und in eine bereitstehende Kutsche helfen zu lassen, aber Marguerite scherte all das nicht. Es war viel zu aufregend und sie ließ sich nur allzu gern von Aro in eine im Wagen befindliche warme Wolldecke hüllen, während sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte.
"Entführt Ihr mich jetzt?", fragte sie ihn leise.
"Nicht doch", flüsterte er, drückte sie fest an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. "So etwas würde ich nie tun. Nein, ich wollte nur die Gunst des Abends nutzen, um Euch das Haus zu zeigen, in dem meine Brüder und ich hier in Paris wohnen... und natürlich, um eine kurze Zeit mit Euch allein zu verbringen."
"Eine sehr kurze Zeit", murmelte sie und lachte leise. "Ich fürchte, wir dürfen der Feier nicht zu lange fernbleiben. Meine Tante wird gewiss irgendwann bemerken, dass ich nicht mehr unter den Gästen weile."
"Nun ja, ich hoffte insgeheim, dass Eure werte Frau Tante auch weiterhin das Bett hütet."
"Den Gefallen tat sie uns leider nicht, obwohl sie heute Mittag noch auf ihren Mann einredete, nicht auf Agnes' Verlobungsfeier zu erscheinen."
"Offenbar hat die Baronesse ihre Meinung geändert."
"Ja, nicht einmal auf ihre Abneigung gegen bestimmte Menschen und Ereignisse kann man sich verlassen. Sie belegte sogar Caius in Beschlag, obwohl sie gegen seine Verlobung mit Louise ist."
"Der Baron kümmert sich einfach zu wenig um sie, so dass sie zu viel Zeit hat, über andere nachzudenken."
"Wisst Ihr, ich glaube, die Ursache liegt tiefer."
"Lasst uns nicht weiter über Eure Tante sprechen, wir sind gleich da!"
Einen Augenblick später hielt die Kutsche und einer der Bediensteten öffnete die Tür, klappte die Stiege auf und Aro half seiner Braut galant aus der Kutsche.
"Wir haben alles auf Eurem Zimmer angerichtet, wie Ihr es wünschtet, Meister Aro", sagte der Diener.
Der schwarzhaarige Vampir nickte ihm stumm zu und geleitete dann seinen Gast ins Haus.
"Möchtet Ihr das Haus sehen?", erkundigte er sich, doch Marguerite schüttelte den Kopf.
"Heute bleibt uns leider keine Zeit dafür, aber ein anderes Mal gern", erwiderte sie.
"Ihr habt recht, meine Liebe", gab er zurück und geleitete sie dann auf sein Zimmer im ersten Stock, in dem ein kleiner, gedeckter Tisch mit zwei Gläsern und einem Eiskübel darauf stand, in dem sich eine Flasche Sekt befand. Außerdem gab es ein kleines Buffet mit kaltem Fleisch und etwas Brot.
"Wie nett von Euch", meinte Marguerite, als sie das sah. "Obwohl keinerlei Gefahr bestand, dass ich hungrig bin, finde ich es dennoch rührend von Euch, dafür zu sorgen, dass etwas Essbares auf Eurem Zimmer für uns bereit steht."
"So wird es immer sein, mein Liebling", erklärte er zärtlich. "Ihr müsst Euch um nichts sorgen, dafür habt Ihr ja jetzt mich."
Er schloss die Tür hinter sich, so dass sie endlich allein waren, und Marguerite legte ihre Arme um seinen Hals, um ihn zu küssen. Eine Weile waren sie auf diese Weise miteinander verschlungen, ehe er sie auf seine Hände hob und zu seinem Bett trug. Behutsam legte er sie hinein, zog ihre Schuhe aus, streifte dann seine rasch ab und machte es sich neben ihr gemütlich. Sie schauten sich an und er suchte ihre Hand, fand und drückte sie.
Marguerite wusste genau, dass solch ein Beisammensein mit einem Mann sich eigentlich nicht gehörte, traf jedoch keinerlei Anstalten, sich aus dem Bett zu erheben. Sie genoss es vielmehr, ihm endlich einmal so nahe zu sein, ohne dass irgendjemand sie störte. Denn gewiss hatte Aro seine Dienerschaft entsprechend angewiesen. Sie stellte sich einen Moment lang vor, wie es wohl wäre, wenn sie nicht mehr zu ihren Verwandten in das gemietete Stadthaus zurückkehrte, sondern hier bei Aro bliebe, auch wenn sie noch nicht miteinander verheiratet waren.
"Wollen wir wirklich zurück auf das Fest?", wisperte sie ihm leise zu.
Ihr Liebster schenkte ihr einen amüsierten Blick.
"Ihr habt doch nicht wirklich die Absicht, einfach Euer altes Leben zu verlassen ohne Euch von Euren Verwandten zu verabschieden, Marguerite, oder?"
"Ich weiß es nicht. Im Augenblick kann ich keinen klaren Gedanken fassen, da mich meine Gefühle für Euch überwältigen."
"So etwas ist Musik in meinen Ohren, Carissima", sagte Aro, kam ihr näher und verschloss ihren Mund mit seinen Lippen. Sie wehrte sich nicht, sondern erwiderte seinen Kuss. Ihre Hände begannen, sanft sein Gesicht zu streicheln.
"Ich will nie wieder fort von Euch", flüsterte sie, schlang ihre Arme erneut um seinen Hals und brachte ihn dazu, sich ihr noch mehr zu nähern, bis sie Seite an Seite lagen und sie seinen Leib an ihrem spüren konnte.
Aro, der auf so viel Leidenschaft an diesem Abend nicht vorbereitet war, wusste nicht recht, wie ihm geschah, aber er spürte, wie das Begehren in ihm wuchs. Es war ein guter Ratschlag von Marcus gewesen, sich heute erneut zu stärken, bevor sie sich wieder in die Gesellschaft von Menschen begaben, vor allem, da diese kleine Entführung seiner Braut ja von ihm geplant worden war. Aro hoffte, dass er genügend Selbstkontrolle besaß, um nicht zu weit zu gehen. Jetzt war ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um seine zukünftige Ehefrau zu verwandeln. Dennoch konnte er es nicht lassen, seine Hände liebkosend über ihren Leib wandern zu lassen. Ihr Körper war zwar schlank, aber auch weich und warm und er sehnte sich danach, sich mit ihr zu vereinen. Eine seiner Hände legte sich schließlich wie unbeabsichtigt auf ihre Brust, was ihn trotz der Tatsache, dass Marguerite immer noch in ihr Kleid gehüllt war, sehr erregte. Ihr schien es auch zu gefallen, denn sie wehrte ihn nicht ab, ganz im Gegenteil. Ihre schlanken Finger streichelten sanft über seinen Nacken, was ihn beinahe wahnsinnig machte! Sie sehnte sich genauso danach, sich mit ihm zu vereinen, wie er es tat - aber es durfte nicht sein, denn sonst würde er die Selbstkontrolle verlieren.
"Wir müssen aufhören, Liebling", wisperte er keuchend, löste sich aus ihrer Umarmung und rollte sich zur Seite.
"Warum denn, Aro, ich möchte es auch", versicherte sie ihm, schlang ihre Arme um seine Schultern und legte ihren Kopf darauf, so dass er ihren Mund an seinem Ohr spürte. "Ich liebe dich so sehr und mir ist es gleich, wann wir uns vereinen. Wir wollen doch sowieso heiraten, nicht wahr?"
"Bitte, Liebes, quäle mich nicht so", bat er und schloss die Augen.
"Ich will dich nicht quälen, Liebster, tut mir leid", meinte sie traurig und schwieg dann, ohne jedoch ihre Arme von seinem Körper zu lösen. Stattdessen küsste sie ihn sanft auf seine Wange.
"Nein, mir tut es leid", sagte er leise, ohne seine Augen zu öffnen. "Aber ich habe mir selbst geschworen, dass ich alles richtig machen will und deshalb bitte ich dich um Geduld, bis wir offiziell Mann und Frau sind, auch wenn ich dich leidenschaftlich begehre."
"Einverstanden", versprach sie, doch er spürte sehr deutlich, wie enttäuscht sie darüber war.
Ihre Nähe, ihr Duft und all ihre Gedanken und Gefühle machten es ihm sehr schwer, seine Selbstkontrolle aufrechtzuerhalten. Andererseits wollte er sie bei sich haben, genoss all das auch und wünschte sich, diesen Augenblick für immer festzuhalten.
Um nicht völlig den Verstand zu verlieren, lenkte er seine Gedanken in eine andere Richtung, um sich von ihren abzuschotten. Vor wenigen Stunden erst hatten ihm Demetri und Felix berichtet, dass sich Lebrunne und Guignot gestern auf dem großen Friedhof trafen, wo sich zu dem Zeitpunkt niemand sonst aufhielt. Zweifellos hatten die beiden Herren diesen Ort gewählt, um ungestört und ohne Zeugen über ihr Vorhaben zu sprechen. Dabei ging es darum, ein geheimes, magisches Ritual durchzuführen, um das Herz einer Frau für sich zu gewinnen. Doch dazu bedurfte es auch des Blutes einer nahen Angehörigen der Person, die man durch einen Liebeszauber an sich binden wollte. Dabei handelte es sich um Adrienne de Lebrunne, was Aro jedoch schon wusste. Nun hatte Guignot es durch einen seiner Ordensbrüder, einem Mann aus dem Hochadel, so einfädeln lassen, dass Lebrunne mitsamt Gattin zu einem der Höflinge auf eine Feier an Dreikönig eingeladen wurde. Auf dem Weg dahin gegen etwa halb fünf sollte ein fingierter Überfall auf die Kutsche der Lebrunnes stattfinden, der Baron dabei niedergeschlagen und seine Frau betäubt und entführt werden. Den genauen Plan dazu hatte Guignot aber erst heute seinem Freund Lebrunne mitgeteilt, der davon alles andere als begeistert war.
Aro wunderte sich, dass der Baron nicht nur um seine eigene Person, sondern auch um seine Angetraute besorgt war, obwohl Adrienne ein furchtbarer Drachen war, der ihm das Leben schwer machte. Allerdings zeigte das nur, dass Roger de Lebrunne wohl nicht den Tod seiner Gattin wünschte, sondern noch etwas für sie übrig zu haben schien. Für die Durchführung des Liebeszaubers war ihr Tod auch nicht vonnöten, man brauchte ja nur etwas von ihrem Blut. Darüber hinaus war für den Abschluss dieses Rituals eine körperliche Vereinigung mit dem Opfer erforderlich, was Guignot seinem Freunde Lebrunne wohlweislich verschwiegen hatte. Natürlich würde die Hakennase dies selbst vollziehen, da er ohnehin der Liebhaber der Baronesse gewesen war. Mit etwas Glück würde Adrienne, die während der ganzen Zeremonie betäubt sein würde, dabei ein Kind von ihm empfangen, so dass Lebrunne möglicherweise doch zu seinem ersehnten Stammhalter kommen würde.
Menschen waren Aro grundsätzlich egal, doch irgendwie empfand er Mitleid mit Roger de Lebrunne, der von seiner Frau mit einem Freund betrogen wurde - ein falscher Freund zudem, der ihm noch sein eigenes Kind als Ergebnis eines magischen Rituals unterschieben wollte. Wer solch einen Freund besaß, brauchte keine anderen Feinde mehr. Je eher Marguerite aus diesem Umfeld verschwand, desto besser war es für sie.
Aber warum machte er sich darüber so viele Gedanken? Demetri wusste bereits, wo sich die Brüder des magischen Ordens treffen wollten, um mit Guignot seinen Liebeszauber auszuführen. Diese Bande würde morgen Nacht eine äußerst unangenehme Überraschung erleben. Es war nicht immer von Vorteil, einen Kellerraum in einem Stadthaus zu besitzen, aus dem kein Laut nach Außen zu dringen vermochte; und da zudem der Adlige, dem dieses prächtige Gebäude gehörte, allen seinen Dienern morgen Abend freigegeben hatte, würde niemand das Festmahl stören...
"Was hast du, Aro?", drang da wie aus weiter Ferne die Stimme des geliebten Mädchens an sein Ohr. "Du bist so still? Geht es dir gut?"
"Aber ja, Liebes", behauptete er und drehte seinen Kopf zu ihr. "Ich musste nur erst ein wenig zur Ruhe kommen. Außerdem denke ich darüber nach, wie ich deine Tante überzeugen kann, mir deine Hand zu geben."
"Ein unlösbares Problem, fürchte ich..."
"So etwas gibt es nicht, Marguerite. Sag mal, hättest du etwas dagegen, wenn wir schon vor deinem Geburtstag heiraten?"
"Nein, wenn es dir gelingt, meine Tante davon zu überzeugen."
"Was ist mit deinem Onkel? Könnte er uns helfen?"
"Ich weiß nicht! Er ist für mich schwer einzuschätzen. Einerseits ist er in letzter Zeit sehr nett zu mir und setzt sich doch tatsächlich immer mehr gegen seine Frau zur Wehr, aber andererseits..."
Aro lachte und meinte: "Ja, der Baron hat einen schweren Stand bei einer so launischen Frau wie deiner Tante."
"Tja, das kann man wohl sagen, und ich muss auch unter ihren Launen leiden, weil Papa seine Schwester aus Gründen, die ich nicht verstehe, zu meinem Vormund gemacht hat. Sie missgönnt mir sogar die Einladung Ihrer Majestät zu einer Dreikönigsfeier."
"Vermutlich ist sie gekränkt, weil man sie nicht eingeladen hat."
"Dabei ist das nur eine kleine Feier - und dennoch fürchte ich mich etwas davor. Was, wenn ich einen schlimmen Fauxpas begehe?"
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass dir so etwas passiert, Marguerite. Mach dir keine Sorgen, die Königin wird entzückt von dir sein."
"Ach, meinst du wirklich? Aber ich kenne mich mit den Gepflogenheiten bei Hofe nicht aus und weiß nicht, worüber ich mich dort mit Ihrer Majestät unterhalten sollte."
"Dein Kopfzerbrechen darüber ist völlig unnötig, Liebes. Die Königin bestimmt, worüber man sich unterhält und wird dir vermutlich Fragen stellen, auf die nur antworten musst. Außerdem bin ich mir sicher, dass deine zurückhaltende Art sehr positiv von Ihrer Majestät aufgenommen wird."
"Glaubst du wirklich, Aro?"
"Ganz bestimmt!"
"Es gibt noch eine Sache, die mir gerade durch den Kopf geht. Was wird aus Schloss Rochefort und den umliegenden Ländereien, wenn wir verheiratet sind?"
"Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Wir werden zu gegebener Zeit schon eine Lösung finden."
"Aber deine Brüder und du wollt doch bestimmt nach Italien zurückkehren, oder? Und als deine Frau werde ich selbstverständlich mit dir gehen."
"Natürlich möchte ich, dass du unsere Residenz kennenlernst, Marguerite, aber damit hat es keine Eile. Lass uns zunächst mal das Einverständnis deiner Tante zu unserer Heirat gewinnen, alles Weitere ergibt sich dann wie von selbst. - Was soll eigentlich aus deiner Tante werden, wenn du meine Gattin bist, Liebste?"
"Der Baron hat ein eigenes Anwesen, auf das er mit seiner Frau zurückkehren kann. Ich finde, die beiden haben lange genug auf meine Kosten gelebt."
"Darin stimme ich vollkommen mit dir überein, Liebes."
Marguerite küsste ihn sanft auf den Mund und meinte: "Ich hoffe, dass wir uns immer in allem einig sind."
"Eine Hoffnung, die ich teile, Liebste, und ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Aber jetzt sollten wir allmählich wieder zur Verlobungsfeier deiner Freundin Agnes zurückkehren."
"Jetzt schon?", fragte die junge Frau enttäuscht. "Eigentlich würde ich lieber noch eine Weile allein hier mit dir bleiben."
"Glaub mir, ich auch, Marguerite, aber wir müssen vernünftig sein. Bestimmt hat man unser Fehlen schon bemerkt und ich möchte nicht riskieren, dass du wieder Ärger mit deiner Tante bekommst. Wenn wir dem Fest zu lange fernbleiben, wird uns niemand abnehmen, dass wir lediglich ein wenig draußen spazieren waren."
"Dann muss es wohl sein", seufzte die Komtesse und erhob sich langsam. "Hilfst du mir, meine Frisur wieder ein wenig zurechtzumachen?"
"Ich schicke dir Renata herauf. Sie kann das bestimmt besser als ich?"
"Renata?", fragte Marguerite verständnislos. "Wer ist Renata?"
"Eine unserer Bediensteten, Liebes. Du wirst sie gewiss mögen", erklärte Aro, stand auf und band sich seine langen Haare, die sich während ihrer gegenseitigen Liebkosungen gelöst hatten, wieder am Hinterkopf zusammen, ehe er das Zimmer verließ. Wenige Augenblicke später erschien eine hochgewachsene, schlanke Frau mit großen Augen und langem, braunen Haar und verneigte sich vor Marguerite, welche sie erstaunt betrachtete. Dabei fragte sie sich, wie Aro sich ausgerechnet in sie verlieben konnte, wenn solch eine Schönheit wie Renata in Italien in seiner Nähe weilte.
"Meister Aro sagte, dass Ihr Hilfe braucht, Comtesse?"
"Ja, das ist richtig. Wärt Ihr wohl so freundlich, mir meine Haare wieder ordentlich zu frisieren?"
Renata lächelte etwas und meinte: "Das ist kein Problem für mich."
*
Sobald die Gäste sich wieder im Saal zerstreut hatten, suchte Lebrunne in Begleitung seiner Gemahlin die Nähe eines seiner Bekannten, mit dessen Frau sich Adrienne gut verstand und rasch ins Plaudern geriet. Auch der Baron wechselte einige Worte mit ihr und ihrem Gatten, wobei er immer wieder seine Augen schweifend im Raum auf der Suche nach Marguerite umherwandern ließ, bevor er sich von der kleinen Gruppe entfernte, um zu Louise und ihrem Verlobten zu gehen, die unweit des Buffets standen und sich leise miteinander unterhielten.
"Ah, das sieht alles sehr gut aus", meinte Lebrunne und schaute einen Moment auf den langen Tisch, der voller verschiedener Speisen war, ehe er sich an Louise wandte. "Welche dieser Köstlichkeiten könnt Ihr mir empfehlen, Mademoiselle Lefevre?"
"Oh, sie sind alle recht schmackhaft", antwortete die Angesprochene freundlich.
"Dann werde ich mal etwas probieren", behauptete der Baron und nahm ein Gebäckstück, dass er sich in den Mund schob.
"Wirklich köstlich", meinte er dann und sah Louise wieder an. "Hat meine Nichte auch schon davon probiert?"
"Tut mir leid, Baron, aber ich habe die Comtesse seit der offiziellen Verlobung von Mademoiselle Fournier aus den Augen verloren. Möglicherweise war sie schon vor uns am Buffet, doch sicher weiß ich es nicht."
"Das ist wirklich schade", brummelte Lebrunne. "Und Ihr, Conte di Volturi, habt Ihr vielleicht eine Idee, wo meine Nichte sein könnte? Mir schien, dass Euer Bruder Aro sich während der offiziellen Verkündung der Verlobung von Mademoiselle Fournier zu ihr gesellt hätte."
Caius tat, als würde er überlegen, bevor er antwortete: "Das könnte sein. Allerdings habe ich kaum darauf geachtet, weil ich auf angenehme Art abgelenkt war."
Bei dem letzten Satz bedachte der blonde Vampir Louise mit einem sanftem Blick und sie lächelte ihn an.
"Mademoiselle Lefevre, Ihr seid doch Marguerites Freundin", wandte sich der Baron eindringlich an die junge Frau. "Daher versteht Ihr gewiss meine Sorge um Marguerites guten Ruf. Ich möchte sie doch nur davor bewahren, ins Gerede zu kommen. Hier in Paris gibt es viele Intriganten und Neider, wovon Marguerite nichts ahnt. Sie ist viel zu gutgläubig, was Menschen betrifft."
"Die Comtesse ist klüger als Ihr denkt", erwiderte Louise in beruhigendem Ton. "Sie neigt nicht dazu, jedem zu vertrauen. Macht Euch deshalb also keine Sorgen."
"Nun, meine Liebe", wandte sich da Caius an seine Verlobte mit einem Seitenblick auf Lebrunne. "Der Baron hat ganz recht mit seiner Einschätzung, dass man in Paris nicht jedem vertrauen sollte...", der blonde Jüngling richtete danach das Wort an Roger und fuhr fort: "Aber falls Marguerite tatsächlich mit Aro zusammen ist, besteht für Euch keinerlei Grund, sich um Ihren guten Ruf zu sorgen. Mein Bruder wird sie vor jeglicher Belästigung beschützen, wenn es wirklich jemand wagen sollte, ihr gegen ihren Willen zu nahe zu kommen."
Ehe der Baron etwas dagegen einwenden konnte, huben die Musiker an, ihre Instrumente zu stimmen und Caius wandte seine Aufmerksamkeit sogleich wieder Louise zu. "Möchtet Ihr tanzen, meine Liebe?"
"Ja, sehr gern", erwiderte seine Braut und reichte ihm die Hand.
"Entschuldigt uns", wandte sich der Jüngling in knappem Ton an Lebrunne und ging mit ihr zu der Reihe der anderen Paare, die sich in Tanzgruppen aufstellten. Verärgert sah der Baron ihnen hinterher, denn es gab keinen Grund für ihn, die beiden daran zu hindern. Das würde in der Gesellschaft nur auffallen und Verwunderung über sein Verhalten auslösen. Etwas, dass nicht in seinem Sinne war. Außerdem könnte es möglich sein, dass Louise und ihr Bräutigam tatsächlich nichts darüber wussten, wohin Aro mit seiner Nichte verschwunden war. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich weiterhin umzusehen, vielleicht auch außerhalb des Festsaals.
Der Baron schickte sich gerade an, die Gesellschaft möglichst unauffällig zu verlassen, als Fournier auf ihn zukam.
"Endlich habe ich Euch gefunden, mein Freund", sagte der Gastgeber gut gelaunt. "Kommt, ich möchte Euch mit einigen einflussreichen Leuten bekannt machen, die Euch eventuell dabei behilflich sein können, Euer Ansehen bei Hofe wieder reinzuwaschen."
Lebrunne horchte interessiert auf. Diesem Angebot konnte er nicht widerstehen, denn wenn er sich tatsächlich erneut verheiratete und Vater eines Sohnes werden würde, brauchte er Verbindungen bei Hofe - schon allein, damit sein Schössling keinerlei Nachteile befürchten musste...
*
Nachdem man zweimal zum Tanz aufgespielt hatte, kehren Marguerite und Aro wieder in den Festsaal zurück. Sobald Louise ihrer ansichtig wurde, bahnte sie sich einen Weg zu den beiden, die sich ans Buffet gestellt hatten.
"Welch ein Glück, dass Ihr wieder hier seid, Comtesse", wisperte Louise ihrer Freundin zu.
"Warum, hat mich etwa jemand vermisst?", fragte Marguerite und warf dabei einen beunruhigten Blick zu Aro, der völlig entspannt wirkte. "Vermutlich meine Tante, nicht wahr?"
"Nein, Euer Onkel erkundigte sich bei Caius und mir, wo Ihr seid. Natürlich taten wir ahnungslos und ich glaube, dass er uns das abnahm. Es wäre besser, wenn Ihr ihm sagt, dass Ihr auf dem Fest wart."
"Ja, natürlich. Danke, Louise. Aber ich finde es schon recht merkwürdig, dass der Baron mich zu beobachten scheint. Mein Eindruck war stets, dass er sich nicht besonders für mich interessiert."
"Wer weiß, was in seinem Kopf vorgeht", meinte Louise mit einem warnenden Unterton. Sie senkte ihre Stimme zu einem fast unhörbaren Flüstern herab, als sie sich an Marguerites Ohr beugte und fortfuhr: "Einige Gäste auf den verschiedenen Gesellschaften, auf denen wir waren, munkeln, dass er einst in ein Komplott mit ein paar anderen Adligen und dem Bruder des Königs verwickelt war. Die meisten seiner Mitverschwörer wurden hingerichtet, aber Euer Onkel gehört zu den wenigen, die begnadigt wurden. Deshalb denken manche auch, dass er ein Verräter sei, mit dem sie nichts zu tun haben wollen."
"Jetzt verstehe ich, warum mein Vater den Kontakt mit den Lebrunnes mied."
"Bitte, seid vorsichtig, was Euren Onkel betrifft, Comtesse. Ich fürchte, man kann ihm nicht trauen."
Caius hatte sich in diesem Augenblick zu seiner Braut gesellt und meinte leise: "Louise hat völlig recht mit der Einschätzung des Charakters Eures Onkels, Marguerite."
"Das ist viele Jahre her", mischte sich nun Aro ein und die beiden jungen Frauen schauten ihn erstaunt an, überrascht, dass er anscheinend wusste, worüber sie sich gerade im Flüsterton ausgetauscht hatten. "Mag sein, dass der Baron nicht immer ehrlich zu seiner Frau war, aber für Euch ist er nicht gefährlich, Marguerite. Er möchte nur nicht, dass Ihr abhanden kommt, wenn Ihr mit Eurer Tante und ihm ausgeht. Das ist alles."
"Das wäre natürlich auch möglich", räumte Marguerite ein und erinnerte sich daran, dass ihre Verwandten bei Mazarin vorsprechen mussten. An diesem Tag kamen sie recht wortkarg wieder von dem Gespräch zurück und seitdem hatte sich ihre Tante sehr zurückgehalten, bis heute. Wusste der Himmel, was ihre schlechten Launen immer auslöste. Konnte es tatsächlich sein, dass sie nicht nur in ihr, der Tochter ihres Bruders, ein Ärgernis sah, sondern auch in ihrem Ehemann?
Aro nahm ihre Hand und meinte: "Macht Euch nicht so viele Gedanken um Euren Onkel oder seine Gemahlin, Marguerite. Bald hat das alles ein Ende, das verspreche ich Euch."
Sie blickte ihn an, er strahlte so viel Zuversicht und Selbstsicherheit aus, dass sie sich tatsächlich gleich besser fühlte. Aro hatte ihr heute Abend gezeigt, wozu er fähig war, und sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass er sie notfalls entführen und heiraten würde. Aber soweit wollte sie es erst gar nicht kommen lassen.
"Ihr solltet Euch an diesem Abend amüsieren, anstatt Euch trüben Gedanken hinzugeben, die völlig unnötig sind", sagte Aro, führte ihre Hand zum Mund und küsste sie zärtlich. Da die Musik gerade wieder anhub, schlug er vor: "Wir sollten miteinander tanzen, Liebste, damit jeder sieht, dass wir auf dem Fest anwesend sind. Das wird Euren Onkel beruhigen."
"Ja, eine gute Idee", stimmte sie sofort zu und reihte sich mit ihm bei den Tanzpaaren ein. Caius und Louise taten es ihnen gleich. Sobald sie sich zu den Klängen der Melodie bewegten, vergaß Marguerite alle ihre Sorgen und genoss es, in Aros Nähe zu sein, ihm in die Augen zu schauen und ihn zu berühren. All dies war bei einem Tanz möglich, ohne dass jemand daran Anstoß nahm.
Auch der Baron, der sich in einer Unterhaltung mit jenen Leuten befand, die ihm laut Fournier bei Hofe nützlich sein konnten, bemerkte es - doch er störte sich sehr wohl daran. Innerlich bedauerte er, dass er momentan nichts dagegen machen konnte und sich vorerst bei Marguerite mit spitzen Bemerkungen zurückhalten musste, weil sie Conte Aro di Volturi den Vorzug vor allen anderen zu geben schien. Erst musste er wieder frei sein, ehe er dem Mädchen klarmachen würde, wie wenig ihm ihr Umgang mit diesem schmierigen Italiener gefiel. Natürlich wäre sie anfangs noch widerspenstig, doch das gab sich schon, sobald die Volturi-Brüder Paris verlassen hatten. Keine Minute lang glaubte er, dass Aro ernste Absichten auf seine Nichte hatte, selbst wenn sie eine überaus gute Partie war. Glaubte man den Gerüchten, dann besaßen die Volturi ein sehr viel größeres Vermögen, so dass sich Aro wohl nur einer kleinen Tändelei mit Marguerite hingab. Schließlich war allgemein aufgefallen, wie gern er mit der Damenwelt schön tat. Ein Frauenheld war er, nichts weiter - ihm nicht ganz unähnlich, aber ernste Absichten? Nein! Das hatte dieser Aro nicht nötig, schließlich war er noch ein junger Mann, der sich gewiss Zeit ließ, ehe er in den Hafen der Ehe einlief. Aus diesem Grunde musste er darauf achten, dass seine Nichte nicht verführt wurde. Schließlich sollte sie als Jungfrau in den Stand der Ehe treten...
*
Währenddessen saß Adrienne zusammen mit Madame de Fournier beisammen und genoss einen Weißwein, dabei immer wieder einen Blick auf ihren Gatten werfend, der auf der gegenüberliegenden Seite des Saals mit dem Gastgeber und ein paar anderen Männern stand und sich unterhielt.
"Ich bin Euch überaus dankbar für Eure Hilfe, meinem Gemahl wieder mit wichtigen Leuten zusammenzubringen", wandte sich die Baronesse an die Herrin des Hauses.
"Aber ich bitte Euch, das habe ich gern getan, meine Liebe", wehrte Madame de Fournier freundlich ab. "Wir Frauen müssen schließlich zusammenhalten, vor allem, wenn man mit jemandem verheiratet ist, der gerne mal ein Auge auf andere weibliche Wesen wirft."
"Glaubt mir, es ist mir nicht leicht gefallen, Euch meine Sorge zu gestehen", behauptete Adrienne in ein wenig klagender Weise. "Aber ich wusste mir nicht anders zu helfen. Mein Mann hätte sich sonst womöglich mit Conte Caius duelliert, nur weil er sich einbildet, in Mademoiselle Lefevre verliebt zu sein."
"Dabei bin ich mir sicher, dass die junge Dame ihn nicht im Mindestens ermutigt hat", meinte die Gastgeberin. "Meine Tochter erzählte mir, dass sie und Conte Caius sich sehr zugetan sind. Sie hat sie heute Morgen beim Schlittschuhlaufen getroffen und sich nett mit den beiden unterhalten."
"Nun ja... ich kann dazu nichts sagen. Mademoiselle Lefevre ist mit meiner Nichte aufgewachsen und die beiden erhielten dieselbe Erziehung. Darum hängt Marguerite auch so an ihr. Aber natürlich gibt es den Standesunterschied zwischen ihnen, so dass ich mich genötigt sah, die beiden zu trennen. Madame de Colignon war so freundlich, die junge Frau bei sich aufzunehmen und ihr eine Stellung als Gesellschafterin anzubieten."
"Und ich dachte, Ihr habt Mademoiselle Lefevre entlassen, weil Euer Mann hinter ihr her war. Oder habe ich da etwas falsch verstanden, Baronesse?", fragte Madame Fournier erstaunt.
"Beides hat für mich den Ausschlag gegeben, wobei natürlich der letztere Fall das Fass zum Überlaufen brachte", log Adrienne und erkannte voll innerer Befriedigung, dass die gutmütige Madame Fournier ihr glaubte.
"Mich wundert nur, weshalb Euer Gemahl sich dermaßen in Mademoiselle Lefevre vernarren konnte, da er sie kaum kannte. Eine Schönheit kann man das Mädchen - verzeiht mir - nicht gerade nennen."
"Vermutlich hat sie ihm schöne Augen gemacht."
"Es fällt mir schwer, das zu glauben. Sie wirkt sehr zurückhaltend."
"Dann erklärt mir bitte, Madame Fournier, weshalb eine junge Frau, die nicht einmal von Adel ist, einen hübschen, jungen Mann wie den jungen Conte di Volturi als Bräutigam einfangen konnte."
"Offensichtlich fühlt er sich durch ihre zurückhaltende Art angezogen", meinte die Herrin des Hauses. "Wenn sie außerdem so gebildet ist, wie Ihr mir erzähltet, zählt das als weiterer Pluspunkt. Sie könnte eine gute Ehefrau abgeben. Schließlich ist sie recht nett anzusehen, wenngleich nicht so attraktiv wie Eure Nichte."
"Wie dem auch sei", gab Adrienne, die die letzte Bemerkung ärgerte, zurück. "Ich bin Euch auf jeden Fall dankbar, dass Ihr Euren Gemahl darum batet, meinen Ehemann aus dem Umkreis von Conte Caius wegzubringen. Je weniger mein Angetrauter mit dem Objekt seiner Begierde zusammen ist, desto besser ist es. Ich glaube, es ist wirklich an der Zeit, dass meine Familie und ich aus Paris abreisen."
"Ist das denn wirklich nötig, Baronesse?", fragte Madame Fournier. "Das fände ich wirklich schade. Gerade jetzt, wo Eure Nichte sich mit meiner Tochter angefreundet hat. Agnes erzählte mir, dass sie die Comtesse sogar darum bat, bei ihr als Brautjungfer zu fungieren."
"Wie rührend", erwiderte Adrienne und lächelte gezwungen, obwohl das Lob und das Wohlwollen, mit dem selbst Fourniers gutmütige Ehefrau ihre Nichte bedachte, ihren Hass auf Marguerite steigerte. Wann endlich wäre sie den kleinen Bastard ihres Bruders los? Und warum, um alles in der Welt, befand sich Rouven nicht auf der Verlobungsfeier?
"Habt Ihr Monsieur Guignot nicht eingeladen?", wandte sich die Baronesse, das Thema wechselnd, erneut an die Gastgeberin. "Ich kann ihn nirgendwo erblicken."
"Oh, der Ärmste liegt mit einer schweren Erkältung im Bett und konnte deshalb nicht kommen", erklärte Madame Fournier mit einem Unterton des Bedauerns. "Deshalb müssen wir leider auf seine charmante Gesellschaft verzichten. Aber es gibt genügend andere Männer, die ebenso charmant sind wie er, Conte Aro di Volturi zum Beispiel. Offenbar gibt er jedoch wieder einmal Eurer reizenden Nichte den Vorzug vor allen anderen Damen. Glaubt Ihr, zwischen den beiden könnte es etwas Ernstes werden, Baronesse?"
"Auf keinen Fall!", erklärte Adrienne voller Überzeugung. "Nachdem ich Conte Aro etwas besser kennenlernte, weiß ich, dass er ein Schürzenjäger par excellence ist."
"Denkt Ihr wirklich?", erkundigte sich Madame Fournier zweifelnd. "Wenn er Eure Nichte ansieht, vermittelt sich der Eindruck, als würde er sie anbeten. Vielleicht hat er sich doch in sie verliebt und ernste Absichten..."
"Womöglich bildet er sich das tatsächlich ein, aber ich kenne Männer seines Schlages. Marguerite ist für ihn nur ein neues Spielzeug, dessen er bald müde sein wird, sobald er genug von ihr hat. Das möchte ich meiner Nichte gern ersparen, was ein weiterer Grund für mich ist, eine baldige Abreise nach Rochefort in Erwägung zu ziehen."
"Die arme Comtesse", murmelte Madame Fournier mitleidig. "Sie scheint sehr verliebt in ihn zu sein."
"Marguerite wird darüber hinwegkommen, sie ist noch jung", tat Adrienne das ab.
"Dennoch dauert es mich, dass ihr solch eine Enttäuschung bevorsteht. Vermutlich wird sie auch traurig sein, wenn Mademoiselle Lefevre mit ihrem Bräutigam nach der Hochzeit nach Italien fährt. Wie ich hörte, soll die Trauung auf dem Landgut von Madame de Colignon stattfinden."
"Wie bitte?!", entfuhr es Adrienne und sie starrte ihre Gesprächspartnerin ungläubig an. "Seid Ihr Euch dessen gewiss?"
"Selbstverständlich, Madame de Colignon hat es mir heute Abend erzählt. Sie meinte, dass es sich nicht gehöre, wenn Mademoiselle Lefevre als ledige Frau mit ihrem Verlobten ins Ausland geht. Da sie sich für die Freundin Eurer Nichte verantwortlich fühlt, bestand sie auf einer Hochzeit."
"Sie ist wahrhaftig eine sehr großzügige Dame", erwiderte die Baronesse, während sie innerlich vor Wut kochte. Vorhin noch hatte sie geglaubt, gut damit leben zu können, dass Caius diese nichtssagende Person zur Ehefrau nahm, aber die Vorstellung, dass sich die beiden tatsächlich das Ja-Wort gaben und dies auch noch in naher Zukunft, weckte heftige Gefühle der Eifersucht in ihr.
Zu allem Überfluss sah Adrienne, dass Madame de Colignon gerade auf Madame Fournier und sie zukam, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht.
"Welch ein schönes Fest", wandte sich die ältere Dame zunächst an die Gastgeberin, welche sich dafür bedanke. "Ihr müsst überglücklich sein, dass Eure Tochter einen so anständigen Jüngling wie den jungen Renouard zum Mann nehmen wird."
"Oh, kennt Ihr diese Familie etwa?", fragte Adrienne, um sich von ihrer Eifersucht abzulenken und die Contenance zu bewahren.
"Ja, seine Eltern haben ein großes Landgut betrieben, das der junge Mann übernommen und noch ausgebaut hat. Er ist ein recht gute Partie und zwischen ihm und Eurer Tochter besteht offensichtlich eine starke Zuneigung."
"Das ist richtig, Madame de Colignon", bestätigte Agnes' Mutter.
"Sehr schön, so sollte es auch sein", meinte die ältere Dame und nickte, dann setzte sie sich neben Adrienne und richtete das Wort an sie: "Wie ich hörte, seid Ihr und Euer Gemahl morgen Nachmittag ebenfalls zu einer Dreikönigsfeier eingeladen, die recht spät werden könnte."
"Wer hat Euch das erzählt, Madame?", wunderte sich Adrienne
"Euer Mann war so frei, weil er sich sorgt, dass die Feier, zu der Ihr mit ihm eingeladen seid, länger dauern könnte als die kleine Gesellschaft bei Ihrer Majestät. Euer Gemahl gab zu bedenken, dass Marguerite dann allein in dem großen Haus wäre, welches Ihr angemietet habt, meine Liebe, und sagte, dass Euch das gewiss nicht recht wäre. Deshalb habe ich einen Vorschlag an Euch, Baronesse."
"Und wie lautet dieser Vorschlag?", fragte die Angesprochene, nach außen hin immer noch ruhig.
"Marguerite könnte bei mir übernachten, wenn Ihr dem zustimmt. Ich verspreche, gut auf sie zu achten und sie Euch am Tag darauf wohlbehalten wieder ins Haus zu bringen."
Über Adriennes Antlitz glitt ein Lächeln.
"Euer Vorschlag klingt vernünftig", erwiderte sie und nickte. Die Aussicht, eine Nacht lang ohne das verzogene Gör ihres Bruders allein mit ihrem Mann im Haus zu sein, stimmte sie irgendwie froh. Womöglich konnte sie Roger wieder für sich gewinnen und ihn beruhigen, wie nur sie es verstand. "Natürlich bin ich damit einverstanden, Madame de Colignon."
"Das wird Euren Gemahl sehr freuen", meinte die ältere Dame und wirkte sehr zufrieden. "Wie es aussieht, könnte sich seine Reputation auch wieder bessern. Jedenfalls ist er gerade mit sehr einflussreichen Personen zusammen, die bei Hofe dienen. Ich würde es Euch wirklich wünschen, Baronesse."
Adrienne nickte, ohne etwas darauf zu erwidern. Sie glaubte nicht, dass es Roger etwas nützte, selbst wenn diese Herren sich gerade freundlich mit ihm unterhielten. König Louis vergaß nichts, seine Frau ebenso wenig. Es machte keinen Sinn, sich Illusionen hinzugeben, das war ihr nach dem Gespräch mit dem arroganten Kardinal Mazarin klar geworden. Ihr war es bei der Lüge, die sie Madame de Fournier über die angebliche Vernarrtheit ihres Mannes in Louise Lefevre erzählt hatte, nur darum gegangen, ihren Mann von Caius fortzubringen, damit Roger nicht irgendetwas über sie bei dem jungen Grafen ausplauderte. Ihr Gemahl war eifersüchtig und musste spüren, dass sie Caius im Innersten begehrte. Es galt also, einen Skandal zu verhindern, was ihr mit Hilfe des Ehepaares Fournier sehr gut gelungen war. Und wenn sie morgen Nacht endlich mal mit Roger allein wäre, würde sie ihn verführen, damit er sich daran erinnerte, dass sie beide sich einst geliebt hatten...
*
Nach zwei Tänzen, die Aro mit Marguerite bestritten hatte, wünschte seine Liebste, er möge ihr etwas zu Trinken holen, während sie es sich mit ihrer Freundin Louise und Agnes de Fournier zusammen auf einem Sofa in der Ecke gemütlich machte.
Aro ging zum Buffet und Caius gesellte zu dem Gesprächskreis, in dem sich Lebrunne befand. Thierry hingegen hatte sich mit seinem Schwiegervater in Spe etwas abseits gestellt, um mit ihm allein zu sprechen. Der schwarzhaarige Vampir ließ sich von einem Bediensteten zwei Gläser mit Weißwein füllen, winkte dabei jedoch Demetri, der sich im Saal aufhielt, zu sich heran. Als jener bei ihm war, wisperte Aro ihm beinah unhörbar zu: "Nach diesem Fest kehrst du zu denjenigen zurück, die Guignot bewachen. Ich will sofort wissen, wann das Spektakel los geht."
"Ja, Meister Aro. Was ist mit Felix?"
"Wir werden ihn dazu holen, sobald das Ritual beginnt. Im Augenblick obliegt es ihm, meine Verlobte zu bewachen. Aber achtet ja darauf, dass kein Mensch Eure Anwesenheit bemerkt. Ich wünsche, dass alles nach Plan läuft, so wie besprochen."
"Ihr könnt Euch auf uns verlassen, Herr."
"Gut, ich wollte mich nur noch einmal vergewissern."
Demetri nickte und lächelte, dann verneigte er sich etwas und gesellte sich wieder unter die Gäste. Aro blickte ihm mit zufriedener Miene nach. Welch ein Glück, dass sie loyale Clanmitglieder besaßen, die zuverlässig waren und ihre Befehle befolgten. So war immerhin sichergestellt, dass sowohl Marcus' als auch seine zukünftige Ehefrau sicher bewacht und beschützt wurden, ebenso wie Louise, obwohl sie einen anderen heiraten würde. Aber je mehr Aro seinen Schützling Caius beobachtete, desto mehr Zweifel kamen ihm, ob der Jüngere Louise wirklich ohne weiteres gehen ließ, denn er schien sie sehr zu mögen.
"Warten wir's ab", dachte der schwarzhaarige Vampir und lächelte.
Morgen Nacht war es endlich soweit und sowohl Guignot und seine Helfershelfer als auch Adrienne de Lebrunne würden bald Geschichte sein...
Kapitel 39
Es ist keine Kunst, ein Mädchen zu verführen,
aber ein Glück, eines zu finden, das es wert ist, verführt zu werden .
~ Soren Kierkegaard (1813 - 1855) ~
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Eigentlich gehörte es sich nicht für eine junge Dame ihres Standes, sich einfach mit dem Mann ihres Herzens während der Bekanntgabe einer Verlobung in den Garten zu stehlen, von dort aus auf eine Mauer und in eine bereitstehende Kutsche helfen zu lassen, aber Marguerite scherte all das nicht. Es war viel zu aufregend und sie ließ sich nur allzu gern von Aro in eine im Wagen befindliche warme Wolldecke hüllen, während sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte.
"Entführt Ihr mich jetzt?", fragte sie ihn leise.
"Nicht doch", flüsterte er, drückte sie fest an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. "So etwas würde ich nie tun. Nein, ich wollte nur die Gunst des Abends nutzen, um Euch das Haus zu zeigen, in dem meine Brüder und ich hier in Paris wohnen... und natürlich, um eine kurze Zeit mit Euch allein zu verbringen."
"Eine sehr kurze Zeit", murmelte sie und lachte leise. "Ich fürchte, wir dürfen der Feier nicht zu lange fernbleiben. Meine Tante wird gewiss irgendwann bemerken, dass ich nicht mehr unter den Gästen weile."
"Nun ja, ich hoffte insgeheim, dass Eure werte Frau Tante auch weiterhin das Bett hütet."
"Den Gefallen tat sie uns leider nicht, obwohl sie heute Mittag noch auf ihren Mann einredete, nicht auf Agnes' Verlobungsfeier zu erscheinen."
"Offenbar hat die Baronesse ihre Meinung geändert."
"Ja, nicht einmal auf ihre Abneigung gegen bestimmte Menschen und Ereignisse kann man sich verlassen. Sie belegte sogar Caius in Beschlag, obwohl sie gegen seine Verlobung mit Louise ist."
"Der Baron kümmert sich einfach zu wenig um sie, so dass sie zu viel Zeit hat, über andere nachzudenken."
"Wisst Ihr, ich glaube, die Ursache liegt tiefer."
"Lasst uns nicht weiter über Eure Tante sprechen, wir sind gleich da!"
Einen Augenblick später hielt die Kutsche und einer der Bediensteten öffnete die Tür, klappte die Stiege auf und Aro half seiner Braut galant aus der Kutsche.
"Wir haben alles auf Eurem Zimmer angerichtet, wie Ihr es wünschtet, Meister Aro", sagte der Diener.
Der schwarzhaarige Vampir nickte ihm stumm zu und geleitete dann seinen Gast ins Haus.
"Möchtet Ihr das Haus sehen?", erkundigte er sich, doch Marguerite schüttelte den Kopf.
"Heute bleibt uns leider keine Zeit dafür, aber ein anderes Mal gern", erwiderte sie.
"Ihr habt recht, meine Liebe", gab er zurück und geleitete sie dann auf sein Zimmer im ersten Stock, in dem ein kleiner, gedeckter Tisch mit zwei Gläsern und einem Eiskübel darauf stand, in dem sich eine Flasche Sekt befand. Außerdem gab es ein kleines Buffet mit kaltem Fleisch und etwas Brot.
"Wie nett von Euch", meinte Marguerite, als sie das sah. "Obwohl keinerlei Gefahr bestand, dass ich hungrig bin, finde ich es dennoch rührend von Euch, dafür zu sorgen, dass etwas Essbares auf Eurem Zimmer für uns bereit steht."
"So wird es immer sein, mein Liebling", erklärte er zärtlich. "Ihr müsst Euch um nichts sorgen, dafür habt Ihr ja jetzt mich."
Er schloss die Tür hinter sich, so dass sie endlich allein waren, und Marguerite legte ihre Arme um seinen Hals, um ihn zu küssen. Eine Weile waren sie auf diese Weise miteinander verschlungen, ehe er sie auf seine Hände hob und zu seinem Bett trug. Behutsam legte er sie hinein, zog ihre Schuhe aus, streifte dann seine rasch ab und machte es sich neben ihr gemütlich. Sie schauten sich an und er suchte ihre Hand, fand und drückte sie.
Marguerite wusste genau, dass solch ein Beisammensein mit einem Mann sich eigentlich nicht gehörte, traf jedoch keinerlei Anstalten, sich aus dem Bett zu erheben. Sie genoss es vielmehr, ihm endlich einmal so nahe zu sein, ohne dass irgendjemand sie störte. Denn gewiss hatte Aro seine Dienerschaft entsprechend angewiesen. Sie stellte sich einen Moment lang vor, wie es wohl wäre, wenn sie nicht mehr zu ihren Verwandten in das gemietete Stadthaus zurückkehrte, sondern hier bei Aro bliebe, auch wenn sie noch nicht miteinander verheiratet waren.
"Wollen wir wirklich zurück auf das Fest?", wisperte sie ihm leise zu.
Ihr Liebster schenkte ihr einen amüsierten Blick.
"Ihr habt doch nicht wirklich die Absicht, einfach Euer altes Leben zu verlassen ohne Euch von Euren Verwandten zu verabschieden, Marguerite, oder?"
"Ich weiß es nicht. Im Augenblick kann ich keinen klaren Gedanken fassen, da mich meine Gefühle für Euch überwältigen."
"So etwas ist Musik in meinen Ohren, Carissima", sagte Aro, kam ihr näher und verschloss ihren Mund mit seinen Lippen. Sie wehrte sich nicht, sondern erwiderte seinen Kuss. Ihre Hände begannen, sanft sein Gesicht zu streicheln.
"Ich will nie wieder fort von Euch", flüsterte sie, schlang ihre Arme erneut um seinen Hals und brachte ihn dazu, sich ihr noch mehr zu nähern, bis sie Seite an Seite lagen und sie seinen Leib an ihrem spüren konnte.
Aro, der auf so viel Leidenschaft an diesem Abend nicht vorbereitet war, wusste nicht recht, wie ihm geschah, aber er spürte, wie das Begehren in ihm wuchs. Es war ein guter Ratschlag von Marcus gewesen, sich heute erneut zu stärken, bevor sie sich wieder in die Gesellschaft von Menschen begaben, vor allem, da diese kleine Entführung seiner Braut ja von ihm geplant worden war. Aro hoffte, dass er genügend Selbstkontrolle besaß, um nicht zu weit zu gehen. Jetzt war ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um seine zukünftige Ehefrau zu verwandeln. Dennoch konnte er es nicht lassen, seine Hände liebkosend über ihren Leib wandern zu lassen. Ihr Körper war zwar schlank, aber auch weich und warm und er sehnte sich danach, sich mit ihr zu vereinen. Eine seiner Hände legte sich schließlich wie unbeabsichtigt auf ihre Brust, was ihn trotz der Tatsache, dass Marguerite immer noch in ihr Kleid gehüllt war, sehr erregte. Ihr schien es auch zu gefallen, denn sie wehrte ihn nicht ab, ganz im Gegenteil. Ihre schlanken Finger streichelten sanft über seinen Nacken, was ihn beinahe wahnsinnig machte! Sie sehnte sich genauso danach, sich mit ihm zu vereinen, wie er es tat - aber es durfte nicht sein, denn sonst würde er die Selbstkontrolle verlieren.
"Wir müssen aufhören, Liebling", wisperte er keuchend, löste sich aus ihrer Umarmung und rollte sich zur Seite.
"Warum denn, Aro, ich möchte es auch", versicherte sie ihm, schlang ihre Arme um seine Schultern und legte ihren Kopf darauf, so dass er ihren Mund an seinem Ohr spürte. "Ich liebe dich so sehr und mir ist es gleich, wann wir uns vereinen. Wir wollen doch sowieso heiraten, nicht wahr?"
"Bitte, Liebes, quäle mich nicht so", bat er und schloss die Augen.
"Ich will dich nicht quälen, Liebster, tut mir leid", meinte sie traurig und schwieg dann, ohne jedoch ihre Arme von seinem Körper zu lösen. Stattdessen küsste sie ihn sanft auf seine Wange.
"Nein, mir tut es leid", sagte er leise, ohne seine Augen zu öffnen. "Aber ich habe mir selbst geschworen, dass ich alles richtig machen will und deshalb bitte ich dich um Geduld, bis wir offiziell Mann und Frau sind, auch wenn ich dich leidenschaftlich begehre."
"Einverstanden", versprach sie, doch er spürte sehr deutlich, wie enttäuscht sie darüber war.
Ihre Nähe, ihr Duft und all ihre Gedanken und Gefühle machten es ihm sehr schwer, seine Selbstkontrolle aufrechtzuerhalten. Andererseits wollte er sie bei sich haben, genoss all das auch und wünschte sich, diesen Augenblick für immer festzuhalten.
Um nicht völlig den Verstand zu verlieren, lenkte er seine Gedanken in eine andere Richtung, um sich von ihren abzuschotten. Vor wenigen Stunden erst hatten ihm Demetri und Felix berichtet, dass sich Lebrunne und Guignot gestern auf dem großen Friedhof trafen, wo sich zu dem Zeitpunkt niemand sonst aufhielt. Zweifellos hatten die beiden Herren diesen Ort gewählt, um ungestört und ohne Zeugen über ihr Vorhaben zu sprechen. Dabei ging es darum, ein geheimes, magisches Ritual durchzuführen, um das Herz einer Frau für sich zu gewinnen. Doch dazu bedurfte es auch des Blutes einer nahen Angehörigen der Person, die man durch einen Liebeszauber an sich binden wollte. Dabei handelte es sich um Adrienne de Lebrunne, was Aro jedoch schon wusste. Nun hatte Guignot es durch einen seiner Ordensbrüder, einem Mann aus dem Hochadel, so einfädeln lassen, dass Lebrunne mitsamt Gattin zu einem der Höflinge auf eine Feier an Dreikönig eingeladen wurde. Auf dem Weg dahin gegen etwa halb fünf sollte ein fingierter Überfall auf die Kutsche der Lebrunnes stattfinden, der Baron dabei niedergeschlagen und seine Frau betäubt und entführt werden. Den genauen Plan dazu hatte Guignot aber erst heute seinem Freund Lebrunne mitgeteilt, der davon alles andere als begeistert war.
Aro wunderte sich, dass der Baron nicht nur um seine eigene Person, sondern auch um seine Angetraute besorgt war, obwohl Adrienne ein furchtbarer Drachen war, der ihm das Leben schwer machte. Allerdings zeigte das nur, dass Roger de Lebrunne wohl nicht den Tod seiner Gattin wünschte, sondern noch etwas für sie übrig zu haben schien. Für die Durchführung des Liebeszaubers war ihr Tod auch nicht vonnöten, man brauchte ja nur etwas von ihrem Blut. Darüber hinaus war für den Abschluss dieses Rituals eine körperliche Vereinigung mit dem Opfer erforderlich, was Guignot seinem Freunde Lebrunne wohlweislich verschwiegen hatte. Natürlich würde die Hakennase dies selbst vollziehen, da er ohnehin der Liebhaber der Baronesse gewesen war. Mit etwas Glück würde Adrienne, die während der ganzen Zeremonie betäubt sein würde, dabei ein Kind von ihm empfangen, so dass Lebrunne möglicherweise doch zu seinem ersehnten Stammhalter kommen würde.
Menschen waren Aro grundsätzlich egal, doch irgendwie empfand er Mitleid mit Roger de Lebrunne, der von seiner Frau mit einem Freund betrogen wurde - ein falscher Freund zudem, der ihm noch sein eigenes Kind als Ergebnis eines magischen Rituals unterschieben wollte. Wer solch einen Freund besaß, brauchte keine anderen Feinde mehr. Je eher Marguerite aus diesem Umfeld verschwand, desto besser war es für sie.
Aber warum machte er sich darüber so viele Gedanken? Demetri wusste bereits, wo sich die Brüder des magischen Ordens treffen wollten, um mit Guignot seinen Liebeszauber auszuführen. Diese Bande würde morgen Nacht eine äußerst unangenehme Überraschung erleben. Es war nicht immer von Vorteil, einen Kellerraum in einem Stadthaus zu besitzen, aus dem kein Laut nach Außen zu dringen vermochte; und da zudem der Adlige, dem dieses prächtige Gebäude gehörte, allen seinen Dienern morgen Abend freigegeben hatte, würde niemand das Festmahl stören...
"Was hast du, Aro?", drang da wie aus weiter Ferne die Stimme des geliebten Mädchens an sein Ohr. "Du bist so still? Geht es dir gut?"
"Aber ja, Liebes", behauptete er und drehte seinen Kopf zu ihr. "Ich musste nur erst ein wenig zur Ruhe kommen. Außerdem denke ich darüber nach, wie ich deine Tante überzeugen kann, mir deine Hand zu geben."
"Ein unlösbares Problem, fürchte ich..."
"So etwas gibt es nicht, Marguerite. Sag mal, hättest du etwas dagegen, wenn wir schon vor deinem Geburtstag heiraten?"
"Nein, wenn es dir gelingt, meine Tante davon zu überzeugen."
"Was ist mit deinem Onkel? Könnte er uns helfen?"
"Ich weiß nicht! Er ist für mich schwer einzuschätzen. Einerseits ist er in letzter Zeit sehr nett zu mir und setzt sich doch tatsächlich immer mehr gegen seine Frau zur Wehr, aber andererseits..."
Aro lachte und meinte: "Ja, der Baron hat einen schweren Stand bei einer so launischen Frau wie deiner Tante."
"Tja, das kann man wohl sagen, und ich muss auch unter ihren Launen leiden, weil Papa seine Schwester aus Gründen, die ich nicht verstehe, zu meinem Vormund gemacht hat. Sie missgönnt mir sogar die Einladung Ihrer Majestät zu einer Dreikönigsfeier."
"Vermutlich ist sie gekränkt, weil man sie nicht eingeladen hat."
"Dabei ist das nur eine kleine Feier - und dennoch fürchte ich mich etwas davor. Was, wenn ich einen schlimmen Fauxpas begehe?"
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass dir so etwas passiert, Marguerite. Mach dir keine Sorgen, die Königin wird entzückt von dir sein."
"Ach, meinst du wirklich? Aber ich kenne mich mit den Gepflogenheiten bei Hofe nicht aus und weiß nicht, worüber ich mich dort mit Ihrer Majestät unterhalten sollte."
"Dein Kopfzerbrechen darüber ist völlig unnötig, Liebes. Die Königin bestimmt, worüber man sich unterhält und wird dir vermutlich Fragen stellen, auf die nur antworten musst. Außerdem bin ich mir sicher, dass deine zurückhaltende Art sehr positiv von Ihrer Majestät aufgenommen wird."
"Glaubst du wirklich, Aro?"
"Ganz bestimmt!"
"Es gibt noch eine Sache, die mir gerade durch den Kopf geht. Was wird aus Schloss Rochefort und den umliegenden Ländereien, wenn wir verheiratet sind?"
"Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Wir werden zu gegebener Zeit schon eine Lösung finden."
"Aber deine Brüder und du wollt doch bestimmt nach Italien zurückkehren, oder? Und als deine Frau werde ich selbstverständlich mit dir gehen."
"Natürlich möchte ich, dass du unsere Residenz kennenlernst, Marguerite, aber damit hat es keine Eile. Lass uns zunächst mal das Einverständnis deiner Tante zu unserer Heirat gewinnen, alles Weitere ergibt sich dann wie von selbst. - Was soll eigentlich aus deiner Tante werden, wenn du meine Gattin bist, Liebste?"
"Der Baron hat ein eigenes Anwesen, auf das er mit seiner Frau zurückkehren kann. Ich finde, die beiden haben lange genug auf meine Kosten gelebt."
"Darin stimme ich vollkommen mit dir überein, Liebes."
Marguerite küsste ihn sanft auf den Mund und meinte: "Ich hoffe, dass wir uns immer in allem einig sind."
"Eine Hoffnung, die ich teile, Liebste, und ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Aber jetzt sollten wir allmählich wieder zur Verlobungsfeier deiner Freundin Agnes zurückkehren."
"Jetzt schon?", fragte die junge Frau enttäuscht. "Eigentlich würde ich lieber noch eine Weile allein hier mit dir bleiben."
"Glaub mir, ich auch, Marguerite, aber wir müssen vernünftig sein. Bestimmt hat man unser Fehlen schon bemerkt und ich möchte nicht riskieren, dass du wieder Ärger mit deiner Tante bekommst. Wenn wir dem Fest zu lange fernbleiben, wird uns niemand abnehmen, dass wir lediglich ein wenig draußen spazieren waren."
"Dann muss es wohl sein", seufzte die Komtesse und erhob sich langsam. "Hilfst du mir, meine Frisur wieder ein wenig zurechtzumachen?"
"Ich schicke dir Renata herauf. Sie kann das bestimmt besser als ich?"
"Renata?", fragte Marguerite verständnislos. "Wer ist Renata?"
"Eine unserer Bediensteten, Liebes. Du wirst sie gewiss mögen", erklärte Aro, stand auf und band sich seine langen Haare, die sich während ihrer gegenseitigen Liebkosungen gelöst hatten, wieder am Hinterkopf zusammen, ehe er das Zimmer verließ. Wenige Augenblicke später erschien eine hochgewachsene, schlanke Frau mit großen Augen und langem, braunen Haar und verneigte sich vor Marguerite, welche sie erstaunt betrachtete. Dabei fragte sie sich, wie Aro sich ausgerechnet in sie verlieben konnte, wenn solch eine Schönheit wie Renata in Italien in seiner Nähe weilte.
"Meister Aro sagte, dass Ihr Hilfe braucht, Comtesse?"
"Ja, das ist richtig. Wärt Ihr wohl so freundlich, mir meine Haare wieder ordentlich zu frisieren?"
Renata lächelte etwas und meinte: "Das ist kein Problem für mich."
*
Sobald die Gäste sich wieder im Saal zerstreut hatten, suchte Lebrunne in Begleitung seiner Gemahlin die Nähe eines seiner Bekannten, mit dessen Frau sich Adrienne gut verstand und rasch ins Plaudern geriet. Auch der Baron wechselte einige Worte mit ihr und ihrem Gatten, wobei er immer wieder seine Augen schweifend im Raum auf der Suche nach Marguerite umherwandern ließ, bevor er sich von der kleinen Gruppe entfernte, um zu Louise und ihrem Verlobten zu gehen, die unweit des Buffets standen und sich leise miteinander unterhielten.
"Ah, das sieht alles sehr gut aus", meinte Lebrunne und schaute einen Moment auf den langen Tisch, der voller verschiedener Speisen war, ehe er sich an Louise wandte. "Welche dieser Köstlichkeiten könnt Ihr mir empfehlen, Mademoiselle Lefevre?"
"Oh, sie sind alle recht schmackhaft", antwortete die Angesprochene freundlich.
"Dann werde ich mal etwas probieren", behauptete der Baron und nahm ein Gebäckstück, dass er sich in den Mund schob.
"Wirklich köstlich", meinte er dann und sah Louise wieder an. "Hat meine Nichte auch schon davon probiert?"
"Tut mir leid, Baron, aber ich habe die Comtesse seit der offiziellen Verlobung von Mademoiselle Fournier aus den Augen verloren. Möglicherweise war sie schon vor uns am Buffet, doch sicher weiß ich es nicht."
"Das ist wirklich schade", brummelte Lebrunne. "Und Ihr, Conte di Volturi, habt Ihr vielleicht eine Idee, wo meine Nichte sein könnte? Mir schien, dass Euer Bruder Aro sich während der offiziellen Verkündung der Verlobung von Mademoiselle Fournier zu ihr gesellt hätte."
Caius tat, als würde er überlegen, bevor er antwortete: "Das könnte sein. Allerdings habe ich kaum darauf geachtet, weil ich auf angenehme Art abgelenkt war."
Bei dem letzten Satz bedachte der blonde Vampir Louise mit einem sanftem Blick und sie lächelte ihn an.
"Mademoiselle Lefevre, Ihr seid doch Marguerites Freundin", wandte sich der Baron eindringlich an die junge Frau. "Daher versteht Ihr gewiss meine Sorge um Marguerites guten Ruf. Ich möchte sie doch nur davor bewahren, ins Gerede zu kommen. Hier in Paris gibt es viele Intriganten und Neider, wovon Marguerite nichts ahnt. Sie ist viel zu gutgläubig, was Menschen betrifft."
"Die Comtesse ist klüger als Ihr denkt", erwiderte Louise in beruhigendem Ton. "Sie neigt nicht dazu, jedem zu vertrauen. Macht Euch deshalb also keine Sorgen."
"Nun, meine Liebe", wandte sich da Caius an seine Verlobte mit einem Seitenblick auf Lebrunne. "Der Baron hat ganz recht mit seiner Einschätzung, dass man in Paris nicht jedem vertrauen sollte...", der blonde Jüngling richtete danach das Wort an Roger und fuhr fort: "Aber falls Marguerite tatsächlich mit Aro zusammen ist, besteht für Euch keinerlei Grund, sich um Ihren guten Ruf zu sorgen. Mein Bruder wird sie vor jeglicher Belästigung beschützen, wenn es wirklich jemand wagen sollte, ihr gegen ihren Willen zu nahe zu kommen."
Ehe der Baron etwas dagegen einwenden konnte, huben die Musiker an, ihre Instrumente zu stimmen und Caius wandte seine Aufmerksamkeit sogleich wieder Louise zu. "Möchtet Ihr tanzen, meine Liebe?"
"Ja, sehr gern", erwiderte seine Braut und reichte ihm die Hand.
"Entschuldigt uns", wandte sich der Jüngling in knappem Ton an Lebrunne und ging mit ihr zu der Reihe der anderen Paare, die sich in Tanzgruppen aufstellten. Verärgert sah der Baron ihnen hinterher, denn es gab keinen Grund für ihn, die beiden daran zu hindern. Das würde in der Gesellschaft nur auffallen und Verwunderung über sein Verhalten auslösen. Etwas, dass nicht in seinem Sinne war. Außerdem könnte es möglich sein, dass Louise und ihr Bräutigam tatsächlich nichts darüber wussten, wohin Aro mit seiner Nichte verschwunden war. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich weiterhin umzusehen, vielleicht auch außerhalb des Festsaals.
Der Baron schickte sich gerade an, die Gesellschaft möglichst unauffällig zu verlassen, als Fournier auf ihn zukam.
"Endlich habe ich Euch gefunden, mein Freund", sagte der Gastgeber gut gelaunt. "Kommt, ich möchte Euch mit einigen einflussreichen Leuten bekannt machen, die Euch eventuell dabei behilflich sein können, Euer Ansehen bei Hofe wieder reinzuwaschen."
Lebrunne horchte interessiert auf. Diesem Angebot konnte er nicht widerstehen, denn wenn er sich tatsächlich erneut verheiratete und Vater eines Sohnes werden würde, brauchte er Verbindungen bei Hofe - schon allein, damit sein Schössling keinerlei Nachteile befürchten musste...
*
Nachdem man zweimal zum Tanz aufgespielt hatte, kehren Marguerite und Aro wieder in den Festsaal zurück. Sobald Louise ihrer ansichtig wurde, bahnte sie sich einen Weg zu den beiden, die sich ans Buffet gestellt hatten.
"Welch ein Glück, dass Ihr wieder hier seid, Comtesse", wisperte Louise ihrer Freundin zu.
"Warum, hat mich etwa jemand vermisst?", fragte Marguerite und warf dabei einen beunruhigten Blick zu Aro, der völlig entspannt wirkte. "Vermutlich meine Tante, nicht wahr?"
"Nein, Euer Onkel erkundigte sich bei Caius und mir, wo Ihr seid. Natürlich taten wir ahnungslos und ich glaube, dass er uns das abnahm. Es wäre besser, wenn Ihr ihm sagt, dass Ihr auf dem Fest wart."
"Ja, natürlich. Danke, Louise. Aber ich finde es schon recht merkwürdig, dass der Baron mich zu beobachten scheint. Mein Eindruck war stets, dass er sich nicht besonders für mich interessiert."
"Wer weiß, was in seinem Kopf vorgeht", meinte Louise mit einem warnenden Unterton. Sie senkte ihre Stimme zu einem fast unhörbaren Flüstern herab, als sie sich an Marguerites Ohr beugte und fortfuhr: "Einige Gäste auf den verschiedenen Gesellschaften, auf denen wir waren, munkeln, dass er einst in ein Komplott mit ein paar anderen Adligen und dem Bruder des Königs verwickelt war. Die meisten seiner Mitverschwörer wurden hingerichtet, aber Euer Onkel gehört zu den wenigen, die begnadigt wurden. Deshalb denken manche auch, dass er ein Verräter sei, mit dem sie nichts zu tun haben wollen."
"Jetzt verstehe ich, warum mein Vater den Kontakt mit den Lebrunnes mied."
"Bitte, seid vorsichtig, was Euren Onkel betrifft, Comtesse. Ich fürchte, man kann ihm nicht trauen."
Caius hatte sich in diesem Augenblick zu seiner Braut gesellt und meinte leise: "Louise hat völlig recht mit der Einschätzung des Charakters Eures Onkels, Marguerite."
"Das ist viele Jahre her", mischte sich nun Aro ein und die beiden jungen Frauen schauten ihn erstaunt an, überrascht, dass er anscheinend wusste, worüber sie sich gerade im Flüsterton ausgetauscht hatten. "Mag sein, dass der Baron nicht immer ehrlich zu seiner Frau war, aber für Euch ist er nicht gefährlich, Marguerite. Er möchte nur nicht, dass Ihr abhanden kommt, wenn Ihr mit Eurer Tante und ihm ausgeht. Das ist alles."
"Das wäre natürlich auch möglich", räumte Marguerite ein und erinnerte sich daran, dass ihre Verwandten bei Mazarin vorsprechen mussten. An diesem Tag kamen sie recht wortkarg wieder von dem Gespräch zurück und seitdem hatte sich ihre Tante sehr zurückgehalten, bis heute. Wusste der Himmel, was ihre schlechten Launen immer auslöste. Konnte es tatsächlich sein, dass sie nicht nur in ihr, der Tochter ihres Bruders, ein Ärgernis sah, sondern auch in ihrem Ehemann?
Aro nahm ihre Hand und meinte: "Macht Euch nicht so viele Gedanken um Euren Onkel oder seine Gemahlin, Marguerite. Bald hat das alles ein Ende, das verspreche ich Euch."
Sie blickte ihn an, er strahlte so viel Zuversicht und Selbstsicherheit aus, dass sie sich tatsächlich gleich besser fühlte. Aro hatte ihr heute Abend gezeigt, wozu er fähig war, und sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass er sie notfalls entführen und heiraten würde. Aber soweit wollte sie es erst gar nicht kommen lassen.
"Ihr solltet Euch an diesem Abend amüsieren, anstatt Euch trüben Gedanken hinzugeben, die völlig unnötig sind", sagte Aro, führte ihre Hand zum Mund und küsste sie zärtlich. Da die Musik gerade wieder anhub, schlug er vor: "Wir sollten miteinander tanzen, Liebste, damit jeder sieht, dass wir auf dem Fest anwesend sind. Das wird Euren Onkel beruhigen."
"Ja, eine gute Idee", stimmte sie sofort zu und reihte sich mit ihm bei den Tanzpaaren ein. Caius und Louise taten es ihnen gleich. Sobald sie sich zu den Klängen der Melodie bewegten, vergaß Marguerite alle ihre Sorgen und genoss es, in Aros Nähe zu sein, ihm in die Augen zu schauen und ihn zu berühren. All dies war bei einem Tanz möglich, ohne dass jemand daran Anstoß nahm.
Auch der Baron, der sich in einer Unterhaltung mit jenen Leuten befand, die ihm laut Fournier bei Hofe nützlich sein konnten, bemerkte es - doch er störte sich sehr wohl daran. Innerlich bedauerte er, dass er momentan nichts dagegen machen konnte und sich vorerst bei Marguerite mit spitzen Bemerkungen zurückhalten musste, weil sie Conte Aro di Volturi den Vorzug vor allen anderen zu geben schien. Erst musste er wieder frei sein, ehe er dem Mädchen klarmachen würde, wie wenig ihm ihr Umgang mit diesem schmierigen Italiener gefiel. Natürlich wäre sie anfangs noch widerspenstig, doch das gab sich schon, sobald die Volturi-Brüder Paris verlassen hatten. Keine Minute lang glaubte er, dass Aro ernste Absichten auf seine Nichte hatte, selbst wenn sie eine überaus gute Partie war. Glaubte man den Gerüchten, dann besaßen die Volturi ein sehr viel größeres Vermögen, so dass sich Aro wohl nur einer kleinen Tändelei mit Marguerite hingab. Schließlich war allgemein aufgefallen, wie gern er mit der Damenwelt schön tat. Ein Frauenheld war er, nichts weiter - ihm nicht ganz unähnlich, aber ernste Absichten? Nein! Das hatte dieser Aro nicht nötig, schließlich war er noch ein junger Mann, der sich gewiss Zeit ließ, ehe er in den Hafen der Ehe einlief. Aus diesem Grunde musste er darauf achten, dass seine Nichte nicht verführt wurde. Schließlich sollte sie als Jungfrau in den Stand der Ehe treten...
*
Währenddessen saß Adrienne zusammen mit Madame de Fournier beisammen und genoss einen Weißwein, dabei immer wieder einen Blick auf ihren Gatten werfend, der auf der gegenüberliegenden Seite des Saals mit dem Gastgeber und ein paar anderen Männern stand und sich unterhielt.
"Ich bin Euch überaus dankbar für Eure Hilfe, meinem Gemahl wieder mit wichtigen Leuten zusammenzubringen", wandte sich die Baronesse an die Herrin des Hauses.
"Aber ich bitte Euch, das habe ich gern getan, meine Liebe", wehrte Madame de Fournier freundlich ab. "Wir Frauen müssen schließlich zusammenhalten, vor allem, wenn man mit jemandem verheiratet ist, der gerne mal ein Auge auf andere weibliche Wesen wirft."
"Glaubt mir, es ist mir nicht leicht gefallen, Euch meine Sorge zu gestehen", behauptete Adrienne in ein wenig klagender Weise. "Aber ich wusste mir nicht anders zu helfen. Mein Mann hätte sich sonst womöglich mit Conte Caius duelliert, nur weil er sich einbildet, in Mademoiselle Lefevre verliebt zu sein."
"Dabei bin ich mir sicher, dass die junge Dame ihn nicht im Mindestens ermutigt hat", meinte die Gastgeberin. "Meine Tochter erzählte mir, dass sie und Conte Caius sich sehr zugetan sind. Sie hat sie heute Morgen beim Schlittschuhlaufen getroffen und sich nett mit den beiden unterhalten."
"Nun ja... ich kann dazu nichts sagen. Mademoiselle Lefevre ist mit meiner Nichte aufgewachsen und die beiden erhielten dieselbe Erziehung. Darum hängt Marguerite auch so an ihr. Aber natürlich gibt es den Standesunterschied zwischen ihnen, so dass ich mich genötigt sah, die beiden zu trennen. Madame de Colignon war so freundlich, die junge Frau bei sich aufzunehmen und ihr eine Stellung als Gesellschafterin anzubieten."
"Und ich dachte, Ihr habt Mademoiselle Lefevre entlassen, weil Euer Mann hinter ihr her war. Oder habe ich da etwas falsch verstanden, Baronesse?", fragte Madame Fournier erstaunt.
"Beides hat für mich den Ausschlag gegeben, wobei natürlich der letztere Fall das Fass zum Überlaufen brachte", log Adrienne und erkannte voll innerer Befriedigung, dass die gutmütige Madame Fournier ihr glaubte.
"Mich wundert nur, weshalb Euer Gemahl sich dermaßen in Mademoiselle Lefevre vernarren konnte, da er sie kaum kannte. Eine Schönheit kann man das Mädchen - verzeiht mir - nicht gerade nennen."
"Vermutlich hat sie ihm schöne Augen gemacht."
"Es fällt mir schwer, das zu glauben. Sie wirkt sehr zurückhaltend."
"Dann erklärt mir bitte, Madame Fournier, weshalb eine junge Frau, die nicht einmal von Adel ist, einen hübschen, jungen Mann wie den jungen Conte di Volturi als Bräutigam einfangen konnte."
"Offensichtlich fühlt er sich durch ihre zurückhaltende Art angezogen", meinte die Herrin des Hauses. "Wenn sie außerdem so gebildet ist, wie Ihr mir erzähltet, zählt das als weiterer Pluspunkt. Sie könnte eine gute Ehefrau abgeben. Schließlich ist sie recht nett anzusehen, wenngleich nicht so attraktiv wie Eure Nichte."
"Wie dem auch sei", gab Adrienne, die die letzte Bemerkung ärgerte, zurück. "Ich bin Euch auf jeden Fall dankbar, dass Ihr Euren Gemahl darum batet, meinen Ehemann aus dem Umkreis von Conte Caius wegzubringen. Je weniger mein Angetrauter mit dem Objekt seiner Begierde zusammen ist, desto besser ist es. Ich glaube, es ist wirklich an der Zeit, dass meine Familie und ich aus Paris abreisen."
"Ist das denn wirklich nötig, Baronesse?", fragte Madame Fournier. "Das fände ich wirklich schade. Gerade jetzt, wo Eure Nichte sich mit meiner Tochter angefreundet hat. Agnes erzählte mir, dass sie die Comtesse sogar darum bat, bei ihr als Brautjungfer zu fungieren."
"Wie rührend", erwiderte Adrienne und lächelte gezwungen, obwohl das Lob und das Wohlwollen, mit dem selbst Fourniers gutmütige Ehefrau ihre Nichte bedachte, ihren Hass auf Marguerite steigerte. Wann endlich wäre sie den kleinen Bastard ihres Bruders los? Und warum, um alles in der Welt, befand sich Rouven nicht auf der Verlobungsfeier?
"Habt Ihr Monsieur Guignot nicht eingeladen?", wandte sich die Baronesse, das Thema wechselnd, erneut an die Gastgeberin. "Ich kann ihn nirgendwo erblicken."
"Oh, der Ärmste liegt mit einer schweren Erkältung im Bett und konnte deshalb nicht kommen", erklärte Madame Fournier mit einem Unterton des Bedauerns. "Deshalb müssen wir leider auf seine charmante Gesellschaft verzichten. Aber es gibt genügend andere Männer, die ebenso charmant sind wie er, Conte Aro di Volturi zum Beispiel. Offenbar gibt er jedoch wieder einmal Eurer reizenden Nichte den Vorzug vor allen anderen Damen. Glaubt Ihr, zwischen den beiden könnte es etwas Ernstes werden, Baronesse?"
"Auf keinen Fall!", erklärte Adrienne voller Überzeugung. "Nachdem ich Conte Aro etwas besser kennenlernte, weiß ich, dass er ein Schürzenjäger par excellence ist."
"Denkt Ihr wirklich?", erkundigte sich Madame Fournier zweifelnd. "Wenn er Eure Nichte ansieht, vermittelt sich der Eindruck, als würde er sie anbeten. Vielleicht hat er sich doch in sie verliebt und ernste Absichten..."
"Womöglich bildet er sich das tatsächlich ein, aber ich kenne Männer seines Schlages. Marguerite ist für ihn nur ein neues Spielzeug, dessen er bald müde sein wird, sobald er genug von ihr hat. Das möchte ich meiner Nichte gern ersparen, was ein weiterer Grund für mich ist, eine baldige Abreise nach Rochefort in Erwägung zu ziehen."
"Die arme Comtesse", murmelte Madame Fournier mitleidig. "Sie scheint sehr verliebt in ihn zu sein."
"Marguerite wird darüber hinwegkommen, sie ist noch jung", tat Adrienne das ab.
"Dennoch dauert es mich, dass ihr solch eine Enttäuschung bevorsteht. Vermutlich wird sie auch traurig sein, wenn Mademoiselle Lefevre mit ihrem Bräutigam nach der Hochzeit nach Italien fährt. Wie ich hörte, soll die Trauung auf dem Landgut von Madame de Colignon stattfinden."
"Wie bitte?!", entfuhr es Adrienne und sie starrte ihre Gesprächspartnerin ungläubig an. "Seid Ihr Euch dessen gewiss?"
"Selbstverständlich, Madame de Colignon hat es mir heute Abend erzählt. Sie meinte, dass es sich nicht gehöre, wenn Mademoiselle Lefevre als ledige Frau mit ihrem Verlobten ins Ausland geht. Da sie sich für die Freundin Eurer Nichte verantwortlich fühlt, bestand sie auf einer Hochzeit."
"Sie ist wahrhaftig eine sehr großzügige Dame", erwiderte die Baronesse, während sie innerlich vor Wut kochte. Vorhin noch hatte sie geglaubt, gut damit leben zu können, dass Caius diese nichtssagende Person zur Ehefrau nahm, aber die Vorstellung, dass sich die beiden tatsächlich das Ja-Wort gaben und dies auch noch in naher Zukunft, weckte heftige Gefühle der Eifersucht in ihr.
Zu allem Überfluss sah Adrienne, dass Madame de Colignon gerade auf Madame Fournier und sie zukam, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht.
"Welch ein schönes Fest", wandte sich die ältere Dame zunächst an die Gastgeberin, welche sich dafür bedanke. "Ihr müsst überglücklich sein, dass Eure Tochter einen so anständigen Jüngling wie den jungen Renouard zum Mann nehmen wird."
"Oh, kennt Ihr diese Familie etwa?", fragte Adrienne, um sich von ihrer Eifersucht abzulenken und die Contenance zu bewahren.
"Ja, seine Eltern haben ein großes Landgut betrieben, das der junge Mann übernommen und noch ausgebaut hat. Er ist ein recht gute Partie und zwischen ihm und Eurer Tochter besteht offensichtlich eine starke Zuneigung."
"Das ist richtig, Madame de Colignon", bestätigte Agnes' Mutter.
"Sehr schön, so sollte es auch sein", meinte die ältere Dame und nickte, dann setzte sie sich neben Adrienne und richtete das Wort an sie: "Wie ich hörte, seid Ihr und Euer Gemahl morgen Nachmittag ebenfalls zu einer Dreikönigsfeier eingeladen, die recht spät werden könnte."
"Wer hat Euch das erzählt, Madame?", wunderte sich Adrienne
"Euer Mann war so frei, weil er sich sorgt, dass die Feier, zu der Ihr mit ihm eingeladen seid, länger dauern könnte als die kleine Gesellschaft bei Ihrer Majestät. Euer Gemahl gab zu bedenken, dass Marguerite dann allein in dem großen Haus wäre, welches Ihr angemietet habt, meine Liebe, und sagte, dass Euch das gewiss nicht recht wäre. Deshalb habe ich einen Vorschlag an Euch, Baronesse."
"Und wie lautet dieser Vorschlag?", fragte die Angesprochene, nach außen hin immer noch ruhig.
"Marguerite könnte bei mir übernachten, wenn Ihr dem zustimmt. Ich verspreche, gut auf sie zu achten und sie Euch am Tag darauf wohlbehalten wieder ins Haus zu bringen."
Über Adriennes Antlitz glitt ein Lächeln.
"Euer Vorschlag klingt vernünftig", erwiderte sie und nickte. Die Aussicht, eine Nacht lang ohne das verzogene Gör ihres Bruders allein mit ihrem Mann im Haus zu sein, stimmte sie irgendwie froh. Womöglich konnte sie Roger wieder für sich gewinnen und ihn beruhigen, wie nur sie es verstand. "Natürlich bin ich damit einverstanden, Madame de Colignon."
"Das wird Euren Gemahl sehr freuen", meinte die ältere Dame und wirkte sehr zufrieden. "Wie es aussieht, könnte sich seine Reputation auch wieder bessern. Jedenfalls ist er gerade mit sehr einflussreichen Personen zusammen, die bei Hofe dienen. Ich würde es Euch wirklich wünschen, Baronesse."
Adrienne nickte, ohne etwas darauf zu erwidern. Sie glaubte nicht, dass es Roger etwas nützte, selbst wenn diese Herren sich gerade freundlich mit ihm unterhielten. König Louis vergaß nichts, seine Frau ebenso wenig. Es machte keinen Sinn, sich Illusionen hinzugeben, das war ihr nach dem Gespräch mit dem arroganten Kardinal Mazarin klar geworden. Ihr war es bei der Lüge, die sie Madame de Fournier über die angebliche Vernarrtheit ihres Mannes in Louise Lefevre erzählt hatte, nur darum gegangen, ihren Mann von Caius fortzubringen, damit Roger nicht irgendetwas über sie bei dem jungen Grafen ausplauderte. Ihr Gemahl war eifersüchtig und musste spüren, dass sie Caius im Innersten begehrte. Es galt also, einen Skandal zu verhindern, was ihr mit Hilfe des Ehepaares Fournier sehr gut gelungen war. Und wenn sie morgen Nacht endlich mal mit Roger allein wäre, würde sie ihn verführen, damit er sich daran erinnerte, dass sie beide sich einst geliebt hatten...
*
Nach zwei Tänzen, die Aro mit Marguerite bestritten hatte, wünschte seine Liebste, er möge ihr etwas zu Trinken holen, während sie es sich mit ihrer Freundin Louise und Agnes de Fournier zusammen auf einem Sofa in der Ecke gemütlich machte.
Aro ging zum Buffet und Caius gesellte zu dem Gesprächskreis, in dem sich Lebrunne befand. Thierry hingegen hatte sich mit seinem Schwiegervater in Spe etwas abseits gestellt, um mit ihm allein zu sprechen. Der schwarzhaarige Vampir ließ sich von einem Bediensteten zwei Gläser mit Weißwein füllen, winkte dabei jedoch Demetri, der sich im Saal aufhielt, zu sich heran. Als jener bei ihm war, wisperte Aro ihm beinah unhörbar zu: "Nach diesem Fest kehrst du zu denjenigen zurück, die Guignot bewachen. Ich will sofort wissen, wann das Spektakel los geht."
"Ja, Meister Aro. Was ist mit Felix?"
"Wir werden ihn dazu holen, sobald das Ritual beginnt. Im Augenblick obliegt es ihm, meine Verlobte zu bewachen. Aber achtet ja darauf, dass kein Mensch Eure Anwesenheit bemerkt. Ich wünsche, dass alles nach Plan läuft, so wie besprochen."
"Ihr könnt Euch auf uns verlassen, Herr."
"Gut, ich wollte mich nur noch einmal vergewissern."
Demetri nickte und lächelte, dann verneigte er sich etwas und gesellte sich wieder unter die Gäste. Aro blickte ihm mit zufriedener Miene nach. Welch ein Glück, dass sie loyale Clanmitglieder besaßen, die zuverlässig waren und ihre Befehle befolgten. So war immerhin sichergestellt, dass sowohl Marcus' als auch seine zukünftige Ehefrau sicher bewacht und beschützt wurden, ebenso wie Louise, obwohl sie einen anderen heiraten würde. Aber je mehr Aro seinen Schützling Caius beobachtete, desto mehr Zweifel kamen ihm, ob der Jüngere Louise wirklich ohne weiteres gehen ließ, denn er schien sie sehr zu mögen.
"Warten wir's ab", dachte der schwarzhaarige Vampir und lächelte.
Morgen Nacht war es endlich soweit und sowohl Guignot und seine Helfershelfer als auch Adrienne de Lebrunne würden bald Geschichte sein...
Kapitel 38
Mißtrauen hat schärfere Augen als die Eifersucht -
Eifersucht macht blind, Mißtrauen wachsam .
~ Wilhelm Vogel (19./20. Jh.) ~
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Nachdem Marguerite, Louise, Caius und Aro sich etwa eine halbe Stunde auf dem Eis vergnügt hatten, ohne dass einer von ihnen ausrutschte und hinfiel, beschlossen sie, zurück ans Ufer zu fahren. Dort saßen Agnes und Thierry immer noch auf einer Bank und Marguerite machte sich ein wenig Sorgen um das Mädchen. Sie lenkte ihre Fahrt zielstrebig zu dem jungen Paar, gefolgt von ihren Begleitern, und fragte: "Geht es Euch etwas besser, Agnes?"
"Ja, ich bin wohl mit dem Schrecken davon gekommen", erwiderte die Angesprochene lächelnd. "Verzeiht mir bitte, dass ich Euren Freunde und Euch Sorgen bereitet habe."
"Nicht doch! Freunde sind dafür da, einander zu helfen und wir beide sind doch auch gute Freundinnen, nicht wahr?"
"Ihr seid sehr freundlich, Marguerite, und natürlich freue ich mich, dass Ihr mich als gute Freundin betrachtet."
Die Comtesse lächelte das junge Mädchen an, ehe sie weitersprach: "Was haltet Ihr davon, wenn wir Euren Verlobten und Euch nach Hause begleiten?"
"Danke für dieses freundliche Anerbieten, aber das ist wirklich nicht nötig", wehrte Agnes ab, lenkte ihren Blick dann verliebt zu Thierry und fuhr fort: "Mein Verlobter wird mich nach Hause bringen."
"Ja, Comtesse", bekräftigte der Jüngling und lächelte sie an. "Ihr braucht Euch wirklich keine Sorgen um Mademoiselle Fournier zu machen."
"Wie ich sehe, ist das tatsächlich unbegründet", gab Marguerite zurück und bedachte das junge Paar mit einem liebevollen Blick. "Dann hoffe ich, Euch beide später wohlbehalten wiederzusehen, und freue mich schon sehr darauf."
"Danke, Marguerite, die Freude liegt ganz auf unserer Seite."
Die Comtesse und ihre Begleiter verabschiedeten sich dann von dem jungen Paar und glitten zu einem anderen Teil des Ufers, an dem sich nicht so viele Menschen aufhielten wie bei der Bank, auf der Agnes und Thierry immer noch saßen und nicht den Eindruck vermittelten, als ob sie es eilig hätten, aufzubrechen. Dort befreiten sich die vier von ihren Kufen und Caius brachte dann alle vier Paare zu dem Burschen zurück, der sie ihnen vermietet hatte.
"Was haltet Ihr davon, mit zu uns nach Hause zu kommen?", schlug Aro den beiden Mädchen vor. "Eine unserer Bediensteten versteht es, ausgezeichneten Glühwein zu machen."
"Dafür ist es mir noch ein bisschen zu früh", erwiderte Marguerite und Louise bekräftigte diese Aussage mit einem Nicken. "Außerdem sollten wir langsam nach Hause zurückgehen. Wie Ihr wisst, findet heute noch eine Verlobungsfeier statt, an der ich gerne teilnehmen würde, und wir müssen uns alle dafür noch zurechtmachen."
"Also wenn Ihr mich fragt, Marguerite, ist gar nicht so sicher, dass diese Feier tatsächlich stattfindet", meinte Caius amüsiert und schaute erneut zu Agnes und Thierry, die mittlerweile wieder Händchen hielten und sich sogar einen zarten Kuss gaben. "Wie es aussieht, scheinen unsere Verlobten den Platz, auf dem sie sitzen, gar nicht mehr verlassen zu wollen."
Die Comtesse und Louise lachten etwas.
"Sie werden schon kommen", meinte Marguerite dann. "Und die Zeit allein sei ihnen gegönnt. Damit ist es später vorbei, wenn die ersten Gäste eintreffen."
"Ja, leider", seufzte Aro und bedachte seine Braut mit einem langen Blick. "Doch sobald sie verheiratet sind, wird das sicher anders - bei uns beiden könnt Ihr Euch da jedenfalls gewiss sein, Liebste."
Marguerite errötete etwas, senkte den Blick und lächelte. Das hatte sie nun davon, dass sie vorhin darum bat, ehrlich zueinander zu sein. Zumindest Aro schien keinen Grund zu sehen, ihr im Beisein ihrer Freundin und seines Bruders unverhohlen seine Liebe und sein Verlangen zu gestehen. Nun, es fühlte sich wunderbar warm in ihrer Brust an und sie genoss dieses Gefühl für einen langen Augenblick, ehe sie es wagte, ihre Augen wieder zu ihm zu heben und ihn anzustrahlen. Oh, sie selbst konnte es auch kaum erwarten, endlich seine Frau zu sein und dann Zeit mit ihm allein zu verbringen...
***
Baron Lebrunne saß in der Bibliothek und las ein Buch, dabei ein Glas Wein neben sich auf einem kleinen Tischchen stehend, als ihm ein Bediensteter meldete, dass Monsieur Guignot draußen sei und ihn unter vier Augen zu sprechen wünschte.
Roger war zwar etwas verwundert, sagter aber dennoch: "Er soll eintreten! Und bring bitte noch ein Glas Wein für unseren Gast."
"Sehr wohl, Herr", versprach der Diener und entfernte sich.
Kurz danach trat der hakennasige Mann ein und Roger erhob sich, um seinen Freund zu begrüßen.
"Rouven, schön dich zu sehen", sagte er und reichte ihm seine Hand, die jener ergriff und drückte. "Bitte, nimm Platz!"
Guignot folgte dieser Aufforderung und bekam, kaum dass er saß, ein Glas Wein serviert.
"Danke", wandte er sich an den Baron, sobald sie wieder allein waren. "Welch nette Aufmerksamkeit, vor allem bei dieser Kälte, die draußen herrscht."
"Manch einer macht trotzdem einen langen Spaziergang, auch wenn ich dem ebenso wenig abgewinnen kann wie du, Rouven. Was führt dich also bei dieser unangenehmen Witterung her?"
"Der Wunsch, ungestört mir dir zu reden."
"Worüber?"
"Über jene Sache, von der wir neulich unter vier Augen sprachen. Morgen Abend wird alles seinen Gang gehen, doch ich wollte dich vorwarnen. Es könnte sein, dass du bei dem fingierten Spiel etwas abbekommst, wofür wir uns alle schon im Voraus bei dir entschuldigen. Doch es ist notwendig, damit kein Verdacht auf dich fällt."
"Gibt es wirklich keinen anderen Weg, Rouven?"
"Du kennst deine Gattin gut genug, um zu wissen, dass sie nicht freiwillig mit uns gehen wird", gab Guignot zurück und nahm einen Schluck aus seinem Glas. "Außerdem hast du mir selbst vor wenigen Tagen deutlich zu verstehen gegeben, dass du glaubst, sie verliere allmählich ihren Verstand."
"Es ist jedenfalls nicht normal, dass sie so heftig auf die Verlobung des jungen Volturi mit der Freundin Marguerites reagiert. Womöglich hat sie mich mit dem blonden Jüngling ja bereits hintergangen!"
"Bitte, Roger, das glaubst du doch nicht wirklich! Deine Frau hängt an dir und ist unglücklich darüber, dass du sie vermeintlich betrügst. Natürlich führt sie dies darauf zurück, dass sie bisher nicht in der Lage war, dir einen Sohn zu schenken."
"Es wäre sehr schön, einen Sohn zu haben", räumte der Baron ein, ohne auf den anderen Punkt einzugehen. "Aber ich habe es ihr nie zum Vorwurf gemacht. Daher hoffe ich wirklich, dass dein Ritual erfolgreich sein wird."
"Davon bin ich überzeugt und deine Beziehung zu Adrienne wird sich dadurch verbessern."
"Darüber wäre ich wirklich glücklich."
"Gleichzeitig sorgt dieses Ritual dafür, dass die Frau, die ich begehre, sich endlich in mich verliebt."
"Stoßen wir darauf an!", sagte Roger und hob sein Glas, wenngleich er nicht davon überzeugt war, dass Rouven tatsächlich mit seinem magischen Hokus Pokus die Liebe seiner Nichte gewann und Adrienne zu einem fruchtbaren Leib verhalf. Ihm würde es genügen, endlich seine Frau loszuwerden. Dennoch meldete sich bei ihm mit leiser Stimme das schlechte Gewissen.
"Ihr werdet doch behutsam mit Adrienne umgehen?", erkundigte sich der Baron mit einer Spur von Besorgnis in der Stimme. "Ich möchte nicht, dass man ihr weh tut."
"Sie wird während unseres fingierten Spiels betäubt und danach nichts mehr mitbekommen. Sei unbesorgt, Roger. Du kannst dich darauf verlassen, dass nach dem Ritual deine Probleme mit deiner Gattin nicht mehr existieren."
Der Baron grinste etwas und nickte, dann wechselte er abrupt das Thema.
"Wirst du heute auch zur Verlobungsfeier der jungen Fournier kommen, Rouven?"
"Ich bin zwar eingeladen, werde mich jedoch entschuldigen. Die Vorbereitungen für das Ritual sind recht zeitaufwendig und mir ist sehr wichtig, dass in der morgigen Nacht alles ordnungsgemäß durchgeführt wird. Danach wird Marguerite mein sein."
"Ich gäbe sehr viel darum, endlich Aro loszuwerden!"
"Dann haben wir ja das gleiche Ziel."
"Prosit!"
***
Als Marguerite nach Hause kam, erwartete sie im Beisein ihrer Verwandten ein leichtes Mittagessen, das aus einer bekömmlichen Suppe und frisch gebackenem, noch warmem Brot bestand, zu dem man sich nach Wunsch etwas Käse nehmen konnte, der auf zwei separaten Tellern, die neben der Suppenschüssel und den Brotkörben standen, appetitlich angerichtet worden war.
Ihre Tante kam erst einige Minuten später zu Tisch und es schien ganz so, als wisse nie nicht das Geringste von ihrem vormittäglichen Ausflug mit Louise und Caius. Der Baron jedenfalls verlor davon kein Wort, trotzdem wirkte seine Frau äußerst missgelaunt.
Während sich Marguerite die köstliche Suppe und das Brot schmecken ließ, begann Adrienne erneut, auf ihren Mann einzureden.
"Dir ist es also ernst damit, heute auf die Verlobungsfeier zu gehen, Roger?"
"Ja, Cherie, das sagte ich dir bereits. Wir können die Fourniers nicht durch Fernbleiben vor den Kopf stoßen, deshalb muss ich zumindest mit unserer Nichte dort erscheinen. Dir wird man es nachsehen, da dein Schwächeanfall der Familie bekannt ist."
"Wie sieht das denn aus, wenn du ohne mich hingehst?!", begann sie zu murren.
"Man wird denken, dass ich meine Pflicht gegenüber meinem Bekannten erfülle. Schließlich hast du hier im Haus doch genügend Bedienstete, die dich umsorgen, meine Liebe."
"Marguerite muss ja nicht unbedingt mit!"
"Bitte, ma Cherie, dies haben wir vorhin schon geklärt. Als eine Freundin der Braut muss sie mich unbedingt zu der Verlobungsfeier begleiten. Und nun hör auf damit, mich mit diesem Thema weiter zu behelligen!"
Adrienne schwieg, aber man sah ihr deutlich an, dass ihr die Entscheidung ihres Mannes nicht gefiel.
"Erhol dich ruhig, mein Schatz. Schließlich ist es mir viel wichtiger, dass du mich morgen zu meinem Freund begleitest, und ich hoffe, dass du dich bis dahin erholt hast ", meinte Roger nach einer Weile wieder freundlicher. Dann sagte er in genießerischem Ton, wobei er kurz die Augen schloss: "Diese Suppe ist wirklich vorzüglich und das Brot äußerst schmackhaft. Ein Kompliment an die Köchin."
Danach erhob er sich und verließ den Raum. Seine Frau sah ihm verdrossen nach, fing dann den neugierigen Blick ihrer Nichte auf und konnte nicht umhin, in unfreundlichem Ton zu bemerken: "Glaub ja nicht, dass in dieser Angelegenheit schon das letzte Wort gesprochen ist."
"Ganz wie Ihr meint", erwiderte Marguerite kühl, erhob sich dann ebenfalls und verschwand aus dem Zimmer. Mochte ihre Tante doch allein mit ihrer schlechten Laune bleiben. Sie war sich gewiss, dass sie heute Abend mit dem Baron zur Verlobungsfeier von Agnes und Thierry fahren würde...
*
Als Marguerite und der Baron gegen sechs Uhr abends im Flur erschienen, wo die Bediensteten ihnen ihre Wintermäntel umhingen, staunten sie nicht schlecht, als Adrienne dort auftauchte, in ein elegantes Kleid gehüllt, die Haare kunstvoll frisiert und mit reichlich Rouge auf den Wangen, die ihre Blässe verdeckte.
"Nanu?", wunderte sich Lebrunne. "Ich dachte, du fühlst dich nicht wohl?"
"Es geht mir besser", behauptete seine Frau. "Und wie du schon sagtest, sollten wir die Fourniers nicht vor den Kopf stoßen. Also lass uns fahren."
"Bist du wirklich sicher, dass du in der Lage bist, an der Verlobungsfeier teilzunehmen, ma Cherie?"
"Natürlich, sonst wäre ich nicht hier, Roger. Mach dir keine Sorgen um mich, es geht mir gut. Außerdem möchte ich gern den Mann sehen, den sich die kleine Fournier als Bräutigam auserkoren hat."
"Na schön", gab der Baron nach, verzog seinen Mund zu einem leicht spöttischen Grinsen und zwinkerte Marguerite, die ihre Tante unverwandt angestarrt hatte, kurz zu, ohne dass seine Gattin dies bemerkte. Erneut wunderte sich das junge Mädchen, warum der Mann ihrer Tante in letzter Zeit in solch vertrauter Weise mit ihr umging, als seien sie Freunde - was sie keineswegs waren, auch wenn ihr Onkel sich ihr gegenüber freundlich verhielt und sie sogar vor seiner Frau in Schutz nahm.
Zusammen machten sich das Ehepaar Lebrunne und Marguerite auf dem Weg ins Stadthaus der Familie Fournier. Der Weg in der Kutsche war schnell zurückgelegt und sie wurden bei ihrem Eintreffen herzlich von Agnes und ihren Eltern begrüßt.
"Geht es Euch ein wenig besser?", wisperte Marguerite dem jungen Mädchen zu, als diese sie mit leichten Küsschen auf beide Wangen begrüßte.
"Aber ja, es war gar nichts - und der kleine Sturz bescherte mir einen unvergesslichen Vormittag allein mit Thierry", gab Agnes genauso leise zurück und ließ ihren Blick kurz zu ihrem Bräutigam wandern, der unweit von ihr stand und sie verliebt anlächelte.
"Wisst Ihr schon, wann Ihr heiraten werdet?"
"Mein Vater schlug vor, dass wir nach Ostern den Bund fürs Leben eingehen, und damit sind wir beide einverstanden."
"Was sagen denn die Eltern Eures Bräutigams dazu?"
"Nichts, sie weilen nicht mehr auf dieser Welt - leider."
"Oh, das tut mir leid."
"Reden wir an diesem Abend nicht mehr davon, das macht mich nur traurig", murmelte Agnes. "Und eine Verlobung sollte doch ein Anlass zur Freude sein, nicht wahr?"
Ehe Marguerite darauf etwas erwidern konnte, drängte sich ihre Tante neben sie, reichte Agnes die Hand und sagte gut vernehmlich: "Herzlichen Glückwunsch zu Eurer Verlobung, liebes Kind."
"Vielen Dank, Baronesse", antwortete die Braut, überrascht von der forschen Art, mit der Marguerites Tante den Großteil des Raumes ihrer Nichte für sich beanspruchte und Marguerite dadurch quasi zur Seite schob, dabei zudem so tat, als würde sie es nicht bemerken. Es war nicht das erste Mal, dass Agnes das Verhalten der Baronesse de Lebrunne negativ auffiel, aber so rücksichtslos wie jetzt hatte sie sich gegenüber ihrer neuen Freundin bisher noch nie gezeigt. Wie hielt Marguerite es nur mit dieser Frau aus? Doch wahrscheinlich war die Comtesse de Rochefort zu gut erzogen, um dem merkwürdigen Benehmen große Beachtung zu schenken. Gewiss hatte sie gelernt, dies zu ignorieren - und womöglich war ihre Tante auch nicht ganz bei Sinnen, wie einige bereits munkelten.
"Wann werden wir Euren Bräutigam kennenlernen?", erkundigte sich die Baronesse nun unverhohlen und schaute sich neugierig um. Etwas, das für Agnes' Geschmack doch etwas zu aufdringlich war.
"Meine Eltern stellen ihn offiziell vor, sobald alle unsere Gäste eingetroffen sind", gab die Braut zurück und entzog der Baronesse dabei ihre Hand. "Bitte, geht schon einmal in den Saal und nehmt Euch etwas von dem Buffet."
"Welch ausgezeichneter Vorschlag", meinte Adrienne und verschwand, während ihr Ehemann, der mit seinen Augen um Verzeihung für seine Frau zu bitten schien, sich leicht vor Agnes verneigte und sagte: "Erlaubt mir, Euch zu Eurer Verlobung zu gratulieren und Euch viel Glück für die Zukunft zu wünschen, Mademoiselle Fournier."
"Danke schön, Baron", erwiderte das junge Mädchen lächelnd. Er lächelte zurück und folgte dann seiner Frau in den Festsaal, während Marguerite noch bei der Braut blieb. Die beiden fassten sich nochmals an den Händen, sahen sich an und grinsten leicht.
"Es freut mich wirklich, dass Ihr mit Thierry so glücklich seid", fuhr die Comtesse fort. "Er scheint mir einen guten Charakter zu besitzen und ich freue mich darauf, ihn näher kennenzulernen."
"Von meiner Seite aus steht dem nichts im Wege", antwortete Agnes. "Darf ich Euch um etwas bitten?"
"Selbstverständlich, worum geht es?"
"Es wäre sehr schön, wenn Ihr eine meiner Brautjungfern sein würdet."
"Oh, natürlich gern... ", begann Marguerite, doch dann zögerte sie und meinte: "Das heißt, falls ich dann noch in Frankreich weilen werde."
"Ich verstehe", nahm Agnes diesen Faden auf und lächelte verständnisvoll. "Dann scheint es also tatsächlich etwas Ernstes zwischen Conte Aro und Euch zu sein?"
"Ja, aber ich bitte Euch, davon niemandem etwas zu verraten!"
"Natürlich nicht! Das ist auch völlig unnötig, da bereits auf dem Silvesterball vielen aufgefallen ist, wie er Euch den Hof macht und wie sehr ihr ihm gewogen seid."
"Himmel, war das wirklich so offensichtlich?", fragte Marguerite und wirkte beinahe erschrocken.
"Also für mich schon und ich bin nur ein unbedarftes Mädchen vom Land", bestätigte Agnes. "Jedoch solltet Ihr Euch beruhigen. Es schein in Paris und gerade bei großen Gesellschaften üblich zu sein, dass ein Mann und eine Frau sich dabei näherkommen und offen miteinander flirten. Mademoiselle de Roux meint, dass hätte zunächst nichts zu sagen und würde erst dann auffallen, wenn diese Tändelei länger als drei Monate dauert. Offenbar scheint es bei Hofe nicht sehr viele Liebeleien zu geben, die überhaupt diese Zeitspanne erreichen."
"Nun, bei Aro und mir ist es mehr als das - doch momentan ist es noch ein Geheimnis!"
"Ein Geheimnis, welches gut bei mir aufgehoben ist. Und Euren Bedenken bezüglich meiner Bitte entnehme ich, dass Ihr vermutlich vor mir heiraten werdet."
"Könnte sein... ich wünsche mir nichts sehnlicher, als endlich seine Frau zu werden."
"Danach verweilt ihr wohl nicht mehr lange in Frankreich?"
"Ach, Agnes, ehrlich gestanden, habe ich darüber noch nicht nachgedacht und kann Eure Frage deshalb nicht beantworten. Bis jetzt ist auch noch nicht sicher, ob mein Wunsch sich so bald erfüllen wird."
"Was könnte dem entgegenstehen?", wunderte sich Agnes.
Marguerite ließ ihren Blick an ihr vorbei Richtung Festsaal wandern und murmelte: "Mein gesetzlicher Vormund..."
*
Adrienne, die weder etwas von dem vormittäglichen Ausflug ahnte noch sich um das Gespräch ihrer Nichte mit Agnes Fournier kümmerte, erblickte - kaum dass sie den Festsaal betrat - den jungen Grafen Volturi, der sich mit einem anderen Mann unterhielt, und spürte bei seinem Anblick, wie heftig ihr Herz zu schlagen begann. Er war allein... allein...
Ohne nachzudenken, schritt sie auf ihn zu und er bemerkte erst durch diese Bewegung, dass sich ihm jemand näherte. Neugierig schaute er auf, dann schenkte er ihr umgehend ein Lächeln, welches Adrienne sofort erneut für ihn einnahm.
"Guten Abend, Conte di Volturi, wie schön, Euch wiederzusehen", begrüßte sie ihn, dann betrachtete sie sich neugierig seinen Gesprächspartner, bei dem es sich gleichfalls um einen hübschen Jüngling handelte, dessen langes Haar sich in dunklen Wellen um seine Schultern legten. Das Einzige, was die Baronesse ein wenig störte, war der leichte, olivfarbene Ton seiner Haut - zweifellos war er nicht von so edler Herkunft wie der hellhäutige Caius. [1]
"Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Baronesse", behauptete der junge Volturi und küsste ihr die Hand. "Ich bin sehr glücklich, dass es Euch wieder besser geht."
"Sehr freundlich von Euch, das zu sagen", erwiderte sie, während ihr Mann sich neben sie gesellt hatte und sie misstrauisch beobachtete. "Darf ich Euch nachträglich zu Eurer Verlobung gratulieren?"
"Vielen Dank nochmals, Madame", gab Caius zurück.
"Nochmals?"
"Nun, Euer Gatte bestellte mir bereits Eure Glückwünsche zu diesem für mich überaus erfreulichen Ereignis, Baronesse. Mademoiselle Lefevre und ich hätten uns noch mehr gefreut, wenn Ihr persönlich zugegen gewesen wärt."
"Das war... leider... nicht möglich, Conte di Volturi", sagte Adrienne und schaute dann neugierig auf seinen Gesprächspartner. Caius verstand sofort, was sie wollte, und stellte seinen Gesprächspartner vor: "Das ist übrigens Demetri, einer unserer persönlichen Bediensteten in Italien."
"Ah ja", war alles, was die Baronesse daraufhin sagte, fühlte sie sich doch in ihrer Vermutung, was ihre Einschätzung des hübschen, dunkelhaarigen Jünglings betraf, bestätigt. Dennoch musste sie einräumen, dass sie sich auf seltsame Art von ihm angezogen fühlte. Nur deshalb wandte sie sich in freundlichem Ton an Demetri: "Wie nett, einem so wohlerzogenen, jungen Mann zu begegnen."
Der Angesprochene verneigte sich leicht und erwiderte höflich: "Ihr seid zu gütig, Madame."
"Du darfst dich jetzt zurückziehen", meinte Caius danach, worauf sich Demetri rasch entfernte.
"Ein recht ansehnlicher Jüngling", bemerkte Adrienne. "Sind alle aus Eurer Dienerschaft so wohlerzogen?"
"Ja, das kann ich bestätigen", erklärte Caius. "Und darüber hinaus überaus loyal."
"Und wenn dem nicht so wäre?", fragte der Baron nach.
"Für illoyales, unhöfliches Personal gibt es keinen Platz bei uns", entgegnete der blonde Vampir süffisant. "Ich denke, Ihr seht das ähnlich wie ich, oder irre ich mich in diesem Punkt, Monsieur?"
"Illoyalität ist durch nichts zu entschuldigen", bestätigte Lebrunne. "Wo ist eigentlich Eure Verlobte?"
"Ich nehme an, dass sie mit Madame de Colignon eintrifft, und ich freue mich schon sehr auf ein Wiedersehen mit ihr."
"Mich wundert es, wie schnell Ihr Euch mit Mademoiselle Lefevre verlobt habt", mischte sich Adrienne jetzt wieder in das Gespräch. "Im Grunde kennt Ihr das Mädchen doch kaum."
"Ich kenne sie zur Genüge, um zu wissen, dass wir uns prächtig verstehen. Außerdem bin ich gerne mit ihr zusammen und Ihr müsst doch zugeben, dass sie sehr gebildet und gut erzogen ist."
"Natürlich ist sie das, schließlich erhielt sie die gleiche Erziehung wie meine Nichte. Dennoch finde ich, dass Ihr mit dieser Verlobung zu voreilig wart. Was wisst Ihr schon über den Charakter der jungen Frau?"
"Eure Nichte betrachtet sie als ihre beste Freundin und vertraut ihr vollkommen. Meiner Meinung nach gibt es kein besseres Zeugnis für den guten Charakter einer jungen Frau als die Aussage einer ehrbaren, noblen Dame."
"Marguerite ist ein gutes Kind, gewiss, aber sie besitzt keinerlei Lebenserfahrung oder Menschenkenntnis und ich fürchte, sie ist im Hinblick auf Mademoiselle Lefevre ein wenig zu nachsichtig gewesen, genau wie ihr Vater. Wer weiß, welchen Charakterfehler Eure Verlobte bis jetzt verborgen hielt? Ihr solltet sie besser kennenlernen, ehe ihr sie heiratet."
"Ich weiß Eure Besorgnis um meine Person durchaus zu schätzen, liebe Baronesse", erwiderte Caius in liebenswürdigem Ton und lächelte. "Aber ich bin mir vollkommen sicher, dass es nichts Tadelnswertes an Louise gibt."
"Nun, Liebe macht bekanntlich blind, mein Lieber. Seht Euch besser vor."
"Ich bin immer sehr vorsichtig, Madame."
"Und ich bin sicher, dass Conte di Volturi deine Bedenken zur Kenntnis genommen hat", wandte sich der Baron ungeduldig an seine Frau. "Ein erwachsener Mann wie er weiß, was er tut. Daher ist jedes weitere Gespräch über dieses Thema unnötig."
"Seid nachsichtig, Monsieur", sagte Caius zu Roger. "Eure Gemahlin meint es doch nur gut."
Der blonde Vampir schenkte der Baronesse erneut ein Lächeln, küsste nochmals ihre Hand und fuhr fort: "Zu gegebener Zeit werde ich Euch meine Dankbarkeit für Eure Bedenken um mein Wohl vergelten, das verspreche ich."
Adrienne lächelte, glaubte sie doch hinter seinen Andeutungen herauszuhören, dass er sie nach wie vor begehrte und ein heimliches Stelldichein mit ihr wünschte. Louise Lefevre hin oder her, Caius würde sich durch seine Verlobung mit dieser nichtssagenden Person nicht davon abhalten lassen, Affären zu haben. Innerlich triumphierte sie und fand es auf einmal gar nicht mehr so schlimm, wenn Louise seine Frau wurde. Oh, er wünschte offiziell eine Gemahlin an seiner Seite - aber eine, die ihm nichts befahl, und Louise würde den Mund halten und über seine Affären hinwegsehen müssen, da sie doch ein gesellschaftlicher Niemand war und froh sein durfte, an der Seite eines Adligen als Gattin fungieren zu dürfen.
"Wo habt Ihr Eure reizende Nichte gelassen?", erkundigte sich Caius dann.
"Sie unterhält sich noch mit Mademoiselle Fournier", erklärte Lebrunne, der in diesem Augenblick seine Frau am Arm nahm und leicht an seine Seite zog. "Wer weiß, was Mädchen in diesem Alter alles zu besprechen haben mögen."
"Vermutlich nichts als jugendlichen Unsinn", tat Adrienne es ab. "Immerhin ist Marguerites Freundschaft zu Fourniers Tochter wenigstens standesgemäß, da ihre Eltern der gehobenen Gesellschaft angehören."
"Schön, dass du deiner Nichte immerhin die kleine Fournier als Umgang zugestehst", meinte der Baron missmutig. "Es ist traurig, dass sie bisher so wenig Freundschaften mit jungen Leuten ihres Alters schließen konnte. Daher wäre es gut, wenn wir noch wenigstens bis zum Frühjahr in Paris blieben, damit sie bei der Hochzeit der kleinen Fournier dabei sein und neue Bekanntschaften machen kann."
"Woher weißt du, wann die Hochzeit stattfinden soll?!"
"Ganz einfach, ich habe ihre Eltern gefragt!"
"Oh, da kommt Madame de Colignon mit Louise", sagte Caius in diesem Augenblick, verneigte sich leicht vor Adrienne, murmelte: "Entschuldigt mich!" und schritt auf seine Braut zu.
"Da siehst du, dass er sich nicht im Mindestens für dich interessiert!", zischte Lebrunne seiner Frau leise ins Ohr. "Er liebt die kleine Lefevre und du solltest endlich damit aufhören, gegen das Mädchen zu opponieren. Sie hat dir nichts getan und ist darüber hinaus tatsächlich sehr umgänglich. Also lass endlich den jungen Volturi in Ruhe! Du machst dich mit deiner Einmischung in seine Heiratspläne einfach lächerlich!"
"Er schien sich nicht daran zu stören!", verteidigte sich Adrienne ärgerlich und befreite sich aus dem Griff ihres Mannes.
"Der junge Volturi war nur höflich, weiter nichts! Er besaß genug Selbstbeherrschung, um dir nicht ins Gesicht zu sagen, dass du dich um deine Angelegenheiten scheren sollst!"
"Da musst du etwas grundsätzlich falsch verstanden haben, ma Chere! Mir schien, dass ihn meine Fürsorge um seine Person rührte."
"Ja, vielleicht hast du ihn an seine Mutter erinnert. Vom Altersunterschied zwischen euch scheint es zu passen", sagte der Baron giftig.
"Du brauchst mich nicht zu beleidigen, nur weil du eifersüchtig bist, Roger!"
"Dann benimm dich gefälligst endlich wie meine Ehefrau, Adrienne!"
"Oh, muss ich dich wirklich daran erinnern, dass nicht ich es war, die ihr Vergnügen bei anderen suchte?!"
"Halt den Mund oder willst du tatsächlich riskieren, einen öffentlichen Skandal heraufzubeschwören? Wenn du das tust, trenne ich mich endgültig von dir!"
"Gibt es hier irgendwas zu trinken?", wechselte Adrienne abrupt das Thema und schaute sich nach dem Buffet um.
Ihr Mann winkte einen der Diener herbei, der ein Tablett in den Händen trug, auf dem Gläser mit Champagner standen, und nahm zwei davon, wovon er eins stumm seiner Gattin reichte. Adrienne nahm es wortlos entgegen und nippte vorsichtig daran, dabei verärgert ihren Mann betrachtend. Sie musste zugeben, dass sie sich gerade eben sehr unvorsichtig benommen hatte. Es war ja keineswegs ihre Absicht, ihre Ehe aufs Spiel zu setzen. Doch ihr Mann schien sein Misstrauen nach seinem Vorwurf, sie betrüge ihn mit seinem Freund, nicht abgelegt zu haben. Sie musste in Zukunft sehr auf der Hut sein.
Aber Adrienne blieb keine Zeit, diesen Gedanken weiter nachzuhängen, denn wenige Augenblicke später schienen endlich alle Gäste eingetroffen zu sein, da sich Monsieur Fournier zusammen mit seiner Frau, seiner Tochter und einem ihr unbekannten, jungen Mann auf ein Podium stellte und um Aufmerksamkeit bat. Er hielt dann eine Rede, sprach von dem Glück, wenn sich zwei junge Menschen fanden und stellte schließlich seinen zukünftigen Schwiegersohn, einen gewissen Thierry Renouard, vor, von dem sie noch nie gehört hatte. Aber es interessierte Adrienne auch nicht weiter. Sie ließ immer wieder ihre Blicke zu Caius schweifen, der den ganzen Abend nicht von der Seite Louise Lefevres wich, diese mit kleinen Aufmerksamkeiten bedachte, sich angeregt mit ihr zu unterhalten schien und sie - leider musste sie es schmerzlich erkennen - recht verliebt ansah. Adrienne wurde aus Caius' Verhalten nicht schlau. Hatte er ihr vorhin nicht recht deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich gern heimlich mit ihr treffen würde? Oder hatte ihr Mann recht, der hinter Caius' Worten nur bloße Höflichkeit sah? Und wo war eigentlich Rouven? Sie hatte ihn den ganzen Abend noch nicht gesehen, obwohl sie sicher war, dass Fournier auch ihn zur Verlobungsfeier seiner Tochter eingeladen hatte, da er zu seinem engeren Bekanntenkreis zählte.
Und während Adrienne vor allem über Caius' Verhalten ihr gegenüber rätselte, ließ Baron de Lebrunne seine Nichte nicht aus den Augen. So lange sie sich mit Agnes Fournier unterhielt, war er beruhigt. Auch die Gesellschaft Madame de Colignons und der kleinen Lefevre mitsamt ihrem Verlobten störte ihn nicht, denn ganz offensichtlich schien der junge Volturi in Louise verliebt zu sein. Doch dann löste sich Fourniers Tochter aus dieser Gruppe, um sich zu ihren Eltern und ihrem Bräutigam zu gesellen, damit die Verlobung offiziell verkündet werden konnte. In jenem Moment tauchte Aro di Volturi an Marguerites Seite auf, worüber sich seine Nichte augenscheinlich freute.
Leider stand er auf der gegenüberliegenden Seite und konnte nicht zu ihnen hinübergehen, da sich zwischen ihnen der Rest der übrigen Gäste befand, die alle ihre Aufmerksamkeit dem jungen Brautpaar schenkten. Als sich nach einer längeren Zeit die Menge wieder auflöste, waren zwar Madame de Colignon und ihr Verehrer, der älteste Volturi-Bruder, noch an der gleichen Stelle und unweit von ihnen standen Louise und der junge Volturi beisammen, aber Marguerite und Aro schienen verschwunden zu sein...
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[1] Zur damaligen Zeit galt nur die helle Haut bei Adligen als Zeichen einer edlen Herkunft, während ein dunklerer Teint den Bauern zugeschrieben wurde, die auf dem Feld arbeiteten.
Kapitel 39
Es ist keine Kunst, ein Mädchen zu verführen,
aber ein Glück, eines zu finden, das es wert ist, verführt zu werden .
~ Soren Kierkegaard (1813 - 1855) ~
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Eigentlich gehörte es sich nicht für eine junge Dame ihres Standes, sich einfach mit dem Mann ihres Herzens während der Bekanntgabe einer Verlobung in den Garten zu stehlen, von dort aus auf eine Mauer und in eine bereitstehende Kutsche helfen zu lassen, aber Marguerite scherte all das nicht. Es war viel zu aufregend und sie ließ sich nur allzu gern von Aro in eine im Wagen befindliche warme Wolldecke hüllen, während sie ihren Kopf an seine Schulter lehnte.
"Entführt Ihr mich jetzt?", fragte sie ihn leise.
"Nicht doch", flüsterte er, drückte sie fest an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. "So etwas würde ich nie tun. Nein, ich wollte nur die Gunst des Abends nutzen, um Euch das Haus zu zeigen, in dem meine Brüder und ich hier in Paris wohnen... und natürlich, um eine kurze Zeit mit Euch allein zu verbringen."
"Eine sehr kurze Zeit", murmelte sie und lachte leise. "Ich fürchte, wir dürfen der Feier nicht zu lange fernbleiben. Meine Tante wird gewiss irgendwann bemerken, dass ich nicht mehr unter den Gästen weile."
"Nun ja, ich hoffte insgeheim, dass Eure werte Frau Tante auch weiterhin das Bett hütet."
"Den Gefallen tat sie uns leider nicht, obwohl sie heute Mittag noch auf ihren Mann einredete, nicht auf Agnes' Verlobungsfeier zu erscheinen."
"Offenbar hat die Baronesse ihre Meinung geändert."
"Ja, nicht einmal auf ihre Abneigung gegen bestimmte Menschen und Ereignisse kann man sich verlassen. Sie belegte sogar Caius in Beschlag, obwohl sie gegen seine Verlobung mit Louise ist."
"Der Baron kümmert sich einfach zu wenig um sie, so dass sie zu viel Zeit hat, über andere nachzudenken."
"Wisst Ihr, ich glaube, die Ursache liegt tiefer."
"Lasst uns nicht weiter über Eure Tante sprechen, wir sind gleich da!"
Einen Augenblick später hielt die Kutsche und einer der Bediensteten öffnete die Tür, klappte die Stiege auf und Aro half seiner Braut galant aus der Kutsche.
"Wir haben alles auf Eurem Zimmer angerichtet, wie Ihr es wünschtet, Meister Aro", sagte der Diener.
Der schwarzhaarige Vampir nickte ihm stumm zu und geleitete dann seinen Gast ins Haus.
"Möchtet Ihr das Haus sehen?", erkundigte er sich, doch Marguerite schüttelte den Kopf.
"Heute bleibt uns leider keine Zeit dafür, aber ein anderes Mal gern", erwiderte sie.
"Ihr habt recht, meine Liebe", gab er zurück und geleitete sie dann auf sein Zimmer im ersten Stock, in dem ein kleiner, gedeckter Tisch mit zwei Gläsern und einem Eiskübel darauf stand, in dem sich eine Flasche Sekt befand. Außerdem gab es ein kleines Buffet mit kaltem Fleisch und etwas Brot.
"Wie nett von Euch", meinte Marguerite, als sie das sah. "Obwohl keinerlei Gefahr bestand, dass ich hungrig bin, finde ich es dennoch rührend von Euch, dafür zu sorgen, dass etwas Essbares auf Eurem Zimmer für uns bereit steht."
"So wird es immer sein, mein Liebling", erklärte er zärtlich. "Ihr müsst Euch um nichts sorgen, dafür habt Ihr ja jetzt mich."
Er schloss die Tür hinter sich, so dass sie endlich allein waren, und Marguerite legte ihre Arme um seinen Hals, um ihn zu küssen. Eine Weile waren sie auf diese Weise miteinander verschlungen, ehe er sie auf seine Hände hob und zu seinem Bett trug. Behutsam legte er sie hinein, zog ihre Schuhe aus, streifte dann seine rasch ab und machte es sich neben ihr gemütlich. Sie schauten sich an und er suchte ihre Hand, fand und drückte sie.
Marguerite wusste genau, dass solch ein Beisammensein mit einem Mann sich eigentlich nicht gehörte, traf jedoch keinerlei Anstalten, sich aus dem Bett zu erheben. Sie genoss es vielmehr, ihm endlich einmal so nahe zu sein, ohne dass irgendjemand sie störte. Denn gewiss hatte Aro seine Dienerschaft entsprechend angewiesen. Sie stellte sich einen Moment lang vor, wie es wohl wäre, wenn sie nicht mehr zu ihren Verwandten in das gemietete Stadthaus zurückkehrte, sondern hier bei Aro bliebe, auch wenn sie noch nicht miteinander verheiratet waren.
"Wollen wir wirklich zurück auf das Fest?", wisperte sie ihm leise zu.
Ihr Liebster schenkte ihr einen amüsierten Blick.
"Ihr habt doch nicht wirklich die Absicht, einfach Euer altes Leben zu verlassen ohne Euch von Euren Verwandten zu verabschieden, Marguerite, oder?"
"Ich weiß es nicht. Im Augenblick kann ich keinen klaren Gedanken fassen, da mich meine Gefühle für Euch überwältigen."
"So etwas ist Musik in meinen Ohren, Carissima", sagte Aro, kam ihr näher und verschloss ihren Mund mit seinen Lippen. Sie wehrte sich nicht, sondern erwiderte seinen Kuss. Ihre Hände begannen, sanft sein Gesicht zu streicheln.
"Ich will nie wieder fort von Euch", flüsterte sie, schlang ihre Arme erneut um seinen Hals und brachte ihn dazu, sich ihr noch mehr zu nähern, bis sie Seite an Seite lagen und sie seinen Leib an ihrem spüren konnte.
Aro, der auf so viel Leidenschaft an diesem Abend nicht vorbereitet war, wusste nicht recht, wie ihm geschah, aber er spürte, wie das Begehren in ihm wuchs. Es war ein guter Ratschlag von Marcus gewesen, sich heute erneut zu stärken, bevor sie sich wieder in die Gesellschaft von Menschen begaben, vor allem, da diese kleine Entführung seiner Braut ja von ihm geplant worden war. Aro hoffte, dass er genügend Selbstkontrolle besaß, um nicht zu weit zu gehen. Jetzt war ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um seine zukünftige Ehefrau zu verwandeln. Dennoch konnte er es nicht lassen, seine Hände liebkosend über ihren Leib wandern zu lassen. Ihr Körper war zwar schlank, aber auch weich und warm und er sehnte sich danach, sich mit ihr zu vereinen. Eine seiner Hände legte sich schließlich wie unbeabsichtigt auf ihre Brust, was ihn trotz der Tatsache, dass Marguerite immer noch in ihr Kleid gehüllt war, sehr erregte. Ihr schien es auch zu gefallen, denn sie wehrte ihn nicht ab, ganz im Gegenteil. Ihre schlanken Finger streichelten sanft über seinen Nacken, was ihn beinahe wahnsinnig machte! Sie sehnte sich genauso danach, sich mit ihm zu vereinen, wie er es tat - aber es durfte nicht sein, denn sonst würde er die Selbstkontrolle verlieren.
"Wir müssen aufhören, Liebling", wisperte er keuchend, löste sich aus ihrer Umarmung und rollte sich zur Seite.
"Warum denn, Aro, ich möchte es auch", versicherte sie ihm, schlang ihre Arme um seine Schultern und legte ihren Kopf darauf, so dass er ihren Mund an seinem Ohr spürte. "Ich liebe dich so sehr und mir ist es gleich, wann wir uns vereinen. Wir wollen doch sowieso heiraten, nicht wahr?"
"Bitte, Liebes, quäle mich nicht so", bat er und schloss die Augen.
"Ich will dich nicht quälen, Liebster, tut mir leid", meinte sie traurig und schwieg dann, ohne jedoch ihre Arme von seinem Körper zu lösen. Stattdessen küsste sie ihn sanft auf seine Wange.
"Nein, mir tut es leid", sagte er leise, ohne seine Augen zu öffnen. "Aber ich habe mir selbst geschworen, dass ich alles richtig machen will und deshalb bitte ich dich um Geduld, bis wir offiziell Mann und Frau sind, auch wenn ich dich leidenschaftlich begehre."
"Einverstanden", versprach sie, doch er spürte sehr deutlich, wie enttäuscht sie darüber war.
Ihre Nähe, ihr Duft und all ihre Gedanken und Gefühle machten es ihm sehr schwer, seine Selbstkontrolle aufrechtzuerhalten. Andererseits wollte er sie bei sich haben, genoss all das auch und wünschte sich, diesen Augenblick für immer festzuhalten.
Um nicht völlig den Verstand zu verlieren, lenkte er seine Gedanken in eine andere Richtung, um sich von ihren abzuschotten. Vor wenigen Stunden erst hatten ihm Demetri und Felix berichtet, dass sich Lebrunne und Guignot gestern auf dem großen Friedhof trafen, wo sich zu dem Zeitpunkt niemand sonst aufhielt. Zweifellos hatten die beiden Herren diesen Ort gewählt, um ungestört und ohne Zeugen über ihr Vorhaben zu sprechen. Dabei ging es darum, ein geheimes, magisches Ritual durchzuführen, um das Herz einer Frau für sich zu gewinnen. Doch dazu bedurfte es auch des Blutes einer nahen Angehörigen der Person, die man durch einen Liebeszauber an sich binden wollte. Dabei handelte es sich um Adrienne de Lebrunne, was Aro jedoch schon wusste. Nun hatte Guignot es durch einen seiner Ordensbrüder, einem Mann aus dem Hochadel, so einfädeln lassen, dass Lebrunne mitsamt Gattin zu einem der Höflinge auf eine Feier an Dreikönig eingeladen wurde. Auf dem Weg dahin gegen etwa halb fünf sollte ein fingierter Überfall auf die Kutsche der Lebrunnes stattfinden, der Baron dabei niedergeschlagen und seine Frau betäubt und entführt werden. Den genauen Plan dazu hatte Guignot aber erst heute seinem Freund Lebrunne mitgeteilt, der davon alles andere als begeistert war.
Aro wunderte sich, dass der Baron nicht nur um seine eigene Person, sondern auch um seine Angetraute besorgt war, obwohl Adrienne ein furchtbarer Drachen war, der ihm das Leben schwer machte. Allerdings zeigte das nur, dass Roger de Lebrunne wohl nicht den Tod seiner Gattin wünschte, sondern noch etwas für sie übrig zu haben schien. Für die Durchführung des Liebeszaubers war ihr Tod auch nicht vonnöten, man brauchte ja nur etwas von ihrem Blut. Darüber hinaus war für den Abschluss dieses Rituals eine körperliche Vereinigung mit dem Opfer erforderlich, was Guignot seinem Freunde Lebrunne wohlweislich verschwiegen hatte. Natürlich würde die Hakennase dies selbst vollziehen, da er ohnehin der Liebhaber der Baronesse gewesen war. Mit etwas Glück würde Adrienne, die während der ganzen Zeremonie betäubt sein würde, dabei ein Kind von ihm empfangen, so dass Lebrunne möglicherweise doch zu seinem ersehnten Stammhalter kommen würde.
Menschen waren Aro grundsätzlich egal, doch irgendwie empfand er Mitleid mit Roger de Lebrunne, der von seiner Frau mit einem Freund betrogen wurde - ein falscher Freund zudem, der ihm noch sein eigenes Kind als Ergebnis eines magischen Rituals unterschieben wollte. Wer solch einen Freund besaß, brauchte keine anderen Feinde mehr. Je eher Marguerite aus diesem Umfeld verschwand, desto besser war es für sie.
Aber warum machte er sich darüber so viele Gedanken? Demetri wusste bereits, wo sich die Brüder des magischen Ordens treffen wollten, um mit Guignot seinen Liebeszauber auszuführen. Diese Bande würde morgen Nacht eine äußerst unangenehme Überraschung erleben. Es war nicht immer von Vorteil, einen Kellerraum in einem Stadthaus zu besitzen, aus dem kein Laut nach Außen zu dringen vermochte; und da zudem der Adlige, dem dieses prächtige Gebäude gehörte, allen seinen Dienern morgen Abend freigegeben hatte, würde niemand das Festmahl stören...
"Was hast du, Aro?", drang da wie aus weiter Ferne die Stimme des geliebten Mädchens an sein Ohr. "Du bist so still? Geht es dir gut?"
"Aber ja, Liebes", behauptete er und drehte seinen Kopf zu ihr. "Ich musste nur erst ein wenig zur Ruhe kommen. Außerdem denke ich darüber nach, wie ich deine Tante überzeugen kann, mir deine Hand zu geben."
"Ein unlösbares Problem, fürchte ich..."
"So etwas gibt es nicht, Marguerite. Sag mal, hättest du etwas dagegen, wenn wir schon vor deinem Geburtstag heiraten?"
"Nein, wenn es dir gelingt, meine Tante davon zu überzeugen."
"Was ist mit deinem Onkel? Könnte er uns helfen?"
"Ich weiß nicht! Er ist für mich schwer einzuschätzen. Einerseits ist er in letzter Zeit sehr nett zu mir und setzt sich doch tatsächlich immer mehr gegen seine Frau zur Wehr, aber andererseits..."
Aro lachte und meinte: "Ja, der Baron hat einen schweren Stand bei einer so launischen Frau wie deiner Tante."
"Tja, das kann man wohl sagen, und ich muss auch unter ihren Launen leiden, weil Papa seine Schwester aus Gründen, die ich nicht verstehe, zu meinem Vormund gemacht hat. Sie missgönnt mir sogar die Einladung Ihrer Majestät zu einer Dreikönigsfeier."
"Vermutlich ist sie gekränkt, weil man sie nicht eingeladen hat."
"Dabei ist das nur eine kleine Feier - und dennoch fürchte ich mich etwas davor. Was, wenn ich einen schlimmen Fauxpas begehe?"
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass dir so etwas passiert, Marguerite. Mach dir keine Sorgen, die Königin wird entzückt von dir sein."
"Ach, meinst du wirklich? Aber ich kenne mich mit den Gepflogenheiten bei Hofe nicht aus und weiß nicht, worüber ich mich dort mit Ihrer Majestät unterhalten sollte."
"Dein Kopfzerbrechen darüber ist völlig unnötig, Liebes. Die Königin bestimmt, worüber man sich unterhält und wird dir vermutlich Fragen stellen, auf die nur antworten musst. Außerdem bin ich mir sicher, dass deine zurückhaltende Art sehr positiv von Ihrer Majestät aufgenommen wird."
"Glaubst du wirklich, Aro?"
"Ganz bestimmt!"
"Es gibt noch eine Sache, die mir gerade durch den Kopf geht. Was wird aus Schloss Rochefort und den umliegenden Ländereien, wenn wir verheiratet sind?"
"Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Wir werden zu gegebener Zeit schon eine Lösung finden."
"Aber deine Brüder und du wollt doch bestimmt nach Italien zurückkehren, oder? Und als deine Frau werde ich selbstverständlich mit dir gehen."
"Natürlich möchte ich, dass du unsere Residenz kennenlernst, Marguerite, aber damit hat es keine Eile. Lass uns zunächst mal das Einverständnis deiner Tante zu unserer Heirat gewinnen, alles Weitere ergibt sich dann wie von selbst. - Was soll eigentlich aus deiner Tante werden, wenn du meine Gattin bist, Liebste?"
"Der Baron hat ein eigenes Anwesen, auf das er mit seiner Frau zurückkehren kann. Ich finde, die beiden haben lange genug auf meine Kosten gelebt."
"Darin stimme ich vollkommen mit dir überein, Liebes."
Marguerite küsste ihn sanft auf den Mund und meinte: "Ich hoffe, dass wir uns immer in allem einig sind."
"Eine Hoffnung, die ich teile, Liebste, und ich wüsste nicht, was dagegen spräche. Aber jetzt sollten wir allmählich wieder zur Verlobungsfeier deiner Freundin Agnes zurückkehren."
"Jetzt schon?", fragte die junge Frau enttäuscht. "Eigentlich würde ich lieber noch eine Weile allein hier mit dir bleiben."
"Glaub mir, ich auch, Marguerite, aber wir müssen vernünftig sein. Bestimmt hat man unser Fehlen schon bemerkt und ich möchte nicht riskieren, dass du wieder Ärger mit deiner Tante bekommst. Wenn wir dem Fest zu lange fernbleiben, wird uns niemand abnehmen, dass wir lediglich ein wenig draußen spazieren waren."
"Dann muss es wohl sein", seufzte die Komtesse und erhob sich langsam. "Hilfst du mir, meine Frisur wieder ein wenig zurechtzumachen?"
"Ich schicke dir Renata herauf. Sie kann das bestimmt besser als ich?"
"Renata?", fragte Marguerite verständnislos. "Wer ist Renata?"
"Eine unserer Bediensteten, Liebes. Du wirst sie gewiss mögen", erklärte Aro, stand auf und band sich seine langen Haare, die sich während ihrer gegenseitigen Liebkosungen gelöst hatten, wieder am Hinterkopf zusammen, ehe er das Zimmer verließ. Wenige Augenblicke später erschien eine hochgewachsene, schlanke Frau mit großen Augen und langem, braunen Haar und verneigte sich vor Marguerite, welche sie erstaunt betrachtete. Dabei fragte sie sich, wie Aro sich ausgerechnet in sie verlieben konnte, wenn solch eine Schönheit wie Renata in Italien in seiner Nähe weilte.
"Meister Aro sagte, dass Ihr Hilfe braucht, Comtesse?"
"Ja, das ist richtig. Wärt Ihr wohl so freundlich, mir meine Haare wieder ordentlich zu frisieren?"
Renata lächelte etwas und meinte: "Das ist kein Problem für mich."
*
Sobald die Gäste sich wieder im Saal zerstreut hatten, suchte Lebrunne in Begleitung seiner Gemahlin die Nähe eines seiner Bekannten, mit dessen Frau sich Adrienne gut verstand und rasch ins Plaudern geriet. Auch der Baron wechselte einige Worte mit ihr und ihrem Gatten, wobei er immer wieder seine Augen schweifend im Raum auf der Suche nach Marguerite umherwandern ließ, bevor er sich von der kleinen Gruppe entfernte, um zu Louise und ihrem Verlobten zu gehen, die unweit des Buffets standen und sich leise miteinander unterhielten.
"Ah, das sieht alles sehr gut aus", meinte Lebrunne und schaute einen Moment auf den langen Tisch, der voller verschiedener Speisen war, ehe er sich an Louise wandte. "Welche dieser Köstlichkeiten könnt Ihr mir empfehlen, Mademoiselle Lefevre?"
"Oh, sie sind alle recht schmackhaft", antwortete die Angesprochene freundlich.
"Dann werde ich mal etwas probieren", behauptete der Baron und nahm ein Gebäckstück, dass er sich in den Mund schob.
"Wirklich köstlich", meinte er dann und sah Louise wieder an. "Hat meine Nichte auch schon davon probiert?"
"Tut mir leid, Baron, aber ich habe die Comtesse seit der offiziellen Verlobung von Mademoiselle Fournier aus den Augen verloren. Möglicherweise war sie schon vor uns am Buffet, doch sicher weiß ich es nicht."
"Das ist wirklich schade", brummelte Lebrunne. "Und Ihr, Conte di Volturi, habt Ihr vielleicht eine Idee, wo meine Nichte sein könnte? Mir schien, dass Euer Bruder Aro sich während der offiziellen Verkündung der Verlobung von Mademoiselle Fournier zu ihr gesellt hätte."
Caius tat, als würde er überlegen, bevor er antwortete: "Das könnte sein. Allerdings habe ich kaum darauf geachtet, weil ich auf angenehme Art abgelenkt war."
Bei dem letzten Satz bedachte der blonde Vampir Louise mit einem sanftem Blick und sie lächelte ihn an.
"Mademoiselle Lefevre, Ihr seid doch Marguerites Freundin", wandte sich der Baron eindringlich an die junge Frau. "Daher versteht Ihr gewiss meine Sorge um Marguerites guten Ruf. Ich möchte sie doch nur davor bewahren, ins Gerede zu kommen. Hier in Paris gibt es viele Intriganten und Neider, wovon Marguerite nichts ahnt. Sie ist viel zu gutgläubig, was Menschen betrifft."
"Die Comtesse ist klüger als Ihr denkt", erwiderte Louise in beruhigendem Ton. "Sie neigt nicht dazu, jedem zu vertrauen. Macht Euch deshalb also keine Sorgen."
"Nun, meine Liebe", wandte sich da Caius an seine Verlobte mit einem Seitenblick auf Lebrunne. "Der Baron hat ganz recht mit seiner Einschätzung, dass man in Paris nicht jedem vertrauen sollte...", der blonde Jüngling richtete danach das Wort an Roger und fuhr fort: "Aber falls Marguerite tatsächlich mit Aro zusammen ist, besteht für Euch keinerlei Grund, sich um Ihren guten Ruf zu sorgen. Mein Bruder wird sie vor jeglicher Belästigung beschützen, wenn es wirklich jemand wagen sollte, ihr gegen ihren Willen zu nahe zu kommen."
Ehe der Baron etwas dagegen einwenden konnte, huben die Musiker an, ihre Instrumente zu stimmen und Caius wandte seine Aufmerksamkeit sogleich wieder Louise zu. "Möchtet Ihr tanzen, meine Liebe?"
"Ja, sehr gern", erwiderte seine Braut und reichte ihm die Hand.
"Entschuldigt uns", wandte sich der Jüngling in knappem Ton an Lebrunne und ging mit ihr zu der Reihe der anderen Paare, die sich in Tanzgruppen aufstellten. Verärgert sah der Baron ihnen hinterher, denn es gab keinen Grund für ihn, die beiden daran zu hindern. Das würde in der Gesellschaft nur auffallen und Verwunderung über sein Verhalten auslösen. Etwas, dass nicht in seinem Sinne war. Außerdem könnte es möglich sein, dass Louise und ihr Bräutigam tatsächlich nichts darüber wussten, wohin Aro mit seiner Nichte verschwunden war. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich weiterhin umzusehen, vielleicht auch außerhalb des Festsaals.
Der Baron schickte sich gerade an, die Gesellschaft möglichst unauffällig zu verlassen, als Fournier auf ihn zukam.
"Endlich habe ich Euch gefunden, mein Freund", sagte der Gastgeber gut gelaunt. "Kommt, ich möchte Euch mit einigen einflussreichen Leuten bekannt machen, die Euch eventuell dabei behilflich sein können, Euer Ansehen bei Hofe wieder reinzuwaschen."
Lebrunne horchte interessiert auf. Diesem Angebot konnte er nicht widerstehen, denn wenn er sich tatsächlich erneut verheiratete und Vater eines Sohnes werden würde, brauchte er Verbindungen bei Hofe - schon allein, damit sein Schössling keinerlei Nachteile befürchten musste...
*
Nachdem man zweimal zum Tanz aufgespielt hatte, kehren Marguerite und Aro wieder in den Festsaal zurück. Sobald Louise ihrer ansichtig wurde, bahnte sie sich einen Weg zu den beiden, die sich ans Buffet gestellt hatten.
"Welch ein Glück, dass Ihr wieder hier seid, Comtesse", wisperte Louise ihrer Freundin zu.
"Warum, hat mich etwa jemand vermisst?", fragte Marguerite und warf dabei einen beunruhigten Blick zu Aro, der völlig entspannt wirkte. "Vermutlich meine Tante, nicht wahr?"
"Nein, Euer Onkel erkundigte sich bei Caius und mir, wo Ihr seid. Natürlich taten wir ahnungslos und ich glaube, dass er uns das abnahm. Es wäre besser, wenn Ihr ihm sagt, dass Ihr auf dem Fest wart."
"Ja, natürlich. Danke, Louise. Aber ich finde es schon recht merkwürdig, dass der Baron mich zu beobachten scheint. Mein Eindruck war stets, dass er sich nicht besonders für mich interessiert."
"Wer weiß, was in seinem Kopf vorgeht", meinte Louise mit einem warnenden Unterton. Sie senkte ihre Stimme zu einem fast unhörbaren Flüstern herab, als sie sich an Marguerites Ohr beugte und fortfuhr: "Einige Gäste auf den verschiedenen Gesellschaften, auf denen wir waren, munkeln, dass er einst in ein Komplott mit ein paar anderen Adligen und dem Bruder des Königs verwickelt war. Die meisten seiner Mitverschwörer wurden hingerichtet, aber Euer Onkel gehört zu den wenigen, die begnadigt wurden. Deshalb denken manche auch, dass er ein Verräter sei, mit dem sie nichts zu tun haben wollen."
"Jetzt verstehe ich, warum mein Vater den Kontakt mit den Lebrunnes mied."
"Bitte, seid vorsichtig, was Euren Onkel betrifft, Comtesse. Ich fürchte, man kann ihm nicht trauen."
Caius hatte sich in diesem Augenblick zu seiner Braut gesellt und meinte leise: "Louise hat völlig recht mit der Einschätzung des Charakters Eures Onkels, Marguerite."
"Das ist viele Jahre her", mischte sich nun Aro ein und die beiden jungen Frauen schauten ihn erstaunt an, überrascht, dass er anscheinend wusste, worüber sie sich gerade im Flüsterton ausgetauscht hatten. "Mag sein, dass der Baron nicht immer ehrlich zu seiner Frau war, aber für Euch ist er nicht gefährlich, Marguerite. Er möchte nur nicht, dass Ihr abhanden kommt, wenn Ihr mit Eurer Tante und ihm ausgeht. Das ist alles."
"Das wäre natürlich auch möglich", räumte Marguerite ein und erinnerte sich daran, dass ihre Verwandten bei Mazarin vorsprechen mussten. An diesem Tag kamen sie recht wortkarg wieder von dem Gespräch zurück und seitdem hatte sich ihre Tante sehr zurückgehalten, bis heute. Wusste der Himmel, was ihre schlechten Launen immer auslöste. Konnte es tatsächlich sein, dass sie nicht nur in ihr, der Tochter ihres Bruders, ein Ärgernis sah, sondern auch in ihrem Ehemann?
Aro nahm ihre Hand und meinte: "Macht Euch nicht so viele Gedanken um Euren Onkel oder seine Gemahlin, Marguerite. Bald hat das alles ein Ende, das verspreche ich Euch."
Sie blickte ihn an, er strahlte so viel Zuversicht und Selbstsicherheit aus, dass sie sich tatsächlich gleich besser fühlte. Aro hatte ihr heute Abend gezeigt, wozu er fähig war, und sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass er sie notfalls entführen und heiraten würde. Aber soweit wollte sie es erst gar nicht kommen lassen.
"Ihr solltet Euch an diesem Abend amüsieren, anstatt Euch trüben Gedanken hinzugeben, die völlig unnötig sind", sagte Aro, führte ihre Hand zum Mund und küsste sie zärtlich. Da die Musik gerade wieder anhub, schlug er vor: "Wir sollten miteinander tanzen, Liebste, damit jeder sieht, dass wir auf dem Fest anwesend sind. Das wird Euren Onkel beruhigen."
"Ja, eine gute Idee", stimmte sie sofort zu und reihte sich mit ihm bei den Tanzpaaren ein. Caius und Louise taten es ihnen gleich. Sobald sie sich zu den Klängen der Melodie bewegten, vergaß Marguerite alle ihre Sorgen und genoss es, in Aros Nähe zu sein, ihm in die Augen zu schauen und ihn zu berühren. All dies war bei einem Tanz möglich, ohne dass jemand daran Anstoß nahm.
Auch der Baron, der sich in einer Unterhaltung mit jenen Leuten befand, die ihm laut Fournier bei Hofe nützlich sein konnten, bemerkte es - doch er störte sich sehr wohl daran. Innerlich bedauerte er, dass er momentan nichts dagegen machen konnte und sich vorerst bei Marguerite mit spitzen Bemerkungen zurückhalten musste, weil sie Conte Aro di Volturi den Vorzug vor allen anderen zu geben schien. Erst musste er wieder frei sein, ehe er dem Mädchen klarmachen würde, wie wenig ihm ihr Umgang mit diesem schmierigen Italiener gefiel. Natürlich wäre sie anfangs noch widerspenstig, doch das gab sich schon, sobald die Volturi-Brüder Paris verlassen hatten. Keine Minute lang glaubte er, dass Aro ernste Absichten auf seine Nichte hatte, selbst wenn sie eine überaus gute Partie war. Glaubte man den Gerüchten, dann besaßen die Volturi ein sehr viel größeres Vermögen, so dass sich Aro wohl nur einer kleinen Tändelei mit Marguerite hingab. Schließlich war allgemein aufgefallen, wie gern er mit der Damenwelt schön tat. Ein Frauenheld war er, nichts weiter - ihm nicht ganz unähnlich, aber ernste Absichten? Nein! Das hatte dieser Aro nicht nötig, schließlich war er noch ein junger Mann, der sich gewiss Zeit ließ, ehe er in den Hafen der Ehe einlief. Aus diesem Grunde musste er darauf achten, dass seine Nichte nicht verführt wurde. Schließlich sollte sie als Jungfrau in den Stand der Ehe treten...
*
Währenddessen saß Adrienne zusammen mit Madame de Fournier beisammen und genoss einen Weißwein, dabei immer wieder einen Blick auf ihren Gatten werfend, der auf der gegenüberliegenden Seite des Saals mit dem Gastgeber und ein paar anderen Männern stand und sich unterhielt.
"Ich bin Euch überaus dankbar für Eure Hilfe, meinem Gemahl wieder mit wichtigen Leuten zusammenzubringen", wandte sich die Baronesse an die Herrin des Hauses.
"Aber ich bitte Euch, das habe ich gern getan, meine Liebe", wehrte Madame de Fournier freundlich ab. "Wir Frauen müssen schließlich zusammenhalten, vor allem, wenn man mit jemandem verheiratet ist, der gerne mal ein Auge auf andere weibliche Wesen wirft."
"Glaubt mir, es ist mir nicht leicht gefallen, Euch meine Sorge zu gestehen", behauptete Adrienne in ein wenig klagender Weise. "Aber ich wusste mir nicht anders zu helfen. Mein Mann hätte sich sonst womöglich mit Conte Caius duelliert, nur weil er sich einbildet, in Mademoiselle Lefevre verliebt zu sein."
"Dabei bin ich mir sicher, dass die junge Dame ihn nicht im Mindestens ermutigt hat", meinte die Gastgeberin. "Meine Tochter erzählte mir, dass sie und Conte Caius sich sehr zugetan sind. Sie hat sie heute Morgen beim Schlittschuhlaufen getroffen und sich nett mit den beiden unterhalten."
"Nun ja... ich kann dazu nichts sagen. Mademoiselle Lefevre ist mit meiner Nichte aufgewachsen und die beiden erhielten dieselbe Erziehung. Darum hängt Marguerite auch so an ihr. Aber natürlich gibt es den Standesunterschied zwischen ihnen, so dass ich mich genötigt sah, die beiden zu trennen. Madame de Colignon war so freundlich, die junge Frau bei sich aufzunehmen und ihr eine Stellung als Gesellschafterin anzubieten."
"Und ich dachte, Ihr habt Mademoiselle Lefevre entlassen, weil Euer Mann hinter ihr her war. Oder habe ich da etwas falsch verstanden, Baronesse?", fragte Madame Fournier erstaunt.
"Beides hat für mich den Ausschlag gegeben, wobei natürlich der letztere Fall das Fass zum Überlaufen brachte", log Adrienne und erkannte voll innerer Befriedigung, dass die gutmütige Madame Fournier ihr glaubte.
"Mich wundert nur, weshalb Euer Gemahl sich dermaßen in Mademoiselle Lefevre vernarren konnte, da er sie kaum kannte. Eine Schönheit kann man das Mädchen - verzeiht mir - nicht gerade nennen."
"Vermutlich hat sie ihm schöne Augen gemacht."
"Es fällt mir schwer, das zu glauben. Sie wirkt sehr zurückhaltend."
"Dann erklärt mir bitte, Madame Fournier, weshalb eine junge Frau, die nicht einmal von Adel ist, einen hübschen, jungen Mann wie den jungen Conte di Volturi als Bräutigam einfangen konnte."
"Offensichtlich fühlt er sich durch ihre zurückhaltende Art angezogen", meinte die Herrin des Hauses. "Wenn sie außerdem so gebildet ist, wie Ihr mir erzähltet, zählt das als weiterer Pluspunkt. Sie könnte eine gute Ehefrau abgeben. Schließlich ist sie recht nett anzusehen, wenngleich nicht so attraktiv wie Eure Nichte."
"Wie dem auch sei", gab Adrienne, die die letzte Bemerkung ärgerte, zurück. "Ich bin Euch auf jeden Fall dankbar, dass Ihr Euren Gemahl darum batet, meinen Ehemann aus dem Umkreis von Conte Caius wegzubringen. Je weniger mein Angetrauter mit dem Objekt seiner Begierde zusammen ist, desto besser ist es. Ich glaube, es ist wirklich an der Zeit, dass meine Familie und ich aus Paris abreisen."
"Ist das denn wirklich nötig, Baronesse?", fragte Madame Fournier. "Das fände ich wirklich schade. Gerade jetzt, wo Eure Nichte sich mit meiner Tochter angefreundet hat. Agnes erzählte mir, dass sie die Comtesse sogar darum bat, bei ihr als Brautjungfer zu fungieren."
"Wie rührend", erwiderte Adrienne und lächelte gezwungen, obwohl das Lob und das Wohlwollen, mit dem selbst Fourniers gutmütige Ehefrau ihre Nichte bedachte, ihren Hass auf Marguerite steigerte. Wann endlich wäre sie den kleinen Bastard ihres Bruders los? Und warum, um alles in der Welt, befand sich Rouven nicht auf der Verlobungsfeier?
"Habt Ihr Monsieur Guignot nicht eingeladen?", wandte sich die Baronesse, das Thema wechselnd, erneut an die Gastgeberin. "Ich kann ihn nirgendwo erblicken."
"Oh, der Ärmste liegt mit einer schweren Erkältung im Bett und konnte deshalb nicht kommen", erklärte Madame Fournier mit einem Unterton des Bedauerns. "Deshalb müssen wir leider auf seine charmante Gesellschaft verzichten. Aber es gibt genügend andere Männer, die ebenso charmant sind wie er, Conte Aro di Volturi zum Beispiel. Offenbar gibt er jedoch wieder einmal Eurer reizenden Nichte den Vorzug vor allen anderen Damen. Glaubt Ihr, zwischen den beiden könnte es etwas Ernstes werden, Baronesse?"
"Auf keinen Fall!", erklärte Adrienne voller Überzeugung. "Nachdem ich Conte Aro etwas besser kennenlernte, weiß ich, dass er ein Schürzenjäger par excellence ist."
"Denkt Ihr wirklich?", erkundigte sich Madame Fournier zweifelnd. "Wenn er Eure Nichte ansieht, vermittelt sich der Eindruck, als würde er sie anbeten. Vielleicht hat er sich doch in sie verliebt und ernste Absichten..."
"Womöglich bildet er sich das tatsächlich ein, aber ich kenne Männer seines Schlages. Marguerite ist für ihn nur ein neues Spielzeug, dessen er bald müde sein wird, sobald er genug von ihr hat. Das möchte ich meiner Nichte gern ersparen, was ein weiterer Grund für mich ist, eine baldige Abreise nach Rochefort in Erwägung zu ziehen."
"Die arme Comtesse", murmelte Madame Fournier mitleidig. "Sie scheint sehr verliebt in ihn zu sein."
"Marguerite wird darüber hinwegkommen, sie ist noch jung", tat Adrienne das ab.
"Dennoch dauert es mich, dass ihr solch eine Enttäuschung bevorsteht. Vermutlich wird sie auch traurig sein, wenn Mademoiselle Lefevre mit ihrem Bräutigam nach der Hochzeit nach Italien fährt. Wie ich hörte, soll die Trauung auf dem Landgut von Madame de Colignon stattfinden."
"Wie bitte?!", entfuhr es Adrienne und sie starrte ihre Gesprächspartnerin ungläubig an. "Seid Ihr Euch dessen gewiss?"
"Selbstverständlich, Madame de Colignon hat es mir heute Abend erzählt. Sie meinte, dass es sich nicht gehöre, wenn Mademoiselle Lefevre als ledige Frau mit ihrem Verlobten ins Ausland geht. Da sie sich für die Freundin Eurer Nichte verantwortlich fühlt, bestand sie auf einer Hochzeit."
"Sie ist wahrhaftig eine sehr großzügige Dame", erwiderte die Baronesse, während sie innerlich vor Wut kochte. Vorhin noch hatte sie geglaubt, gut damit leben zu können, dass Caius diese nichtssagende Person zur Ehefrau nahm, aber die Vorstellung, dass sich die beiden tatsächlich das Ja-Wort gaben und dies auch noch in naher Zukunft, weckte heftige Gefühle der Eifersucht in ihr.
Zu allem Überfluss sah Adrienne, dass Madame de Colignon gerade auf Madame Fournier und sie zukam, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht.
"Welch ein schönes Fest", wandte sich die ältere Dame zunächst an die Gastgeberin, welche sich dafür bedanke. "Ihr müsst überglücklich sein, dass Eure Tochter einen so anständigen Jüngling wie den jungen Renouard zum Mann nehmen wird."
"Oh, kennt Ihr diese Familie etwa?", fragte Adrienne, um sich von ihrer Eifersucht abzulenken und die Contenance zu bewahren.
"Ja, seine Eltern haben ein großes Landgut betrieben, das der junge Mann übernommen und noch ausgebaut hat. Er ist ein recht gute Partie und zwischen ihm und Eurer Tochter besteht offensichtlich eine starke Zuneigung."
"Das ist richtig, Madame de Colignon", bestätigte Agnes' Mutter.
"Sehr schön, so sollte es auch sein", meinte die ältere Dame und nickte, dann setzte sie sich neben Adrienne und richtete das Wort an sie: "Wie ich hörte, seid Ihr und Euer Gemahl morgen Nachmittag ebenfalls zu einer Dreikönigsfeier eingeladen, die recht spät werden könnte."
"Wer hat Euch das erzählt, Madame?", wunderte sich Adrienne
"Euer Mann war so frei, weil er sich sorgt, dass die Feier, zu der Ihr mit ihm eingeladen seid, länger dauern könnte als die kleine Gesellschaft bei Ihrer Majestät. Euer Gemahl gab zu bedenken, dass Marguerite dann allein in dem großen Haus wäre, welches Ihr angemietet habt, meine Liebe, und sagte, dass Euch das gewiss nicht recht wäre. Deshalb habe ich einen Vorschlag an Euch, Baronesse."
"Und wie lautet dieser Vorschlag?", fragte die Angesprochene, nach außen hin immer noch ruhig.
"Marguerite könnte bei mir übernachten, wenn Ihr dem zustimmt. Ich verspreche, gut auf sie zu achten und sie Euch am Tag darauf wohlbehalten wieder ins Haus zu bringen."
Über Adriennes Antlitz glitt ein Lächeln.
"Euer Vorschlag klingt vernünftig", erwiderte sie und nickte. Die Aussicht, eine Nacht lang ohne das verzogene Gör ihres Bruders allein mit ihrem Mann im Haus zu sein, stimmte sie irgendwie froh. Womöglich konnte sie Roger wieder für sich gewinnen und ihn beruhigen, wie nur sie es verstand. "Natürlich bin ich damit einverstanden, Madame de Colignon."
"Das wird Euren Gemahl sehr freuen", meinte die ältere Dame und wirkte sehr zufrieden. "Wie es aussieht, könnte sich seine Reputation auch wieder bessern. Jedenfalls ist er gerade mit sehr einflussreichen Personen zusammen, die bei Hofe dienen. Ich würde es Euch wirklich wünschen, Baronesse."
Adrienne nickte, ohne etwas darauf zu erwidern. Sie glaubte nicht, dass es Roger etwas nützte, selbst wenn diese Herren sich gerade freundlich mit ihm unterhielten. König Louis vergaß nichts, seine Frau ebenso wenig. Es machte keinen Sinn, sich Illusionen hinzugeben, das war ihr nach dem Gespräch mit dem arroganten Kardinal Mazarin klar geworden. Ihr war es bei der Lüge, die sie Madame de Fournier über die angebliche Vernarrtheit ihres Mannes in Louise Lefevre erzählt hatte, nur darum gegangen, ihren Mann von Caius fortzubringen, damit Roger nicht irgendetwas über sie bei dem jungen Grafen ausplauderte. Ihr Gemahl war eifersüchtig und musste spüren, dass sie Caius im Innersten begehrte. Es galt also, einen Skandal zu verhindern, was ihr mit Hilfe des Ehepaares Fournier sehr gut gelungen war. Und wenn sie morgen Nacht endlich mal mit Roger allein wäre, würde sie ihn verführen, damit er sich daran erinnerte, dass sie beide sich einst geliebt hatten...
*
Nach zwei Tänzen, die Aro mit Marguerite bestritten hatte, wünschte seine Liebste, er möge ihr etwas zu Trinken holen, während sie es sich mit ihrer Freundin Louise und Agnes de Fournier zusammen auf einem Sofa in der Ecke gemütlich machte.
Aro ging zum Buffet und Caius gesellte zu dem Gesprächskreis, in dem sich Lebrunne befand. Thierry hingegen hatte sich mit seinem Schwiegervater in Spe etwas abseits gestellt, um mit ihm allein zu sprechen. Der schwarzhaarige Vampir ließ sich von einem Bediensteten zwei Gläser mit Weißwein füllen, winkte dabei jedoch Demetri, der sich im Saal aufhielt, zu sich heran. Als jener bei ihm war, wisperte Aro ihm beinah unhörbar zu: "Nach diesem Fest kehrst du zu denjenigen zurück, die Guignot bewachen. Ich will sofort wissen, wann das Spektakel los geht."
"Ja, Meister Aro. Was ist mit Felix?"
"Wir werden ihn dazu holen, sobald das Ritual beginnt. Im Augenblick obliegt es ihm, meine Verlobte zu bewachen. Aber achtet ja darauf, dass kein Mensch Eure Anwesenheit bemerkt. Ich wünsche, dass alles nach Plan läuft, so wie besprochen."
"Ihr könnt Euch auf uns verlassen, Herr."
"Gut, ich wollte mich nur noch einmal vergewissern."
Demetri nickte und lächelte, dann verneigte er sich etwas und gesellte sich wieder unter die Gäste. Aro blickte ihm mit zufriedener Miene nach. Welch ein Glück, dass sie loyale Clanmitglieder besaßen, die zuverlässig waren und ihre Befehle befolgten. So war immerhin sichergestellt, dass sowohl Marcus' als auch seine zukünftige Ehefrau sicher bewacht und beschützt wurden, ebenso wie Louise, obwohl sie einen anderen heiraten würde. Aber je mehr Aro seinen Schützling Caius beobachtete, desto mehr Zweifel kamen ihm, ob der Jüngere Louise wirklich ohne weiteres gehen ließ, denn er schien sie sehr zu mögen.
"Warten wir's ab", dachte der schwarzhaarige Vampir und lächelte.
Morgen Nacht war es endlich soweit und sowohl Guignot und seine Helfershelfer als auch Adrienne de Lebrunne würden bald Geschichte sein...
Kapitel 40
Das Gewissen spricht, aber der Eigennutz schreit.
~ Jean Antoine Petit-Senn (1792 - 1870) ~
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Erst weit nach Mitternacht kehrte Marguerite mit ihren Verwandten heim und zog sich danach sofort in ihr Gemach zurück, froh darüber, dass weder Tante noch Onkel ein Wort über ihre kurze Abwesenheit im Festsaal verloren, Sie teilten ihr lediglich während der Heimfahrt mit, dass Madame de Colignon ihr morgen nach der Feier bei Ihrer Majestät eine Übernachtungsmöglichkeit angeboten und Tante Adrienne dem zugestimmt habe, da sie mit ihrem Gemahl ebenfalls zu einem Fest eingeladen worden seien und erst spät nach Hause kommen würden. Diese Nachricht erfreute Marguerite ungemein, bedeutete es doch, dass sie danach vielleicht noch Aro sehen könnte, der im Haus wohnte, das gegenüber dem Haus ihrer mütterlichen Freundin stand.
Den Baron hingegen erwartete an jenem Abend noch eine Überraschung. Nachdem er seiner Frau eine gute Nacht gewünscht hatte, zog er sich auf sein Zimmer zurück und machte sich mit Hilfe seine Kammerdieners fürs Bett fertig. Danach entließ er den Bediensteten und legte sich hin. Doch es dauerte nicht lange, als es zaghaft an seine Tür klopfe und er, sich halb aufrichtend, erstaunt fragte: "Ja?"
Mit größer werdender Verwunderung hörte er die bittende Stimme seiner Gemahlin: "Darf ich hereinkommen?"
In der Annahme, sie wolle ihm noch etwas Wichtiges erzählen, da sie fast den ganzen Abend mit Madame Fournier zusammen gesessen hatte, erwiderte er: "Natürlich, ma Cherie."
Gleich darauf kam die lediglich in ihr Nachthemd gehüllte Adrienne hereingehuscht, schloss lautlos die Tür hinter sich und gesellte sich zu ihm ins Bett, wobei sie mit einem lieblichen Lächeln erklärte: "Mir ist ein wenig kühl. Du hast doch nichts dagegen, dass ich mich ein wenig bei dir wärme?"
Lebrunne schüttelte den Kopf und fragte: "Was gibt es denn?"
"Nichts Besonderes, mein Lieber, außer dass ich mich nach etwas Zuneigung von deiner Seite sehne", schnurrte sie und legte ihren Kopf an seine Schulter, wobei sie ihm kokette Blicke zuwarf und ihn mit einem dermaßen verführerischen Lächeln ansah, dass er schwach wurde und sie tatsächlich küsste. Er hatte das Gefühl, in die Zeit zurückversetzt worden zu sein, als sie frisch verheiratet waren. Adrienne erwiderte seinen Kuss und legte ihm die Arme um den Hals.
"Nimm mich, Roger", wisperte sie dabei in sein Ohr.
Ihr Mann zog sie fester an sich, so dass sie spüren konnte, wie seine Männlichkeit augenblicklich wuchs. Seufzend gab sich Adrienne ihm völlig hin, ließ sich von ihm auf den Rücken legen und seine Hände gewähren, die langsam ihr Nachthemd hochschoben, unter dem sie nichts weiter trug. Sie schloss ihre Augen, während er sanft ihre Brüste liebkoste, ihr Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte und sich schließlich auf sie schob, um den Geschlechtsakt mit ihr zu vollziehen. Sie stöhnte vor Wonne auf, da sie sich vorstellte, dass es Caius sei, der all dies mit ihr tat, völlig vergessend, welch ein guter Liebhaber ihr Ehemann schon immer gewesen war...
***
Am nächsten Morgen erwachte Marguerite gegen halb elf und klingelte nach ihrer Zofe, damit diese ihr das Frühstück ans Bett brachte. Da sie bereits am späten Nachmittag zur Feier der Königin aufbrechen musste und auch ihre Verwandten eine Einladung von jemand anderem erhalten hatten, nahm die Comtesse an, dass man heute auf das Mittagsmahl verzichtete.
Arlette erschien und zog die Vorhänge vor den Fenstern weg, damit das Sonnenlicht den Raum erhellte.
"Habt Ihr gut geschlafen, Comtesse?", erkundigte sie sich freundlich.
"Ja, ausgezeichnet", gab Marguerite zurück. "Es war eine sehr schöne Feier und das Brautpaar wirkte überglücklich. Doch jetzt wünsche ich das Frühstück in meinem Zimmer einzunehmen, denn ich nehme an, dass meine Verwandten noch schlafen, oder?"
"Oh ja, weder Eure Tante noch deren Gemahl haben bis jetzt nach ihren Dienstboten geklingelt", bestätigte Arlette und nickte. "Durchaus verständlich, da Ihr und Eure Verwandten einen schönen Abend hattet und sehr spät heimgekommen seid. Ach, ich wünschte, ich wäre dabei gewesen."
"Nun, ich bin sicher, dass du irgendwann selbst deine Verlobung feiern wirst."
"Bis jetzt habe ich noch keinen Burschen kennengelernt, den ich heiraten möchte."
"Das kommt schon noch", meinte Marguerite aufmunternd. "Selbst meine Freundin Louise hat sich unvermutet verlobt. Es muss Schicksal sein, wenn plötzlich der Mann deines Lebens vor dir stehst, ohne dass du es erwartest - und du weißt ganz genau, dass er es ist..."
"Das klingt gerade so, als ob Ihr jemanden kennengelernt habt, den Ihr ernsthaft als Ehemann in Erwägung zieht, Comtesse."
"Vielleicht... vielleicht auch nicht... Wir werden sehen, was die Zukunft bringt, Arlette. Und nun sieh zu, dass du mir mein Frühstück besorgst. Ich habe nämlich Hunger."
Die Zofe nickte mit einem vielsagenden Lächeln und eilte danach rasch aus dem Zimmer...
***
Der Baron erwachte erst gegen halb eins, wobei er den Kopf seiner Gemahlin auf seiner Brust spürte. Schuldbewusst blickte er auf die immer noch Schlafende und fragte sich, wie um alles in der Welt es zu dieser Liebesnacht mit Adrienne kommen konnte. Schon lange hatten sie beide nicht mehr das Bett miteinander geteilt, warum ausgerechnet jetzt?
Mit schlechtem Gewissen dachte Lebrunne an den Plan, den Rouven Guignot ersonnen und dem er zugestimmt hatte, weil ihn seine Gattin mit ihren Launen quälte und ihm allmählich auf die Nerven zu gehen begann. Außerdem gab sie sich und ihn der Lächerlichkeit preis, indem sie mit Männern flirtete, die vom Alter her ihre Söhne sein könnten, wie beispielsweise dem jungen Volturi. Und dennoch musste Roger sich eingestehen, dass diese Liebesnacht mit Adrienne - womöglich die letzte, die sie zusammen verbrachten - recht schön gewesen war. Seine Angetraute hatte ihm damit gezeigt, wie sehr sie immer noch an ihm hing - und das machte es verdammt schwer, sich an Rouvens Plan zu halten.
Vorsichtig legte er Adriennes Kopf auf das Kissen neben sich und erhob sich langsam aus dem Bett, zog einen Morgenrock über und klingelte nach seinem Kammerdiener. Als dieser eintrat und die schlafende Baronesse im Bett erblickte, senkte er sofort verlegen den Kopf und murmelte verlegen: "Verzeiht mir, Herr, ich wusste nicht, dass..."
"Schon gut", beruhigte Lebrunne ihn. "Doch sei leise! Es gibt keinen Grund, meine Gemahlin zu wecken! Gestern Abend wurde es spät und die heutige Einladung wird uns wohl auch lange wachhalten. Tue also so, als ob wir allein wären, und hilf mir bei der Morgentoilette und beim Ankleiden."
"Sehr wohl, Herr."
Während der Kammerdiener seinen Pflichten nachkam, fragte Lebrunne interessiert: "Ist die Comtesse schon wach?"
"Ja, seit ein paar Stunden. Sie sitzt unten in der Bibliothek und liest."
"Braves Mädchen", meinte der Baron zufrieden. "Heute mal kein Geklimpere. Diese Ruhe sollten wir genießen."
Der Diener wagte nicht zu widersprechen, obwohl er selbst fand, dass die junge Comtesse sehr schön spielte. Doch der Dienerschaft war in der kurzen Zeit nicht entgangen, dass der Baron und vor allem die Baronesse de Lebrunne wenig Wohlwollen für die junge Dame übrig hatten.
Nachdem der Baron fertig angekleidet war, schickte er den Bediensteten weg und machte sich auf den Weg hinunter in die Bibliothek. Es interessierte ihn nämlich brennend, wohin Marguerite gestern mit ihrem schmierigen Verehrer verschwunden war.
Die Comtesse erhob sich, als sie sah, dass ihr Onkel den Raum betrat.
"Guten Morgen, mein Kind", sagte er in freundlich-jovialem Ton. "Wenngleich es nicht mehr Morgen ist, finde ich diese Begrüßung nach dem Erwachen immer noch passend."
"Guten Morgen", erwiderte Marguerite den Gruß und setzte sich wieder, nachdem der Baron auf einem Sessel ihr gegenüber Platz genommen hatte. "Habt Ihr gut geschlafen?"
"Sehr gut, mein Kind, vielen Dank. Deine werte Tante ruht immer noch in Morpheus' Armen und ich werde sie wohl erst in zwei Stunden wecken lassen. Schließlich steht uns auch heute noch eine Feier bevor, die bis spät in die Nacht hinein gehen könnte."
"Sehr vernünftig von Euch, Onkel."
"Da wir gerade von diversen Feiern sprechen, liebes Kind, verrate mir doch, wo du dich gestern nach der offiziellen Verlobung von Mademoiselle Fournier versteckt hieltest."
"Versteckt?", fragte Marguerite und tat erstaunt. "Ich verstehe nicht, was Ihr meint, Onkel."
"Oh, ich glaube, du verstehst mich recht gut. Im Festsaal warst du jedenfalls eine ganze Weile lang nicht mehr - ebenso wenig wie Conte Aro di Volturi. Wo seid ihr beiden gewesen?"
"Ihr müsst Euch irren, Onkel, ich habe den Saal nicht verlassen, sondern mich mit verschiedenen Leuten auf dem Fest unterhalten. Wo Conte Aro war, kann ich Euch jedoch nicht sagen."
"Ach was?! War er etwa nicht die ganze Zeit an Eurer Seite?"
"Wir haben uns ein wenig unterhalten, das ist wahr, und auch später mehrmals miteinander getanzt. Aber er war nicht den ganzen Abend an meiner Seite, das versichere ich Euch, Onkel."
"So, so? Du willst also bei dieser Behauptung bleiben, mein Kind?"
"Ja, Onkel."
"Ich muss sagen, dass ich sehr enttäuscht von dir bin, Marguerite. Bisher hatte ich dich immer für ein aufrichtiges Kind gehalten, doch jetzt muss ich erkennen, dass das nicht stimmt!"
"Womit habe ich diesen Vorwurf verdient?!"
"Komm, Mädchen, mach mir nichts vor! Du bist vernarrt in diesen Aro und warst für eine Weile mit ihm verschwunden. Nicht gerade angenehm für mich, da deine Tante und ich die Verantwortung für dich tragen! Zum Glück bemerkte meine Frau nichts von deinem Verschwinden und ich hielt es auch für besser, ihr nichts davon zu sagen, damit sie sich nicht wieder aufregt."
"Ich versichere Euch, Onkel, dass ich auf der Verlobungsfeier war. Wenn Ihr mich für eine Weile aus den Augen verloren habt, ist das doch nicht meine Schuld. Ihr tut mir wirklich unrecht!"
"Womöglich hat der gesellschaftliche Umgang in Paris einen schlechten Einfluss auf dich, mein Kind. Deshalb erwäge ich, der Bitte deiner Tante nachzugeben und übermorgen zurück nach Rochefort zu fahren, damit du wieder zur Ruhe kommst. Offenbar ist all das hier zu viel für dich!"
"NEIN! Ich möchte bis zu meinem Geburtstag hierbleiben!"
"Wir werden sehen, Marguerite... wir werden sehen!", meinte der Baron kühl und erhob sich. "Wenn dich die Königin nicht eingeladen und wir keine Ermahnung von Seiten des Kardinals bekommen hätten, wären wir sicherlich schon längst wieder auf dem Land."
"Glaubt Ihr wirklich, ich ließe mir das einfach so gefallen?!", fuhr Marguerite ihn an.
"Sieh an! Endlich zeigst du dein wahres Gesicht, das mir recht aufrührerisch erscheint", erklärte Lebrunne und verzog seinen Mund zu einem süffisanten Lächeln. "Du magst zwar klug sein und dich für raffiniert halten, aber ich hege schon seit geraumer Zeit den Verdacht, dass sich hinter der zurückhaltenden und vernünftig scheinenden Person, als die du dich aller Welt nach außen hin präsentierst, ein widerspenstiges Wesen versteckt. Doch ich versichere dir, Mädchen, dass dir jegliches Aufbegehren nichts nützen wird, magst du heimlich auch so viele Briefe an Mazarin schreiben wie du willst. Du bist das Mündel meiner Frau und musst ihr gehorchen, ob du willst oder nicht! Daran wird auch der neue Erste Minister nichts ändern!"
"Ihr tut mir unrecht, Onkel! Ich habe keinen Brief an den Kardinal geschrieben, das versichere ich Euch!"
"Bitte, erspar uns deine Lügen, Marguerite! Mazarin hat dich nicht ohne Grund zu sich bestellt!"
"Mein früherer Vormund bat ihn, ein Auge auf mich zu haben und deshalb wollte der Kardinal mich persönlich kennenlernen. Das ist alles, Onkel, das versichere ich Euch."
"Hör auf, ich glaube dir kein Wort! Es war nicht gerade angenehm, von dem neuen Ersten Minister darauf hingewiesen zu werden, dass wir die Verantwortung für dich tragen! Und da wir diese Ermahnung sehr ernst nehmen, kann dein neuer Gönner wohl kaum etwas dagegen haben, wenn wir dich auf den Familiensitz zurückbringen, weil du erkrankt bist und dort die beste Pflege erhältst!"
"Aber ich bin nicht krank!"
"Wen interessiert das, mein Kind? Mazarin kann nicht das Gegenteil beweisen und ich denke nicht, dass seine Fürsorge für dich so weit geht, dass er ein öffentliches Aufsehen riskiert. Was würde man wohl sonst von ihm denken, wenn er sich für dich einsetzt? Ganz gewiss will er sein Ansehen bei den Majestäten nicht wegen einer jungen Dame aufs Spiel setzen, die er kaum kennt. - Glaub mir, Mädchen, diese hohen Herren sorgen zu allererst für sich selbst und achten auf ihren Ruf!"
"Wie sehr kann man sich doch in einem Menschen täuschen?!", gab Marguerite mit einem bitteren Unterton zurück und starrte den Baron ungläubig an. "Dabei nahm ich an, dass Ihr mir wohlgesonnen seid, Onkel."
"Das bin ich auch, mein liebes Kind, glaub mir. Ich möchte lediglich verhindern, dass ein Schürzenjäger wie Aro di Volturi dein kleines Herz bricht. Dieser Mann spielt nur mit deinen Gefühlen, er meint es nicht ernst mit dir!"
"Ihr seid nicht gut genug mit Conte Aro bekannt, um solche Behauptungen aufstellen zu können!"
"Ach, liebes Kind, ich kenne Männer seines Schlages zur Genüge und kann dich nur vor ihm warnen. Du bedeutest ihm nichts, während ich es gut mit dir meine. Aber natürlich glaubst du mir jetzt noch nicht, weil er dir den Kopf verdreht hat und du verliebt in ihn bist."
"Wie kommt Ihr darauf, mir so etwas zu unterstellen?!"
"Ich bitte dich, Marguerite, jeder kann es sehen, wenn er nicht gerade ignorant oder mit Blindheit geschlagen ist. Dabei gibt es bessere Ehekandidaten als diesen Aro di Volturi. Reichtum ist nämlich nicht alles, mein Kind."
"Ehekandidaten?", fragte die Comtesse spöttisch. "Wer sagt denn, dass ich heiraten will? Außerdem scheint mir, dass meine Tante etwas dagegen hätte. Das entspricht doch der Wahrheit, nicht wahr?"
"Du tust ihr Unrecht, Marguerite", behauptete Lebrunne. "Deine Tante hat wirklich nur dein Wohlergehen im Sinn und dazu gehört, dass sie dich nicht dem Erstbesten geben will, der um deine Hand bittet. Allerdings wäre sie bereit, jemanden als Ehemann zu akzeptieren, den wir als vertrauenswürdig kennen und der dich von Herzen liebt."
"Ach ja? Wer soll das sein?!"
"Monsieur Rouven de Guignot wünscht sich nichts sehnlicher, als dich zu ehelichen. Er besitzt zwar kein großes Vermögen, ist jedoch ein anständiger Mann und hegt große Zuneigung für dich. Man könnte beinahe sagen, dass er wahnsinnig in dich verliebt ist. Er würde dich auf Händen tragen..."
"GUIGNOT?!", entfuhr es Marguerite, während sie blitzartig von ihrem Sitz auffuhr und ihren Onkel zornig mit den Augen anfunkelte. "Dieser grässliche, aufdringliche Mann, vor dem kein Weiberrock sicher ist?! Er genießt in ganz Paris den Ruf eines berüchtigten Schürzenjägers! Wie könnt Ihr ihn auch nur einen Augenblick ernsthaft als Ehemann für mich in Erwägung ziehen? Ich verabscheue ihn von Herzen!"
Lebrunne grinste etwas, waren diese Worte doch Musik in seinen Ohren! Marguerite würde Guignot niemals vermissen. Warum auch? Hatte der Kerl doch nicht den Mumm, ihr offen den Hof zu machen, sondern sich auf einen Liebeszauber zu verlassen, zu dem er etwas Blut von einer Verwandten benötigte. Jetzt wusste der Baron wieder, warum er dem Plan seines Freundes überhaupt zugestimmt hatte. Mit etwas Glück war er sowohl Rouven als auch Adrienne bald los und somit frei für eine neue Verbindung. Und dieses temperamentvolle, widerspenstige Mädchen vor ihm war jeden Preis wert, den er bezahlen musste, um sie zu besitzen. Marguerite war reich, jung und wunderschön und ganz sicher in der Lage, gesunde Nachkommen zur Welt zu bringen.
"Bitte, beruhige dich, mein Kind, und schau mich nicht so wütend an", sagte Lebrunne in begütigendem 'Ton. "Glaub mir, ich meine es wirklich gut mit dir; und wenn dir Monsieur Guignot wirklich dermaßen zuwider ist, wird dich niemand dazu zwingen, ihn zum Mann zu nehmen."
"So?!"
"Nein, niemand wird dich dazu zwingen. Selbst deine Tante nicht, dafür stehe ich ein!"
"Es fällt mir schwer, das zu glauben."
"Ich gebe dir mein Wort darauf", versicherte der Baron und lächelte sie an. "Du kannst mir wirklich vertrauen, Marguerite, aber im Gegenzug verlange ich, dass du mich nicht mehr anlügst."
"Niemals habe ich Euch etwas Böses getan und Ihr unterstellt mir, eine Lügnerin zu sein! Das höre ich mir nicht länger an!", entgegnete Marguerite wütend, schmiss das Buch auf den Sessel, kehrte ihrem Onkel den Rücken und verließ rasch die Bibliothek. Lebrunne starrte ihr fasziniert nach. Was für ein Temperament! Mit ihr würde es gewiss nie langweilig werden...
*
Felix hielt sich in der Nähe des Hauses auf, in dem die Verlobte seines Meisters Aro mit ihren Verwandten wohnte, und bekam durch das feine Gehör, über das viele Vampire verfügten, sehr gut die heftige Auseinandersetzung der jungen Comtesse de Rochefort mit ihrem Onkel mit. Nun erst konnte er verstehen, warum Meister Aro mit der Verwandlung seiner Braut warten wollte, bis er sie nach Volterra gebracht hatte. Wenn sie als menschliches Wesen schon dermaßen hitzköpfig war, würde es ihr in der ersten Zeit als sogenannte Neugeborene äußerst schwer fallen, ihr leicht erregbares Temperament zu zügeln. Es war ohnehin ein Wunder, dass die Comtesse ihrem Onkel für sein respektloses Benehmen ihr gegenüber nicht wenigstens eine Ohrfeige verabreicht hatte. Selbst einen Vampir wie ihn juckte es in den Fingern, diesem Baron de Lebrunne deshalb eine Abreibung zu verpassen und darüber hinaus auch, weil er in solch abfälliger Weise von Meister Aro sprach und dies vor der Dame, der das Herz seines Meisters gehörte. Doch Meister Aro hatte ihm verboten, sich bemerkbar zu machen oder gar einzugreifen, so lange Comtesse de Rochefort nicht wirklich in einer lebensbedrohlichen Gefahr war. Deshalb blieb Felix nichts anderes übrig, als weiterhin draußen zu bleiben und auf seine zukünftige Herrin achtzugeben...
***
Etwa drei Stunden später saß der Baron im Kleinen Salon und genoss die Ruhe im Haus, denn seit seiner Unterredung mit Marguerite hatte sich das Mädchen in ihr Zimmer zurückgezogen. Vielleicht hatte sie noch eine Weile geschmollt, aber danach galten ihre Gedanken gewiss ihrer Garderobe und sie machte sich mit Hilfe ihrer Zofe für die Feier im Palast zurecht.
Lebrunne stellte sich ans Fenster und schaute hinaus. Er konnte es kaum erwarten, dass Madame de Colignon in ihrer Kutsche erschien, um Marguerite abzuholen. Danach würde er endlich Adrienne wecken lassen und mit ihr eine Kleinigkeit einnehmen, es musste sein. Er dachte an das Fläschchen in der Innentasche seines Jacketts, welches das Betäubungsmittel enthielt, das er seiner Gattin unbemerkt zu verabreichen gedachte. Danach würden sie sich dann auf den Weg zu einer Feier machen, bei der sie - wie er bereits wusste - niemals ankamen...
So sehr ihm Adrienne mit ihren Launen auch manchmal auf die Nerven ging, würde er das Vorhaben, zu dem ihn Rouven angestiftet hatte, doch gern abblasen, leider war es dazu nun zu spät. Er konnte es sich nicht leisten, einen ganzen magischen Zirkel gegen sich aufzubringen. Zwar hielt er nichts von diesem Hokus Pokus, dennoch befanden sich unter Rouvens Mitbrüdern bestimmt einige, die großen Einfluss besaßen und sich rächen würden, sollte er plötzlich nicht mehr mitspielen wollen.
Verstimmt blickte der Baron in das Glas mit schwerem Branntwein, welches er in der Hand hielt, und stürzte es dann hastig die Kehle hinunter, in der Hoffnung, damit sein schlechtes Gewissen zu vertreiben.
"Wenigstens kann ich dafür sorgen, dass sie nicht unnötig leidet", dachte er bitter.
Seine Aufmerksamkeit wurde erneut auf die Gegenwart gelenkt, als er eine Kutsche vor dem Haus halten sah. Das musste der Wagen von Madame de Colignon sein. Rasch schritt er zu einem kleinen Tisch und betätigte eine Klingel, worauf ein Bediensteter kam.
"Bestell Comtesse Rochefort, dass die Kutsche für sie gekommen ist", befahl der Baron.
"Sehr wohl", sagte der Diener und verschwand umgehend wieder.
Mit einem kleinen Seufzer stellte Lebrunne sein Glas auf dem Tischchen ab und verließ den Raum. Im Flur begegnete ihm die soeben eingetretene Madame de Colignon, vor der er sich verneigte und sagte: "Willkommen, Madame. Ich hoffe, Ihr seid wohlauf?"
"Vielen Dank, Baron, es geht mir gut", erwiderte die ältere Dame freundlich. "Und wie geht es Eurer Gemahlin und Euch?"
"Wir können nicht klagen", behauptete Lebrunne. "Meine Nichte wird gleich bei Euch sein. Ich habe Ihr bereits bestellen lassen, dass Eure Kutsche angekommen ist."
"Sehr aufmerksam von Euch", antwortete Madame de Colignon.
Dann hörte man eilige Schritte und wenige Augenblicke später kam die in ihren Winterumhang gehüllte Marguerite auf sie zu.
"Wie schön, dass Ihr gekommen seid, um mich abzuholen, Madame", begrüßte die junge Frau ihre mütterliche Freundin, ohne ihren Onkel zu beachten. "Ich bin schon ganz aufgeregt."
"Dazu besteht wirklich kein Grund, liebes Kind", meinte die ältere Dame lächelnd. "Es wird gewiss ein recht angenehmes Beisammensein."
"Jedenfalls wünsche ich den Damen viel Vergnügen", sagte der Baron. "Wir sehen uns dann morgen Mittag und ich würde mich freuen, wenn Ihr uns die Ehre erweist, mit uns zu speisen, Madame."
"Danke für die Einladung, ich nehme sie gerne an", antwortete Madame de Colignon.
"Sehr freundlich von Euch, Onkel", erwiderte Marguerite und sah ihn misstrauisch an, ohne ihren Mund zu einem Lächeln zu verziehen, ehe sie mit ihrer mütterlichen Freundin das Haus verließ.
Der Baron blickte den beiden nach, dabei Marguerite voller Wohlgefallen musternd und sich innerlich über ihre Empörung amüsierend. Doch kaum hatten die beiden Damen das Haus verlassen, kehrte Lebrunne in den Kleinen Salon zurück und klingelte erneut. Der gleiche Bedienstete wie eben erschien.
"Sie wünschen, Herr?"
"Die Zofe meiner Frau soll in mein Zimmer gehen, meine Frau aufwecken und ihr beim Ankleiden helfen. Wir werden noch eine Kleinigkeit zu uns nehmen. Danach müssen wir uns für die heutige Abendgesellschaft zurechtzumachen. In zwei Stunden soll die Kutsche für uns bereitstehen. Sobald wir abgefahren sind, gebe ich Euch allen frei - mit Ausnahme der Haushälterin. Sie erhält dafür morgen den ganzen Nachmittag Ausgang. Allerdings wünsche ich, dass die Zofe meiner Frau und mein Kammerdiener gegen Mitternacht wieder hier sind, da wir etwa um diese Uhrzeit zurückgekehrt sein werden."
"Sehr wohl, Herr, ich werde dies der Dienerschaft ausrichten. Vielen Dank für Eure Großzügigkeit."
"Du darfst jetzt gehen", sagte der Baron und winkte ab, worauf der Diener verschwand.
Teil eins des Plan wäre also eingeleitet, damit bei einer späteren Untersuchung der Anschein gewahrt bliebe, dass er tatsächlich vorhatte, auf eine Feier zu gehen und gegen Mitternacht nach Hause zurückzukommen. Niemand würde daran etwas Verdächtiges finden. Nur der zweite Teil von Guignots Plan gefiel ihm überhaupt nicht, da die Kutsche, in der seine Frau und er fahren würden, unterwegs überfallen, seine Gattin entführt und er zusammengeschlagen wurde. Wer wusste, welche Banditen Guignot dafür angeheuert hatte. Womöglich schlugen sie zu fest zu, so dass er nicht mehr aufwachte...
Der Baron holte die kleine Flasche mit der Substanz, von der nur wenige Tropfen einen Menschen betäubten, aus der Innentasche seines Jacketts und betrachtete sie nachdenklich. Es könnte wohl nicht schaden, wenn er auch etwas davon in sein Getränk tat, damit er sich unnötig viel Leid ersparte.
Nachdem Lebrunne diese Entscheidung getroffen hatte, steckte er das Fläschchen wieder zurück und machte sich auf den Weg in sein Zimmer, um sich für die abendliche Feier umzuziehen. Der Anschein musste ja gewahrt bleiben.
Als er in seinem Gemach angekommen war, befanden sich noch seine Gattin mitsamt ihrer Zofe darin. Dankenswerterweise war Letztere umsichtig genug gewesen, den Morgenrock ihrer Herrin mitzubringen und diese darin einzuhüllen. Seine Frau hingegen sah ihn mit einem glücklichen Gesichtsausdruck an, was ihm äußerst unangenehm war.
"Guten Morgen, Roger", sagte sie freundlich. "Verzeih mir bitte, dass ich so lange schlief."
"Schon gut, Cherie", antwortete er, kam auf sie zu und küsste sie auf beide Wangen. Dann wisperte er ihr leise ins Ohr: "Ich wäre dir dankbar, wenn du jetzt mit deiner Zofe in dein Gemach zurückkehren würdest, um dich ein wenig frisch zu machen. Bevor wir fahren, möchte ich gern noch eine Kleinigkeit mit dir zusammen essen."
"Natürlich, wenn du es wünscht", schnurrte sie, ging zur Tür und warf ihm von dort noch einmal einen sehnsuchtsvollen Blick zu, ehe sie mitsamt ihrer Zofe aus dem Raum verschwand. Er lächelte gezwungen zurück und atmete auf, als sie endlich fort war. Diese Wandlung seiner Frau war ihm nicht ganz geheuer und er traute ihr nicht, kannte er ihre sprunghafte Launenhaftigkeit doch zur Genüge; und dennoch war Adriennes jetziges Verhalten und die vorausgegangene Liebesnacht mit ihr Grund genug, um sein Gewissen stark zu belasten.
Aber es gab kein Zurück mehr! Warum bloß verhielt sich seine Frau plötzlich so liebenswert ihm gegenüber? Warum hatte sie dieses Verhalten nicht früher an den Tag gelegt, dann wäre es gar nicht so weit gekommen, dass er den Vorschlag seines Freundes Guignot überhaupt in Erwägung gezogen hätte... und jetzt war es zu spät!
Grimmig zwang der Baron sich, die Gedanken an das, was heute noch folgen würde, zu verscheuchen.
"Ich sollte mir die Zukunft vor Augen führen, das wird sicherlich nicht einfach werden", murmelte er und trat vor den großen Spiegel, der in seinem Zimmer an der Wand stand, um sich dort genau zu betrachten. Er sah noch ganz passabel aus und fühlte sich alles in allem recht gesund. Mal abgesehen davon, dass er kein Vermögen mehr besaß, gab es keinen Grund, warum eine jüngere Frau ihn ablehnen sollte, vor allem, wenn sie selbst über genügend Reichtum verfügte. Doch diesem Vorhaben würde er sich erst widmen, wenn er frei war... Roger hielt diese Vorstellung eine Weile fest und genoss es, an die Nichte seiner Frau zu denken. Jung, wunderschön und widerspenstig, aber er würde sie schon zu zähmen wissen... bisher hatte er jedes Weib, jung oder reif, dazu bekommen, sich ihm freiwillig hinzugeben...
Ein Klopfen an seine Tür schreckte Lebrunne aus diesen angenehmen Tagträumen auf und er rief missmutig: "Ja! Was gibt es denn schon wieder?!"
Zaghaft öffnete sich die Tür und der Kopf von Adriennes Kammerzofe lugte vorsichtig hinein.
"Verzeiht mir, Herr, aber Eure Gemahlin schickt mich, um Euch zu sagen, dass sie eine kleine Mahlzeit auf Ihr Zimmer bringen ließ und Euch dort erwartet."
Überrascht zog der Baron eine Augenbraue hoch, dann sagte er in ruhigem Ton: "In Ordnung, danke! Sag mir, ist auch genügend Wein dabei?"
"Ja, Herr, die Baronesse hat sowohl eine Karaffe mit Weißwein als auch mit Rotwein bestellt."
"Ausgezeichnet. Ich komme gleich."
Der Kopf der Zofe verschwand sofort und Lebrunne warf erneut einen Blick in den Spiegel, grinste sich selbst zu und strich sich über sein Haar. Alles schien Guignots Plan in die Hände zu spielen, was man gut und gerne als Wink des Schicksals verstehen konnte. Nun, wenigstens würde Adrienne nicht unnötig leiden...
Kapitel 41
Hoffnung wird manchmal eracht
als ein Traum bei dem, der wacht.
~ Friedrich Freiherr von Logau (1604 - 1655) ~
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Die Fahrt bis zum Palast dauerte nicht lange und Marguerite bewunderte schon vom Fenster der Kutsche aus das große Gebäude, das sie erstmals richtig bei Tage sah. Als sie durch das Tor passierten, hatte sie Gelegenheit, den großen, gepflegten Park zu bewundern, der jetzt zwar noch mit Schnee bedeckt, aber im Sommer sicherlich wunderschön anzusehen war.
Endlich hielt der Wagen und ein in eine sehr elegante Livree gekleideter Lakai öffnete die Tür von außen, klappte die Trittleiter auf und half zuerst Madame de Colignon und dann Comtesse de Rochefort aus der Kutsche heraus.
"Willkommen, Madame", begrüßte der Dienstbote sie mit einem freundlichen Lächeln. "Ihre Majestät erwartet Euch und Eure junge Begleiterin bereits in ihrem Salon."
"Danke, Albert", erwiderte die ältere Dame und bedachte Marguerite, die neben ihr stand, mit einem aufmunternden Lächeln. "Dann wollen wir Ihre Majestät nicht länger auf unsere Anwesenheit warten lassen."
Der Bedienstete namens Albert verneigte sich leicht und sagte: "Folgt mir bitte."
Danach ging er den beiden Damen voraus und führte sie in den Haupteingang des Palastes, dessen Inneneinrichtung Marguerite nun erstmals bei Tageslicht erblickte und sie als äußerst geschmackvoll empfand, während sie mit Madame de Colignon dem Bediensteten folgte. Nach einem längeren Gang durch die große Halle, wobei an jeder Tür zwei Wachen der Königsgarde postiert waren, gingen sie direkt auf eine breite Treppe zu und stiegen mehrere Stufen hinauf. Danach wandten sie sich nach links, wo erneut ein langer Flur verlief. Am Ende desselben befand sich eine große, zweiflügelige Tür, vor der wieder zwei Wachen standen. Albert ging direkt darauf zu, öffnete diese und wandte sich an die Damen: "Bitte, tretet ein. Ihre Majestät erwartet sie beide in ihrem Privatsalon."
"Danke, mein Lieber", erwiderte Madame de Colignon und nickte ihm zu.
Auch Marguerite bedachte den Bediensteten mit einem freundlichen Lächeln, ehe sie ihrer mütterlichen Freundin in die Gemächer der Königin folgte. Kaum waren sie eingetreten, kam ihnen eine hübsche, elegant gekleidete Damen entgegen, bei der es sich um eine der Hofdamen handeln musste.
"Herzlich willkommen", begrüßte sie sie freundlich. "Bitte folgt mir."
Die Hofdame führte sie in einen weiteren, mittelgroßen Raum, in dem bereits mehrere andere Damen auf gepolsterten Stühlen oder einem der drei Sofas saßen und die neuen Gäste bei ihrem Eintritt neugierig musterten. An beiden Seiten des Zimmers stand jeweils ein langer Tisch, auf dem sich eine Vielzahl von Speisen befand, hauptsächlich Gebäck, sowie sechs Karaffen mit Weiß- oder Rotwein und vier dampfende Kannen, um die mehrere Tassen herum standen.
Im Kamin brannte ein Feuer, welches den Raum angenehm wärmte. Davor saß auf einem großen, hellen Sofa, welches mit Weißstickereien von Blumen- und Ornamentmustern versehen war, das Königspaar und unterhielt sich leise miteinander, hielt jedoch inne, als die neuen Gäste eintraten. Danach erhob sich der König sofort und schritt gemessenen Schrittes auf Madame de Colignon zu.
"Wie schön, dass Ihr nach langer Zeit endlich mal wieder den Palast mit Eurer Anwesenheit beehrt, Madame", begrüßte er sie freundlich und neigte leicht sein Haupt vor ihr. Die beiden Damen verneigten sich vor ihm, worauf sich der König an Marguerite wandte und fortfuhr: "Ebenso freue ich mich, Euch wiederzusehen, Comtesse de Rochefort. Ich hoffe, dass Euer Aufenthalt in Paris von angenehmer Natur ist."
Da Madame de Colignon ihr in der Kutsche bereits eingeschärft hatte, dass sie nur sprechen solle, wenn Ihre Majestät sie dazu aufforderte, schwieg Marguerite, in der Annahme, dass das Gleiche auch für Seine Majestät galt. Er schien jedenfalls keine Antwort zu erwarten, bedachte die ältere Dame und ihren Schützling mit wohlwollenden Blicken und ließ seine Augen etwas länger auf dem jungen Mädchen verweilen, ehe er sich zu seiner Gemahlin umwandte und sagte: "Nun denn, meine Liebe, ich wünsche Euren Gästen und Euch einen angenehmen Nachmittag. Guten Tag."
Danach verließ der König den Raum, ohne sich nochmals nach seiner Gemahlin umzudrehen.
"Bitte, tretet doch näher", forderte die Königin ihre neuen Gäste auf, nachdem ihr Mann fort war. Madame de Colignon und Marguerite folgten der Aufforderung und setzten sich auf das große Sofa, nachdem Ihre Majestät die ältere Dame und ihre Begleiterin mit einer Geste dazu aufforderte. Marguerites mütterliche Freundin nahm mit einer Selbstverständlichkeit neben der ersten Dame des Reiches Platz, als wäre sie ebenfalls gut mit ihr befreundet, während sich die junge Frau mit klopfendem Herzen und etwas zaghaft neben Ihrer Majestät niederließ.
"Ich freue mich sehr, Euch nach so langer Zeit endlich wieder einmal privat bei mir zu haben, meine Liebe", fuhr die Königin an Madame de Colignon gewandt fort. "Seit Eurer Heirat war es mir kaum vergönnt, mich mit Euch zu treffen und zu unterhalten."
"Verzeiht mir, Eure Majestät, aber es ist nicht immer leicht, bei Euch vorsprechen zu dürfen", meinte die ältere Dame in entschuldigendem Ton. "Zudem hörte ich mit großem Bedauern, dass Ihr in der Vergangenheit des Öfteren unter gesundheitlichen Problemen littet. Hoffentlich geht es wieder Euch gut?"
"Macht Euch keine Sorgen, meine Liebe, es geht mir ausgezeichnet und wie ist Euer Befinden?"
"Recht gut, Eure Majestät, und ich freue mich sehr, wieder einmal in Paris zu sein. Wie ich hörte, ist meine junge Freundin Euch bereits während des Silversterballes vorgestellt worden?", dabei schaute Madame de Colignon auf Marguerite und die Königin folgte ihrem Blick.
"Ja, Seine Majestät und ich bestehen immer darauf, neue Gesichter bei Hofe kennenzulernen", gab Königin Anna zurück und lächelte Marguerite aufmunternd an. "Comtesse de Rochefort machte einen tadellosen Eindruck auf mich und da mir überdies zu Ohren kam, wie gut sie mit Euch bekannt ist, freue ich mich selbstverständlich darauf, sie näher kennenzulernen."
Nach diesen Worten wandte sich die Königin an Marguerite und fragte: "Sagt mir, mein Kind, wie ist es Euch bisher in Paris ergangen - nach dem Ball, meine ich."
"Nun, ich habe viele neue Menschen kennengelernt und war bereits auf einigen Feiern eingeladen, wovon zwei davon Verlobungsfeste waren", erzählte die junge Frau. "Die Ereignisse hier folgen ziemlich rasch hintereinander, was ich nicht erwartet hatte."
"Ja, ich kann mir vorstellen, dass man auf dem Lande alles viel ruhiger angeht", meinte die Königin. "Damit will ich keineswegs dem Landleben einen gewissen Charme absprechen, den es zweifellos hat, aber ich nehme an, dass man dort nicht so viele Bekannte trifft wie in der Stadt."
"Da haben Eure Majestät recht", gab Marguerite zurück.
"Wie ich hörte, habt Ihr recht früh Eure Mutter verloren", fuhr die Königin fort. "Das tut mir leid. Es war sicherlich nicht immer einfach für Euch. Seid Ihr in einem Kloster erzogen worden, liebes Kind?"
"Nein, mein Vater sorgte für eine Kinderfrau und später für einen Privatlehrer und einen Tanzmeister."
"Demnach hatte er gewiss vor, Euch bei Hofe einzuführen."
"Bestimmt, Eure Majestät, leider kam es nicht mehr dazu."
Marguerite sah dabei so traurig aus, dass die Königin eine ihrer Hofdamen durch ein Handzeichen zu verstehen gab, der jungen Dame etwas anzubieten. Vorwitzig erhob sich Giselle de Roux und fragte: "Möchtet Ihr einen Tee und etwas Gebäck, Comtesse?"
"Ja, danke, das ist sehr freundlich von Euch", erwiderte die Angesprochene.
Giselle ging an einen der langen Tische und brachte wenig später das Gewünschte zu Marguerite, die sich wieder gefangen hatte, während die Königin einige Worte mit Madame de Colignon wechselte. Offenbar hielt die Hofdame dies für eine günstige Gelegenheit, um die Comtesse auszuhorchen.
"Wie ich hörte, hat sich Mademoiselle Lefevre kürzlich verlobt", begann Giselle. "Sie ist doch mit Euch aufgewachsen, nicht wahr?"
"Ja, mein Vater holte sie als Gesellschafterin zu uns und wir haben die gleiche Erziehung genossen."
"Was für ein Mädchen ist Mademoiselle Lefevre?"
"Na, na, Giselle, sei nicht so neugierig!", ermahnte Madame de Colignon, die das mitbekam, ihre Nichte. "Die Angelegenheiten der Comtesse gehen dich nichts an!"
"Verzeiht mir", entschuldigte sich Giselle bei Marguerite, sah aber keineswegs schuldbewusst aus. "Ich wollte doch nur etwas mehr über Mademoiselle Lefevre erfahren, da sie sich innerhalb kurzer Zeit bereits verlobt hat."
"Nun, die junge Dame, die mit Euch aufwuchs, findet auch mein Interesse", sagte die Königin zu Marguerite. "Ist diese Mademoiselle Lefrevre eine Verwandte von Euch, Comtesse?"
"Nein, Eure Majestät, sie ist im gleichen Alter wie ich und mir so lieb wie eine Schwester. Mein Vater hat sie auch sehr geschätzt."
"Könnt Ihr mir etwas über die Herkunft der jungen Dame erzählen, Madame de Colignon?"
"Selbstverständlich, Eure Majestät, sie kommt aus einer guten Familie, hat aber sehr früh ihre Eltern verloren und wurde im Kloster großgezogen, bis Comte de Rochefort sie als Gesellschafterin für seine Tochter zu sich nahm und für sie sorgte."
"Aha, und wie kam es zu ihrer Verlobung?"
"Offenbar hat sie auf dem Silvesterball jemanden kennengelernt, der völlig verzaubert von ihr war, Eure Majestät. Das wundert mich kaum, denn Louise Lefevre ist eine reizende junge Frau."
"Davon bin ich überzeugt, wenn Ihr so von ihr schwärmt, meine Liebe", meinte die Königin und bedachte Giselle mit einem fragenden Blick. "Weshalb interessiert Ihr Euch so für die junge Frau, Mademoiselle de Roux?"
"Meine Tante lobte sie mir gegenüber in den höchsten Tönen, weshalb ich natürlich neugierig auf sie wurde, Eure Majestät", behauptete Giselle.
"Verständlich, aber Eure Tante hat ganz recht: Sie geht Euch nichts an!"
Giselle errötete und setzte sich stumm wieder auf ihren Platz. Mit einer derartigen Ermahnung von Seiten Ihrer Majestät hatte sie nicht gerechnet. Doch warum verhielt sich Tante Amelie ihr gegenüber so illoyal, nur weil sie sich bei Marguerite nach dieser Gesellschafterin erkundigte? Dabei war es nur eine Frage gewesen, um mit der Comtesse ein Gespräch zu beginnen, denn mehr als die Verlobung dieser unscheinbaren Gesellschafterin interessierte sie, inwieweit Marguerite de Rochefort mit Conte Aro di Volturi verbandelt war. Doch Giselle wagte es nach dieser Zurechtweisung Ihrer Majestät nicht mehr, dieses heikle Thema anzusprechen. Vielleich ergab sich zu einer späteren Gelegenheit eine kleine Plauderei mit der Comtesse, denn verliebte Mädchen erzählten doch gerne über den Mann, für den sie entflammt waren...
***
Der Baron war sehr überrascht, als er das Gemach seiner Frau betrat und sie dort immer noch im Morgenrock und unfrisiert auf dem Bett sitzend vorfand, während der kleine Tisch in der Ecke des Raumes gedeckt war und sich einige Speisen für ein spätes, zweites Frühstück dort fanden.
"Warum hast du dich noch nicht angezogen, Adrienne?", fragte er vorwurfsvoll. "Wir sollten nicht die letzten Gäste auf dem Fest meines neuen Bekannten sein, der vor allem dich kennenzulernen wünscht, meine Liebe."
"Mich?", fragte sie verwundert und schüttelte dann mit einem koketten Lächeln den Kopf. "Warum sollte er ausgerechnet mich kennenlernen wollen?"
"Nun ja, ich habe ihm ein wenig von dir erzählt und er meinte, dass er deinen Bruder gut kannte", behauptete Roger. "Darum wäre mir lieb, wenn du dich endlich für die Feier anziehen würdest."
"Oh, mach dir nicht so viele Sorgen", tat die Baronesse es ab, erhob sich und kam tänzelnd auf ihn zu, legte ihm beide Arme um den Hals und küsste ihn auf den Mund. "Ach, Roger, die letzte Nacht war wundervoll. Viel zu lange waren wir nicht mehr auf diese Weise zusammen."
"Das lag nicht nur an mir, ma Cherie", erwiderte ihr Gemahl und befreite sich aus ihrer Umarmung. "Natürlich können wir das wiederholen, wenn du möchtest, aber jetzt..."
"Jetzt!", schnitt ihm Adrienne mit sanfter Stimme das Wort im Mund ab und umarmte ihn erneut. "Komm, Roger, wir haben doch noch genügend Zeit, um danach eine Kleinigkeit zu uns zu nehmen und uns dann für die Feier fertig zu machen."
"Meine Güte, Adrienne, was ist denn nur los mit dir?"
"Ich liebe dich", sagte sie schlicht. "Und es tut mir leid, wenn ich es dir lange Zeit nicht mehr genügend gezeigt habe. Die letzte Nacht rief mir wieder ins Gedächtnis, wie schön das Zusammensein mit dir ist... seit unserer Hochzeit hast du mich darin nie enttäuscht..."
"Freut mich...", antwortete der Baron, völlig perplex über den Sinneswandel seiner Angetrauten. Sie küsste ihn erneut auf den Mund und diesmal ließ er sich darauf ein, umarmte sie und landete mit ihr zusammen auf dem Bett, wo sie beide sich bald darauf liebten...
***
Nachdem sie die neugierige Giselle de Roux in ihre Schranken gewiesen hatte, wandte sich Königin Anna wieder Marguerite zu.
"Madame de Colignon berichtete mir gerade, dass Ihr gestern auf einer Verlobungsfeier gewesen seid", begann Ihre Majestät freundlich. "Gewiss habt Ihr dort wieder einige junge Herren getroffen, die sich für Euch interessieren. Genau wie auf dem Ball an Silvester, wo Ihr genügend Bewunderer hattet. Viele Herren bei Hofe sind recht angetan von Euch, so dass Ihr die lästige Vormundschaft, unter der Ihr bedauerlicherweise noch steht, bald loswerden könntet."
"Vielen Dank für diese Komplimente, Eure Majestät. Es ist wirklich überaus freundlich von Euch, sich um mich Gedanken zu machen", antwortete Marguerite, deren Wangen sich vor Verlegenheit stark röteten.
"Oh, Ihr müsst nicht so schüchtern sein, mein liebes Kind", meinte die Königin mit warmer Stimme. "Selbstverständlich interessiere ich mich für junge Damen, die bei Hofe dienen könnten, und mir liegt überdies auch deren Wohl am Herzen. Schließlich kann ich mir gut vorstellen, wie bedrückend es sein muss, sich einer falschen Schlange unterzuordnen."
Überrascht starrte Marguerite Ihre Majestät an, die damit sicher niemand anderen als Tante Adrienne meinte. Überdies schien die Königin mit ihren Anspielungen auf etwas Bestimmtes hinaus zu wollen, doch war dieser Salon mit den Hofdamen alles andere als ein geeigneter Ort, um darüber zu sprechen.
Als hätte Anna von Österreich die Gedanken der Comtesse erraten, wandte sie sich an eine der Hofdamen und bat: "Seid so freundlich, uns etwas auf der Harfe vorzuspielen, Marie."
Die Angesprochene erhob sich sofort, ging zu dem Instrument, das sich auf der anderen Seite des Raumes auf einer Art rundem Podest befand, ließ sich auf dem dahinterstehenden Hocker nieder und begann, eine leichte Melodie zu spielen. Da alle Aufmerksamkeit nun auf der Harfenistin lag, gab dies der Königin Gelegenheit, Marguerite etwas zuzuflüstern: "Ich kenne die Baronesse de Lebrunne gut genug und weiß um Eure Probleme. Seid versichert, dass ich Euch helfen werde, den Mann Eurer Wahl zu ehelichen, ohne dass Eure Tante etwas dagegen zu tun vermag."
"Danke", wisperte die junge Frau, völlig verblüfft über die unerwartete Unterstützung. Dann lächelte sie breit und bedachte die Königin mit einem dankbaren Blick. Jene erwiderte das Lächeln und wandte ihre Aufmerksamkeit dann auch der Hofdame zu, die die Harfe hervorragend beherrschte. Nur Marguerite, die ansonsten jede Art von Musik genoss, war außerstande, sich darauf zu konzentrieren. Sie war zu überwältig von der glücklichen Aussicht, bald Aros Frau zu werden...
***
Keuchend lag das Ehepaar Lebrunne nebeneinander auf dem Bett der Baronesse und blickte hoch. Adrienne ergriff wenig später die Hand ihres Mannes und murmelte: "Es war wundervoll, mon Cherie, wir sollten dies öfter tun..."
"Ja...", hauchte Roger und blickte sie nun an. "Dagegen hätte ich wahrhaftig nichts..."
"Weißt du, gestern hatte ich ein langes Gespräch mit Madame de Fournier und dabei erkannte ich plötzlich, wie viel du mir immer noch bedeutest", erklärte Adrienne. "Deine Vorwürfe und deine grundlose Eifersucht haben mich gekränkt, denn ich habe nie einen anderen begehrt außer dir und ich liebe dich noch immer. Du darfst mich nicht verlassen, Roger, das würde ich nicht ertragen."
"Wie kommst du darauf, dass ich dich verlassen würde?", fragte er verwundert und runzelte die Stirn.
"In letzter Zeit sind zwischen uns manch unschöne Worte gefallen, so dass ich glaubte, ich bedeute dir nichts mehr."
"Seit wir in Paris sind, zeigtest du eine überaus starke Launenhaftigkeit, die ich an dir nicht kenne. Es war für mich oft schwer zu ertragen und brachte mich dazu, manchmal die Selbstbeherrschung zu verlieren. Natürlich lag dies nicht in meiner Absicht, aber du warst mir manchmal fremd, Adrienne."
"Es ist dieser kleine Bastard meines Bruders und die Demütigungen, die ich ihretwegen erleiden muss", meinte die Baronesse. "Die Beleidigungen durch die Majestäten und dann noch diese Ermahnung durch den arroganten Mazarin sind für mich nur schwer zu ertragen."
"Das verstehe ich durchaus, Teuerste, dennoch liegt die Schuld in meiner Vergangenheit, weil ich als junger Mann so dumm war zu glauben, man könne Richelieu stürzen..."
"Vermutlich wäre das Gespräch mit seinem Nachfolger gar nicht erfolgt, wenn Marguerite sich bei ihm nicht über uns beschwert hätte. Sie ist der Grund dafür, dass man uns gedemütigt hat!", gab Adrienne ungehalten zurück, als ob sie den Einwand ihres Mannes nicht gehört hätte.
Roger seufzte und erhob sich.
"Es wird allmählich wirklich Zeit, Adrienne."
"Jetzt schon?"
"Wenn du keine Lust hast, zu der Feier meines neuen Bekannten zu gehen, können wir ja zu Hause bleiben. Ich schreibe dann eine kurze Nachricht an ihn, dass wir unpässlich sind oder etwas in der Art", schlug der Baron vor.
"Nein, nein!", wandte seine Frau sofort ein und setzte sich auf. "Wir gehen auf jeden Fall zu dieser Feier! Erstens will ich deine Chance auf gute Beziehungen bei Hofe nach Kräften unterstützen und zweitens bereitet es mir Genugtuung, ebenfalls auf eine Dreikönigsfeier eingeladen worden zu sein."
"Ganz wie du wünscht", meinte Roger, der bis eben noch gehofft hatte, dass seine Frau auf die Feier verzichtete und sie einfach zu Hause blieben. Doch das Adrienne darauf bestand, mit ihm auszugehen, verstand er als Wink des Schicksals, dem sie nicht entgehen wollte - hatte sie selbst es doch so gewollt.
Der Baron erhob sich und ging zu dem Tisch, auf dem Speisen und Getränke bereit standen, während sich Adrienne noch einmal in die Kissen zurücklehnte und die Augen schloss. Sie sah dabei nicht, dass ihr Mann ein kleines Fläschchen aus seinem Jackett nahm, das über einer Stuhllehne hing, und etwas daraus in zwei leere Gläser tröpfeln ließ, die er anschließend mit Rotwein aus einer Karaffe füllte. Danach verstaute er das Fläschen wieder an seinen ursprünglichen Platz und kehrte mit den gefüllten Gläsern zum Bett zurück, auf dessen Rand er sich niederließ.
"Komm, ma Cherie, trink etwas!", forderte er seine Frau auf und reichte ihr ein Glas. Sie nahm es lächelnd entgegen, nachdem sie die Augen aufgeschlagen hatte.
"Zum Wohl", sagte Lebrunne und Adrienne erwiderte es, bevor sie gemeinsam die Gläser an die Lippen setzten und den Wein genossen. Danach meinte sie: "Wir sollten noch eine Kleinigkeit essen, bevor wir uns auf den Weg machen."
"Ihr Wunsch ist mir Befehl, Madame", gab ihr Mann im Spaß zurück, erhob sich wieder und ging zu dem gedeckten Tisch zurück, um einen Teller mit Kleinigkeiten zu füllen, dabei daran denkend, dass dies möglicherweise die letzte Mahlzeit war, die seine Angetraute zu sich nahm.
"Du wirst sehen, dass wir pünktlich bei deinem neuen Bekannten ankommen werden, mon Cher", drang Adriennes zuversichtliche Stimme an sein Ohr. "Gleich nach unserer kleinen Mahlzeit wird meine Kammerzofe mir beim Ankleiden helfen. Das neue Kleid ist wirklich sehr schön geworden."
"Freut mich", sagte Roger und nickte ihr kurz zu, während er den Teller belud. Ihm selbst war der Appetit vergangen, denn allmählich rückte der Zeitpunkt näher, an dem die Intrige Wirklichkeit zu werden begann...
***
Nach dem Vortrag der Harfenistin begann man, den Speisen und Getränken zuzusprechen. Da die Königin sich weiterhin überwiegend mit Madame de Colignon unterhielt, ergriff Marguerite die Gelegenheit, sich zu der Hofdame namens Marie zu gesellen, deren Vortrag sie zwar nicht ihre volle Aufmerksamkeit gewidmet hatte, doch war ihr der saubere Klang nicht entgangen.
"Ihr seid eine begnadete Harfenspielerin", meinte Marguerite.
"Vielen Dank", erwiderte Marie. "Freut mich, dass Euch mein Vortrag gefiel. Ihr seid also die berühmte Comtesse de Rochefort, über die ganz Paris spricht?"
"Wie bitte? Davon weiß ich ja gar nichts!", gab die Comtesse erstaunt zurück. "Und warum sollte man über mich sprechen?"
"Eure Schönheit wird von vielen Herren bei Hofe gerühmt", antwortete Giselle, die die Gunst der Stunde nutzte, um endlich wieder ins Gespräch mit Marguerite zu kommen.
"Das kann ich mir gar nicht vorstellen", wehrte Marguerite ab. "Bisher war ich doch nur am Silvesterball bei Hofe und kenne eigentlich keinen der Herren dort richtig."
"Das macht nichts", sagte Marie lächelnd. "Dafür haben sich besagte Herren über Euch erkundigt, zumal ihr vielen wirklich sehr gefallen habt. Jeder weiß jetzt, dass Ihr nicht nur schön seid, sondern bei einer Heirat auch eine vermögende, junge Dame sein werdet. Grund genug für viele, sich um Euch zu bemühen."
"Nun... ich bin wählerisch", meinte Marguerite.
"Natürlich, an Eurer Stelle wäre ich auch überaus vorsichtig", erwiderte Marie und nickte.
"Aber mir scheint, dass Ihr Eure Wahl schon getroffen habt, Comtesse", bemerkte Giselle und bedachte Marguerite, die sie verwundert ansah, mit einem kleinen Grinsen und einem wissenden Blick. "Conte Aro di Volturi scheint nicht von Eurer Seite zu weichen und Ihr habt offenbar nichts dagegen."
"Wie kommt Ihr darauf, Mademoiselle de Roux?", fragte Marguerite stirnrunzelnd.
"Auf dem Silvesterball gab er Euch unverkennbar den Vorzug vor allen anderen anwesenden Damen", erklärte Giselle amüsiert. "Und gestern dünkte mich, ihn in Eurer Begleitung beim Schlittschuhfahren gesehen zu haben."
"Das ist richtig", gab die Comtesse zu und lächelte gezwungen. Eigentlich sollte niemand etwas von diesem Treffen wissen, aber es wäre töricht, dies zu leugnen, wenn die Nichte von Madame de Colignon sie gesehen hatte. Aber auch dafür hatte sie gleich eine Erklärung parat: "Ich war zusammen mit meiner Freundin Louise Lefevre, ihrem Verlobten und dessen Bruder dort. Wisst Ihr, es gibt kaum ein größeres Vergnügen für meine Freundin und mich, als im Winter auf einem zugefrorenen See Schlittschuh zu laufen. Dass es in Paris ebenfalls möglich ist, hat uns sehr gefreut. Es ist doch auch nichts dabei, sich mit Freunden zu einem solch harmlosen Zeitvertreib zu treffen, oder, Mademoiselle de Roux?"
"Natürlich nicht, Comtesse", gab Marie ihr sogleich recht und sah Giselle angriffslustig an. "Vor allem, da Mademoiselle de Roux sich ebenfalls dort aufhielt, sonst hätte sie Euch nicht beobachten können. - Sag mal, Giselle, wer hat dich dorthin begleitet?"
"Ein guter Bekannter", wich die Angesprochene aus.
"So, so, ein guter Bekannter? Weiß deine Mutter davon?"
"Das ist doch meine Angelegenheit!"
"Darin stimme ich dir durchaus zu", gab Marie zurück. "Doch wenn du möchtest, dass man sich nicht in deine Angelegenheiten mischt, solltest du dies auch bei anderen unterlassen!"
"Entschuldigt mich", sagte Giselle und verzog sich.
Marie blickte der Nichte von Madame de Colignon mit zufriedenem Grinsen nach und wandte sich dann wieder freundlich Marguerite zu: "Sie ist furchtbar neugierig und manchmal sehr aufdringlich. Ihr solltet das nicht so ernstnehmen, Comtesse. Man muss Giselle hin und wieder in ihre Schranken weisen, dann ist sie zu ertragen."
"Kaum zu glauben, dass sie mit Madame de Colignon verwandt ist", meinte Marguerite. "Allerdings verstehe ich immer noch nicht, weshalb sie sich dermaßen für mich zu interessieren scheint."
"Ach, wisst Ihr, jedes neue Gesicht bei Hof erregt Aufmerksamkeit und Neugier, denn im Grunde ist es hier auf die Dauer recht langweilig."
"Tatsächlich?"
"Ja, denn bei Hofe finden kaum große Feste statt. Selbst diese kleine Feier hier ist im Grunde wenig aufregend. Ihre Majestät nutzt diese kleinen Gelegenheiten jedoch, um einige Freunde einzuladen, die sie nur selten sieht, wie zum Beispiel Madame de Colignon. Sie diente früher ebenfalls als Hofdame, als Königin Anna noch sehr jung war, und hat sich ihrer in mütterlicher Weise angenommen. Das hat Ihre Majestät nie vergessen."
"Überaus verständlich. Madame de Colignon ist der gütigste Mensch, den ich kenne, und hat sich meiner ebenfalls angenommen. Sie tut dies immer noch. Ich bin sicher, ohne Madames Fürsprache wäre ich nicht auf den Ball bei Hofe eingeladen worden. Meiner Tante passte das gar nicht."
"Wie ich hörte, ist Eure Tante Baronesse de Lebrunne, die man überdies zu Eurem Vormund bestimmte?"
"Das ist richtig, wobei ich nicht verstehe, wie mein Vater mich ihr anvertrauen konnte. Wir verstehen uns nicht gut und mir bleibt nur zu hoffen, mich möglichst bald zu verheiraten, um frei von ihr werden zu können."
"Wenn man nur wüsste, wie man den richtigen Ehemann findet", seufzte Marie.
"Wie gesagt, ich bin äußerst wählerisch - und dann gibt es noch die Hürde, die Zustimmung meiner Tante zu einer möglichen Hochzeit zu erlangen."
"Nun ja, vorhin war Seine Majestät hier und ich habe etwas von der leisen Unterhaltung zwischen ihm und Ihrer Majestät mitbekommen. Es ging dabei um Euch und eine Heiratserlaubnis."
"Was?", entfuhr es Marguerite überrascht. Zwar hatte ihr die Königin Hilfe zugesagt, doch dass sie bereits konkrete Schritte in dieser Richtung unternommen hatte, war nicht zu erwarten gewesen.
"Bitte, behaltet es für Euch. Niemand darf wissen, dass ich das Gespräch zwischen den Majestäten zufällig belauscht habe. Es kann mich das Wohlwollen der Königin kosten."
"Keine Sorge, ich verrate Euch nicht."
"Danke, Ihr ahnt nicht, wovor Ihr mich bewahrt, Comtesse. - Wie mir zu Ohren kam, habt Ihr eine sehr schöne Stimme. Was haltet Ihr davon, für Ihre Majestät ein Lied zu singen, während ich Euch dazu auf der Harfe begleite?"
"Eine hübsche Idee", stimmte Marguerite zu und lächelte. "Allerdings bin ich in Gegenwart der Königin ein wenig befangen und weiß nicht, ob mir mein Vortrag fehlerfrei gelingt oder ob mir aus Verlegenheit die Stimme versagt."
"Ihr müsst keine Angst vor Ihrer Majestät haben, sie ist eine sehr liebenswürdige Dame und überaus verständnisvoll, wenn man ihre Gunst genießt. Und Ihr, Comtesse, genießt zweifellos ihre Gunst, das kann ich Euch versichern, denn sie ist äußerst angetan von Euch, ebenso wie der König."
"Sehr beruhigend, dies zu wissen, obwohl ich mir nicht erklären kann, warum."
"Ein junges, bezauberndes Mädchen, das zudem äußerst bescheiden auftritt, gewinnt viele Herzen", erklärte Marie und lächelte sie aufmunternd an. "Wartet einen Moment hier auf mich, Comtesse. Ich werde der Königin meinen Vorschlag unseres gemeinsamen Vortrages unterbreiten."
Marie begab sich rasch zu Ihrer Majestät, wechselte einige Worte mit dieser und kehrte dann mit strahlenden Augen zu Marguerite zurück.
"Ihre Majestät ist entzückt über meine Idee. Bitte, Comtesse, lasst uns anfangen."
Die beiden jungen Damen gingen zu dem Platz, wo die Harfe stand, und Marguerite wisperte Marie etwas ins Ohr, worauf die Hofdame begann, die Melodie des Liedes auf ihrem Instrument anzustimmen. Kurz darauf hub Marguerite zu singen an:
"Sur le pont d'Avignon,
On y danse, on y danse,
Sur le pont d'Avignon
On y danse tous en rond.
Les beaux messieurs font comme ça
Et puis encore comme ça.
Sur le pont d'Avignon,
On y danse, on y danse,
Sur le pont d'Avignon
On y danse tous en rond." [1]
Sie sang noch drei weitere Strophen, wobei einige der anwesenden Damen begannen, sich zu Paaren in Kreisen zu drehen. Insgesamt wurde die Stimmung sehr fröhlich und auch die Königin schien sich köstlich zu amüsieren. Lediglich Giselle hatte sich etwas zurückgezogen und beäugte Marguerite mit bösen Blicken. Warum nur nahm alle Welt dieses Mädchen in Schutz? Was hatte sie bloß an sich, dass jedermann von ihr entzückt war und sogar Tante Amelie sich als ihre Beschützerin aufspielte, obwohl die junge Adlige gar nicht zu ihrer Familie gehörte?
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[1] Dieses französische Volkslied gibt es seit dem 15. Jahrhundert (laut dt. Wikipedia, 22.12.2019, 18.10 Uhr)
Kapitel 42
Glücklich, wer seiner Liebe vertraut!
~ Aus: Die Bergknappen (romantische Oper),
Theodor Körner (1791 - 1813) ~
~~~~~
Es war kurz vor sieben Uhr abends, als das Ehepaar Lebrunne sich unten im Flur traf.
"Nun, wie gefalle ich dir, mon Cherie?", erkundigte sich Adrienne und drehte sich in dem neuen Kleid, das in einer Art voluminöser Wolke um ihre Hüften schwebte. Einen Moment lang fragte der Baron sich, warum die Schneiderin eine derartige Geschmacklosigkeit angefertigt hatte, bis er sich in Erinnerung rief, dass wahrscheinlich seine Frau darauf bestanden haben könnte, da sie sich grundsätzlich von unter ihr stehenden Leuten nichts sagen ließ.
"Entspricht dieses Gebilde denn deiner Vorstellung?", hakte Roger nach.
"Absolut, obwohl dieses dumme Ding von Schneiderin mir davon abriet", erklärte sie triumphierend. "Doch ich bestand darauf, dass sie mir ein Kleid nähte, wie es in meiner Jugend der Mode entsprach. Diese Kleider früher haben doch viel mehr hergemacht als die heutigen, findest du nicht auch?"
"Nun ja, ich kann mich nicht so genau an die damalige Mode entsinnen", gab ihr Mann zu. "Allerdings hatte ich damals nur Augen für dich und mir war es gleich, was du trugst."
"Oh, wie charmant von dir", gab die Baronesse erfreut zurück, strahlte ihn an und küsste ihn spontan auf die Wange. "Wenn ich nicht schon mir dir verheiratet wäre, dann würde ich dich wieder nehmen."
Ihr Mann lächelte etwas und meinte dann: "Jetzt ist es aber wirklich an der Zeit, dass wir uns auf den Weg machen."
Er winkte seinen Dienern, die Adrienne und ihn in ihre Winterumhänge kleideten. Danach verließen sie das Haus. Nachdem der Baron dem Kutscher kurz die Adresse mitgeteilt hatte, stieg er zu seiner Frau in den Wagen und sie machten sich auf den Weg zu der Dreikönigsfeier seines neuen Bekannten...
***
Nach Marguerites Vortrag fanden sich noch weitere der Hofdamen dazu bereit, etwas auf der Harfe vorzuspielen und zu singen, so dass die Zeit wie im Nu verflog und sich die Dreikönigsfeier allmählich in guter Stimmung und nach vielen gemeinsamen kleinen Plaudereien, während derer man Speise und Trank genoss, dem Ende zuneigte. Zum Schluss erhielten alle Anwesenden von der Königin kleine Geschenke, die zwei Diener in einem großen Korb gegen Ende in den Privatsalon Ihrer Majestät hereintrugen.
Nachdem alle Hofdamen ihr Präsent erhalten hatten, entließ die Königin sie, bis sie schließlich mit Madame de Colignon und Marguerite de Rochefort allein auf ihrem Sofa saß.
"Hier, meine Liebe, das ist für Euch", erklärte Anna von Österreich und überreichte der älteren Dame ein etwas größeres Paket als es die übrigen Anwesenden bisher erhalten hatten. "Es war für mich sehr erholsam, mich mit Euch ungezwungen unterhalten zu können, und ich hoffe, dass wir das in baldiger Zukunft wiederholen werden und uns in diesem Jahr auch häufiger sehen als sonst."
"Danke, Eure Majestät. Natürlich möchte ich Euren Wünschen sehr gern nachkommen", antwortete Madame de Colignon. "Allerdings weiß ich nicht, ob es mir möglich sein wird. Doch ich werde mich bemühen, Euch in diesem Jahr nochmal zu besuchen."
"Diesem Besuch sehe ich mit Freuden entgegen, meine Liebe", gab die Königin in liebenswürdigem Ton zurück und wandte sich dann Marguerite zu, der sie als Letzte ihr Geschenk überreichte. "Es hat mich sehr gefreut, Euch näher kennenzulernen, und Euer gesanglicher Vortrag war hervorragend. Möge Euch dies kleine Präsent, das von Seiner Majestät und mir kommt, glücklich machen. Für Eure Zukunft wünsche ich Euch nur das Allerbeste, mein liebes Kind."
"Vielen Dank, Eure Majestät. Es freut mich sehr, dass Euch mein Gesang gefiel."
Die Königin lächelte und nickte den beiden Damen zu, dann erhob sie sich und ihre Gäste taten es ihr gleich, verbeugten sich dann vor ihr und küssten ihr nacheinander die Hand.
"Ich wünsche Euch eine gute Heimfahrt und würde mich freuen, Euch bald wiederzusehen", sagte die Königin huldvoll und entließ sie. Madame de Colignon und Marguerite wurden danach wieder von Albert vor dem Privatsalon Ihrer Majestät empfangen, der ihr versicherte, dass ihre Kutsche am Eingang schon für sie bereit stehe, und geleitete sie dann hinaus...
***
Kaum hatte sich die Kutsche, in der die Lebrunnes saßen, in Bewegung gesetzt, merkte der Baron, dass er müde wurde.
"Irgendwie habe ich plötzlich keine Lust mehr, auf dieses Fest zu gehen", meinte seine Frau, die ihren Kopf an seine Schulter lehnte. Er hörte, wie sie leise gähnte, und war froh darüber, dass das Schlafmittel Guignots so rasch wirkte.
"Ach komm, Liebes", erwiderte er, mühsam sein eigenes Gähnen unterdrückend. "Wenn wir erst dort ankommen und du unseren Gastgeber kennengelernt hast, wirst du dich gut unterhalten. Wir haben es eben mit dem Liebesspiel vorhin etwas übertrieben, deshalb bist du wohl ein wenig erschöpft."
Adrienne lachte leise und murmelte: "Vermutlich hast du recht. Bitte, weck mich, wenn wir angekommen sind. Ich kann meine Augen kaum offenhalten."
"Schlaf ruhig, ma Cherie", sagte er und schloss dann ebenfalls die Augen.
Das Schaukeln der Kutschfahrt tat sein Übriges, um das Ehepaar Lebrunne für eine Weile in einen tiefen Schlummer hineinzuziehen. So bemerkten weder der Baron noch seine Frau, dass der Wagen nach einer Weile plötzlich hielt und die Tür gewaltsam aufgerissen wurde. Erst als einer der Maskierten Lebrunne brutal aus dem Inneren der Kutsche zerrte, kam Roger in einem dämmerartigen Zustand wieder zu sich. Sich wie aus weiter Ferne an Guignots Plan erinnernd, schlug er mit beiden Fäusten tranceartig nach seinem Angreifer aus, ohne ihn zu treffen. Der Maskierte ließ ein leises, höhnisches Lachen vernehmen und schlug den Baron dann hart ins Gesicht. Sofort verlor Lebrunne sein Bewusstsein und fiel wie leblos auf den Boden. Der Kutscher schrie angstvoll auf, da er glaubte, sein Herr sei tot, erntete dafür von den Räubern jedoch sofort Prügel, bis er sich auch nicht mehr rührte. Währenddessen war ein weiterer Maskierter in das Innere des Wagens eingedrungen und teilte seinen Kumpanen mit: "Die Dame schlummert tief und fest, so wie es sein sollte."
"Offenbar hat sich der Baron an die Anweisungen gehalten, dabei selbst jedoch ebenfalls eine Prise von dem Schlafpulver genommen", murmelte ein anderer der Maskierten.
"Hätte ich an seiner Stelle auch gemacht", gab der Dritte zurück. "Los, kommt jetzt! Wir haben nicht viel Zeit! Lasst uns Madame schnell von hier fortschaffen, sie wird bereits sehnsüchtig erwartet."
Die drei Maskierten lachten leise und bugsierten danach zusammen die Baronesse aus der Kutsche. Und obwohl es völlig unnötig war, stülpten sie ihr ein langes Tuch über das Gesicht, ehe sie sie in einen anderen, in einer dunklen Ecke der menschenleeren Gasse bereit stehenden Wagen verfrachteten, wo zwei von ihnen Adriennes Hand- und Fußgelenke mit groben Tauen fesselten, während der Dritte die Pferde antrieb. Eilig verschwanden die Räuber mit ihrer lebendigen Beute vom Tatort, dort zwei bewusstlose Männer in einer Kutsche mit offenstehenden Türen zurücklassend...
***
Felix beobachtete mit großem Interesse, wie Comtesse de Rochefort und ihre mütterliche Freundin vor dem Haus der älteren Dame hielten und hineingingen. Vermutlich wäre seine Schutzbefohlene für heute sicher, wo sie sich außerdem doch in der Nähe der Meister befand.
"Felix", hörte er da neben sich die vertraute Stimme Renatas und wandte sich um.
"Nanu? Hat Meister Aro dich ebenfalls zur Bewachung für seine Braut herbeordert?", fragte er.
"So ist es", gab die dunkelhaarige Schönheit zurück und lächelte. "Ich bin deine Ablösung, denn die Meister wünschen, dass du gleich mit ihnen kommst. Sie benötigen deine Hilfe bei der Beseitigung unliebsamer Personen aus ihrem näheren Umfeld in Paris. Wie es sich anhört, könnte dies ganz nach deinem Geschmack sein."
Obgleich die Augen von Felix zu leuchten begannen, wunderte er sich, mit welcher Gelassenheit Renata seine Aufgabe übernahm und erkundigte sich neugierig: "Macht es dir auch wirklich nichts aus?"
"Nein, keine Sorge, ich habe bereits gestern Nacht ausführlich gespeist. Außerdem bewache ich lieber die Braut von Meister Aro als bei dem Gemetzel mitzumachen, das zweifellos bei der Unternehmung der Meister stattfinden wird. Meister Aro spricht von einem >Festmahl< , aber die Art und Weise, wie das vonstatten gehen soll, ist ganz und gar nicht nach meinem Geschmack."
"Und Meister Aro kann wirklich auf dich verzichten?"
"Er hält sein Vorhaben für ungefährlich, schließlich handelt es sich nur um Menschen. Aber ihm ist sehr wichtig, dass Comtesse Marguerite nichts geschieht."
"Nun ja, durchaus verständlich. Immerhin müssen wir sie wohlbehalten nach Volterra schaffen, ehe er sie verwandeln kann."
"Ich bin zuversichtlich, dass es nicht mehr lange dauert", meinte Renata lächelnd. "Und nun geh! Die Meister warten nicht gern!"
***
Louise erwartete Madame de Colignon und ihre Freundin bereits bei der Rückkehr im Kleinen Salon des Hauses, wo der Tisch für ein kleines Abendessen gedeckt war.
"Wie war die Feier bei der Königin?", erkundigte sich Louise interessiert.
Marguerite fiel ihr um den Hals und erwiderte: "Wunderbar! Ach, Louise, ich bin so glücklich!"
Verwundert warf die junge Frau ihrer Dienstherrin einen fragenden Blick zu. Madame de Colignon lächelte verständnisvoll und erklärte: "Ihre Majestät war überaus freundlich zu uns und alle erhielten am Ende ein kleines Geschenk."
"Oh, wie aufmerksam", sagte Louise und wandte sich wieder ihrer Freundin zu. "Habt Ihr es schon geöffnet, Comtesse?"
Marguerite löste sich aus ihrer Umarmung und sah Louise amüsiert an, ehe sie in gespielt vorwurfsvollem Ton antwortete: "Aber, liebe Freundin, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mich bei meinem Vornamen ansprechen sollst?!"
"Tut mir leid, doch das erscheint mir allzu respektlos", gab die junge Gesellschafterin zurück.
Madame de Colignon setzte sich an den Tisch und wandte sich freundlich an Louise: "Vielen Dank, dass Ihr eine kleine Mahlzeit für uns bereitstellen ließet, mein Kind. Nach all dem Süßen gelüstet es mich wahrhaftig nach etwas Herzhaftem. Geht es Euch nicht auch so, Marguerite?"
"Ach, Madame, ich möchte gar nichts essen", erklärte die Comtesse, deren Augen immer noch strahlten.
"Nun, dann solltet ihr wenigstens noch einen warmen Tee zu Euch nehmen, ehe wir uns ins Bett begeben", schlug die Hausherrin vor, worauf Marguerite und Louise sich endlich zu ihr an den Tisch setzten. Die junge Gesellschafterin schenkte beiden Damen Tee ein und wandte sich danach an Madame de Colignon. "Welches Geschenk habt Ihr erhalten?"
"Ich werde mein Päckchen erst morgen öffnen", antwortete die ältere Dame. "Doch wie steht es mit Euch, Marguerite? Seid Ihr nicht neugierig, was die Majestäten Euch geschenkt haben?"
"Doch, doch! Natürlich!", meinte Marguerite und legte das kleine Paket auf den Tisch, wo sie es eilig öffnete. Zum Vorschein kamen ein Paar mit je einer Perle verzierte Ohrringe sowie zwei Schriftstücke. Erstaunt beäugte die junge Dame diese Dinge, dann nahm sie eines der beiden Schreiben, öffnete es und überflog rasch den Inhalt:
"Meine liebe Comtesse de Rochefort,
wie mir meine Gemahlin mitteilte, habt Ihr Euch bereits einen Ehemann ausgesucht und benötigt dazu noch die Zustimmung Eures Vormundes. Auf meine diesbezügliche Nachfrage an Kardinal Mazarin, dem Ihr Euch in Eurer Not anvertraut habt, informierte mich mein Erster Minister darüber, dass Eure Tante, die Baronesse de Lebrunne, jeden Antrag um Eure Hand abzulehnen beabsichtigt, um die Gewalt über Euer Vermögen und Eure Besitztümer nicht zu verlieren. Dieses Ansinnen bestätigt mir nur meinen früher gewonnenen Eindruck von dem Charakter der Baronesse, der zweifellos durchtrieben und verdorben ist. Natürlich ist mir klar, dass diese Frau keineswegs Euer Wohl im Sinn hat. Umso mehr bewundere ich, mit welcher Contenance ihr bisher die Unterdrückung durch Eure Tante ertrugt und darüber nicht Euer freundliches Wesen eingebüßt habt. Vielleicht ist es Euch ein kleiner Trost, als persönliches Geschenk von mir die Perlenohrringe anzunehmen, die Eure Schönheit meiner Meinung nach noch unterstreichen und zudem zu Eurem Vornamen passen.
Aufgrund des guten Eindrucks, den Ihre Majestät und ich von Euch gewonnen haben, hätten wir es natürlich sehr begrüßt, Euch einen Dienst bei Hofe anzubieten. Es wäre mir ein großes Vergnügen gewesen, Euch den Palast und seine Gärten sowie im Sommer meine wundervollen Parkanlagen in meinem Jagdschloss zu zeigen. Doch da Ihr Euer Herz schon anderweitig verschenkt habt, bleibt mir nichts anderes übrig, als Euch mein Wohlwollen durch eine königliche Heiratserlaubnis zum Ausdruck bringen zu dürfen, die über der Entscheidungsbefugnis Eures Vormundes steht. Ich hoffe, Euer Auserwählter erweist sich Eurer als würdig. Von meiner Seite wünsche ich Euch alles Glück dieser Welt.
Mit großem Bedauern, dass Ihr nicht in den Hofdienst eintreten wollt, verbleibe ich
der Euch stets gewogene
Louis de Bourbon"
Unter der Unterschrift des Königs prangte sein Siegel, das die Echtheit dieses Dokuments verbürgte.
Einige Minuten lang starrte Marguerite auf das Schreiben. Sie konnte kaum den Inhalt fassen noch die liebenswürdigen Worte, die Seine Majestät persönlich an sie richtete. Niemals wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass sie solch einen großen Eindruck auf ihn gemacht hatte.
Die Comtesse fand erst wieder in die Gegenwart zurück, als Madame de Colignons Stimme an ihr Ohr drang: "Nun, was schreibt Ihre Majestät?"
"Der Brief ist nicht... von der Königin", murmelte Marguerite, faltete das Schreiben zusammen, ließ es auf ihrem Schoß liegen und schaute auf den Tisch, wo der zweite Brief lag. Rasch griff sie danach und öffnete auch ihn, wobei sie sofort sah, dass es sich um die Heiratserlaubnis für sie handelte. Der Beweis für sie, dass die Majestäten ihr tatsächlich gewogen waren! Endlich konnte sie Aro zum Mann nehmen!
"Nicht von der Königin?", fragte ihre mütterliche Freundin verwundert, dann lächelte sie. "Demnach kann es sich nur um ein Schreiben Seiner Majestät handeln, nicht wahr?"
"Ja, Ihr habt recht, Madame. Er versichert mich Seines Wohlwollens und hat mir überdies die Erlaubnis gegeben, den Mann meiner Wahl zu heiraten! Ist das nicht wunderbar?"
"Meine Güte, das ging aber schnell", entfuhr es Madame de Colignon überrascht. "Mir sagte die Königin zwar, dass sie Euch helfen wolle, aber mit einer Heiratserlaubnis am heutigen Tage habe ich wirklich nicht gerechnet."
"Kardinal Mazarin muss das in die Wege geleitet haben, nachdem ich ihm all meine Sorgen schilderte. Ich bin ihm unendlich dankbar und den Majestäten natürlich auch, denn letztlich trafen sie die Entscheidung, die mich aus der Bevormundung meiner Tante befreien."
"Der König hat so entschieden, alle anderen konnten ihn nur darüber informieren und ihn darum bitten. Doch es freut mich, dass es vor allem der Königin gelungen zu sein scheint, ihren Gemahl davon zu überzeugen, dass Ihr unbedingt Hilfe braucht."
"Wie kann ich den Majestäten meine Dankbarkeit zeigen?"
"Indem Ihr immer eine loyale Dienerin der Krone bleibt. Mehr erwartet niemand von Euch."
"Natürlich gehört meine Treue der Krone", versicherte Marguerite. "Doch was mein Privatleben angeht, gilt meine Treue niemand anderem als meinem zukünftigen Ehemann."
"Dann seid Ihr also wirklich fest entschlossen, bald zu heiraten?", erkundigte sich Louise.
"Ja, ich kann es kaum erwarten, dies Aro mitzuteilen", gab Marguerite zu. "Er wird darüber gewiss genauso glücklich sein wie ich es bin."
"Ein Tag voller Überraschungen", meinte Madame de Colignon lächelnd. "Aber für heute habt Ihr genügend Aufregung erfahren, mein liebes Kind, wenngleich es durchaus positiver Natur ist. Jetzt allerdings braucht Ihr ein wenig Ruhe und dürft Euch mit Louise zurückziehen, wenn Ihr es wünscht. Meine Kammerzofe hat Euch ein frisch gewaschenes Nachtgewand von Louise herausgelegt. Ich hoffe, dass Euch dies recht ist, Marguerite?"
"Natürlich, Madame, vielen Dank", gab die junge Frau zurück und ihre Augen strahlten. Dem Anstand gehorchend trank sie jedoch noch in langsamen Schlucken ihren Tee aus und ließ Louise Zeit, um ihr Abendbrot zu beenden. Danach nahm sie die beiden Schreiben sowie die Ohrringe an sich, bedankte sich noch einmal bei ihrer mütterlichen Freundin dafür, dass sie heute in ihrem Hause übernachten durfte, wünschte ihr eine 'Gute Nacht' und zog sich mit Louise zurück, die sie in das Gästezimmer führte.
Als die beiden Mädchen allein waren, wandte sich Marguerite erneut ihrer Freundin zu.
"Ist es nicht großartig, dass ich Conte Aro bald heiraten werde?"
"Natürlich freue ich mich für Euch", räumte Louise ein. "Aber muss das wirklich so rasch sein?"
"Ich kann es kaum erwarten, seine Frau zu werden", gestand die Comtesse. "Nichts wünsche ich mir mehr, als mit ihm zusammen zu sein. Ein angenehmer Nebeneffekt ist freilich, dass ich nach meiner Hochzeit mit Aro meine Verwandten endlich auf ihr eigenes Gut zurückschicken kann. Ach, allein die Aussicht darauf, bald frei von der Fuchtel meiner Tante zu sein, lässt mich schon leichter atmen."
"Nun ja, wenn es Euer größter Wunsch ist, teile ich Eure Freude aus vollem Herzen."
"Meinst du, es wäre sehr unschicklich von mir, wenn ich Aro gleich die gute Nachricht durch einen Dienstboten zukommen lasse?"
"Ich kann durchaus verstehen, dass Ihr es ihm so schnell wie möglich mitteilen wollt, Comtesse. Doch das ist völlig unnötig. Caius hat mich während der Abwesenheit von Madame de Colignon kurz besucht und mir erzählt, dass er nicht lange bleiben könne, weil seine Brüder und er heute Abend zu einer Feier bei irgendeinem hochstehenden Adligen eingeladen seien, die sie unmöglich absagen könnten. Deshalb entschuldigte er sich auch bei mir, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Doch mein derzeitiger Schein-Verlobter weiß, wie man einer Frau Achtung erweist. Die gute Erziehung der Volturi-Brüder ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, was ich äußerst angenehm finde."
"Sie sind alle drei wunderbar", schwärmte Marguerite. "Nach Caius' Erklärung ist Aro demnach also auch nicht zu Hause?"
"Nein, ich fürchte nicht. Und nach allem, was Caius andeutete, wird diese Feier wohl sehr lange dauern. Darum solltet Ihr den Rat von Madame beherzigen und Euch für heute viel Ruhe gönnen. Womöglich ergibt sich am morgigen Vormittag wieder Gelegenheit zu einem Spaziergang mit Caius und Aro."
"Du hast völlig recht, Louise. Wärst du wohl so freundlich, mir beim Auskleiden zu helfen?"
*
Nachdem sie eine Kleinigkeit gegessen hatte und die beiden Mädchen sich zurückgezogen hatten, machte sich auch Madame de Colignon auf den Weg zu ihrem Gemach, das im oberen Stockwerk lag. Sie klingelte nach ihrer Kammerzofe, von der sie sich beim Umziehen helfen ließ. Danach wusch sie sich und legte sich ins Bett, während ihre Bedienstete die Schüssel mit sich nahm, ihr eine 'Gute Nacht' wünschte und dann den Raum verließ.
Als die ältere Dame allein war, ließ sie vor ihrem inneren Auge den Tag nochmals Revue passieren. Marguerite hatte ihr auf der Fahrt in den Palast davon berichtet, dass ihr Onkel ärgerlich auf sie gewesen sei, weil er sie auf der Verlobungsfeier der kleinen Fournier aus den Augen verloren hatte, und ihr dies vorgehalten. Der Baron begründete es mit seiner Sorge um die Nichte und hätte das zum Anlass genommen, ihr eine Ehe mit Rouven Guignot vorzuschlagen, was Marguerite natürlich aufs Höchste empört hatte. Amelie konnte das gut verstehen, denn Guignot besaß in Paris den Ruf eines charmanten Schürzenjägers, den keine angesehene Familie sich als Schwiegersohn wünschte - weshalb also war die Wahl der Lebrunnes ausgerechnet auf einen solch wollüstigen Lebemann gefallen?
Geradezu absurd mutete es Amelie an, dass der Baron, welcher selbst dem weiblichen Geschlecht überaus zugeneigt war, in demselben Gespräch seine Nichte vor Aro di Volturi gewarnt hatte, dem er seinerseits unterstellte, ein untreuer Herzensbrecher zu sein. Nach ihren eigenen Beobachtungen eine haltlose Unterstellung. Zwar flirtete der junge, italienische Graf gerne, aber sein Verhalten gegenüber Marguerite ließ keinen Zweifel daran, dass er sich in die verliebt hatte und sie tatsächlich heiraten wollte. Dass er zudem noch den Ehevertrag ihres Schützlings unterschrieb, sprach ebenfalls für ihn.
Nein, Aro hatte es allem Anschein nach nicht nötig, eine reiche Erbin zu heiraten, sondern konnte seine Ehefrau nach seiner Zuneigung wählen - und seine Wahl war auf Marguerite de Rochefort gefallen. Wie sehr wünschte sie, dass Aro sich entschloss, die erste Zeit seiner Ehe mit der Tochter ihres alten Freundes auf dem Stammsitz der Rocheforts zu verbringen, damit sie nicht allzu rasch von ihr getrennt wurde.
Danach dachte Amelie daran zurück, wie der König sie empfangen und mit welchem Blick er Marguerite bedacht hatte, obwohl sie vom Alter her seine Tochter sein könnte. Es war wirklich ein glücklicher Umstand, dass die Königin und Kardinal Mazarin Seine Majestät davon überzeugen konnten, der jungen Rochefort die Heiratserlaubnis schriftlich zu geben. Es mochte danach zwar übereilt erscheinen, wenn Marguerite keine Zeit verlieren wollte, um Aro zu ehelichen, aber wer konnte es ihr verdenken bei einer Tante, die sie unterdrückte, und einem Onkel, der irgendwelche krummen Absichten in Bezug auf seine Nichte hegte, wenn er sie sogar mit Guignot verheiraten wollte.
Tja, dieser Vorschlag mit Guignot als Ehemann schien ihr nicht geheuer. Zwar war ihr nicht entgegen, wie verliebt dieser Lüstling Marguerite angestarrt hatte, aber er war ihrer Meinung nach nicht fähig zu einer Beziehung, welche auf echter Zuneigung beruhte. Vermutlich begehrte er ihre junge Freundin nur deshalb so heftig, weil sie ihn mit Nichtbeachtung strafte - für jeden Schürzenjäger eine echte Herausforderung! Guignot war einer jener Männer, die das Interesse an einer Frau schnell verloren, sobald sie sie erobert und ein paar Mal das Bett mit ihr geteilt hatten. Womöglich genau der Grund, aus dem die Lebrunnes ihre Nichte mit diesem Tunichtgut verheiraten wollten! Zum Glück war diese Gefahr gebannt, denn Marguerite würde bald eine Contessa di Volturi sein und ihren Mann bitten, diese schäbige Verwandtschaft aus ihrem Haus zu jagen!
Der Gedanke daran, ihren Schützling zukünftig in guten Händen zu wissen, beruhigte Amelie und sie dachte danach voller Zärtlichkeit an Marcus, der sie nach Italien auf seinen Familiensitz eingeladen hatte. Natürlich würde sie ihn gern besuchen, aber nicht gerade jetzt in der kalten Jahreszeit. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass die Brüder Frankreich vor Frühlingsbeginn verließen. Dafür waren die Straßen zu unsicher und Diebesbanden hatten auf den Fahrwegen außerhalb der großen Städte leichtes Spiel mit Reisenden. Andererseits befanden sich seit kurzem eine Vielzahl von Dienern der Volturi-Brüder bei ihren Herren und sie erinnerte sich daran, dass Caius davon sprach, nach seiner baldigen Eheschließung mit Louise in seine Heimat zurückkehren zu wollen... nun, die Dinge würden sich schon finden, sie war einfach zu müde, um sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen...
Kapitel 47
Ein Ende bedeutet, einen neuen Anfang zu wagen.
~ Anonymus ~
~~~~~
In Paris machte es schnell die Runde, was man im Keller des Marquis de Charron, eines Mannes, der bei Hofe ein- und ausgegangen war und dort viele Freunde besaß, vorgefunden hatte, und dies löste in der Bevölkerung und vor allem in adligen Kreisen großes Entsetzen aus.
Sogar die Königin schien über den Vorfall bestürzt, als man es ihr zutrug. Doch nach einer Weile konnte sie nicht umhin, sich insgeheim zu fragen, welche Rolle Baronesse de Lebrunne selbst für eine Rolle innerhalb dieser ominösen schwarzmagischen Sekte gespielt haben mochte. Denn Anna d'Austrice, die jener Frau immer noch nicht vergeben konnte, dass sie sie einst auszuspionieren versucht hatte, hielt sie keinesfalls für das unschuldige Opfer von schwarzen Magiern, als die die Berichte, die überall kursierten, sie hinstellten. Vor allem der Siegelring jenes Rouven Guignot, eines Freundes von Baron de Lebrunne, den man neben dem Altar entdeckte, auf dem die mutmaßlichen Aschereste von Lebrunnes Gemahlin nebst ihrem Ehering gefunden wurden, ließen sie daran zweifeln. Wer wusste schon, was Adrienne de Lebrunne und der Freund ihres Mannes hinter dem Rücken des Barons getrieben haben mochten? Vielleicht waren beide eingeweiht in das Ritual, Guignot womöglich sogar ein Mitglied dieser schwarzmagischen Sekte gewesen und etwas war nicht so verlaufen, wie es vorgesehen war. Womöglich hatte auch die Baronesse selbst diese ominöse Gemeinschaft mit irgendetwas provoziert, besaß die Dame doch kaum Anstand und wenig Contenance, wie ihr durch Kardinal Mazarin zu Ohren gekommen war. Denn anders konnte Anna d'Austrice sich nicht erklären, warum Männer, die sonst immer junge Dienstmädchen bei ihren abstoßenden Ritualen opferten, plötzlich eine ältere Adlige dafür auserwählt haben sollten. Und angesichts der Umstände, unter denen der Ehering der Baronesse wieder auftauchte, erschien der Überfall auf Lebrunne und seine Frau in einem neuen Licht. Wen mochte dieses Paar verärgert haben? Ganz gewiss war dies geplant gewesen, wenn auch im Auftrag von diesem Charron oder einem seiner Freunde.
König Louis selbst, der nichts von dem Verdacht seiner Gemahlin ahnte, ordnete eine genaue Untersuchung des Vorfalls an. Bald darauf wurde festgestellt, dass mehrere Adlige, die entweder bei Hofe dienten oder dort oft verkehrten, unauffindbar verschwunden waren. Ihre Dienstboten, die befragt wurden, gaben mehrheitlich an, dass die Herren eine Einladung zu einem Abendessen bei Marquis de Charron angenommen hatten und nicht zurückgekehrt waren. Grund genug für Seine Majestät, jeden am Hofe, ob er nun ein Amt dort bekleidete oder oft dort verkehrte, sowie alle Freunde, Bekannte und Familienangehörige des Marquis de Charron penibel durch seine Gardisten überpüfen zu lassen, was so weit ging, dass die Betroffenen angeben musste, wann sie zur Kirche gegangen waren oder welcher Priester ihnen die Beichte abgenommen hatte.
Bald wurde klar, dass die verschwundenen Hofleute zu jenen Personen gehörten, die sich immer wieder heimlich mit Charron in dessen Haus trafen, um entgegen dem Verbot des Königs regelmäßig schwarze Messen zu zelebrieren. Dafür sprach auch, dass vor jedem dieser Treffen ein oder zwei Tage vorher ein junges Mädchen verschwand. So fügte sich das Bild endlich zusammen, was vor allem für die Familie des Marquis unschöne Konsequenzen hatte. Ihr Vermögen wurde konfisziert, alle verloren ihre Titel und Ämter und der Familienstammsitz wurde geschleift. [1]
Darüber hinaus schien der König um Comtesse de Rochefort besorgt, glaubte er doch, man habe die Tante der jungen Dame gezielt entführt und geopfert, damit sie aus dem Weg sei und Charron desto leichter die Hand der schönen und wohlhabenden Marguerite bekam. Den Tod von Adrienne de Lebrunne könnte man damit quasi als Warnung an deren Gemahl verstehen, sollte sich dieser Charron als Brautwerber in den Weg stellen. Grund genug für Seine Majestät, sich selbst zum Vormund der jungen Dame zu machen und seine Überlegungen diesbezüglich Kardinal Mazarin unter vier Augen mitzuteilen. Der neue Erste Minister war klug genug, keinen Widerspruch gegen die Eigenmächtigkeit des Königs im Falle von Marguerite de Rochefort zu erheben, versuchte jedoch, ihn mit dem Hinweis zu beruhigen, dass ein Teil seiner Rotgardisten regelmäßig Patrouillen in dem Viertel, in welchem sie derzeit wohne, mache.
"Sehr umsichtig von Euch", lobte Louis. "Aber wäre es nicht besser, das Mädchen für eine Weile an den Hof einzuladen? Ihre Majestät liebt die Gesellschaft der Comtesse und würde sich gewiss auch darüber freuen, sie bei sich und in Sicherheit zu wissen."
"Ihr seid die Güte in Person", erwiderte Mazarin und verneigte sich leicht vor ihm. "Jedoch erlaubt mir die Bemerkung, dass Madame de Colignon ein Auge auf Comtesse de Rochefort hat und mir berichtete, dass sie bereits inoffiziell mit einem ehrenwerten Mann verlobt ist, der selbst seine Dienerschaft als Wächter rund um ihr Haus postiert hat, aber so diskret, dass es kaum jemandem auffällt."
Die Enttäuschung des Königs über diese Mitteilung stand jenem deutlich ins Gesicht geschrieben. Doch er nickte schließlich und meinte: "Na schön, die Aufsicht von Madame de Colignon beruhigt mich ein wenig. Und es... freut mich... ja, es freut mich, dass Comtesse de Rochefort einen so besorgten Bräutigam hat. Steht der Hochzeitstermin schon fest?"
"Darüber weiß ich nichts, Eure Majestät", antwortete der Kardinal aufrichtig und fuhr in der Absicht fort, ihn auf andere Gedanken zu bringen: "Darf ich mir erlauben, Euch zu den Maßnahmen zu gratulieren, die Ihr anordnetet? Damit konnten wir rasch die diabolischen Ränke von de Charron und seiner ebenso sündhaften Gesellen aufdecken."
Der König lächelte und ließ sich auf das Gespräch mit Mazarin ein, der mit ihm erörterte, wie man in Zukunft derartige Umtriebe verhindern könnte...
***
Nachdem die Wirkung des Schlaftrankes verschwunden und Roger de Lebrunne sich mehrere Tage lang im Bett erholen konnte, kam er allmählich wieder zu sich und spürte sogar ein leises Gefühl der Dankbarkeit für seine Nichte, die dafür sorgte, dass man ihn ärztlich versorgte, ihn pflegte und ansonsten in Ruhe ließ. Erst als er wieder bei Kräften war, wurde ein hochrangiger Musketier aus der Garde des Königs zu ihm vorgelassen. Durch ihn erfuhr Roger, was mit seiner Gemahlin geschehen war.
Der Hauptmann zeigte ihm zuerst den Ehering von Adrienne und Baron des Lebrunne bestätigte, dass dieser seiner Frau gehörte. Daraufhin erklärte ihm der Musketier, dass seine Gemahlin tot sei, sprach ihm sein Beileid aus und teilte ihm darüber hinaus mit, dass man die "sterblichen Überreste der Baronesse" in einem Sarg "gebettet" habe, der sich derzeit in einer Kapelle innerhalb der Mauern des Königlichen Palastes befand, da man fürchtete, jemand könne den Sarg stehlen.
"Haltet Ihr es wirklich für möglich, dass ein Mensch so etwas Schlechtes tun könnte?", fragte Roger ungläubig.
"Ach, Monsieur, nachdem ich mit eigenen Augen erblickte, wie es im Keller des Stadthauses von de Charron aussah, halte ich alles für möglich", gestand ihm der Musketier. "Es ist so schrecklich, was man über die Vorfälle, die sich dort unten abspielten, herausfand."
"Was soll denn dort geschehen sein?", erkundigte sich Roger neugierig.
"Hat man Euch noch nicht davon berichtet?"
"Nein, meine Nichte meinte, ich solle mich erholen und sprach wenig mit mir. Aber in der Miene des Mädchens war unschwer zu lesen, dass irgendetwas Unerfreuliches passiert sein muss."
"Womöglich ist Eure junge Nichte noch viel zu entsetzt darüber, was ich nur allzu gut verstehen kann", sagte der Musketier. "Auch denke ich, dass sie nicht in der Lage ist, Euch darüber in Kenntnis zu setzen. Außerdem bat sie mich, ein paar Tage zu warten, ehe ich Euch aufsuche, da Ihr immer noch recht angeschlagen von dem Überfall, den man auf Euch verübte, seid. Deshalb kam ich erst heute her."
"Die Comtesse besitzt ein gutes Herz und ist aufrichtig besorgt um mich", behauptete Lebrunne, den es insgeheim freute, wie Marguerite ihn zu beschützen versucht hatte. Offensichtlich war ihr die Familie nicht gleichgültig. Ein gutes Zeichen.
"Um Eurer Nichte also die Unannehmlichkeit zu ersparen, erlaubt mir, Euch zu berichten, was wir im Keller von de Charron vorfanden. Aber bitte, bereitet Euch auf das Schlimmste vor."
Und so erfuhr Baron de Lebrunne die Geschichte über eine verbotene, heimliche Zusammenkunft des Marquis de Charron und seiner Freunde, die eine schwarze Messe gefeiert und dabei sowohl seine Ehefrau als auch seinen Freund Guignot geopfert hatten. Wie und warum dann ein Feuer ausbrach und es den Schwarzmagiern nicht möglich war, aus ihrer falschen Kapelle zu fliehen, blieb allerdings ein Rätsel.
Diese Geschichte hatte Roger etwas verwirrt und tatsächlich bestürzt. Es war eine Sache, mit einem Freund die Entführung seiner Frau zu planen, damit sie etwas von ihrem Blut opfern sollte, aber etwas ganz anderes, wenn die Frau dabei tatsächlich ums Leben kam und der Anstifter dieses Vorhabens sowie seine geheime Bruderschaft gleich mit. Außerdem glaubte Roger keinen Augenblick daran, dass Guignot ein Opfer war, behielt dies jedoch wohlweislich für sich. Wenn je herauskam, dass er in die Planung dieser Angelegenheit eingeweiht gewesen war, wäre seine Hinrichtung sicher. Doch er hatte noch nicht vor, so schnell aus dem Leben zu treten, sondern wollte andere Pläne verwirklichen. Dennoch spürte er, dass er den Tod Adriennes wirklich bedauerte. Wenigstens wollte er sie nach Hause bringen und anständig beerdigen, bevor er ein neues Kapitel in seinem Leben aufschlug, noch einmal heiratete und einen Sohn zeugte...
***
Einige Tage später hatte sich in Paris die Lage ein wenig beruhigt, nachdem alle Anweisungen des Königs befolgt worden waren. Auch Baron de Lebrunne erholte sich zusehends, wenngleich er einen zerknirschten Eindruck machte. Es wunderte Marguerite kaum, als er wenige Tage, nachdem ihn der Musketier aufgesucht und ihn über das Geschehene in Kenntnis gesetzt hatte, eines Nachmittags zu ihr in den Kleinen Salon kam und um ein Gespräch unter vier Augen bat.
"Ja, natürlich", sagte die junge Frau, die mit einem Buch auf dem Sofa saß, und deutete auf einen Sessel ihr gegenüber. "Bitte, nehmt Platz."
Nachdem Lebrunne sich gesetzt hatte, wandte er sich mit trauriger Miene an seine Nichte: "Ich hätte eine Bitte an Euch und ich hoffe, dass Ihr sie mir nicht abschlagen werdet."
"Worum geht es, Onkel?", erkundigte sie sich, wobei ihr nicht entgangen war, dass der Baron ihr gegenüber einen respektvollen Ton angeschlagen hatte.
"Meine Gattin, Eure Tante, sie... nun ja, sie fühlte sich immer wie eine Rochefort", begann Lebrunne vorsichtig.
"Mag sein, und?"
"Würdet Ihr mir erlauben, dass sie in Eurer Familiengruft beigesetzt wird, wo auch schon ihre Eltern und ihr Bruder ruhen?"
"Natürlich, ich habe nichts dagegen."
"Dann würde ich - Euer Einverständnis vorausgesetzt - bereits morgen mit ihren sterblichen Überresten zu Eurem Stammschloss aufbrechen, um sie dort beisetzen zu lassen", erklärte der Baron. "Der Pfarrer der nächstgelegenen Gemeinde soll eine Messe für sie lesen lassen."
"Ja, das wäre angebracht", stimmte Marguerite ihm zu. "Wer weiß, was das Geschehene mit ihrer Seele angerichtet hat. Wollt Ihr, dass ich Euch nach Rochefort begleite?"
"Nein, nein, das ist nicht nötig", wehrte Lebrunne ab. "Wenn Ihr erlaubt, möchte ich mich in aller Stille und allein von meiner Frau verabschieden. Danach komme ich wieder nach Paris zurück."
"Wollt Ihr nicht lieber auf Euer eigenes Landgut zurückkehren?"
"Ich kann Euch doch unmöglich allein lassen, mein Kind!"
"Seid unbesorgt! Madame de Colignon wird ein Auge auf mich haben, ganz so, wie sie es Kardinal Mazarin versprochen hat", meinte Marguerite sanft. Obwohl sie Mitleid mit dem Baron empfand, wünschte sie sich insgeheim doch, dass er allmählich aus ihrem Leben verschwand. "In ein paar Tagen werde ich ebenfalls nach Rochefort zurückkehren. Aber ich benötige noch einige Zeit, um hier alles zu ordnen, bevor ich mit Madame de Colignon nach Hause fahre."
Die Miene des Barons schien sich bei diesen Worten aufzuhellen.
"Nun, ich verstehe", sagte er und verneigte sich leicht. "In diesem Falle werde ich in Rochefort auf Euch warten, mein Kind."
"Auch das ist nicht nötig", entgegnete sie, immer noch freundlich. "Kardinal Mazarin hat mir geschrieben, dass ich nach dem Tod meiner Tante unter der Vormundschaft des Königs stehe, der Madame de Colignon damit beauftragt hat, mir in allem beizustehen und mich zu unterstützen."
"Aha, das wusste ich nicht", meinte Lebrunne und wirkte überrascht. "Nun, dann scheint ja alles aufs Beste geregelt zu sein. Madame de Colignon ist eine vertrauenswürdige Person. Wie gut, dass sie ein Auge auf Euch haben wird. Aus Eurer Absicht, hier Euren Geburtstag zu feiern, wird es demnach wohl nichts mehr werden?"
"Ich denke nicht", meinte Marguerite. "Nachdem, was mit meiner Tante geschehen ist, möchte ich nur noch so lange in Paris verweilen, bis ich alle meine Angelegenheiten hier geregelt habe."
"Das verstehe ich gut", behauptete Lebrunne. "Nun, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich vorerst bei Euch für alles zu bedanken, was Ihr für mich getan habt."
"Ich bedaure aufrichtig, was geschehen ist", versicherte ihm seine Nichte. "Trotz all des Unheils, das über uns hereinbrach, bin ich froh, dass Euch nichts passiert ist und Ihr Euch wieder ein wenig erholt zu haben scheint."
"Sehr freundlich von Euch", gab der Baron zurück, dann seufzte er tief und fuhr in einem leidenden Ton fort: "Wie sehr wünschte ich, das Geschehene ändern zu können, doch das liegt leider nicht in meiner Macht. Außerdem möchte ich Euch versichern, wie leid es mir tut, dass meine Frau Euch nicht immer freundlich behandelt hat. Glaubt mir, mein Kind, ich tat alles, um sie in dieser Hinsicht ein wenig nachsichtiger mit Euch zu machen."
"Ja, manchmal bemerkte ich dies", meinte Marguerite. "Aber es ist müßig, über Vergangenes zu sprechen, das nun einmal geschehen ist. Wenigstens scheiden wir im Guten, nicht wahr?"
"Gewiss, liebes Kind", beteuerte Lebrunne und neigte leicht sein Haupt vor ihr. "Es wäre mir zudem eine Freude, Euch auf Eurem Heimweg nach Rochefort als Gast auf meinem bescheidenen Landgut begrüßen zu dürfen. Das würde mir wirklich viel bedeuten, Marguerite."
"Wenn es sich so verhält, werde ich versuchen, es einzurichten, Onkel, doch ich kann nichts versprechen. Vergesst nicht, dass ich gemeinsam mit Madame de Colignon reisen werde und nicht über meine liebe Nachbarin bestimmen kann. Aber ich werde sie darum bitten."
"Madame de Colignon ist selbstverständlich auch eingeladen, mein Kind, und ich würde mich freuen, wenn sie und Mademoiselle Lefevre ebenfalls meine Gäste sind."
"Vielen Dank, ich werde es meinen Freundinnen ausrichten", erklärte Marguerite und schenkte ihm den Anflug eines Lächelns.
Roger musste einsehen, dass er sich vorerst damit zufrieden geben musste, bedankte sich bei seiner Nichte erneut für ihre Güte, verneigte sich jetzt leicht und verließ dann den Raum, während ihm die junge Herrin des Hauses nachdenklich hinterher blickte...
*
Roger kehrte in sein Gemach zurück, innerlich ein wenig aufgebracht darüber, dass Marguerite ihm soeben deutlich zu verstehen gegeben hatte, er möge aus ihrem Leben verschwinden. Allerdings musste er einräumen, dass das Mädchen etwas durcheinander zu sein schien und dass ihr Adriennes Tod ziemlich nahe ging. Vermutlich wäre die Kleine gar nicht so erpicht darauf, dass er auf sein eigenes Anwesen zurückkehrte, wenn dieser vermaledeite Mazarin nicht dafür gesorgt hätte, Marguerite unter die Vormundschaft des Königs zu stellen und Seine Majestät dann davon zu überzeugen, Madame de Colignon die Aufsicht über Comtesse de Rochefort zu übertragen. Allerdings neigte die ältere Dame dazu, dem eigenwilligen, jungen Mädchen ihre Freiheiten zu lassen und sie kaum zu kontrollieren.
Zudem könnte es ihm in die Hände spielen, dass Adriennes Tod deren Nichte sehr erschüttert hatte, ungeachtet der Tatsache, dass sich die beiden niemals gut verstanden hatten. Marguerite verbrachte die meiste Zeit allein mit ihrer Freundin Louise und empfing außer der kleinen Fournier und deren Mutter niemanden mehr. Eine Nachricht, die ihm sein persönlicher Diener zutrug, und die Roger überaus erfreute. Offensichtlich verschwendete Marguerite keinen Gedanken mehr an irgendeinen der Volturi-Brüder oder jemand anderen. Es machte ganz den Eindruck, als ob das Mädchen tatsächlich jegliche Lust auf gesellschaftlichen Umgang verloren hatte. Zwar erhielt sie - wie er - viele schriftliche Beileidsbekundungen, aber auch Einladungen von anderen Adligen, die sie aufzumuntern versuchten, die sie alle jedoch mit freundlichen Worten ablehnte und dies mit ihrer Trauer um den Verlust ihrer Tante begründete. Seine Nichte war auch nicht dazu bereit gewesen, einige junge Herren, die persönlich vorsprachen, zu empfangen, was von diesen ohne Murren akzeptiert wurde.
Natürlich war Roger klar gewesen, dass junge Laffen hier antanzen würden, und er befürchtete anfangs, in ihnen eine echte Konkurrenz zu bekommen. Doch aufgrund Marguerites seelischer Angeschlagenheit stellten sie momentan keinerlei Gefahr mehr dar, zumal seine Nichte beabsichtigte, den Haushalt in Paris aufzulösen und nach Rochefort abzureisen. Ausgezeichnet! Sobald Adrienne anständig unter die Erde gebracht war, würde er heimlich hierher zurückkehren, Marguerite seine Hilfe anbieten und - wenn alle Dienstboten aus dem Hause und sie beide allein wären - alles daransetzen, Marguerite mit tröstenden Worten zu umgarnen, ihre Zuneigung zu gewinnen und sie zu verführen. Sie wäre nicht die erste junge Frau, die seinem Charme erlag...
***
Nichtsahnend von den Plänen ihres Onkels, hatte Marguerite eine Weile nach ihrem Gespräch dagesessen und nachgedacht. Louise war heute nach dem Mittagessen zu Madame de Colignon gefahren, um nach ihr zu sehen, und ohne sie fühlte sich völlig verlassen. Sie hatte in den letzten Tagen zwar auch an Aro gedacht und ihn vermisst, aber war völlig außerstande gewesen, sich mit ihm zu treffen. Jetzt allerdings sehnte sie sich nach ihm und erinnerte sich daran, wie fürsorglich er sich ihr gegenüber verhalten hatte und wie besorgt er um sie gewesen war. Gewiss hatte es ihn ein wenig gekränkt, als sie sich vor wenigen Tagen einfach mit Louise auf ihr Zimmer zurückzog. Wie leid ihr das jetzt tat, aber sie hoffte, dass er für ihre Gemütsverfassung Verständnis hätte.
Die junge Frau erhob sich und ging in das Arbeitszimmer, setzte sich dort an den Schreibtisch und verfasste rasch einen Brief an Aro. Kaum hatte sie ihn beendet, faltete sie ihn behutsam und versiegelte ihn dann. Danach ging sie aus dem Zimmer und suchte die Frau namens Renata auf, die freundlicherweise von Aro gebeten worden war, bei ihr im Hause zu bleiben und alle diejenigen abzuwimmeln, die nicht zu ihrem Freundeskreis zählten.
"Mademoiselle Renata", sprach Marguerite die dunkelhaarige Schönheit an, die sich sofort zu ihr umwandte.
"Comtesse, wie geht es Euch?", erkundigte sich die Vampirin in freundlichem Ton, beäugte sie jedoch genau, um abzuschätzen, ob sie nicht wieder zu weinen begann.
"Danke, ich habe mich wieder ein wenig gefangen", antwortete die junge Frau und streckte ihr einen versiegelten Brief entgegen. "Würdet Ihr bitte gleich Conte Aro dieses Schreiben überbringen?"
"Natürlich, wenn Ihr es wünscht", versprach Renata, nahm das Schriftstück entgegen und verneigte sich leicht vor ihr. "Ich versichere Euch, dass ich bald wieder zurück bin, Comtesse."
"Oh, bitte, hetzt Euch nicht, meine Liebe! Sicherlich wird mich heute niemand mehr aufsuchen wollen, nachdem ich einige Tage lang keinen Menschen mehr empfing."
"Täuscht Euch nicht, Comtesse, dieser Monsieur de Hervais sprach bisher jeden Tag hier vor und erkundigte sich nach Eurem Befinden."
"War er heute schon da?"
"Ja, und erneut verwehrte ich ihm den Zutritt."
"Demnach habe ich von ihm keinen Besuch mehr zu erwarten."
"Vermutlich habt Ihr recht, aber ich bin mir nicht sicher, ob dieser junge Mann sich nicht in der Nähe aufhält", meinte Renata. "Jedenfalls werde ich bald wieder hier sein."
Nach diesen Worten verließ die Vampirin das Haus und Marguerite, verwundert über die Dinge, die Aros Bedienstete von sich gab, schaute die Eingangstür an. Dabei wurde ihr allmählich die Bedeutung der Worte klar, die Renata gesagt hatte. Wenn Francois de Hervais jeden Tag vorsprach, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen und zu hoffen, sie persönlich zu sehen, schien er ernste Absichten auf ihre Hand zu haben. Sie sollte besser nicht mehr allzu lange in Paris bleiben oder besser noch, endgültige Tatsachen schaffen... aber gehörte sich das denn, so kurz nach dem Tod ihrer Tante?
Marguerite kehrte in die Bibliothek zurück und überließ sich dort ihren weiteren Gedanken. Es entsprach der Wahrheit, dass ihre Tante und sie sich nicht gemocht und überhaupt nicht verstanden hatten. Doch dass diese von einer geheimen Sekte, die schwarze Magie betrieb, bei einem abscheulichen Ritual ums Leben gebracht wurde, hatte sie zutiefst erschüttert. Dennoch war es nicht ihre Schuld gewesen, hatte sie Tante Adrienne doch niemals den Tod gewünscht, sondern nur, dass sie aus ihrer Vormundschaft befreit wurde. Es würde ihre Tante auch nicht wieder lebendig machen, wenn sie mit ihrer Heirat wartete. Außerdem standen sie beide sich niemals nahe.
Nein! Kein Mensch konnte Anstoß daran nehmen, wenn sie endlich das tat, was sie sich so sehr wünschte - eine kleine, stille Hochzeit nur mit ihren engsten Freunden und Aros Familie. Der Baron reiste morgen ab und dann wollte sie nur noch warten, bis es Madame de Colignon besser ging, ehe sie ihren Plan in die Tat umsetzte... wenn Aro sie denn immer noch wollte... Aber würde er sie noch wollen, nachdem sie ihn vor ein paar Tagen einfach weggeschickt hatte?
*
Aro erwartete Renate in der Nähe von Marguerites Wohnsitz, wo er sich im Schatten der gegenüberliegenden Häuser verborgen hielt, seit seine Braut ihn fortschickte. Jedes Wort, das im Hause gewechselt wurde, hatte er mitbekommen und so auch, dass Lebrunne morgen verschwinden wollte. Es war Balsam für ihn gewesen, als Marguerite ihren Onkel darauf hinwies, er könne wieder auf seinem Landgut leben, sobald er seine Frau beerdigt hatte. Ein gutes Zeichen dafür, dass seine Liebste allmählich wieder zu sich kam; und nun also sollte Renata ihm einen Brief überbringen.
Fast riss er der schönen Vampirin das Schreiben aus der Hand, als sie es ihm reichte, brach rasch das Siegel auf und überflog den Brief. Danach lächelte er und sah zu Renata auf.
"Sie will mich sehen", erklärte er ihr und wirkte glücklich. "Ich werde sofort zu ihr gehen."
"Bitte, Meister, lasst Euch etwas Zeit", ermahnte ihn Renata. "Comtesse de Rochefort würde sich gewiss wundern, wenn Ihr - kaum dass ich das Haus verließ - zu ihr kommt. Soll sie etwa den Eindruck gewinnen, dass Ihr immer in ihrer Nähe wart?"
"Das ist mir völlig gleichgültig", gab Aro zurück, faltete den Brief zusammen, steckte ihn in eine Tasche seines Umhangs und schritt danach zielstrebig auf das Haus zu, in dem Marguerite ihn erwartete...
*
Die Comtesse schritt unruhig in der Bibliothek hin und her, mit einer Mischung zwischen Angst und Ungeduld eine Antwort Aros erwartend. Doch wie sehr staunte sie, als es an die Tür pochte und gleich darauf ihr heimlicher Verlobter vorsichtig öffnete und hereinschaute.
"Aro!", rief sie erfreut aus und lief auf ihn zu, während er eintrat und die Tür hinter sich schloss.
Dann fiel sie ihm um den Hals und er drückte sie an sich.
"Wie sehr habe ich mir ein Wiedersehen mit dir gewünscht", flüsterte der Vampir. "Kannst du ermessen, wie sehr ich dich vermisste und mich danach sehnte, bei dir zu sein und dich in deinem Schmerz zu trösten, Liebste?"
"Es tut mir leid", sagte sie leise und schaute ihn an. "Bitte, verzeih mir, dass ich dich fortschickte. Aber ich dachte... nein, ich war nicht imstande, klar zu denken. Stattdessen fühlte ich mich wie betäubt und fürchtete, jeden Augenblick wahnsinnig zu werden."
"Schon gut, ich verstehe dich", erwiderte Aro, küsste sie sanft auf die Stirn und lächelte sie dann breit an. "Meist du, dass du wirklich schon für den nächsten Schritt zwischen uns bereit bist?"
"Alles, was ich dir schrieb, ist mein voller Ernst", versicherte Marguerite ihm. "Mein Onkel reist morgen nach Rochefort ab, um die sterblichen Überreste meiner Tante in unserer Familiengruft beisetzen zu lassen. Das ist mir ganz recht, denn ich betrachte ihn nicht eigentlich als zugehörig zu meiner Familie und habe auch nicht vor, weiteren Kontakt mit ihm zu unterhalten. Doch ich würde mit unserer Trauung gerne noch warten, bis sich Madame de Colignon erholt hat."
"Marcus war gestern bei ihr und berichtete uns, dass es ihr ein wenig besser gehe", antwortete Aro. "Vermutlich haben die unglückseligen Ereignisse sie ebenso wie dich ein wenig mitgenommen."
"Madame ist immer sehr mitfühlend gewesen", meinte die junge Frau und nickte. "Umso mehr freut es mich, dass es ihr besser geht. Dann werde ich also Agnes und Thierry morgen zum Mittagessen einladen und sie fragen, ob sie unsere Trauzeugen sein wollen. Du hast doch nichts dagegen, oder?"
"Aber nein, ich finde die beiden sehr nett. Frag sie ruhig!"
"Wenn sie zustimmen, würde ich gerne so schnell wie möglich heiraten, Aro."
"Wann immer du willst, mein Herz."
"Komm morgen Nachmittag zu mir, dann können ein wenig Zeit allein miteinander verbringen und alles in Ruhe besprechen."
Sie küssten sich inniglich, dann löste sich der dunkelhaarige Vampir aus den Armen seiner Verlobten und meinte: "Es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Dein Onkel soll doch keinen Verdacht schöpfen."
"Du hast recht, Liebster - zum Glück reist er morgen ab."
"Wir sehen uns also morgen, Liebes", versprach Aro, küsste sie erneut und verschwand dann rasch aus dem Raum, während sich Marguerite mit glücklichem Lächeln in einen der breiten Sessel fallen ließ. Trotz der traurigen Ereignisse, die ihr Leben überschatteten, ging es doch weiter und sie wollte sich nicht auf ewig dem Schmerz um den Verlust einer Frau überlassen, der sie verhasst gewesen war. Die Trauerzeit um Tante Adrienne war vorüber und sie richtete den Blick nach vorne auf ihre Zukunft, in der sie in wenigen Tagen Aros Frau sein würde...
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[1] Ein Anwesen, eine Burg oder ein Schloss "schleifen" bedeutete, dass dies dem Erdboden gleichgemacht wird, um damit jede Erinnerung an dieses Adelsgeschlecht auszulöschen.
Kapitel 47
Ein Ende bedeutet, einen neuen Anfang zu wagen.
~ Anonymus ~
~~~~~
In Paris machte es schnell die Runde, was man im Keller des Marquis de Charron, eines Mannes, der bei Hofe ein- und ausgegangen war und dort viele Freunde besaß, vorgefunden hatte, und dies löste in der Bevölkerung und vor allem in adligen Kreisen großes Entsetzen aus.
Sogar die Königin schien über den Vorfall bestürzt, als man es ihr zutrug. Doch nach einer Weile konnte sie nicht umhin, sich insgeheim zu fragen, welche Rolle Baronesse de Lebrunne selbst für eine Rolle innerhalb dieser ominösen schwarzmagischen Sekte gespielt haben mochte. Denn Anna d'Austrice, die jener Frau immer noch nicht vergeben konnte, dass sie sie einst auszuspionieren versucht hatte, hielt sie keinesfalls für das unschuldige Opfer von schwarzen Magiern, als die die Berichte, die überall kursierten, sie hinstellten. Vor allem der Siegelring jenes Rouven Guignot, eines Freundes von Baron de Lebrunne, den man neben dem Altar entdeckte, auf dem die mutmaßlichen Aschereste von Lebrunnes Gemahlin nebst ihrem Ehering gefunden wurden, ließen sie daran zweifeln. Wer wusste schon, was Adrienne de Lebrunne und der Freund ihres Mannes hinter dem Rücken des Barons getrieben haben mochten? Vielleicht waren beide eingeweiht in das Ritual, Guignot womöglich sogar ein Mitglied dieser schwarzmagischen Sekte gewesen und etwas war nicht so verlaufen, wie es vorgesehen war. Womöglich hatte auch die Baronesse selbst diese ominöse Gemeinschaft mit irgendetwas provoziert, besaß die Dame doch kaum Anstand und wenig Contenance, wie ihr durch Kardinal Mazarin zu Ohren gekommen war. Denn anders konnte Anna d'Austrice sich nicht erklären, warum Männer, die sonst immer junge Dienstmädchen bei ihren abstoßenden Ritualen opferten, plötzlich eine ältere Adlige dafür auserwählt haben sollten. Und angesichts der Umstände, unter denen der Ehering der Baronesse wieder auftauchte, erschien der Überfall auf Lebrunne und seine Frau in einem neuen Licht. Wen mochte dieses Paar verärgert haben? Ganz gewiss war dies geplant gewesen, wenn auch im Auftrag von diesem Charron oder einem seiner Freunde.
König Louis selbst, der nichts von dem Verdacht seiner Gemahlin ahnte, ordnete eine genaue Untersuchung des Vorfalls an. Bald darauf wurde festgestellt, dass mehrere Adlige, die entweder bei Hofe dienten oder dort oft verkehrten, unauffindbar verschwunden waren. Ihre Dienstboten, die befragt wurden, gaben mehrheitlich an, dass die Herren eine Einladung zu einem Abendessen bei Marquis de Charron angenommen hatten und nicht zurückgekehrt waren. Grund genug für Seine Majestät, jeden am Hofe, ob er nun ein Amt dort bekleidete oder oft dort verkehrte, sowie alle Freunde, Bekannte und Familienangehörige des Marquis de Charron penibel durch seine Gardisten überpüfen zu lassen, was so weit ging, dass die Betroffenen angeben musste, wann sie zur Kirche gegangen waren oder welcher Priester ihnen die Beichte abgenommen hatte.
Bald wurde klar, dass die verschwundenen Hofleute zu jenen Personen gehörten, die sich immer wieder heimlich mit Charron in dessen Haus trafen, um entgegen dem Verbot des Königs regelmäßig schwarze Messen zu zelebrieren. Dafür sprach auch, dass vor jedem dieser Treffen ein oder zwei Tage vorher ein junges Mädchen verschwand. So fügte sich das Bild endlich zusammen, was vor allem für die Familie des Marquis unschöne Konsequenzen hatte. Ihr Vermögen wurde konfisziert, alle verloren ihre Titel und Ämter und der Familienstammsitz wurde geschleift. [1]
Darüber hinaus schien der König um Comtesse de Rochefort besorgt, glaubte er doch, man habe die Tante der jungen Dame gezielt entführt und geopfert, damit sie aus dem Weg sei und Charron desto leichter die Hand der schönen und wohlhabenden Marguerite bekam. Den Tod von Adrienne de Lebrunne könnte man damit quasi als Warnung an deren Gemahl verstehen, sollte sich dieser Charron als Brautwerber in den Weg stellen. Grund genug für Seine Majestät, sich selbst zum Vormund der jungen Dame zu machen und seine Überlegungen diesbezüglich Kardinal Mazarin unter vier Augen mitzuteilen. Der neue Erste Minister war klug genug, keinen Widerspruch gegen die Eigenmächtigkeit des Königs im Falle von Marguerite de Rochefort zu erheben, versuchte jedoch, ihn mit dem Hinweis zu beruhigen, dass ein Teil seiner Rotgardisten regelmäßig Patrouillen in dem Viertel, in welchem sie derzeit wohne, mache.
"Sehr umsichtig von Euch", lobte Louis. "Aber wäre es nicht besser, das Mädchen für eine Weile an den Hof einzuladen? Ihre Majestät liebt die Gesellschaft der Comtesse und würde sich gewiss auch darüber freuen, sie bei sich und in Sicherheit zu wissen."
"Ihr seid die Güte in Person", erwiderte Mazarin und verneigte sich leicht vor ihm. "Jedoch erlaubt mir die Bemerkung, dass Madame de Colignon ein Auge auf Comtesse de Rochefort hat und mir berichtete, dass sie bereits inoffiziell mit einem ehrenwerten Mann verlobt ist, der selbst seine Dienerschaft als Wächter rund um ihr Haus postiert hat, aber so diskret, dass es kaum jemandem auffällt."
Die Enttäuschung des Königs über diese Mitteilung stand jenem deutlich ins Gesicht geschrieben. Doch er nickte schließlich und meinte: "Na schön, die Aufsicht von Madame de Colignon beruhigt mich ein wenig. Und es... freut mich... ja, es freut mich, dass Comtesse de Rochefort einen so besorgten Bräutigam hat. Steht der Hochzeitstermin schon fest?"
"Darüber weiß ich nichts, Eure Majestät", antwortete der Kardinal aufrichtig und fuhr in der Absicht fort, ihn auf andere Gedanken zu bringen: "Darf ich mir erlauben, Euch zu den Maßnahmen zu gratulieren, die Ihr anordnetet? Damit konnten wir rasch die diabolischen Ränke von de Charron und seiner ebenso sündhaften Gesellen aufdecken."
Der König lächelte und ließ sich auf das Gespräch mit Mazarin ein, der mit ihm erörterte, wie man in Zukunft derartige Umtriebe verhindern könnte...
***
Nachdem die Wirkung des Schlaftrankes verschwunden und Roger de Lebrunne sich mehrere Tage lang im Bett erholen konnte, kam er allmählich wieder zu sich und spürte sogar ein leises Gefühl der Dankbarkeit für seine Nichte, die dafür sorgte, dass man ihn ärztlich versorgte, ihn pflegte und ansonsten in Ruhe ließ. Erst als er wieder bei Kräften war, wurde ein hochrangiger Musketier aus der Garde des Königs zu ihm vorgelassen. Durch ihn erfuhr Roger, was mit seiner Gemahlin geschehen war.
Der Hauptmann zeigte ihm zuerst den Ehering von Adrienne und Baron des Lebrunne bestätigte, dass dieser seiner Frau gehörte. Daraufhin erklärte ihm der Musketier, dass seine Gemahlin tot sei, sprach ihm sein Beileid aus und teilte ihm darüber hinaus mit, dass man die "sterblichen Überreste der Baronesse" in einem Sarg "gebettet" habe, der sich derzeit in einer Kapelle innerhalb der Mauern des Königlichen Palastes befand, da man fürchtete, jemand könne den Sarg stehlen.
"Haltet Ihr es wirklich für möglich, dass ein Mensch so etwas Schlechtes tun könnte?", fragte Roger ungläubig.
"Ach, Monsieur, nachdem ich mit eigenen Augen erblickte, wie es im Keller des Stadthauses von de Charron aussah, halte ich alles für möglich", gestand ihm der Musketier. "Es ist so schrecklich, was man über die Vorfälle, die sich dort unten abspielten, herausfand."
"Was soll denn dort geschehen sein?", erkundigte sich Roger neugierig.
"Hat man Euch noch nicht davon berichtet?"
"Nein, meine Nichte meinte, ich solle mich erholen und sprach wenig mit mir. Aber in der Miene des Mädchens war unschwer zu lesen, dass irgendetwas Unerfreuliches passiert sein muss."
"Womöglich ist Eure junge Nichte noch viel zu entsetzt darüber, was ich nur allzu gut verstehen kann", sagte der Musketier. "Auch denke ich, dass sie nicht in der Lage ist, Euch darüber in Kenntnis zu setzen. Außerdem bat sie mich, ein paar Tage zu warten, ehe ich Euch aufsuche, da Ihr immer noch recht angeschlagen von dem Überfall, den man auf Euch verübte, seid. Deshalb kam ich erst heute her."
"Die Comtesse besitzt ein gutes Herz und ist aufrichtig besorgt um mich", behauptete Lebrunne, den es insgeheim freute, wie Marguerite ihn zu beschützen versucht hatte. Offensichtlich war ihr die Familie nicht gleichgültig. Ein gutes Zeichen.
"Um Eurer Nichte also die Unannehmlichkeit zu ersparen, erlaubt mir, Euch zu berichten, was wir im Keller von de Charron vorfanden. Aber bitte, bereitet Euch auf das Schlimmste vor."
Und so erfuhr Baron de Lebrunne die Geschichte über eine verbotene, heimliche Zusammenkunft des Marquis de Charron und seiner Freunde, die eine schwarze Messe gefeiert und dabei sowohl seine Ehefrau als auch seinen Freund Guignot geopfert hatten. Wie und warum dann ein Feuer ausbrach und es den Schwarzmagiern nicht möglich war, aus ihrer falschen Kapelle zu fliehen, blieb allerdings ein Rätsel.
Diese Geschichte hatte Roger etwas verwirrt und tatsächlich bestürzt. Es war eine Sache, mit einem Freund die Entführung seiner Frau zu planen, damit sie etwas von ihrem Blut opfern sollte, aber etwas ganz anderes, wenn die Frau dabei tatsächlich ums Leben kam und der Anstifter dieses Vorhabens sowie seine geheime Bruderschaft gleich mit. Außerdem glaubte Roger keinen Augenblick daran, dass Guignot ein Opfer war, behielt dies jedoch wohlweislich für sich. Wenn je herauskam, dass er in die Planung dieser Angelegenheit eingeweiht gewesen war, wäre seine Hinrichtung sicher. Doch er hatte noch nicht vor, so schnell aus dem Leben zu treten, sondern wollte andere Pläne verwirklichen. Dennoch spürte er, dass er den Tod Adriennes wirklich bedauerte. Wenigstens wollte er sie nach Hause bringen und anständig beerdigen, bevor er ein neues Kapitel in seinem Leben aufschlug, noch einmal heiratete und einen Sohn zeugte...
***
Einige Tage später hatte sich in Paris die Lage ein wenig beruhigt, nachdem alle Anweisungen des Königs befolgt worden waren. Auch Baron de Lebrunne erholte sich zusehends, wenngleich er einen zerknirschten Eindruck machte. Es wunderte Marguerite kaum, als er wenige Tage, nachdem ihn der Musketier aufgesucht und ihn über das Geschehene in Kenntnis gesetzt hatte, eines Nachmittags zu ihr in den Kleinen Salon kam und um ein Gespräch unter vier Augen bat.
"Ja, natürlich", sagte die junge Frau, die mit einem Buch auf dem Sofa saß, und deutete auf einen Sessel ihr gegenüber. "Bitte, nehmt Platz."
Nachdem Lebrunne sich gesetzt hatte, wandte er sich mit trauriger Miene an seine Nichte: "Ich hätte eine Bitte an Euch und ich hoffe, dass Ihr sie mir nicht abschlagen werdet."
"Worum geht es, Onkel?", erkundigte sie sich, wobei ihr nicht entgangen war, dass der Baron ihr gegenüber einen respektvollen Ton angeschlagen hatte.
"Meine Gattin, Eure Tante, sie... nun ja, sie fühlte sich immer wie eine Rochefort", begann Lebrunne vorsichtig.
"Mag sein, und?"
"Würdet Ihr mir erlauben, dass sie in Eurer Familiengruft beigesetzt wird, wo auch schon ihre Eltern und ihr Bruder ruhen?"
"Natürlich, ich habe nichts dagegen."
"Dann würde ich - Euer Einverständnis vorausgesetzt - bereits morgen mit ihren sterblichen Überresten zu Eurem Stammschloss aufbrechen, um sie dort beisetzen zu lassen", erklärte der Baron. "Der Pfarrer der nächstgelegenen Gemeinde soll eine Messe für sie lesen lassen."
"Ja, das wäre angebracht", stimmte Marguerite ihm zu. "Wer weiß, was das Geschehene mit ihrer Seele angerichtet hat. Wollt Ihr, dass ich Euch nach Rochefort begleite?"
"Nein, nein, das ist nicht nötig", wehrte Lebrunne ab. "Wenn Ihr erlaubt, möchte ich mich in aller Stille und allein von meiner Frau verabschieden. Danach komme ich wieder nach Paris zurück."
"Wollt Ihr nicht lieber auf Euer eigenes Landgut zurückkehren?"
"Ich kann Euch doch unmöglich allein lassen, mein Kind!"
"Seid unbesorgt! Madame de Colignon wird ein Auge auf mich haben, ganz so, wie sie es Kardinal Mazarin versprochen hat", meinte Marguerite sanft. Obwohl sie Mitleid mit dem Baron empfand, wünschte sie sich insgeheim doch, dass er allmählich aus ihrem Leben verschwand. "In ein paar Tagen werde ich ebenfalls nach Rochefort zurückkehren. Aber ich benötige noch einige Zeit, um hier alles zu ordnen, bevor ich mit Madame de Colignon nach Hause fahre."
Die Miene des Barons schien sich bei diesen Worten aufzuhellen.
"Nun, ich verstehe", sagte er und verneigte sich leicht. "In diesem Falle werde ich in Rochefort auf Euch warten, mein Kind."
"Auch das ist nicht nötig", entgegnete sie, immer noch freundlich. "Kardinal Mazarin hat mir geschrieben, dass ich nach dem Tod meiner Tante unter der Vormundschaft des Königs stehe, der Madame de Colignon damit beauftragt hat, mir in allem beizustehen und mich zu unterstützen."
"Aha, das wusste ich nicht", meinte Lebrunne und wirkte überrascht. "Nun, dann scheint ja alles aufs Beste geregelt zu sein. Madame de Colignon ist eine vertrauenswürdige Person. Wie gut, dass sie ein Auge auf Euch haben wird. Aus Eurer Absicht, hier Euren Geburtstag zu feiern, wird es demnach wohl nichts mehr werden?"
"Ich denke nicht", meinte Marguerite. "Nachdem, was mit meiner Tante geschehen ist, möchte ich nur noch so lange in Paris verweilen, bis ich alle meine Angelegenheiten hier geregelt habe."
"Das verstehe ich gut", behauptete Lebrunne. "Nun, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich vorerst bei Euch für alles zu bedanken, was Ihr für mich getan habt."
"Ich bedaure aufrichtig, was geschehen ist", versicherte ihm seine Nichte. "Trotz all des Unheils, das über uns hereinbrach, bin ich froh, dass Euch nichts passiert ist und Ihr Euch wieder ein wenig erholt zu haben scheint."
"Sehr freundlich von Euch", gab der Baron zurück, dann seufzte er tief und fuhr in einem leidenden Ton fort: "Wie sehr wünschte ich, das Geschehene ändern zu können, doch das liegt leider nicht in meiner Macht. Außerdem möchte ich Euch versichern, wie leid es mir tut, dass meine Frau Euch nicht immer freundlich behandelt hat. Glaubt mir, mein Kind, ich tat alles, um sie in dieser Hinsicht ein wenig nachsichtiger mit Euch zu machen."
"Ja, manchmal bemerkte ich dies", meinte Marguerite. "Aber es ist müßig, über Vergangenes zu sprechen, das nun einmal geschehen ist. Wenigstens scheiden wir im Guten, nicht wahr?"
"Gewiss, liebes Kind", beteuerte Lebrunne und neigte leicht sein Haupt vor ihr. "Es wäre mir zudem eine Freude, Euch auf Eurem Heimweg nach Rochefort als Gast auf meinem bescheidenen Landgut begrüßen zu dürfen. Das würde mir wirklich viel bedeuten, Marguerite."
"Wenn es sich so verhält, werde ich versuchen, es einzurichten, Onkel, doch ich kann nichts versprechen. Vergesst nicht, dass ich gemeinsam mit Madame de Colignon reisen werde und nicht über meine liebe Nachbarin bestimmen kann. Aber ich werde sie darum bitten."
"Madame de Colignon ist selbstverständlich auch eingeladen, mein Kind, und ich würde mich freuen, wenn sie und Mademoiselle Lefevre ebenfalls meine Gäste sind."
"Vielen Dank, ich werde es meinen Freundinnen ausrichten", erklärte Marguerite und schenkte ihm den Anflug eines Lächelns.
Roger musste einsehen, dass er sich vorerst damit zufrieden geben musste, bedankte sich bei seiner Nichte erneut für ihre Güte, verneigte sich jetzt leicht und verließ dann den Raum, während ihm die junge Herrin des Hauses nachdenklich hinterher blickte...
*
Roger kehrte in sein Gemach zurück, innerlich ein wenig aufgebracht darüber, dass Marguerite ihm soeben deutlich zu verstehen gegeben hatte, er möge aus ihrem Leben verschwinden. Allerdings musste er einräumen, dass das Mädchen etwas durcheinander zu sein schien und dass ihr Adriennes Tod ziemlich nahe ging. Vermutlich wäre die Kleine gar nicht so erpicht darauf, dass er auf sein eigenes Anwesen zurückkehrte, wenn dieser vermaledeite Mazarin nicht dafür gesorgt hätte, Marguerite unter die Vormundschaft des Königs zu stellen und Seine Majestät dann davon zu überzeugen, Madame de Colignon die Aufsicht über Comtesse de Rochefort zu übertragen. Allerdings neigte die ältere Dame dazu, dem eigenwilligen, jungen Mädchen ihre Freiheiten zu lassen und sie kaum zu kontrollieren.
Zudem könnte es ihm in die Hände spielen, dass Adriennes Tod deren Nichte sehr erschüttert hatte, ungeachtet der Tatsache, dass sich die beiden niemals gut verstanden hatten. Marguerite verbrachte die meiste Zeit allein mit ihrer Freundin Louise und empfing außer der kleinen Fournier und deren Mutter niemanden mehr. Eine Nachricht, die ihm sein persönlicher Diener zutrug, und die Roger überaus erfreute. Offensichtlich verschwendete Marguerite keinen Gedanken mehr an irgendeinen der Volturi-Brüder oder jemand anderen. Es machte ganz den Eindruck, als ob das Mädchen tatsächlich jegliche Lust auf gesellschaftlichen Umgang verloren hatte. Zwar erhielt sie - wie er - viele schriftliche Beileidsbekundungen, aber auch Einladungen von anderen Adligen, die sie aufzumuntern versuchten, die sie alle jedoch mit freundlichen Worten ablehnte und dies mit ihrer Trauer um den Verlust ihrer Tante begründete. Seine Nichte war auch nicht dazu bereit gewesen, einige junge Herren, die persönlich vorsprachen, zu empfangen, was von diesen ohne Murren akzeptiert wurde.
Natürlich war Roger klar gewesen, dass junge Laffen hier antanzen würden, und er befürchtete anfangs, in ihnen eine echte Konkurrenz zu bekommen. Doch aufgrund Marguerites seelischer Angeschlagenheit stellten sie momentan keinerlei Gefahr mehr dar, zumal seine Nichte beabsichtigte, den Haushalt in Paris aufzulösen und nach Rochefort abzureisen. Ausgezeichnet! Sobald Adrienne anständig unter die Erde gebracht war, würde er heimlich hierher zurückkehren, Marguerite seine Hilfe anbieten und - wenn alle Dienstboten aus dem Hause und sie beide allein wären - alles daransetzen, Marguerite mit tröstenden Worten zu umgarnen, ihre Zuneigung zu gewinnen und sie zu verführen. Sie wäre nicht die erste junge Frau, die seinem Charme erlag...
***
Nichtsahnend von den Plänen ihres Onkels, hatte Marguerite eine Weile nach ihrem Gespräch dagesessen und nachgedacht. Louise war heute nach dem Mittagessen zu Madame de Colignon gefahren, um nach ihr zu sehen, und ohne sie fühlte sich völlig verlassen. Sie hatte in den letzten Tagen zwar auch an Aro gedacht und ihn vermisst, aber war völlig außerstande gewesen, sich mit ihm zu treffen. Jetzt allerdings sehnte sie sich nach ihm und erinnerte sich daran, wie fürsorglich er sich ihr gegenüber verhalten hatte und wie besorgt er um sie gewesen war. Gewiss hatte es ihn ein wenig gekränkt, als sie sich vor wenigen Tagen einfach mit Louise auf ihr Zimmer zurückzog. Wie leid ihr das jetzt tat, aber sie hoffte, dass er für ihre Gemütsverfassung Verständnis hätte.
Die junge Frau erhob sich und ging in das Arbeitszimmer, setzte sich dort an den Schreibtisch und verfasste rasch einen Brief an Aro. Kaum hatte sie ihn beendet, faltete sie ihn behutsam und versiegelte ihn dann. Danach ging sie aus dem Zimmer und suchte die Frau namens Renata auf, die freundlicherweise von Aro gebeten worden war, bei ihr im Hause zu bleiben und alle diejenigen abzuwimmeln, die nicht zu ihrem Freundeskreis zählten.
"Mademoiselle Renata", sprach Marguerite die dunkelhaarige Schönheit an, die sich sofort zu ihr umwandte.
"Comtesse, wie geht es Euch?", erkundigte sich die Vampirin in freundlichem Ton, beäugte sie jedoch genau, um abzuschätzen, ob sie nicht wieder zu weinen begann.
"Danke, ich habe mich wieder ein wenig gefangen", antwortete die junge Frau und streckte ihr einen versiegelten Brief entgegen. "Würdet Ihr bitte gleich Conte Aro dieses Schreiben überbringen?"
"Natürlich, wenn Ihr es wünscht", versprach Renata, nahm das Schriftstück entgegen und verneigte sich leicht vor ihr. "Ich versichere Euch, dass ich bald wieder zurück bin, Comtesse."
"Oh, bitte, hetzt Euch nicht, meine Liebe! Sicherlich wird mich heute niemand mehr aufsuchen wollen, nachdem ich einige Tage lang keinen Menschen mehr empfing."
"Täuscht Euch nicht, Comtesse, dieser Monsieur de Hervais sprach bisher jeden Tag hier vor und erkundigte sich nach Eurem Befinden."
"War er heute schon da?"
"Ja, und erneut verwehrte ich ihm den Zutritt."
"Demnach habe ich von ihm keinen Besuch mehr zu erwarten."
"Vermutlich habt Ihr recht, aber ich bin mir nicht sicher, ob dieser junge Mann sich nicht in der Nähe aufhält", meinte Renata. "Jedenfalls werde ich bald wieder hier sein."
Nach diesen Worten verließ die Vampirin das Haus und Marguerite, verwundert über die Dinge, die Aros Bedienstete von sich gab, schaute die Eingangstür an. Dabei wurde ihr allmählich die Bedeutung der Worte klar, die Renata gesagt hatte. Wenn Francois de Hervais jeden Tag vorsprach, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen und zu hoffen, sie persönlich zu sehen, schien er ernste Absichten auf ihre Hand zu haben. Sie sollte besser nicht mehr allzu lange in Paris bleiben oder besser noch, endgültige Tatsachen schaffen... aber gehörte sich das denn, so kurz nach dem Tod ihrer Tante?
Marguerite kehrte in die Bibliothek zurück und überließ sich dort ihren weiteren Gedanken. Es entsprach der Wahrheit, dass ihre Tante und sie sich nicht gemocht und überhaupt nicht verstanden hatten. Doch dass diese von einer geheimen Sekte, die schwarze Magie betrieb, bei einem abscheulichen Ritual ums Leben gebracht wurde, hatte sie zutiefst erschüttert. Dennoch war es nicht ihre Schuld gewesen, hatte sie Tante Adrienne doch niemals den Tod gewünscht, sondern nur, dass sie aus ihrer Vormundschaft befreit wurde. Es würde ihre Tante auch nicht wieder lebendig machen, wenn sie mit ihrer Heirat wartete. Außerdem standen sie beide sich niemals nahe.
Nein! Kein Mensch konnte Anstoß daran nehmen, wenn sie endlich das tat, was sie sich so sehr wünschte - eine kleine, stille Hochzeit nur mit ihren engsten Freunden und Aros Familie. Der Baron reiste morgen ab und dann wollte sie nur noch warten, bis es Madame de Colignon besser ging, ehe sie ihren Plan in die Tat umsetzte... wenn Aro sie denn immer noch wollte... Aber würde er sie noch wollen, nachdem sie ihn vor ein paar Tagen einfach weggeschickt hatte?
*
Aro erwartete Renate in der Nähe von Marguerites Wohnsitz, wo er sich im Schatten der gegenüberliegenden Häuser verborgen hielt, seit seine Braut ihn fortschickte. Jedes Wort, das im Hause gewechselt wurde, hatte er mitbekommen und so auch, dass Lebrunne morgen verschwinden wollte. Es war Balsam für ihn gewesen, als Marguerite ihren Onkel darauf hinwies, er könne wieder auf seinem Landgut leben, sobald er seine Frau beerdigt hatte. Ein gutes Zeichen dafür, dass seine Liebste allmählich wieder zu sich kam; und nun also sollte Renata ihm einen Brief überbringen.
Fast riss er der schönen Vampirin das Schreiben aus der Hand, als sie es ihm reichte, brach rasch das Siegel auf und überflog den Brief. Danach lächelte er und sah zu Renata auf.
"Sie will mich sehen", erklärte er ihr und wirkte glücklich. "Ich werde sofort zu ihr gehen."
"Bitte, Meister, lasst Euch etwas Zeit", ermahnte ihn Renata. "Comtesse de Rochefort würde sich gewiss wundern, wenn Ihr - kaum dass ich das Haus verließ - zu ihr kommt. Soll sie etwa den Eindruck gewinnen, dass Ihr immer in ihrer Nähe wart?"
"Das ist mir völlig gleichgültig", gab Aro zurück, faltete den Brief zusammen, steckte ihn in eine Tasche seines Umhangs und schritt danach zielstrebig auf das Haus zu, in dem Marguerite ihn erwartete...
*
Die Comtesse schritt unruhig in der Bibliothek hin und her, mit einer Mischung zwischen Angst und Ungeduld eine Antwort Aros erwartend. Doch wie sehr staunte sie, als es an die Tür pochte und gleich darauf ihr heimlicher Verlobter vorsichtig öffnete und hereinschaute.
"Aro!", rief sie erfreut aus und lief auf ihn zu, während er eintrat und die Tür hinter sich schloss.
Dann fiel sie ihm um den Hals und er drückte sie an sich.
"Wie sehr habe ich mir ein Wiedersehen mit dir gewünscht", flüsterte der Vampir. "Kannst du ermessen, wie sehr ich dich vermisste und mich danach sehnte, bei dir zu sein und dich in deinem Schmerz zu trösten, Liebste?"
"Es tut mir leid", sagte sie leise und schaute ihn an. "Bitte, verzeih mir, dass ich dich fortschickte. Aber ich dachte... nein, ich war nicht imstande, klar zu denken. Stattdessen fühlte ich mich wie betäubt und fürchtete, jeden Augenblick wahnsinnig zu werden."
"Schon gut, ich verstehe dich", erwiderte Aro, küsste sie sanft auf die Stirn und lächelte sie dann breit an. "Meist du, dass du wirklich schon für den nächsten Schritt zwischen uns bereit bist?"
"Alles, was ich dir schrieb, ist mein voller Ernst", versicherte Marguerite ihm. "Mein Onkel reist morgen nach Rochefort ab, um die sterblichen Überreste meiner Tante in unserer Familiengruft beisetzen zu lassen. Das ist mir ganz recht, denn ich betrachte ihn nicht eigentlich als zugehörig zu meiner Familie und habe auch nicht vor, weiteren Kontakt mit ihm zu unterhalten. Doch ich würde mit unserer Trauung gerne noch warten, bis sich Madame de Colignon erholt hat."
"Marcus war gestern bei ihr und berichtete uns, dass es ihr ein wenig besser gehe", antwortete Aro. "Vermutlich haben die unglückseligen Ereignisse sie ebenso wie dich ein wenig mitgenommen."
"Madame ist immer sehr mitfühlend gewesen", meinte die junge Frau und nickte. "Umso mehr freut es mich, dass es ihr besser geht. Dann werde ich also Agnes und Thierry morgen zum Mittagessen einladen und sie fragen, ob sie unsere Trauzeugen sein wollen. Du hast doch nichts dagegen, oder?"
"Aber nein, ich finde die beiden sehr nett. Frag sie ruhig!"
"Wenn sie zustimmen, würde ich gerne so schnell wie möglich heiraten, Aro."
"Wann immer du willst, mein Herz."
"Komm morgen Nachmittag zu mir, dann können ein wenig Zeit allein miteinander verbringen und alles in Ruhe besprechen."
Sie küssten sich inniglich, dann löste sich der dunkelhaarige Vampir aus den Armen seiner Verlobten und meinte: "Es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Dein Onkel soll doch keinen Verdacht schöpfen."
"Du hast recht, Liebster - zum Glück reist er morgen ab."
"Wir sehen uns also morgen, Liebes", versprach Aro, küsste sie erneut und verschwand dann rasch aus dem Raum, während sich Marguerite mit glücklichem Lächeln in einen der breiten Sessel fallen ließ. Trotz der traurigen Ereignisse, die ihr Leben überschatteten, ging es doch weiter und sie wollte sich nicht auf ewig dem Schmerz um den Verlust einer Frau überlassen, der sie verhasst gewesen war. Die Trauerzeit um Tante Adrienne war vorüber und sie richtete den Blick nach vorne auf ihre Zukunft, in der sie in wenigen Tagen Aros Frau sein würde...
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[1] Ein Anwesen, eine Burg oder ein Schloss "schleifen" bedeutete, dass dies dem Erdboden gleichgemacht wird, um damit jede Erinnerung an dieses Adelsgeschlecht auszulöschen.
Kapitel 47
Ein Ende bedeutet, einen neuen Anfang zu wagen.
~ Anonymus ~
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In Paris machte es schnell die Runde, was man im Keller des Marquis de Charron, eines Mannes, der bei Hofe ein- und ausgegangen war und dort viele Freunde besaß, vorgefunden hatte, und dies löste in der Bevölkerung und vor allem in adligen Kreisen großes Entsetzen aus.
Sogar die Königin schien über den Vorfall bestürzt, als man es ihr zutrug. Doch nach einer Weile konnte sie nicht umhin, sich insgeheim zu fragen, welche Rolle Baronesse de Lebrunne selbst für eine Rolle innerhalb dieser ominösen schwarzmagischen Sekte gespielt haben mochte. Denn Anna d'Austrice, die jener Frau immer noch nicht vergeben konnte, dass sie sie einst auszuspionieren versucht hatte, hielt sie keinesfalls für das unschuldige Opfer von schwarzen Magiern, als die die Berichte, die überall kursierten, sie hinstellten. Vor allem der Siegelring jenes Rouven Guignot, eines Freundes von Baron de Lebrunne, den man neben dem Altar entdeckte, auf dem die mutmaßlichen Aschereste von Lebrunnes Gemahlin nebst ihrem Ehering gefunden wurden, ließen sie daran zweifeln. Wer wusste schon, was Adrienne de Lebrunne und der Freund ihres Mannes hinter dem Rücken des Barons getrieben haben mochten? Vielleicht waren beide eingeweiht in das Ritual, Guignot womöglich sogar ein Mitglied dieser schwarzmagischen Sekte gewesen und etwas war nicht so verlaufen, wie es vorgesehen war. Womöglich hatte auch die Baronesse selbst diese ominöse Gemeinschaft mit irgendetwas provoziert, besaß die Dame doch kaum Anstand und wenig Contenance, wie ihr durch Kardinal Mazarin zu Ohren gekommen war. Denn anders konnte Anna d'Austrice sich nicht erklären, warum Männer, die sonst immer junge Dienstmädchen bei ihren abstoßenden Ritualen opferten, plötzlich eine ältere Adlige dafür auserwählt haben sollten. Und angesichts der Umstände, unter denen der Ehering der Baronesse wieder auftauchte, erschien der Überfall auf Lebrunne und seine Frau in einem neuen Licht. Wen mochte dieses Paar verärgert haben? Ganz gewiss war dies geplant gewesen, wenn auch im Auftrag von diesem Charron oder einem seiner Freunde.
König Louis selbst, der nichts von dem Verdacht seiner Gemahlin ahnte, ordnete eine genaue Untersuchung des Vorfalls an. Bald darauf wurde festgestellt, dass mehrere Adlige, die entweder bei Hofe dienten oder dort oft verkehrten, unauffindbar verschwunden waren. Ihre Dienstboten, die befragt wurden, gaben mehrheitlich an, dass die Herren eine Einladung zu einem Abendessen bei Marquis de Charron angenommen hatten und nicht zurückgekehrt waren. Grund genug für Seine Majestät, jeden am Hofe, ob er nun ein Amt dort bekleidete oder oft dort verkehrte, sowie alle Freunde, Bekannte und Familienangehörige des Marquis de Charron penibel durch seine Gardisten überpüfen zu lassen, was so weit ging, dass die Betroffenen angeben musste, wann sie zur Kirche gegangen waren oder welcher Priester ihnen die Beichte abgenommen hatte.
Bald wurde klar, dass die verschwundenen Hofleute zu jenen Personen gehörten, die sich immer wieder heimlich mit Charron in dessen Haus trafen, um entgegen dem Verbot des Königs regelmäßig schwarze Messen zu zelebrieren. Dafür sprach auch, dass vor jedem dieser Treffen ein oder zwei Tage vorher ein junges Mädchen verschwand. So fügte sich das Bild endlich zusammen, was vor allem für die Familie des Marquis unschöne Konsequenzen hatte. Ihr Vermögen wurde konfisziert, alle verloren ihre Titel und Ämter und der Familienstammsitz wurde geschleift. [1]
Darüber hinaus schien der König um Comtesse de Rochefort besorgt, glaubte er doch, man habe die Tante der jungen Dame gezielt entführt und geopfert, damit sie aus dem Weg sei und Charron desto leichter die Hand der schönen und wohlhabenden Marguerite bekam. Den Tod von Adrienne de Lebrunne könnte man damit quasi als Warnung an deren Gemahl verstehen, sollte sich dieser Charron als Brautwerber in den Weg stellen. Grund genug für Seine Majestät, sich selbst zum Vormund der jungen Dame zu machen und seine Überlegungen diesbezüglich Kardinal Mazarin unter vier Augen mitzuteilen. Der neue Erste Minister war klug genug, keinen Widerspruch gegen die Eigenmächtigkeit des Königs im Falle von Marguerite de Rochefort zu erheben, versuchte jedoch, ihn mit dem Hinweis zu beruhigen, dass ein Teil seiner Rotgardisten regelmäßig Patrouillen in dem Viertel, in welchem sie derzeit wohne, mache.
"Sehr umsichtig von Euch", lobte Louis. "Aber wäre es nicht besser, das Mädchen für eine Weile an den Hof einzuladen? Ihre Majestät liebt die Gesellschaft der Comtesse und würde sich gewiss auch darüber freuen, sie bei sich und in Sicherheit zu wissen."
"Ihr seid die Güte in Person", erwiderte Mazarin und verneigte sich leicht vor ihm. "Jedoch erlaubt mir die Bemerkung, dass Madame de Colignon ein Auge auf Comtesse de Rochefort hat und mir berichtete, dass sie bereits inoffiziell mit einem ehrenwerten Mann verlobt ist, der selbst seine Dienerschaft als Wächter rund um ihr Haus postiert hat, aber so diskret, dass es kaum jemandem auffällt."
Die Enttäuschung des Königs über diese Mitteilung stand jenem deutlich ins Gesicht geschrieben. Doch er nickte schließlich und meinte: "Na schön, die Aufsicht von Madame de Colignon beruhigt mich ein wenig. Und es... freut mich... ja, es freut mich, dass Comtesse de Rochefort einen so besorgten Bräutigam hat. Steht der Hochzeitstermin schon fest?"
"Darüber weiß ich nichts, Eure Majestät", antwortete der Kardinal aufrichtig und fuhr in der Absicht fort, ihn auf andere Gedanken zu bringen: "Darf ich mir erlauben, Euch zu den Maßnahmen zu gratulieren, die Ihr anordnetet? Damit konnten wir rasch die diabolischen Ränke von de Charron und seiner ebenso sündhaften Gesellen aufdecken."
Der König lächelte und ließ sich auf das Gespräch mit Mazarin ein, der mit ihm erörterte, wie man in Zukunft derartige Umtriebe verhindern könnte...
***
Nachdem die Wirkung des Schlaftrankes verschwunden und Roger de Lebrunne sich mehrere Tage lang im Bett erholen konnte, kam er allmählich wieder zu sich und spürte sogar ein leises Gefühl der Dankbarkeit für seine Nichte, die dafür sorgte, dass man ihn ärztlich versorgte, ihn pflegte und ansonsten in Ruhe ließ. Erst als er wieder bei Kräften war, wurde ein hochrangiger Musketier aus der Garde des Königs zu ihm vorgelassen. Durch ihn erfuhr Roger, was mit seiner Gemahlin geschehen war.
Der Hauptmann zeigte ihm zuerst den Ehering von Adrienne und Baron des Lebrunne bestätigte, dass dieser seiner Frau gehörte. Daraufhin erklärte ihm der Musketier, dass seine Gemahlin tot sei, sprach ihm sein Beileid aus und teilte ihm darüber hinaus mit, dass man die "sterblichen Überreste der Baronesse" in einem Sarg "gebettet" habe, der sich derzeit in einer Kapelle innerhalb der Mauern des Königlichen Palastes befand, da man fürchtete, jemand könne den Sarg stehlen.
"Haltet Ihr es wirklich für möglich, dass ein Mensch so etwas Schlechtes tun könnte?", fragte Roger ungläubig.
"Ach, Monsieur, nachdem ich mit eigenen Augen erblickte, wie es im Keller des Stadthauses von de Charron aussah, halte ich alles für möglich", gestand ihm der Musketier. "Es ist so schrecklich, was man über die Vorfälle, die sich dort unten abspielten, herausfand."
"Was soll denn dort geschehen sein?", erkundigte sich Roger neugierig.
"Hat man Euch noch nicht davon berichtet?"
"Nein, meine Nichte meinte, ich solle mich erholen und sprach wenig mit mir. Aber in der Miene des Mädchens war unschwer zu lesen, dass irgendetwas Unerfreuliches passiert sein muss."
"Womöglich ist Eure junge Nichte noch viel zu entsetzt darüber, was ich nur allzu gut verstehen kann", sagte der Musketier. "Auch denke ich, dass sie nicht in der Lage ist, Euch darüber in Kenntnis zu setzen. Außerdem bat sie mich, ein paar Tage zu warten, ehe ich Euch aufsuche, da Ihr immer noch recht angeschlagen von dem Überfall, den man auf Euch verübte, seid. Deshalb kam ich erst heute her."
"Die Comtesse besitzt ein gutes Herz und ist aufrichtig besorgt um mich", behauptete Lebrunne, den es insgeheim freute, wie Marguerite ihn zu beschützen versucht hatte. Offensichtlich war ihr die Familie nicht gleichgültig. Ein gutes Zeichen.
"Um Eurer Nichte also die Unannehmlichkeit zu ersparen, erlaubt mir, Euch zu berichten, was wir im Keller von de Charron vorfanden. Aber bitte, bereitet Euch auf das Schlimmste vor."
Und so erfuhr Baron de Lebrunne die Geschichte über eine verbotene, heimliche Zusammenkunft des Marquis de Charron und seiner Freunde, die eine schwarze Messe gefeiert und dabei sowohl seine Ehefrau als auch seinen Freund Guignot geopfert hatten. Wie und warum dann ein Feuer ausbrach und es den Schwarzmagiern nicht möglich war, aus ihrer falschen Kapelle zu fliehen, blieb allerdings ein Rätsel.
Diese Geschichte hatte Roger etwas verwirrt und tatsächlich bestürzt. Es war eine Sache, mit einem Freund die Entführung seiner Frau zu planen, damit sie etwas von ihrem Blut opfern sollte, aber etwas ganz anderes, wenn die Frau dabei tatsächlich ums Leben kam und der Anstifter dieses Vorhabens sowie seine geheime Bruderschaft gleich mit. Außerdem glaubte Roger keinen Augenblick daran, dass Guignot ein Opfer war, behielt dies jedoch wohlweislich für sich. Wenn je herauskam, dass er in die Planung dieser Angelegenheit eingeweiht gewesen war, wäre seine Hinrichtung sicher. Doch er hatte noch nicht vor, so schnell aus dem Leben zu treten, sondern wollte andere Pläne verwirklichen. Dennoch spürte er, dass er den Tod Adriennes wirklich bedauerte. Wenigstens wollte er sie nach Hause bringen und anständig beerdigen, bevor er ein neues Kapitel in seinem Leben aufschlug, noch einmal heiratete und einen Sohn zeugte...
***
Einige Tage später hatte sich in Paris die Lage ein wenig beruhigt, nachdem alle Anweisungen des Königs befolgt worden waren. Auch Baron de Lebrunne erholte sich zusehends, wenngleich er einen zerknirschten Eindruck machte. Es wunderte Marguerite kaum, als er wenige Tage, nachdem ihn der Musketier aufgesucht und ihn über das Geschehene in Kenntnis gesetzt hatte, eines Nachmittags zu ihr in den Kleinen Salon kam und um ein Gespräch unter vier Augen bat.
"Ja, natürlich", sagte die junge Frau, die mit einem Buch auf dem Sofa saß, und deutete auf einen Sessel ihr gegenüber. "Bitte, nehmt Platz."
Nachdem Lebrunne sich gesetzt hatte, wandte er sich mit trauriger Miene an seine Nichte: "Ich hätte eine Bitte an Euch und ich hoffe, dass Ihr sie mir nicht abschlagen werdet."
"Worum geht es, Onkel?", erkundigte sie sich, wobei ihr nicht entgangen war, dass der Baron ihr gegenüber einen respektvollen Ton angeschlagen hatte.
"Meine Gattin, Eure Tante, sie... nun ja, sie fühlte sich immer wie eine Rochefort", begann Lebrunne vorsichtig.
"Mag sein, und?"
"Würdet Ihr mir erlauben, dass sie in Eurer Familiengruft beigesetzt wird, wo auch schon ihre Eltern und ihr Bruder ruhen?"
"Natürlich, ich habe nichts dagegen."
"Dann würde ich - Euer Einverständnis vorausgesetzt - bereits morgen mit ihren sterblichen Überresten zu Eurem Stammschloss aufbrechen, um sie dort beisetzen zu lassen", erklärte der Baron. "Der Pfarrer der nächstgelegenen Gemeinde soll eine Messe für sie lesen lassen."
"Ja, das wäre angebracht", stimmte Marguerite ihm zu. "Wer weiß, was das Geschehene mit ihrer Seele angerichtet hat. Wollt Ihr, dass ich Euch nach Rochefort begleite?"
"Nein, nein, das ist nicht nötig", wehrte Lebrunne ab. "Wenn Ihr erlaubt, möchte ich mich in aller Stille und allein von meiner Frau verabschieden. Danach komme ich wieder nach Paris zurück."
"Wollt Ihr nicht lieber auf Euer eigenes Landgut zurückkehren?"
"Ich kann Euch doch unmöglich allein lassen, mein Kind!"
"Seid unbesorgt! Madame de Colignon wird ein Auge auf mich haben, ganz so, wie sie es Kardinal Mazarin versprochen hat", meinte Marguerite sanft. Obwohl sie Mitleid mit dem Baron empfand, wünschte sie sich insgeheim doch, dass er allmählich aus ihrem Leben verschwand. "In ein paar Tagen werde ich ebenfalls nach Rochefort zurückkehren. Aber ich benötige noch einige Zeit, um hier alles zu ordnen, bevor ich mit Madame de Colignon nach Hause fahre."
Die Miene des Barons schien sich bei diesen Worten aufzuhellen.
"Nun, ich verstehe", sagte er und verneigte sich leicht. "In diesem Falle werde ich in Rochefort auf Euch warten, mein Kind."
"Auch das ist nicht nötig", entgegnete sie, immer noch freundlich. "Kardinal Mazarin hat mir geschrieben, dass ich nach dem Tod meiner Tante unter der Vormundschaft des Königs stehe, der Madame de Colignon damit beauftragt hat, mir in allem beizustehen und mich zu unterstützen."
"Aha, das wusste ich nicht", meinte Lebrunne und wirkte überrascht. "Nun, dann scheint ja alles aufs Beste geregelt zu sein. Madame de Colignon ist eine vertrauenswürdige Person. Wie gut, dass sie ein Auge auf Euch haben wird. Aus Eurer Absicht, hier Euren Geburtstag zu feiern, wird es demnach wohl nichts mehr werden?"
"Ich denke nicht", meinte Marguerite. "Nachdem, was mit meiner Tante geschehen ist, möchte ich nur noch so lange in Paris verweilen, bis ich alle meine Angelegenheiten hier geregelt habe."
"Das verstehe ich gut", behauptete Lebrunne. "Nun, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich vorerst bei Euch für alles zu bedanken, was Ihr für mich getan habt."
"Ich bedaure aufrichtig, was geschehen ist", versicherte ihm seine Nichte. "Trotz all des Unheils, das über uns hereinbrach, bin ich froh, dass Euch nichts passiert ist und Ihr Euch wieder ein wenig erholt zu haben scheint."
"Sehr freundlich von Euch", gab der Baron zurück, dann seufzte er tief und fuhr in einem leidenden Ton fort: "Wie sehr wünschte ich, das Geschehene ändern zu können, doch das liegt leider nicht in meiner Macht. Außerdem möchte ich Euch versichern, wie leid es mir tut, dass meine Frau Euch nicht immer freundlich behandelt hat. Glaubt mir, mein Kind, ich tat alles, um sie in dieser Hinsicht ein wenig nachsichtiger mit Euch zu machen."
"Ja, manchmal bemerkte ich dies", meinte Marguerite. "Aber es ist müßig, über Vergangenes zu sprechen, das nun einmal geschehen ist. Wenigstens scheiden wir im Guten, nicht wahr?"
"Gewiss, liebes Kind", beteuerte Lebrunne und neigte leicht sein Haupt vor ihr. "Es wäre mir zudem eine Freude, Euch auf Eurem Heimweg nach Rochefort als Gast auf meinem bescheidenen Landgut begrüßen zu dürfen. Das würde mir wirklich viel bedeuten, Marguerite."
"Wenn es sich so verhält, werde ich versuchen, es einzurichten, Onkel, doch ich kann nichts versprechen. Vergesst nicht, dass ich gemeinsam mit Madame de Colignon reisen werde und nicht über meine liebe Nachbarin bestimmen kann. Aber ich werde sie darum bitten."
"Madame de Colignon ist selbstverständlich auch eingeladen, mein Kind, und ich würde mich freuen, wenn sie und Mademoiselle Lefevre ebenfalls meine Gäste sind."
"Vielen Dank, ich werde es meinen Freundinnen ausrichten", erklärte Marguerite und schenkte ihm den Anflug eines Lächelns.
Roger musste einsehen, dass er sich vorerst damit zufrieden geben musste, bedankte sich bei seiner Nichte erneut für ihre Güte, verneigte sich jetzt leicht und verließ dann den Raum, während ihm die junge Herrin des Hauses nachdenklich hinterher blickte...
*
Roger kehrte in sein Gemach zurück, innerlich ein wenig aufgebracht darüber, dass Marguerite ihm soeben deutlich zu verstehen gegeben hatte, er möge aus ihrem Leben verschwinden. Allerdings musste er einräumen, dass das Mädchen etwas durcheinander zu sein schien und dass ihr Adriennes Tod ziemlich nahe ging. Vermutlich wäre die Kleine gar nicht so erpicht darauf, dass er auf sein eigenes Anwesen zurückkehrte, wenn dieser vermaledeite Mazarin nicht dafür gesorgt hätte, Marguerite unter die Vormundschaft des Königs zu stellen und Seine Majestät dann davon zu überzeugen, Madame de Colignon die Aufsicht über Comtesse de Rochefort zu übertragen. Allerdings neigte die ältere Dame dazu, dem eigenwilligen, jungen Mädchen ihre Freiheiten zu lassen und sie kaum zu kontrollieren.
Zudem könnte es ihm in die Hände spielen, dass Adriennes Tod deren Nichte sehr erschüttert hatte, ungeachtet der Tatsache, dass sich die beiden niemals gut verstanden hatten. Marguerite verbrachte die meiste Zeit allein mit ihrer Freundin Louise und empfing außer der kleinen Fournier und deren Mutter niemanden mehr. Eine Nachricht, die ihm sein persönlicher Diener zutrug, und die Roger überaus erfreute. Offensichtlich verschwendete Marguerite keinen Gedanken mehr an irgendeinen der Volturi-Brüder oder jemand anderen. Es machte ganz den Eindruck, als ob das Mädchen tatsächlich jegliche Lust auf gesellschaftlichen Umgang verloren hatte. Zwar erhielt sie - wie er - viele schriftliche Beileidsbekundungen, aber auch Einladungen von anderen Adligen, die sie aufzumuntern versuchten, die sie alle jedoch mit freundlichen Worten ablehnte und dies mit ihrer Trauer um den Verlust ihrer Tante begründete. Seine Nichte war auch nicht dazu bereit gewesen, einige junge Herren, die persönlich vorsprachen, zu empfangen, was von diesen ohne Murren akzeptiert wurde.
Natürlich war Roger klar gewesen, dass junge Laffen hier antanzen würden, und er befürchtete anfangs, in ihnen eine echte Konkurrenz zu bekommen. Doch aufgrund Marguerites seelischer Angeschlagenheit stellten sie momentan keinerlei Gefahr mehr dar, zumal seine Nichte beabsichtigte, den Haushalt in Paris aufzulösen und nach Rochefort abzureisen. Ausgezeichnet! Sobald Adrienne anständig unter die Erde gebracht war, würde er heimlich hierher zurückkehren, Marguerite seine Hilfe anbieten und - wenn alle Dienstboten aus dem Hause und sie beide allein wären - alles daransetzen, Marguerite mit tröstenden Worten zu umgarnen, ihre Zuneigung zu gewinnen und sie zu verführen. Sie wäre nicht die erste junge Frau, die seinem Charme erlag...
***
Nichtsahnend von den Plänen ihres Onkels, hatte Marguerite eine Weile nach ihrem Gespräch dagesessen und nachgedacht. Louise war heute nach dem Mittagessen zu Madame de Colignon gefahren, um nach ihr zu sehen, und ohne sie fühlte sich völlig verlassen. Sie hatte in den letzten Tagen zwar auch an Aro gedacht und ihn vermisst, aber war völlig außerstande gewesen, sich mit ihm zu treffen. Jetzt allerdings sehnte sie sich nach ihm und erinnerte sich daran, wie fürsorglich er sich ihr gegenüber verhalten hatte und wie besorgt er um sie gewesen war. Gewiss hatte es ihn ein wenig gekränkt, als sie sich vor wenigen Tagen einfach mit Louise auf ihr Zimmer zurückzog. Wie leid ihr das jetzt tat, aber sie hoffte, dass er für ihre Gemütsverfassung Verständnis hätte.
Die junge Frau erhob sich und ging in das Arbeitszimmer, setzte sich dort an den Schreibtisch und verfasste rasch einen Brief an Aro. Kaum hatte sie ihn beendet, faltete sie ihn behutsam und versiegelte ihn dann. Danach ging sie aus dem Zimmer und suchte die Frau namens Renata auf, die freundlicherweise von Aro gebeten worden war, bei ihr im Hause zu bleiben und alle diejenigen abzuwimmeln, die nicht zu ihrem Freundeskreis zählten.
"Mademoiselle Renata", sprach Marguerite die dunkelhaarige Schönheit an, die sich sofort zu ihr umwandte.
"Comtesse, wie geht es Euch?", erkundigte sich die Vampirin in freundlichem Ton, beäugte sie jedoch genau, um abzuschätzen, ob sie nicht wieder zu weinen begann.
"Danke, ich habe mich wieder ein wenig gefangen", antwortete die junge Frau und streckte ihr einen versiegelten Brief entgegen. "Würdet Ihr bitte gleich Conte Aro dieses Schreiben überbringen?"
"Natürlich, wenn Ihr es wünscht", versprach Renata, nahm das Schriftstück entgegen und verneigte sich leicht vor ihr. "Ich versichere Euch, dass ich bald wieder zurück bin, Comtesse."
"Oh, bitte, hetzt Euch nicht, meine Liebe! Sicherlich wird mich heute niemand mehr aufsuchen wollen, nachdem ich einige Tage lang keinen Menschen mehr empfing."
"Täuscht Euch nicht, Comtesse, dieser Monsieur de Hervais sprach bisher jeden Tag hier vor und erkundigte sich nach Eurem Befinden."
"War er heute schon da?"
"Ja, und erneut verwehrte ich ihm den Zutritt."
"Demnach habe ich von ihm keinen Besuch mehr zu erwarten."
"Vermutlich habt Ihr recht, aber ich bin mir nicht sicher, ob dieser junge Mann sich nicht in der Nähe aufhält", meinte Renata. "Jedenfalls werde ich bald wieder hier sein."
Nach diesen Worten verließ die Vampirin das Haus und Marguerite, verwundert über die Dinge, die Aros Bedienstete von sich gab, schaute die Eingangstür an. Dabei wurde ihr allmählich die Bedeutung der Worte klar, die Renata gesagt hatte. Wenn Francois de Hervais jeden Tag vorsprach, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen und zu hoffen, sie persönlich zu sehen, schien er ernste Absichten auf ihre Hand zu haben. Sie sollte besser nicht mehr allzu lange in Paris bleiben oder besser noch, endgültige Tatsachen schaffen... aber gehörte sich das denn, so kurz nach dem Tod ihrer Tante?
Marguerite kehrte in die Bibliothek zurück und überließ sich dort ihren weiteren Gedanken. Es entsprach der Wahrheit, dass ihre Tante und sie sich nicht gemocht und überhaupt nicht verstanden hatten. Doch dass diese von einer geheimen Sekte, die schwarze Magie betrieb, bei einem abscheulichen Ritual ums Leben gebracht wurde, hatte sie zutiefst erschüttert. Dennoch war es nicht ihre Schuld gewesen, hatte sie Tante Adrienne doch niemals den Tod gewünscht, sondern nur, dass sie aus ihrer Vormundschaft befreit wurde. Es würde ihre Tante auch nicht wieder lebendig machen, wenn sie mit ihrer Heirat wartete. Außerdem standen sie beide sich niemals nahe.
Nein! Kein Mensch konnte Anstoß daran nehmen, wenn sie endlich das tat, was sie sich so sehr wünschte - eine kleine, stille Hochzeit nur mit ihren engsten Freunden und Aros Familie. Der Baron reiste morgen ab und dann wollte sie nur noch warten, bis es Madame de Colignon besser ging, ehe sie ihren Plan in die Tat umsetzte... wenn Aro sie denn immer noch wollte... Aber würde er sie noch wollen, nachdem sie ihn vor ein paar Tagen einfach weggeschickt hatte?
*
Aro erwartete Renate in der Nähe von Marguerites Wohnsitz, wo er sich im Schatten der gegenüberliegenden Häuser verborgen hielt, seit seine Braut ihn fortschickte. Jedes Wort, das im Hause gewechselt wurde, hatte er mitbekommen und so auch, dass Lebrunne morgen verschwinden wollte. Es war Balsam für ihn gewesen, als Marguerite ihren Onkel darauf hinwies, er könne wieder auf seinem Landgut leben, sobald er seine Frau beerdigt hatte. Ein gutes Zeichen dafür, dass seine Liebste allmählich wieder zu sich kam; und nun also sollte Renata ihm einen Brief überbringen.
Fast riss er der schönen Vampirin das Schreiben aus der Hand, als sie es ihm reichte, brach rasch das Siegel auf und überflog den Brief. Danach lächelte er und sah zu Renata auf.
"Sie will mich sehen", erklärte er ihr und wirkte glücklich. "Ich werde sofort zu ihr gehen."
"Bitte, Meister, lasst Euch etwas Zeit", ermahnte ihn Renata. "Comtesse de Rochefort würde sich gewiss wundern, wenn Ihr - kaum dass ich das Haus verließ - zu ihr kommt. Soll sie etwa den Eindruck gewinnen, dass Ihr immer in ihrer Nähe wart?"
"Das ist mir völlig gleichgültig", gab Aro zurück, faltete den Brief zusammen, steckte ihn in eine Tasche seines Umhangs und schritt danach zielstrebig auf das Haus zu, in dem Marguerite ihn erwartete...
*
Die Comtesse schritt unruhig in der Bibliothek hin und her, mit einer Mischung zwischen Angst und Ungeduld eine Antwort Aros erwartend. Doch wie sehr staunte sie, als es an die Tür pochte und gleich darauf ihr heimlicher Verlobter vorsichtig öffnete und hereinschaute.
"Aro!", rief sie erfreut aus und lief auf ihn zu, während er eintrat und die Tür hinter sich schloss.
Dann fiel sie ihm um den Hals und er drückte sie an sich.
"Wie sehr habe ich mir ein Wiedersehen mit dir gewünscht", flüsterte der Vampir. "Kannst du ermessen, wie sehr ich dich vermisste und mich danach sehnte, bei dir zu sein und dich in deinem Schmerz zu trösten, Liebste?"
"Es tut mir leid", sagte sie leise und schaute ihn an. "Bitte, verzeih mir, dass ich dich fortschickte. Aber ich dachte... nein, ich war nicht imstande, klar zu denken. Stattdessen fühlte ich mich wie betäubt und fürchtete, jeden Augenblick wahnsinnig zu werden."
"Schon gut, ich verstehe dich", erwiderte Aro, küsste sie sanft auf die Stirn und lächelte sie dann breit an. "Meist du, dass du wirklich schon für den nächsten Schritt zwischen uns bereit bist?"
"Alles, was ich dir schrieb, ist mein voller Ernst", versicherte Marguerite ihm. "Mein Onkel reist morgen nach Rochefort ab, um die sterblichen Überreste meiner Tante in unserer Familiengruft beisetzen zu lassen. Das ist mir ganz recht, denn ich betrachte ihn nicht eigentlich als zugehörig zu meiner Familie und habe auch nicht vor, weiteren Kontakt mit ihm zu unterhalten. Doch ich würde mit unserer Trauung gerne noch warten, bis sich Madame de Colignon erholt hat."
"Marcus war gestern bei ihr und berichtete uns, dass es ihr ein wenig besser gehe", antwortete Aro. "Vermutlich haben die unglückseligen Ereignisse sie ebenso wie dich ein wenig mitgenommen."
"Madame ist immer sehr mitfühlend gewesen", meinte die junge Frau und nickte. "Umso mehr freut es mich, dass es ihr besser geht. Dann werde ich also Agnes und Thierry morgen zum Mittagessen einladen und sie fragen, ob sie unsere Trauzeugen sein wollen. Du hast doch nichts dagegen, oder?"
"Aber nein, ich finde die beiden sehr nett. Frag sie ruhig!"
"Wenn sie zustimmen, würde ich gerne so schnell wie möglich heiraten, Aro."
"Wann immer du willst, mein Herz."
"Komm morgen Nachmittag zu mir, dann können ein wenig Zeit allein miteinander verbringen und alles in Ruhe besprechen."
Sie küssten sich inniglich, dann löste sich der dunkelhaarige Vampir aus den Armen seiner Verlobten und meinte: "Es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Dein Onkel soll doch keinen Verdacht schöpfen."
"Du hast recht, Liebster - zum Glück reist er morgen ab."
"Wir sehen uns also morgen, Liebes", versprach Aro, küsste sie erneut und verschwand dann rasch aus dem Raum, während sich Marguerite mit glücklichem Lächeln in einen der breiten Sessel fallen ließ. Trotz der traurigen Ereignisse, die ihr Leben überschatteten, ging es doch weiter und sie wollte sich nicht auf ewig dem Schmerz um den Verlust einer Frau überlassen, der sie verhasst gewesen war. Die Trauerzeit um Tante Adrienne war vorüber und sie richtete den Blick nach vorne auf ihre Zukunft, in der sie in wenigen Tagen Aros Frau sein würde...
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[1] Ein Anwesen, eine Burg oder ein Schloss "schleifen" bedeutete, dass dies dem Erdboden gleichgemacht wird, um damit jede Erinnerung an dieses Adelsgeschlecht auszulöschen.
Kapitel 48
Wenn jeder Mensch einen anderen Menschen glücklich macht,
wäre die ganze Welt in kurzer Zeit glücklich.
~ Anonymus~
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Bereits früh am nächsten Tag verabschiedete sich Baron de Lebrunne von seiner Nichte, um mit den sterblichen Überresten seiner Gattin nach Rochefort aufzubrechen, bedankte sich ein weiteres Mal bei ihr und bat sie erneut darum, ihn auf seinem Landgut zu besuchen. Genau wie gestern hielt sich Marguerite bei der Antwort bedeckt, verwies darauf, Rücksicht auf Madame de Colignon nehmen zu müssen und wünschte ihm eine gute Reise. Sie war erleichtert, als die Kutsche mit ihm endlich abfuhr, und fest davon überzeugt, ihn nie wiederzusehen.
Bedauerlicherweise hatte sie mit ihrem Onkel allein am Frühstückstisch gesessen, da Louise ihr gestern am späten Nachmittag eine Nachricht schickte, um sie darüber zu informieren, dass sie noch eine Weile bei Madame de Colignon bleiben würde. Die ältere Dame war etwas erkältet, aber bereits auf dem Wege der Besserung, dennoch hielt Louise es für angebracht, sie selbst zu pflegen. Marguerite war damit einverstanden, gab ihr dies doch Gelegenheit, heute Nachmittag endlich für eine längere Zeit allein mit Aro zusammen zu sein. Für diese Aussicht ließ sie gerne das Gefasel ihres Onkels über sich ergehen, der sich von seinem Schock prächtig erholt zu haben schien und den ganzen Morgen viel redete. Nochmals schilderte er in detailreichen Ausschmückungen den Überfall der Banditen auf seine Frau und ihn und sparte nicht damit zu betonen, wie gefährlich es für eine junge Dame sei, sich allzu lange ohne jegliche männliche Obhut in Paris aufzuhalten. Natürlich ahnte Marguerite, dass er ihr damit Furcht einflößen wollte, um sie dazu zu bringen ihn zu bitten, bald wieder zu ihr in die Hauptstadt zurückzukehren. Allerdings tat sie nichts dergleichen, obwohl der Baron sich tatsächlich große Mühe gab, sie mit den gefährlichen Banditen, die für schwarze Magier Auftragsarbeiten erledigten, einzuschüchtern.
"Lieber Onkel, Ihr macht Euch viel zu große Sorgen um mich", beendete sie diese Ausführungen schließlich in freundlichem Ton. "Aber ich versichere Euch, dass mir Kardinal Mazarin unmissverständlich zu verstehen gab, dass ich als ein Mündel des Königs bis zu meiner Heirat unter einem besonderen Schutz stehe. Es ist also zu vermuten, dass in der Nähe meiner Wohnung Personen postiert wurden, damit mir nichts geschieht. Somit könnt Ihr unbesorgt nach Rochefort fahren, Eure Gemahlin beerdigen lassen und danach auf Euer eigenes Anwesen zurückkehren. Ich werde auch nicht mehr allzu lange in Paris verweilen."
Nach diesen Worten ließ Baron de Lebrunne seine Erzählungen von dem Überfall bleiben, um danach darüber zu sprechen, wie unbegreiflich es für ihn sei, dass Charron ausgerechnet seine Frau als Opfer auserwählt habe, obwohl er weder sie noch ihn persönlich kannte. Auch dass sein Freund Guignot sterben musste, sei ihm unverständlich. Ihm sei völlig schleierhaft, was jener im Hause Charrons zu suchen hatte und gleichfalls geopfert wurde, obwohl er ein Mann war.
"Seine Majestät hat Personen beauftragt, diese und andere Fragen zu klären", gab Marguerite nach diesen Ausführungen zurück, in der Hoffnung, damit endlich den Redeschwall ihres Onkels beenden zu können. "Es tut mir sehr leid, was mit Tante Adrienne und Monsieur Guignot passiert ist, doch hat es keinen Sinn, weiter darüber zu spekulieren. Das Geschehene können wir nicht ändern, sondern lediglich alles dafür tun, damit die Seelen der uns Nahestehenden Frieden finden. Deshalb wünsche ich Euch eine gute Reise auf dem Weg, um die sterblichen Überreste Eurer Gemahlin zur letzten Ruhestätte unserer Familie zu bringen und dort in der Gruft beisetzen zu lassen. Sobald ich nach Hause zurückkehre, werde ich ebenfalls eine Messe für die lesen lassen."
"Habt Dank für diese Freundlichkeit, mein liebes Kind", erwiderte der Baron. "Darüber hinaus möchte ich Euch versichern, dass Ihr Euch immer an mich wenden könnt, wenn Ihr Hilfe braucht."
Ohne dieses Anerbieten zu beantworten, nickte Marguerite ihm zu und atmete innerlich auf, als er sich kurz danach verabschiedete, um nach Rochefort aufzubrechen. Rasch bestellte sie eine Bedienstete zu sich und ordnete an, dass heute pünktlich um halb eins das Essen auf dem Tisch stehen sollte, da sie zwei Gäste erwartete. Innerlich freute sie sich schon darauf, Agnes und Thierry wiederzusehen, die sie mittlerweile sehr lieb gewonnen hatte.
Um etwa zwölf Uhr traf das junge Brautpaar ein und Marguerite ließ im Kleinen Salon, in den sie die beiden hereinbat, einen leichten Weißwein servieren. Danach setzten sie sich zusammen und die junge Hausherrin beschloss, ihre neuen Freunde von ihrem baldigen Vorhaben zu informieren.
"Es freut mich, dass Ihr beiden meiner Einladung so rasch gefolgt seid", begann die Comtesse. "Auch muss ich mich noch bei Euren Eltern dafür bedanken, dass sie Euch allein zu mir kommen ließen, Agnes."
"Meine Eltern vertrauen Euch vollkommen", antwortete das Mädchen. "Sie halten große Stücke auf Euch und waren der Meinung, dass Ihr momentan jede Art von Zerstreuung braucht, um über die traurigen Umstände hinwegzukommen."
"Das ist sehr freundlich von Euren Eltern und ich bin mir sicher, sie hätten nichts dagegen einzuwenden, dass ich auch Euren Verlobten zu mir einlud."
"Dagegen hätten sie absolut nichts", bejahte Agnes und tauschte mit Thierry einen verliebten Blick aus. "Wenn es nach meinen Eltern ginge, könnten wir schon morgen heiraten, aber ich wünsche mir eine große Feier und deshalb findet diese im Frühling statt, vor oder nach Ostern, da sind wir uns noch nicht einig."
"Eine schöne Jahreszeit, um den Bund fürs Leben zu schließen", gab Marguerite lächelnd zurück. "Allerdings will ich damit nicht so lange warten."
Agnes und Thierry starten die Comtesse an, dann fragte das junge Mädchen erstaunt: "Soll das etwa heißen, dass Ihr bald heiraten wollt?"
"Ja, das habt Ihr richtig verstanden", bestätigte die Herrin des Hauses. "Genauer gesagt, wird meine Hochzeit noch im Januar stattfinden."
"Welch eine Überraschung!", entfuhr es Agnes, dann strahlte sie über das ganze Gesicht. "Wisst Ihr schon, an welchem Tage?"
"Nein, darüber werde ich mit meinem Bräutigam erst heute Nachmittag sprechen. Aber er meinte, wenn ich es wollte, könnte dies sehr rasch gehen."
"Und der Glücklich ist wohl... Conte Aro?"
"Ja, Agnes, aber das habt Ihr wohl schon geahnt, nicht wahr?"
"Herzlichen Glückwunsch, Comtesse", sagte nun Thierry. "Doch ist es vor einer Eheschließung nicht üblich, dass man sich verlobt?"
"Ihr habt selbstverständlich recht", stimmte ihm Marguerite zu. "Allerdings sind Conte Aro und ich schon seit längerem heimlich verlobt und haben auch schon einen Ehevertrag geschlossen, dem zwei Zeugen beiwohnten. Einer davon ist Madame de Colignon, die mich in dieser Hinsicht vollkommen unterstützt hat."
"Wenn ich das richtig verstehe, wussten also weder Eure Tante noch Euer Onkel davon?"
"So ist es! Meine Tante hätte niemals ihre Zustimmung zu dieser Verbindung gegeben, obwohl Conte Aro vom gesellschaftlichen Stand durchaus eine angemessene Partie für mich darstellt."
"Warum war Eure Tante dann gegen diese Verbindung?"
"Wenn es stimmt, was mein Onkel mir gestand, wollte sie mich mit Monsieur de Guignot verheiraten, den ich absolut nicht ausstehen konnte!"
"Wie bitte?!", entfuhr es Agnes und Thierry gleichzeitig und sie starrten Marguerite ungläubig an.
"Nun ja, ich weiß nicht, ob das, was mein Onkel mir sagte, tatsächlich der Wahrheit entspricht. Doch wenn dem so gewesen ist, hätte das mein Ansehen beschmutzt", erklärte Marguerite. "Guignot war weder adelig noch besaß er ein großes Vermögen, aber dessen ungeachtet empfinde ich es weitaus bedenklicher, dass meine Tante ernsthaft jemanden als Ehemann für mich in Erwägung zog, der in Paris den Ruf eines Lüstlings genoss!"
"Vielleicht war der Ruf dieses Mannes Eurer Tante nicht bekannt?", wandte Thierry ein.
"Glaubt mir, sie wusste davon", gab die Comtesse zurück.
"Warum wünschte sie dann, dass dieser Mann Euch heiratet?", fragte der junge Mann verwundert.
"Es mag sich seltsam anhören, aber meine Tante hasste mich, schätzte Guignot jedoch über alles", erklärte Marguerite. "Vermutlich wünschte sie sich, dass er ständig in ihrer und der Nähe ihres Mannes lebte. Meine Empfindungen und auch mein Ruf waren ihr dabei völlig gleichgültig."
"Kaum zu glauben", wunderte sich Thierry, der sichtlich erschüttert wirkte. "Bei einer Heirat hätte er gewiss nach Gutdünken über Euer Vermögen verfügen können, was doch bestimmt nicht dem Wunsche Eurer Tante entsprechen konnte."
"Vermutlich hatten sie und Ihr Gemahl schon einen Ehevertrag formuliert, der die beiden absicherte", meinte die Comtesse. "Anders kann ich mir nicht erklären, warum sie ausgerechnet auf Guignot als potentiellen Ehemann für mich kamen. Meine Tante hat sich von Anfang an als Herrin von Rochefort aufgespielt und wollte ganz sicher nicht die Verfügungsgewalt über mein Vermögen verlieren."
"Das ist allerdings sehr bedenklich", stimmte der junge Mann zu und schüttelte den Kopf. "Denkt Ihr wirklich, dass die Baronesse etwas Derartiges vorhatte?"
"Jedenfalls behauptet mein Onkel dies", erwiderte Marguerite. "Allerdings erzählte er mir dies, bevor der Überfall auf seine Frau und ihn stattfand."
"Demnach muss es also gar nicht der Wahrheit entsprechen?"
"Nein, obwohl mir schleierhaft ist, weshalb mein Onkel so etwas behaupten sollte. Das ergibt keinen Sinn für mich."
"Bestimmt wollte er Euch nur einschüchtern", mutmaßte Agnes. "Verzeiht mir bitte, wenn ich das jetzt sage, Comtesse, aber wir alle kannten die Baronesse gut und vielleicht hat Euer Onkel nur so etwas zu Euch gesagt, weil seine Frau sich mal wieder über Euch beschwerte."
"Ach? Mir war nicht bekannt, dass Außenstehende davon wussten. Hat meine Tante etwas darüber verlauten lassen?"
"Nun, Eure Tante sprach bei gesellschaftlichen Zusammenkünften zwar nie direkt schlecht über Euch, allerdings sprach ihr Gesichtsausdruck Bände, wenn Sie Euch beobachtete oder wenn jemand in ihrer Nähe Euch lobte", erklärte Agnes. "Außerdem dürfte Guignot, als Vertrauter Eurer Verwandten und als der von ihnen für Euch auserwählte Ehekandidat, davon gewusst haben."
"Ja, das glaube ich auch", stimmte Marguerite ihrer jüngeren Freundin zu. "Glücklicherweise gehört all das nun der Vergangenheit an, selbst wenn die Umstände, durch die sowohl meine Tante als auch Guignot ums Leben kamen, sehr unerfreulich und im Falle meiner Verwandten für mich persönlich äußerst schmerzlich sind. - Doch eine Frage habe ich noch: Findet Ihr, dass es unangebracht ist, wenn ich so kurz nach dem Tod meiner Tante heirate?"
"Aber nein!", versicherte Agnes ihr rasch. "Das gilt doch nur für Ihren Ehemann, der anstandshalber ein Jahr warten sollte, ehe er sich erneut mit einer anderen Frau verbindet. In Eurem Fall kommt noch hinzu, dass Ihr minderjährig seid und ein Ehemann Euch Schutz bietet. Niemand wird sich daran stören, dass Ihr Conte Aro zum Manne nehmt."
"Und wie seht Ihr das, Thierry?"
"Ich stimme Agnes völlig zu, Comtesse."
"Demnach seid Ihr also mit der Wahl meines Ehemannes einverstanden?"
Die beiden jungen Leute nickten.
"Wenn das so ist, bitte ich Euch, unsere Trauzeugen zu sein", erklärte Marguerite.
"Ja, sehr gerne", sagte Agnes sofort.
"Mit dem größten Vergnügen", antwortete Thierry.
"Es freut mich sehr, dass Ihr einverstanden seid", fuhr die Comtesse fort. "Und ich bin Euch außerdem für Euren Rat überaus dankbar."
"Nennt uns nur den Tag Eurer Hochzeit, wir werden da sein", versprach der junge Mann.
"Heute Nachmittag werde ich mit Aro alles besprechen", sagte Marguerite, die bei diesen Worten wieder glücklich wirkte. "Ich kann es wirklich kaum erwarten, seine Frau zu werden."
"Das verstehe ich nur allzu gut", pflichtete Agnes ihr bei. "Wo werdet Ihr nach Eurer Heirat leben? In Frankreich oder in Italien?"
"Das weiß ich noch nicht, vielleicht reisen wir erst einmal eine Weile in der Welt herum. Darum habe ich Aro gebeten und er versprach es mir."
"Aber Ihr werdet doch bestimmt zu unserer Hochzeit kommen, nicht wahr?", fragte das junge Mädchen.
"Natürlich, darauf freue ich mich sehr", erwiderte Marguerite.
"Ist es nicht schön, wie sich die Dinge so wunderbar zusammenfügen?", seufzte Agnes verträumt. "Wenn doch alles so einfach wäre."
"Nun, ich glaube, mein Leben wird in Zukunft etwas weniger kompliziert sein als in den letzten Monaten", meinte Marguerite und erhob sich. "Kommt, lasst uns zu Tisch gehen. Das Mittagessen wird sicher in wenigen Augenblicken serviert werden."
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Die Comtesse hob kurz ihre Augenbrauen und erklärte amüsiert: "Sagte ich es nicht?"
Agnes und Thierry lachten, als das Dienstmädchen eintrat und meldete: "Das Essen ist fertig!"
***
Am Nachmittag des gleichen Tages lag Madame de Colignon halb auf dem Sofa im Wohnzimmer ihres Stadthauses und ließ sich von Louise, die auf der freien Stelle neben ihr saß, alle Einzelheiten berichten, die man bisher über das Verschwinden der Baronesse de Lebrunne und dem ominösen Fund im Hause des Marquis de Charron herausgefunden hatte. Mit ungläubigem Blick lauschte die alte Dame den Spekulationen, die in Paris kursierten, als einer ihrer Bediensteten zaghaft klopfte und meldete, dass die Conte di Volturi gekommen seien.
"Ich lasse bitten", sagte die Herrin des Hauses und lächelte etwas. Bereits gestern schon hatte Conte Marcus vorgesprochen, sich nach ihrem Befinden erkundigt und angefragt, ob er etwas für sie tun könne. Die Mitteilung Louises darüber freute sie insgeheim und auch jetzt spürte sie, dass ihr Herz klopfte wie damals, als sie ein junges Mädchen war. Konnte es tatsächlich möglich sein, dass sie mehr als Freundschaft für den älteren Bruder der drei italienischen Grafen zu empfinden begann? Himmel, sie war doch keine 16 Jahre mehr... töricht, und dennoch...
Ihre Gedanken wurden durch den Eintritt von Marcus und seinem jüngeren Bruder Caius unterbrochen, denen sie sogleich ihre Aufmerksamkeit schenkte.
"Bitte verzeiht mir, meine Herren, dass ich mich heute noch nicht erheben kann, um Euch auf angemessene Weise zu begrüßen", entschuldigte sich Madame de Colignon bei ihnen. "Mein Arzt empfahl mir, mich noch zu schonen und erlaubte mir lediglich, mich im Wohnzimmer aufzuhalten."
"Geht es Euch wirklich schon etwas besser?", erkundigte sich Marcus mit besorgter Miene.
"Aber ja, mein Lieber, kein Grund zur Sorge", beruhigte sie ihn und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. "Ich fühle mich ganz gut, aber ich darf mich nicht übermäßig anstrengen - und meine liebe Louise passt auf, dass ich mich an die Anweisungen des Arztes halte."
"Ich bin sehr froh, dass Louise auf Euch achtet, Amelie", antwortete Marcus und lächelte die junge Gesellschafterin an. "Habt vielen Dank für Eure Fürsorge, mein liebes Kind. Bitte, erlaubt mir, für eine Weile Euren Platz neben Madame de Colignon einzunehmen."
"Selbstverständlich", gab die junge Frau zurück und erhob sich, ihm ihren Platz einräumend. Gleich danach gesellte sie sich an die Seite von Caius, der neben seinem Bruder gestanden hatte.
Nachdem der blonde Vampir Louise ein kurzes Lächeln schenkte, wandte er sich sogleich an die Herrin des Hauses und sagte: "Mich freut es auch, dass es Euch besser geht, Madam."
Nach diesen Worten verneigte er sich vor der älteren Dame und fuhr fort. "Wenn Ihr erlaubt, möchte ich Euch ein wenig auf dem Spinett vorspielen."
"Eine hübsche Idee", meinte Madame de Colignon und nickte. "Sehr freundlich von Euch."
"Würdet Ihr so gut sein, mir dabei Gesellschaft zu leisten, Louise?", wandte sich Caius danach an seine Scheinverlobte.
"Natürlich", gab die junge Frau zurück und begleitete ihn zu dem Instrument, vor dem er sich niederließ und begann einige der Notenblätter, die darauf lagen, durchzusehen. Madame de Colignon und Marcus achteten nicht auf ihn, sondern waren damit beschäftigt, sich miteinander zu unterhalten. Diese Gelegenheit nutzte Caius, um Louise zuzuraunen: "Wie schön, dass wir endlich mal wieder zusammen sind, meine Liebe, denn ich gestehe, dass ich Eure Gesellschaft genieße und tatsächlich etwas vermisse, wenn wir uns einige Zeit nicht sehen."
"Ihr seid sehr freundlich, Caius, aber mir wäre es lieber, wenn Ihr nicht solche Worte an mich richten würdet", murmelte Louise.
"Es tut mir leid, wenn Euch meine Ehrlichkeit unangenehm ist, aber ich kann wirklich nichts dafür, dass meine Sympathie für Euch von Tag zu Tag wächst", flüsterte er in entschuldigendem Ton. "Eure liebenswürdige Art nimmt mich nun einmal für Euch ein, Louise, und ich kann sehr gut verstehen, dass Comtesse Marguerite Eure Freundschaft über alles schätzt. So ist es auch mit mir. Sagt, wollt Ihr wirklich den jungen Mann heiraten, mit dem Ihr Euch heimlich verlobtet?"
"Natürlich, Caius, das wisst Ihr und Ihr habt mir versprochen, Euch dem nicht in den Weg zu stellen", erinnerte sie ihn. "Ihr gabt mir Euer Wort als Ehrenmann, dass wir uns nur zum Schein verloben, damit mich keiner der edlen Herren bei Hofe belästigt. Das habt ihr doch hoffentlich nicht vergessen?"
"Nein, natürlich nicht! Und ich werde mein Wort halten!", erwiderte der blonde Jüngling. "Aber Ihr dürft mir nicht verübeln, dass ich mich hin und wieder vergewissere, ob sich Eure Gefühle nicht doch geändert haben. Nur ein Wort von Euch und ich bin ganz der Eure, Louise. Glaubt mir, ich hätte nichts dagegen, wenn wir unsere Beziehung vertiefen würden, denn ich mag Euch sehr."
"Eure Worte bringen mich in Verlegenheit, Caius, denn ich liebe nach wie vor nur meinen echten Verlobten. Tut mir leid, wenn Euch diese Wahrheit schmerzt, aber Ihr wusstet von Anfang an, dass ich jemand anderen liebe."
"Ihr habt recht, verzeiht mir bitte", meinte er und legte mehrere Notenblätter auf die dafür vorgesehene Ablagefläche über der Tastatur. "Entschuldigt, dass meine Zunge manchmal ausplaudert, wie es mir ums Herz ist, auch wenn ich mir jedes Mal vornehme, zu schweigen."
"Dass ich dermaßen starke Gefühle in Euch hervorrufe, tut mir sehr leid, denn das lag niemals in meiner Absicht und es quält auch mich, dass die Liebe zu meinem Verlobten Euch unglücklich macht. Deshalb bitte ich Euch inständig, nicht immer wieder nachzufragen, ob sich meine Empfindungen Euch zugewandt haben. Ihr seid mir ein guter Freund geworden und ich bin Euch dankbar dafür, dass Ihr mich beschützen wollt - aber mehr möchte ich wirklich nicht von Euch, Caius. Bitte, respektiert dies."
"Ich wollte Euch wirklich niemals quälen, bitte glaubt mir das, Louise. Das Einzige, was ich mit meinen Fragen bezweckte, war die Vergewisserung Euer Empfindungen, da mir Euer Glück wirklich am Herzen liegt - denn ich habe Euch sehr liebgewonnen", erwiderte Caius. "Da meine Brüder und ich bald wieder nach Italien zurückkehren werden, drängte sich mir die Erkenntnis schmerzhaft auf, wie bald wir voneinander Abschied nehmen müssen und uns vermutlich danach eine lange Zeit oder gar nicht mehr wiedersehen. Nur deshalb sah ich mich gezwungen, mich nochmals bei Euch zu erkundigen, ob sich Eure Gefühle geändert haben. Nun ist zwischen uns jedoch alles klar und deshalb wird mir die uns verbleibende Zeit miteinander sehr wertvoll sein. Sobald wir in die Heimat aufbrechen, werde ich Euch zu vermissen beginnen, dessen seid gewiss. Und noch eines kann ich Euch versprechen: Selbst wenn wir uns nie mehr begegnen werden, bleibt Ihr mir auf ewig in Erinnerung als eine liebenswürdige, kluge, junge Dame, die für mich mehr Wert besitzt als all die eingebildeten, adligen Hofschranzen, die Euch nicht das Wasser reichen können. Vergesst nie, welch ein wertvoller Mensch Ihr seid, Louise! Und ich hoffe wirklich sehr, dass Euer zukünftiger Mann immer zu schätzen weiß, welch eine wundervolle Gefährtin er in Euch gefunden hat."
"Das wird er, dessen bin ich mir gewiss", versicherte ihm die junge Frau.
"Falls es wider Erwarten anders ist, dann scheut Euch nicht, mich davon in Kenntnis zu setzen", gab Caius zurück. "Denn ich werde immer Euer Freund sein und Euch helfen, solltet Ihr in Not geraten."
"Ein einfaches Mädchen wie ich und ein Gutsverwalter, für den sich niemand interessiert, werden gewiss ein ruhiges Leben führen, Caius, darum mache ich mir wenig Sorgen. Und nun wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr endlich damit beginnen würdet, für Madame de Colignon zu spielen. Sicherlich wundert sie sich schon, warum wir immer noch hier herumstehen und miteinander flüstern."
Der blonde Vampir warf einen kurzen Blick auf das Sofa, auf dem die Herrin des Hauses mit Marcus saß und sich immer noch mit diesem unterhielt, wobei die beiden ihre Augen nicht voneinander lösen konnten. Amüsiert schaute Caius Louise an und murmelte: "Weder Madame noch mein Bruder scheinen sich dafür zu interessieren, ob wir hier miteinander reden oder musizieren. Und falls doch, dann nimmt unsere werte Hausherrin gewiss an, dass wir beiden ebenfalls unsere Ruhe haben wollen, so wie mein Bruder und sie."
Louise sah nun auch zu ihrer Dienstherrin, staunte darüber, wie glücklich sie aussah und wandte sich danach ihrem Scheinverlobten zu: "Wisst Ihr, ob Euer Bruder ernste Absichten auf Madame de Colignon hat?"
"Marcus spricht nicht viel, schon gar nicht über seine Gefühle - und wenn doch, dann nicht mit mir. Allerdings ist Aro und mir nicht entgangen, wie sehr er sich für unsere liebe Nachbarin interessiert. Ich glaube, er ist in Madame de Colignon verliebt."
"Mon Dieu", seufzte Louise und schüttelte dann den Kopf. "Ich weiß nicht, was ich davon zu halten habe."
"Gar nichts habt Ihr davon zu halten, meine Liebe", ermahnte Caius sie. "Schließlich wollt auch Ihr, dass man Eure Gefühle und Eure Beziehung zu Eurem Verlobten respektiert. Den gleichen Respekt haben aber auch alle anderen verdient, findet Ihr nicht? Madame de Colignon scheint gerne in Gesellschaft von Marcus zu sein und ihm geht es genauso. Mein älterer Bruder ist ein sehr verschlossener Charakter und nun sehe ich zum ersten Mal, dass er aufzublühen scheint. Darüber freue ich mich sehr, und meiner Meinung nach hat darüber niemand ein Urteil zu fällen."
"Natürlich nicht, Ihr habt recht", pflichtete ihm Louise bei. "Bitte, verzeiht mir, doch in letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass sich alle Angelegenheiten mit rasender Geschwindigkeit zu entwickeln scheinen, ohne dass jemand eine Kontrolle darüber hat. Hinzu kommt noch diese schreckliche Geschichte mit Baronesse de Lebrunne, die von schwarzen Magiern geopfert wurde. Wer hätte je gedacht, dass sich solche fruchtbaren Menschen mitten in Paris befinden und zum Großteil aus Hofkreisen stammen? Das ist einfach erschreckend! Glaubt mir, Caius, je eher wir alle Paris den Rücken kehren, desto besser werde ich mich fühlen."
"Das verstehe ich vollkommen, denn mir geht es genauso", gab der blonde Vampir ihr Recht. "Ich habe den Eindruck, dass es viele falsche Schlangen bei Hofe gibt. Man kann nur hoffen, dass den Majestäten nichts passiert. Aber mir wäre auch wohler, wenn Marguerite, Ihr und Madame de Colignon so bald wie möglich abreisten."
Louise, der nicht entgangen war, dass Caius zuerst den Namen ihrer Freundin nannte, schwieg dazu, doch in ihr keimte der Verdacht auf, dass der Jüngste der Volturi-Brüder mehr für Marguerite empfand, als er zugab; und möglicherweise waren die angeblich zunehmenden Sympathien für sie, seine Scheinverlobte, nur Caius' verzweifelter Versuch, die starken Gefühle, die er für Marguerite hegte, auf eine andere Person zu lenken. Schließlich waren ihre Freundin und sein Bruder Aro ineinander verliebt, heimlich verlobt und wollten bald heiraten. Eine schwierige und womöglich auch überaus schmerzvolle Situation für Caius. Er tat ihr wirklich leid, aber sie wusste nicht, wie sie ihm in solch einer Seelenlage beistehen sollte.
"Kommt, lasst uns zusammen ein Stück spielen", schlug Louise daher vor und setzte sich zu Caius auf die Klavierbank.
"Wundervoll, ich wagte es nicht, Euch darum zu bitten", behauptete der blonde Jüngling mit breitem Lächeln und wenig später klang ein melancholisches Musikstück durch den Raum...
*
Kaum dass Caius mit Louise zum Spinett gegangen war, begannen Madame de Colignon und Marcus eine Unterhaltung miteinander.
"Gewiss könnt Ihr kaum ermessen, wie glücklich ich bin, dass es Euch wieder besser geht, liebe Amelie", begann der ältere Mann, nahm die ihm dargereichte Hand der verehrten Dame und hauchte einen Kuss darauf. "Euer Unwohlsein hat mir wirklich Sorgen bereitet."
"Tut mir wirklich leid, das zu hören, mein lieber Marcus", erwiderte die Herrin des Hauses. "Dennoch rührt mich Eure Fürsorge, da ich für Euch doch eigentlich eine Fremde bin und wir uns noch nicht lange kennen."
"Oh, Ihr seid keinesfalls eine Fremde für mich", wandte der Angesprochene ein und lächelte sie freundlich an. "Selbst wenn wir uns erst eine kurze Zeit kennen, fühle ich mich bei Euch wie zu Hause - es ist, als sei ich endlich dort angekommen, wo man mich seit langem erwartet hat. Zwischen uns gibt es eine besondere Verbindung, Amelie, spürt Ihr das nicht auch?"
"Nun, ich muss zugeben, dass ich mich zu Euch hingezogen fühle, obgleich ich dies nicht zu erklären vermag, Marcus."
"Und ich vermisse Eure Gesellschaft, sobald ich nicht mehr bei Euch bin. Gibt es ein eindeutigeres Zeichen dafür, dass wir zueinander gehören, liebste Amelie? Darum würde ich mich sehr freuen, wenn Ihr uns nach Italien begleiten würdet, um dort als mein persönlicher Gast zu verweilen. Es wird Euch auf unserem Schloss sicherlich gefallen und wir haben Gelegenheit, uns besser kennenzulernen."
"Ihr habt mir diesen Vorschlag schon einmal unterbreitet und ich sagte Euch, dass ich es mir überlegen wolle. Denn ich kann nicht nur an mich selbst denken, sondern fühle mich für Marguerite und Louise verantwortlich."
"Marguerite wird bestimmt bald Aros Frau und er ist sehr gut in der Lage, sie vor allem Unbill zu beschützen. Vermutlich werden die beiden nach der Hochzeit ebenfalls nach Italien wollen, so dass wir gemeinsam dorthin reisen können."
"Und was ist mit Louise und Caius?"
"Die beiden können sehr gut aufeinander achten, wobei ich Euch verrate, dass Caius starkes Heimweh hat und es nicht erwarten kann, wieder nach Hause zurückzukehren."
"Gut, sobald dies alles geklärt und ich meine eigenen Angelegenheiten geordnet habe, könnte ich Euren Vorschlag in Erwägung ziehen..."
"Marguerite und Louise wären sicherlich traurig, wenn Ihr uns nicht mit uns nach Italien begleitet, Amelie."
Die alte Dame seufzte tief auf und schenkte ihrem Gesprächspartner danach ein Lächeln.
"Nun ja, ich könnte mir gut vorstellen, mit Euch zu kommen", gab sie dann zu. "Doch Ihr müsst verstehen, dass es mir nicht so leicht fällt, mein bisheriges Leben einfach hinter mir zu lassen. Allerdings ich bin froh, dass meine beiden Mädchen in Sicherheit sein werden. Diese ganze Sache mit dem Marquise de Charron gefällt mir einfach nicht! Ich befürchte, dass sich bei Hofe und in Paris immer noch zwielichtige Gestalten herumtreiben, die eine Gefahr für andere darstellen. Und da man das letzte Mal die Lebrunnes überfiel und die Baronesse bei einer schwarzen Messe opferte, habe ich Angst, dass irgendwer es auf Marguerite abgesehen haben könnte. Mir wäre wohler, wenn sie und Louise so rasch wie möglich aus Paris gebracht werden könnten, denn ich habe seit der Entdeckung der schwarzen Bruderschaft keine ruhige Minute mehr."
"Ein Sündenpfuhl fürwahr", pflichtete Marcus ihr bei. "Umso eher habt Ihr Grund, mit mir zu kommen. Ich bin mir sicher, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis wir alle Paris verlassen werden. Wie ich hörte, soll Baron de Lebrunne mit den sterblichen Überresten seiner Gattin heute Morgen aufgebrochen sein, um sie zu bestatten."
"Was denn? Ohne Marguerite?!", fragte Madame de Colignon alarmiert und starrte ihren Gesprächspartner ungläubig an.
"So viel ich weiß, verweilt die Comtesse noch in ihrem Stadthaus", erwiderte Marcus. "Aber ängstigt Euch nicht unnötig. Aro hat Wachen um dieses Haus herum postiert und hält sich selbst stets in der Nähe auf. Glaubt mir, er ist genauso um Marguerites Sicherheit besorgt wie Ihr es seid."
"Wenigstens er kümmert sich um das Kind", murmelte die ältere Dame und wirkte etwas aufgebracht. "Es ist doch wirklich unglaublich, dass Baron de Lebrunne seine Nichte in dieser Situation allein lässt! Natürlich verstehe ich, dass er seine Ehefrau anständig unter die Erde bringen will. Aber dann hätte er Marguerite bitten müssen, ihn zu begleiten."
"Das hat er auch getan, doch sie lehnte dies ab!"
"Wie bitte?! Hat das Mädchen völlig den Verstand verloren?!"
"Keineswegs, Amelie. Vielmehr hat sie kein Vertrauen in Lebrunne, sondern wollte, dass er endlich aus ihrem Haus verschwindet. Schließlich gibt es für ihn keinen Grund mehr, länger dort zu sein, da er sich inzwischen recht gut von dem Überfall erholte. Glaubt mir, seine Abwesenheit aus Paris ist kein großer Verlust für Marguerite."
"Nun ja, mag sein... aber der Gedanke, dass das Mädchen allein in dem großen Haus ist, behagt mir nicht!"
"Sie ist nicht allein, Aro ist heute Nachmittag bei ihr, und ansonsten hält er sich immer in der Nähe ihres Hauses auf, zusammen mit einigen sehr fähigen Wachposten, die aus unserem Personal rekrutiert worden sind. Aber ich bitte Euch, Marguerite nichts davon zu verraten. Ich glaube kaum, dass es ihr gefallen wird, ständig bewacht zu sein."
"Eure Bruder Aro achtet sehr gut auf die Comtesse."
"Ja, das tut er. Darüber hinaus haben Caius und ich Euren Schützling auch seit langem ins Herz geschlossen und betrachten sie als unsere neue Schwester. Glaubt mir, sie wird mit Aro überaus glücklich sein."
"Zumindest ist der Anfang vielversprechend, die beiden sind ja sehr ineinander verliebt."
"In dieser Hinsicht sind sie nicht die Einzigen, liebste Amelie", murmelte Marcus und schenkte ihr einen warmen Blick. Sie errötete etwas und senkte leicht ihren Blick, wieder einmal bemerkend, dass sie sich wie eine Sechzehnjährige fühlte...
*
Nach dem Mittagessen und dem Abschied von Agnes und ihrem Verlobten zog sich Marguerite in die Bibliothek zurück und versuchte, sich durch Lektüre etwas abzulenken, bis Aro kam. Sie musste nicht lange warten, denn kaum hatte sie zwei Seiten gelesen, meldete ihr ein Bediensteter, dass Conte di Volturi sie zu sprechen wünsche.
"Ich lasse bitten", gab Marguerite zurück, legte das Buch beiseite und erhob sich, als ihr heimlicher Bräutigam den Raum betrat.
"Möchtet Ihr etwas essen oder trinken?", erkundigte sie sich bei ihm, doch Aro schüttelte nur den Kopf, worauf die junge Frau sich an den Bediensteten wandte, der wartend an der Tür stand: "Ich empfange ab jetzt niemanden mehr und möchte nicht gestört werden. Falls Mademoiselle Lefevre kommt, soll sie in ihrem Zimmer auf mich warten."
"Sehr wohl, Comtesse", sagte der Diener, verneigte sich leicht, verschloss die Tür und verschwand umgehend. Einen Augenblick wartete Marguerite noch, ehe sie überprüfte, ob nicht jemand hinter der Tür lauschte. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass dies nicht der Fall war, schloss sie die Tür erneut und wandte sich Aro zu, der sie mit amüsierten Blick musterte.
"Du scheinst kein großes Vertrauen in deine Dienerschaft zu haben, Liebes", meinte er dann mit leicht verhaltenem Lachen.
"Dienstboten sind immer neugierig und es ist besser, wenn man darauf achtet, was sie mitbekommen", erklärte sie lächelnd, ging dann auf ihn zu, umarmte und küsste ihn. Dann löste sie sich aus seinen Armen und setzte sich zusammen mit ihm auf das Sofa. "Heute Mittag habe ich zusammen mit Agnes und Thierry gespeist und sie von unserer baldigen Heirat in Kenntnis gesetzt. Sie waren sehr erfreut über diese Nachricht und sind gerne bereit, unsere Trauzeugen zu sein. Sobald Madame de Colignon also genesen ist, können wir heiraten, Aro."
"Dann dürfte es nicht mehr allzu lange dauern. Wie ich hörte, geht es Eurer Freundin schon sehr viel besser. Sie darf bereits aufstehen und Besuch empfangen."
"Das sind wirklich gute Neuigkeiten, Liebster. Hast du dich schon darum gekümmert, wo wir heiraten werden?"
"Es ist alles arrangiert, doch wie soll es nach der Heirat weitergehen, mein Herz?"
"Nun, zunächst einmal müssen wir uns offiziell verloben und ich schlage vor, dass wir das in zwei Tagen hier bei mir im kleinen Kreis unserer engsten Freunde machen, am besten am späten Nachmittag gegen halb sechs. Was hältst du davon?"
"Ganz wie du willst, Liebes. Wen möchtest du einladen?"
"Deine Brüder, Madame de Colignon, Louise, Thierry sowie Agnes und ihre Eltern."
"Soll ich das...?"
"Nein, nein, Aro, die Einladungen schreibe ich gerne selbst."
"Gut, möchtest du, dass ich etwas Besondere für unsere kleine Feier besorge?"
"Liebster, alles was ich mir wünsche ist, unseren Freunden mitzuteilen, dass wir uns verlobt haben und sie noch am gleichen Tag zu unserer Trauung einladen."
"Das trifft sich gut, denn sie findet in drei Tagen statt, mein Herz."
"Oh, so rasch schon! Wie wundervoll!"
"Du hast bestimmt ein sehr schönes Kleid, das du zu diesem Anlass anziehen kannst. Oder möchtest du dir ein neues anfertigen lassen? In diesem Fall verschiebe ich die Trauung um ein oder zwei Tage."
"Nein, auf gar keinen Fall! Ich habe genau das richtige Kleid für diesen Anlass, Aro! Erinnerst du dich noch daran, was ich auf dem Ball zu Silvester trug? Gibt es ein schöneres Gewand für unsere Trauung, Liebster?"
"Kaum, du siehst darin zauberhaft aus", erwiderte Aro, der einen verträumten Blick bekam. "Ganz gewiss wirst du die schönste Braut aller Zeiten sein."
"Und unsere Hochzeitsnacht verbringen wir dann hier in meinem Haus, ganz ungestört, in meinem Gemach", schlug Marguerite vor, wobei sich ihre Wangen vor Aufregung rot verfärbten. Ein Anblick, der den schwarzhaarigen Vampir nervös werden und ihn die Grenzen seiner Selbstbeherrschung spüren ließ. Doch mit dem Gedanken, dass sie ihm noch früh genug gehören würde, beruhigte er sich rasch und drängte seinen aufsteigenden Blutdurst zurück.
"Die Vorstellung, allein mir dir in einem Bett zu verbringen, ist wirklich sehr verführerisch", wandte Aro dann mit kaum verhohlenem Verlangen in der Stimme ein. "Allerdings wäre es für dich sehr viel angenehmer, wenn wir die Ehe an einem viel ruhigeren und angenehmeren Ort vollziehen würden als ausgerechnet in Paris, wo es derzeit so unruhig ist und man sich selbst im eigenen Haus nicht sicher sein kann."
"Wirklich rührend, wie besorgt du um meine Sicherheit bist", meinte Marguerite. "Aber ich bin kein besonders ängstlicher Mensch und so lange du in meiner Nähe bist, fühle ich mich vollkommen sicher. Außerdem habe ich Vertrauen in die Garden des Königs und des Kardinals. Seine Majestät lässt extra einige Musketiere immer wieder in dieser Straße hier patrouillieren, um mich zu schützen."
"Sehr fürsorglich von dem König", gab Aro zurück und nickte. "Die Liebenswürdigkeit Seiner Majestät für deine Person ist recht eindrucksvoll. Doch nachdem du meine Frau geworden bist, stehst du nicht mehr unter seiner Vormundschaft. Daher obliegt es in erster Linie mir, für deine Sicherheit zu sorgen, Marguerite."
"Also schön, Liebster, wo möchtest du dann unsere Hochzeitsnacht verbringen?", gab sie nach.
"Am liebsten in den Gemächern meines Palazzo in Italien, wo wir ganz sicher für mehrere Tage oder auch Wochen ungestört sind", schlug Aro vor und grinste sie an.
"Klingst verlockend", meinte Marguerite. "Doch das hieße, dass wir mit dem Vollzug unserer Ehe so lange warten müssen, bis wir in deine Heimat gereist sind. Dabei kann ich es kaum erwarten, die Nacht in deinen Armen zu verbringen."
"Je mehr du dich beherrschen musst, desto schöner wird unser Zusammensein, Liebes, das verspreche ich dir."
"Aber wird man denn nicht überprüfen, ob wir tatsächlich...?"
"Wer sollte das schon überprüfen? Deine Tante gewiss nicht mehr, dein Onkel ist zum Glück weg und niemand anderes wird Interesse daran haben, ob wir die Ehe miteinander vollzogen haben, sobald wir verheiratet sind. Lass uns dann gleich danach aus Paris nach Rochefort abreisen, worüber sich kein Mensch wundern dürfte."
"Oh ja, dort richte ich dann die Hochzeit zwischen Louise und meinem Verwalter aus. Sobald ich dem jungen Mann dann meine Instruktionen gegeben habe, können wir gerne nach Italien aufbrechen. Ich hoffe nur, dass die Fahrt dahin nicht allzu lange dauern wird."
"Es wird dir vorkommen, als ob du dorthin geflogen seist, Liebling."
Marguerite schwieg einen Moment mit glücklichem Lächeln und sah Aro verträumt an.
"Ich kann es kaum erwarten, endlich dort anzukommen und mit dir allein sein zu dürfen, Liebster", erklärte sie nach einer Weile mit sanfter Stimme. "Ein verlockendes Angebot, unserer Flitterwochen in deinem Palazzo zu verbringen. Doch vor meiner Abreise sollte ich unbedingt noch diesen Haushalt hier auflösen. Zuvor muss ich für die Dienerschaft Zeugnisse ausstellen, die gut ausfallen werden, denn ich war mit ihrer Arbeit zufrieden. Gewiss finden sie bald eine neue Anstellung. Nur um Arlette sorge ich mich etwas, sie lässt sich zu leicht vom äußeren Schein beeinflussen."
"Wer ist Arlette?", fragte Aro, obwohl er es wusste.
"Meine Kammerzofe, die meine Tante für unsere Zeit in Paris einstellte. Sie ist sehr jung und ich fürchte, dass sie in Paris untergehen wird, wenn sie weiterhin hier lebt und arbeitet. Wer weiß, bei welchen Herrschaften sie Anstellung findet? Auf dem Lande wäre sie sicherlich besser aufgehoben."
"Du könntest sie als deine Kammerzofe behalten und mitnehmen, mein Herz."
"Nein, ich möchte niemandem zumuten, seine Heimat zu verlassen, nur weil ich es tue."
"Das heißt also, du möchtest auch keinen deiner vertrauen Dienstboten mit nach Italien nehmen, Liebes?"
"Ja, richtig. Weißt du, wenn ich schon ein neues Leben mit dir beginne, spricht doch nichts dagegen, auch neue Dienerschaft in Italien einzustellen. Oder hast du etwas dagegen, Liebster?"
"Nein, natürlich nicht! Möglicherweise bist du jedoch auch mit meinen Bediensteten zufrieden, die bereits in meinem Palazzo angestellt sind."
"Vielleicht, mal sehen", meinte Marguerite, hob eine Hand, um seine Wange zu streicheln, und fuhr fort: "Ich bin wirklich sehr glücklich, dass wir beide uns begegnet sind."
Dann zog sie seinen Kopf näher an ihren und verschloss seinen Mund mit ihren Lippen...
Kapitel 48
Wenn jeder Mensch einen anderen Menschen glücklich macht,
wäre die ganze Welt in kurzer Zeit glücklich.
~ Anonymus~
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Bereits früh am nächsten Tag verabschiedete sich Baron de Lebrunne von seiner Nichte, um mit den sterblichen Überresten seiner Gattin nach Rochefort aufzubrechen, bedankte sich ein weiteres Mal bei ihr und bat sie erneut darum, ihn auf seinem Landgut zu besuchen. Genau wie gestern hielt sich Marguerite bei der Antwort bedeckt, verwies darauf, Rücksicht auf Madame de Colignon nehmen zu müssen und wünschte ihm eine gute Reise. Sie war erleichtert, als die Kutsche mit ihm endlich abfuhr, und fest davon überzeugt, ihn nie wiederzusehen.
Bedauerlicherweise hatte sie mit ihrem Onkel allein am Frühstückstisch gesessen, da Louise ihr gestern am späten Nachmittag eine Nachricht schickte, um sie darüber zu informieren, dass sie noch eine Weile bei Madame de Colignon bleiben würde. Die ältere Dame war etwas erkältet, aber bereits auf dem Wege der Besserung, dennoch hielt Louise es für angebracht, sie selbst zu pflegen. Marguerite war damit einverstanden, gab ihr dies doch Gelegenheit, heute Nachmittag endlich für eine längere Zeit allein mit Aro zusammen zu sein. Für diese Aussicht ließ sie gerne das Gefasel ihres Onkels über sich ergehen, der sich von seinem Schock prächtig erholt zu haben schien und den ganzen Morgen viel redete. Nochmals schilderte er in detailreichen Ausschmückungen den Überfall der Banditen auf seine Frau und ihn und sparte nicht damit zu betonen, wie gefährlich es für eine junge Dame sei, sich allzu lange ohne jegliche männliche Obhut in Paris aufzuhalten. Natürlich ahnte Marguerite, dass er ihr damit Furcht einflößen wollte, um sie dazu zu bringen ihn zu bitten, bald wieder zu ihr in die Hauptstadt zurückzukehren. Allerdings tat sie nichts dergleichen, obwohl der Baron sich tatsächlich große Mühe gab, sie mit den gefährlichen Banditen, die für schwarze Magier Auftragsarbeiten erledigten, einzuschüchtern.
"Lieber Onkel, Ihr macht Euch viel zu große Sorgen um mich", beendete sie diese Ausführungen schließlich in freundlichem Ton. "Aber ich versichere Euch, dass mir Kardinal Mazarin unmissverständlich zu verstehen gab, dass ich als ein Mündel des Königs bis zu meiner Heirat unter einem besonderen Schutz stehe. Es ist also zu vermuten, dass in der Nähe meiner Wohnung Personen postiert wurden, damit mir nichts geschieht. Somit könnt Ihr unbesorgt nach Rochefort fahren, Eure Gemahlin beerdigen lassen und danach auf Euer eigenes Anwesen zurückkehren. Ich werde auch nicht mehr allzu lange in Paris verweilen."
Nach diesen Worten ließ Baron de Lebrunne seine Erzählungen von dem Überfall bleiben, um danach darüber zu sprechen, wie unbegreiflich es für ihn sei, dass Charron ausgerechnet seine Frau als Opfer auserwählt habe, obwohl er weder sie noch ihn persönlich kannte. Auch dass sein Freund Guignot sterben musste, sei ihm unverständlich. Ihm sei völlig schleierhaft, was jener im Hause Charrons zu suchen hatte und gleichfalls geopfert wurde, obwohl er ein Mann war.
"Seine Majestät hat Personen beauftragt, diese und andere Fragen zu klären", gab Marguerite nach diesen Ausführungen zurück, in der Hoffnung, damit endlich den Redeschwall ihres Onkels beenden zu können. "Es tut mir sehr leid, was mit Tante Adrienne und Monsieur Guignot passiert ist, doch hat es keinen Sinn, weiter darüber zu spekulieren. Das Geschehene können wir nicht ändern, sondern lediglich alles dafür tun, damit die Seelen der uns Nahestehenden Frieden finden. Deshalb wünsche ich Euch eine gute Reise auf dem Weg, um die sterblichen Überreste Eurer Gemahlin zur letzten Ruhestätte unserer Familie zu bringen und dort in der Gruft beisetzen zu lassen. Sobald ich nach Hause zurückkehre, werde ich ebenfalls eine Messe für die lesen lassen."
"Habt Dank für diese Freundlichkeit, mein liebes Kind", erwiderte der Baron. "Darüber hinaus möchte ich Euch versichern, dass Ihr Euch immer an mich wenden könnt, wenn Ihr Hilfe braucht."
Ohne dieses Anerbieten zu beantworten, nickte Marguerite ihm zu und atmete innerlich auf, als er sich kurz danach verabschiedete, um nach Rochefort aufzubrechen. Rasch bestellte sie eine Bedienstete zu sich und ordnete an, dass heute pünktlich um halb eins das Essen auf dem Tisch stehen sollte, da sie zwei Gäste erwartete. Innerlich freute sie sich schon darauf, Agnes und Thierry wiederzusehen, die sie mittlerweile sehr lieb gewonnen hatte.
Um etwa zwölf Uhr traf das junge Brautpaar ein und Marguerite ließ im Kleinen Salon, in den sie die beiden hereinbat, einen leichten Weißwein servieren. Danach setzten sie sich zusammen und die junge Hausherrin beschloss, ihre neuen Freunde von ihrem baldigen Vorhaben zu informieren.
"Es freut mich, dass Ihr beiden meiner Einladung so rasch gefolgt seid", begann die Comtesse. "Auch muss ich mich noch bei Euren Eltern dafür bedanken, dass sie Euch allein zu mir kommen ließen, Agnes."
"Meine Eltern vertrauen Euch vollkommen", antwortete das Mädchen. "Sie halten große Stücke auf Euch und waren der Meinung, dass Ihr momentan jede Art von Zerstreuung braucht, um über die traurigen Umstände hinwegzukommen."
"Das ist sehr freundlich von Euren Eltern und ich bin mir sicher, sie hätten nichts dagegen einzuwenden, dass ich auch Euren Verlobten zu mir einlud."
"Dagegen hätten sie absolut nichts", bejahte Agnes und tauschte mit Thierry einen verliebten Blick aus. "Wenn es nach meinen Eltern ginge, könnten wir schon morgen heiraten, aber ich wünsche mir eine große Feier und deshalb findet diese im Frühling statt, vor oder nach Ostern, da sind wir uns noch nicht einig."
"Eine schöne Jahreszeit, um den Bund fürs Leben zu schließen", gab Marguerite lächelnd zurück. "Allerdings will ich damit nicht so lange warten."
Agnes und Thierry starten die Comtesse an, dann fragte das junge Mädchen erstaunt: "Soll das etwa heißen, dass Ihr bald heiraten wollt?"
"Ja, das habt Ihr richtig verstanden", bestätigte die Herrin des Hauses. "Genauer gesagt, wird meine Hochzeit noch im Januar stattfinden."
"Welch eine Überraschung!", entfuhr es Agnes, dann strahlte sie über das ganze Gesicht. "Wisst Ihr schon, an welchem Tage?"
"Nein, darüber werde ich mit meinem Bräutigam erst heute Nachmittag sprechen. Aber er meinte, wenn ich es wollte, könnte dies sehr rasch gehen."
"Und der Glücklich ist wohl... Conte Aro?"
"Ja, Agnes, aber das habt Ihr wohl schon geahnt, nicht wahr?"
"Herzlichen Glückwunsch, Comtesse", sagte nun Thierry. "Doch ist es vor einer Eheschließung nicht üblich, dass man sich verlobt?"
"Ihr habt selbstverständlich recht", stimmte ihm Marguerite zu. "Allerdings sind Conte Aro und ich schon seit längerem heimlich verlobt und haben auch schon einen Ehevertrag geschlossen, dem zwei Zeugen beiwohnten. Einer davon ist Madame de Colignon, die mich in dieser Hinsicht vollkommen unterstützt hat."
"Wenn ich das richtig verstehe, wussten also weder Eure Tante noch Euer Onkel davon?"
"So ist es! Meine Tante hätte niemals ihre Zustimmung zu dieser Verbindung gegeben, obwohl Conte Aro vom gesellschaftlichen Stand durchaus eine angemessene Partie für mich darstellt."
"Warum war Eure Tante dann gegen diese Verbindung?"
"Wenn es stimmt, was mein Onkel mir gestand, wollte sie mich mit Monsieur de Guignot verheiraten, den ich absolut nicht ausstehen konnte!"
"Wie bitte?!", entfuhr es Agnes und Thierry gleichzeitig und sie starrten Marguerite ungläubig an.
"Nun ja, ich weiß nicht, ob das, was mein Onkel mir sagte, tatsächlich der Wahrheit entspricht. Doch wenn dem so gewesen ist, hätte das mein Ansehen beschmutzt", erklärte Marguerite. "Guignot war weder adelig noch besaß er ein großes Vermögen, aber dessen ungeachtet empfinde ich es weitaus bedenklicher, dass meine Tante ernsthaft jemanden als Ehemann für mich in Erwägung zog, der in Paris den Ruf eines Lüstlings genoss!"
"Vielleicht war der Ruf dieses Mannes Eurer Tante nicht bekannt?", wandte Thierry ein.
"Glaubt mir, sie wusste davon", gab die Comtesse zurück.
"Warum wünschte sie dann, dass dieser Mann Euch heiratet?", fragte der junge Mann verwundert.
"Es mag sich seltsam anhören, aber meine Tante hasste mich, schätzte Guignot jedoch über alles", erklärte Marguerite. "Vermutlich wünschte sie sich, dass er ständig in ihrer und der Nähe ihres Mannes lebte. Meine Empfindungen und auch mein Ruf waren ihr dabei völlig gleichgültig."
"Kaum zu glauben", wunderte sich Thierry, der sichtlich erschüttert wirkte. "Bei einer Heirat hätte er gewiss nach Gutdünken über Euer Vermögen verfügen können, was doch bestimmt nicht dem Wunsche Eurer Tante entsprechen konnte."
"Vermutlich hatten sie und Ihr Gemahl schon einen Ehevertrag formuliert, der die beiden absicherte", meinte die Comtesse. "Anders kann ich mir nicht erklären, warum sie ausgerechnet auf Guignot als potentiellen Ehemann für mich kamen. Meine Tante hat sich von Anfang an als Herrin von Rochefort aufgespielt und wollte ganz sicher nicht die Verfügungsgewalt über mein Vermögen verlieren."
"Das ist allerdings sehr bedenklich", stimmte der junge Mann zu und schüttelte den Kopf. "Denkt Ihr wirklich, dass die Baronesse etwas Derartiges vorhatte?"
"Jedenfalls behauptet mein Onkel dies", erwiderte Marguerite. "Allerdings erzählte er mir dies, bevor der Überfall auf seine Frau und ihn stattfand."
"Demnach muss es also gar nicht der Wahrheit entsprechen?"
"Nein, obwohl mir schleierhaft ist, weshalb mein Onkel so etwas behaupten sollte. Das ergibt keinen Sinn für mich."
"Bestimmt wollte er Euch nur einschüchtern", mutmaßte Agnes. "Verzeiht mir bitte, wenn ich das jetzt sage, Comtesse, aber wir alle kannten die Baronesse gut und vielleicht hat Euer Onkel nur so etwas zu Euch gesagt, weil seine Frau sich mal wieder über Euch beschwerte."
"Ach? Mir war nicht bekannt, dass Außenstehende davon wussten. Hat meine Tante etwas darüber verlauten lassen?"
"Nun, Eure Tante sprach bei gesellschaftlichen Zusammenkünften zwar nie direkt schlecht über Euch, allerdings sprach ihr Gesichtsausdruck Bände, wenn Sie Euch beobachtete oder wenn jemand in ihrer Nähe Euch lobte", erklärte Agnes. "Außerdem dürfte Guignot, als Vertrauter Eurer Verwandten und als der von ihnen für Euch auserwählte Ehekandidat, davon gewusst haben."
"Ja, das glaube ich auch", stimmte Marguerite ihrer jüngeren Freundin zu. "Glücklicherweise gehört all das nun der Vergangenheit an, selbst wenn die Umstände, durch die sowohl meine Tante als auch Guignot ums Leben kamen, sehr unerfreulich und im Falle meiner Verwandten für mich persönlich äußerst schmerzlich sind. - Doch eine Frage habe ich noch: Findet Ihr, dass es unangebracht ist, wenn ich so kurz nach dem Tod meiner Tante heirate?"
"Aber nein!", versicherte Agnes ihr rasch. "Das gilt doch nur für Ihren Ehemann, der anstandshalber ein Jahr warten sollte, ehe er sich erneut mit einer anderen Frau verbindet. In Eurem Fall kommt noch hinzu, dass Ihr minderjährig seid und ein Ehemann Euch Schutz bietet. Niemand wird sich daran stören, dass Ihr Conte Aro zum Manne nehmt."
"Und wie seht Ihr das, Thierry?"
"Ich stimme Agnes völlig zu, Comtesse."
"Demnach seid Ihr also mit der Wahl meines Ehemannes einverstanden?"
Die beiden jungen Leute nickten.
"Wenn das so ist, bitte ich Euch, unsere Trauzeugen zu sein", erklärte Marguerite.
"Ja, sehr gerne", sagte Agnes sofort.
"Mit dem größten Vergnügen", antwortete Thierry.
"Es freut mich sehr, dass Ihr einverstanden seid", fuhr die Comtesse fort. "Und ich bin Euch außerdem für Euren Rat überaus dankbar."
"Nennt uns nur den Tag Eurer Hochzeit, wir werden da sein", versprach der junge Mann.
"Heute Nachmittag werde ich mit Aro alles besprechen", sagte Marguerite, die bei diesen Worten wieder glücklich wirkte. "Ich kann es wirklich kaum erwarten, seine Frau zu werden."
"Das verstehe ich nur allzu gut", pflichtete Agnes ihr bei. "Wo werdet Ihr nach Eurer Heirat leben? In Frankreich oder in Italien?"
"Das weiß ich noch nicht, vielleicht reisen wir erst einmal eine Weile in der Welt herum. Darum habe ich Aro gebeten und er versprach es mir."
"Aber Ihr werdet doch bestimmt zu unserer Hochzeit kommen, nicht wahr?", fragte das junge Mädchen.
"Natürlich, darauf freue ich mich sehr", erwiderte Marguerite.
"Ist es nicht schön, wie sich die Dinge so wunderbar zusammenfügen?", seufzte Agnes verträumt. "Wenn doch alles so einfach wäre."
"Nun, ich glaube, mein Leben wird in Zukunft etwas weniger kompliziert sein als in den letzten Monaten", meinte Marguerite und erhob sich. "Kommt, lasst uns zu Tisch gehen. Das Mittagessen wird sicher in wenigen Augenblicken serviert werden."
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Die Comtesse hob kurz ihre Augenbrauen und erklärte amüsiert: "Sagte ich es nicht?"
Agnes und Thierry lachten, als das Dienstmädchen eintrat und meldete: "Das Essen ist fertig!"
***
Am Nachmittag des gleichen Tages lag Madame de Colignon halb auf dem Sofa im Wohnzimmer ihres Stadthauses und ließ sich von Louise, die auf der freien Stelle neben ihr saß, alle Einzelheiten berichten, die man bisher über das Verschwinden der Baronesse de Lebrunne und dem ominösen Fund im Hause des Marquis de Charron herausgefunden hatte. Mit ungläubigem Blick lauschte die alte Dame den Spekulationen, die in Paris kursierten, als einer ihrer Bediensteten zaghaft klopfte und meldete, dass die Conte di Volturi gekommen seien.
"Ich lasse bitten", sagte die Herrin des Hauses und lächelte etwas. Bereits gestern schon hatte Conte Marcus vorgesprochen, sich nach ihrem Befinden erkundigt und angefragt, ob er etwas für sie tun könne. Die Mitteilung Louises darüber freute sie insgeheim und auch jetzt spürte sie, dass ihr Herz klopfte wie damals, als sie ein junges Mädchen war. Konnte es tatsächlich möglich sein, dass sie mehr als Freundschaft für den älteren Bruder der drei italienischen Grafen zu empfinden begann? Himmel, sie war doch keine 16 Jahre mehr... töricht, und dennoch...
Ihre Gedanken wurden durch den Eintritt von Marcus und seinem jüngeren Bruder Caius unterbrochen, denen sie sogleich ihre Aufmerksamkeit schenkte.
"Bitte verzeiht mir, meine Herren, dass ich mich heute noch nicht erheben kann, um Euch auf angemessene Weise zu begrüßen", entschuldigte sich Madame de Colignon bei ihnen. "Mein Arzt empfahl mir, mich noch zu schonen und erlaubte mir lediglich, mich im Wohnzimmer aufzuhalten."
"Geht es Euch wirklich schon etwas besser?", erkundigte sich Marcus mit besorgter Miene.
"Aber ja, mein Lieber, kein Grund zur Sorge", beruhigte sie ihn und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. "Ich fühle mich ganz gut, aber ich darf mich nicht übermäßig anstrengen - und meine liebe Louise passt auf, dass ich mich an die Anweisungen des Arztes halte."
"Ich bin sehr froh, dass Louise auf Euch achtet, Amelie", antwortete Marcus und lächelte die junge Gesellschafterin an. "Habt vielen Dank für Eure Fürsorge, mein liebes Kind. Bitte, erlaubt mir, für eine Weile Euren Platz neben Madame de Colignon einzunehmen."
"Selbstverständlich", gab die junge Frau zurück und erhob sich, ihm ihren Platz einräumend. Gleich danach gesellte sie sich an die Seite von Caius, der neben seinem Bruder gestanden hatte.
Nachdem der blonde Vampir Louise ein kurzes Lächeln schenkte, wandte er sich sogleich an die Herrin des Hauses und sagte: "Mich freut es auch, dass es Euch besser geht, Madam."
Nach diesen Worten verneigte er sich vor der älteren Dame und fuhr fort. "Wenn Ihr erlaubt, möchte ich Euch ein wenig auf dem Spinett vorspielen."
"Eine hübsche Idee", meinte Madame de Colignon und nickte. "Sehr freundlich von Euch."
"Würdet Ihr so gut sein, mir dabei Gesellschaft zu leisten, Louise?", wandte sich Caius danach an seine Scheinverlobte.
"Natürlich", gab die junge Frau zurück und begleitete ihn zu dem Instrument, vor dem er sich niederließ und begann einige der Notenblätter, die darauf lagen, durchzusehen. Madame de Colignon und Marcus achteten nicht auf ihn, sondern waren damit beschäftigt, sich miteinander zu unterhalten. Diese Gelegenheit nutzte Caius, um Louise zuzuraunen: "Wie schön, dass wir endlich mal wieder zusammen sind, meine Liebe, denn ich gestehe, dass ich Eure Gesellschaft genieße und tatsächlich etwas vermisse, wenn wir uns einige Zeit nicht sehen."
"Ihr seid sehr freundlich, Caius, aber mir wäre es lieber, wenn Ihr nicht solche Worte an mich richten würdet", murmelte Louise.
"Es tut mir leid, wenn Euch meine Ehrlichkeit unangenehm ist, aber ich kann wirklich nichts dafür, dass meine Sympathie für Euch von Tag zu Tag wächst", flüsterte er in entschuldigendem Ton. "Eure liebenswürdige Art nimmt mich nun einmal für Euch ein, Louise, und ich kann sehr gut verstehen, dass Comtesse Marguerite Eure Freundschaft über alles schätzt. So ist es auch mit mir. Sagt, wollt Ihr wirklich den jungen Mann heiraten, mit dem Ihr Euch heimlich verlobtet?"
"Natürlich, Caius, das wisst Ihr und Ihr habt mir versprochen, Euch dem nicht in den Weg zu stellen", erinnerte sie ihn. "Ihr gabt mir Euer Wort als Ehrenmann, dass wir uns nur zum Schein verloben, damit mich keiner der edlen Herren bei Hofe belästigt. Das habt ihr doch hoffentlich nicht vergessen?"
"Nein, natürlich nicht! Und ich werde mein Wort halten!", erwiderte der blonde Jüngling. "Aber Ihr dürft mir nicht verübeln, dass ich mich hin und wieder vergewissere, ob sich Eure Gefühle nicht doch geändert haben. Nur ein Wort von Euch und ich bin ganz der Eure, Louise. Glaubt mir, ich hätte nichts dagegen, wenn wir unsere Beziehung vertiefen würden, denn ich mag Euch sehr."
"Eure Worte bringen mich in Verlegenheit, Caius, denn ich liebe nach wie vor nur meinen echten Verlobten. Tut mir leid, wenn Euch diese Wahrheit schmerzt, aber Ihr wusstet von Anfang an, dass ich jemand anderen liebe."
"Ihr habt recht, verzeiht mir bitte", meinte er und legte mehrere Notenblätter auf die dafür vorgesehene Ablagefläche über der Tastatur. "Entschuldigt, dass meine Zunge manchmal ausplaudert, wie es mir ums Herz ist, auch wenn ich mir jedes Mal vornehme, zu schweigen."
"Dass ich dermaßen starke Gefühle in Euch hervorrufe, tut mir sehr leid, denn das lag niemals in meiner Absicht und es quält auch mich, dass die Liebe zu meinem Verlobten Euch unglücklich macht. Deshalb bitte ich Euch inständig, nicht immer wieder nachzufragen, ob sich meine Empfindungen Euch zugewandt haben. Ihr seid mir ein guter Freund geworden und ich bin Euch dankbar dafür, dass Ihr mich beschützen wollt - aber mehr möchte ich wirklich nicht von Euch, Caius. Bitte, respektiert dies."
"Ich wollte Euch wirklich niemals quälen, bitte glaubt mir das, Louise. Das Einzige, was ich mit meinen Fragen bezweckte, war die Vergewisserung Euer Empfindungen, da mir Euer Glück wirklich am Herzen liegt - denn ich habe Euch sehr liebgewonnen", erwiderte Caius. "Da meine Brüder und ich bald wieder nach Italien zurückkehren werden, drängte sich mir die Erkenntnis schmerzhaft auf, wie bald wir voneinander Abschied nehmen müssen und uns vermutlich danach eine lange Zeit oder gar nicht mehr wiedersehen. Nur deshalb sah ich mich gezwungen, mich nochmals bei Euch zu erkundigen, ob sich Eure Gefühle geändert haben. Nun ist zwischen uns jedoch alles klar und deshalb wird mir die uns verbleibende Zeit miteinander sehr wertvoll sein. Sobald wir in die Heimat aufbrechen, werde ich Euch zu vermissen beginnen, dessen seid gewiss. Und noch eines kann ich Euch versprechen: Selbst wenn wir uns nie mehr begegnen werden, bleibt Ihr mir auf ewig in Erinnerung als eine liebenswürdige, kluge, junge Dame, die für mich mehr Wert besitzt als all die eingebildeten, adligen Hofschranzen, die Euch nicht das Wasser reichen können. Vergesst nie, welch ein wertvoller Mensch Ihr seid, Louise! Und ich hoffe wirklich sehr, dass Euer zukünftiger Mann immer zu schätzen weiß, welch eine wundervolle Gefährtin er in Euch gefunden hat."
"Das wird er, dessen bin ich mir gewiss", versicherte ihm die junge Frau.
"Falls es wider Erwarten anders ist, dann scheut Euch nicht, mich davon in Kenntnis zu setzen", gab Caius zurück. "Denn ich werde immer Euer Freund sein und Euch helfen, solltet Ihr in Not geraten."
"Ein einfaches Mädchen wie ich und ein Gutsverwalter, für den sich niemand interessiert, werden gewiss ein ruhiges Leben führen, Caius, darum mache ich mir wenig Sorgen. Und nun wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr endlich damit beginnen würdet, für Madame de Colignon zu spielen. Sicherlich wundert sie sich schon, warum wir immer noch hier herumstehen und miteinander flüstern."
Der blonde Vampir warf einen kurzen Blick auf das Sofa, auf dem die Herrin des Hauses mit Marcus saß und sich immer noch mit diesem unterhielt, wobei die beiden ihre Augen nicht voneinander lösen konnten. Amüsiert schaute Caius Louise an und murmelte: "Weder Madame noch mein Bruder scheinen sich dafür zu interessieren, ob wir hier miteinander reden oder musizieren. Und falls doch, dann nimmt unsere werte Hausherrin gewiss an, dass wir beiden ebenfalls unsere Ruhe haben wollen, so wie mein Bruder und sie."
Louise sah nun auch zu ihrer Dienstherrin, staunte darüber, wie glücklich sie aussah und wandte sich danach ihrem Scheinverlobten zu: "Wisst Ihr, ob Euer Bruder ernste Absichten auf Madame de Colignon hat?"
"Marcus spricht nicht viel, schon gar nicht über seine Gefühle - und wenn doch, dann nicht mit mir. Allerdings ist Aro und mir nicht entgangen, wie sehr er sich für unsere liebe Nachbarin interessiert. Ich glaube, er ist in Madame de Colignon verliebt."
"Mon Dieu", seufzte Louise und schüttelte dann den Kopf. "Ich weiß nicht, was ich davon zu halten habe."
"Gar nichts habt Ihr davon zu halten, meine Liebe", ermahnte Caius sie. "Schließlich wollt auch Ihr, dass man Eure Gefühle und Eure Beziehung zu Eurem Verlobten respektiert. Den gleichen Respekt haben aber auch alle anderen verdient, findet Ihr nicht? Madame de Colignon scheint gerne in Gesellschaft von Marcus zu sein und ihm geht es genauso. Mein älterer Bruder ist ein sehr verschlossener Charakter und nun sehe ich zum ersten Mal, dass er aufzublühen scheint. Darüber freue ich mich sehr, und meiner Meinung nach hat darüber niemand ein Urteil zu fällen."
"Natürlich nicht, Ihr habt recht", pflichtete ihm Louise bei. "Bitte, verzeiht mir, doch in letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass sich alle Angelegenheiten mit rasender Geschwindigkeit zu entwickeln scheinen, ohne dass jemand eine Kontrolle darüber hat. Hinzu kommt noch diese schreckliche Geschichte mit Baronesse de Lebrunne, die von schwarzen Magiern geopfert wurde. Wer hätte je gedacht, dass sich solche fruchtbaren Menschen mitten in Paris befinden und zum Großteil aus Hofkreisen stammen? Das ist einfach erschreckend! Glaubt mir, Caius, je eher wir alle Paris den Rücken kehren, desto besser werde ich mich fühlen."
"Das verstehe ich vollkommen, denn mir geht es genauso", gab der blonde Vampir ihr Recht. "Ich habe den Eindruck, dass es viele falsche Schlangen bei Hofe gibt. Man kann nur hoffen, dass den Majestäten nichts passiert. Aber mir wäre auch wohler, wenn Marguerite, Ihr und Madame de Colignon so bald wie möglich abreisten."
Louise, der nicht entgangen war, dass Caius zuerst den Namen ihrer Freundin nannte, schwieg dazu, doch in ihr keimte der Verdacht auf, dass der Jüngste der Volturi-Brüder mehr für Marguerite empfand, als er zugab; und möglicherweise waren die angeblich zunehmenden Sympathien für sie, seine Scheinverlobte, nur Caius' verzweifelter Versuch, die starken Gefühle, die er für Marguerite hegte, auf eine andere Person zu lenken. Schließlich waren ihre Freundin und sein Bruder Aro ineinander verliebt, heimlich verlobt und wollten bald heiraten. Eine schwierige und womöglich auch überaus schmerzvolle Situation für Caius. Er tat ihr wirklich leid, aber sie wusste nicht, wie sie ihm in solch einer Seelenlage beistehen sollte.
"Kommt, lasst uns zusammen ein Stück spielen", schlug Louise daher vor und setzte sich zu Caius auf die Klavierbank.
"Wundervoll, ich wagte es nicht, Euch darum zu bitten", behauptete der blonde Jüngling mit breitem Lächeln und wenig später klang ein melancholisches Musikstück durch den Raum...
*
Kaum dass Caius mit Louise zum Spinett gegangen war, begannen Madame de Colignon und Marcus eine Unterhaltung miteinander.
"Gewiss könnt Ihr kaum ermessen, wie glücklich ich bin, dass es Euch wieder besser geht, liebe Amelie", begann der ältere Mann, nahm die ihm dargereichte Hand der verehrten Dame und hauchte einen Kuss darauf. "Euer Unwohlsein hat mir wirklich Sorgen bereitet."
"Tut mir wirklich leid, das zu hören, mein lieber Marcus", erwiderte die Herrin des Hauses. "Dennoch rührt mich Eure Fürsorge, da ich für Euch doch eigentlich eine Fremde bin und wir uns noch nicht lange kennen."
"Oh, Ihr seid keinesfalls eine Fremde für mich", wandte der Angesprochene ein und lächelte sie freundlich an. "Selbst wenn wir uns erst eine kurze Zeit kennen, fühle ich mich bei Euch wie zu Hause - es ist, als sei ich endlich dort angekommen, wo man mich seit langem erwartet hat. Zwischen uns gibt es eine besondere Verbindung, Amelie, spürt Ihr das nicht auch?"
"Nun, ich muss zugeben, dass ich mich zu Euch hingezogen fühle, obgleich ich dies nicht zu erklären vermag, Marcus."
"Und ich vermisse Eure Gesellschaft, sobald ich nicht mehr bei Euch bin. Gibt es ein eindeutigeres Zeichen dafür, dass wir zueinander gehören, liebste Amelie? Darum würde ich mich sehr freuen, wenn Ihr uns nach Italien begleiten würdet, um dort als mein persönlicher Gast zu verweilen. Es wird Euch auf unserem Schloss sicherlich gefallen und wir haben Gelegenheit, uns besser kennenzulernen."
"Ihr habt mir diesen Vorschlag schon einmal unterbreitet und ich sagte Euch, dass ich es mir überlegen wolle. Denn ich kann nicht nur an mich selbst denken, sondern fühle mich für Marguerite und Louise verantwortlich."
"Marguerite wird bestimmt bald Aros Frau und er ist sehr gut in der Lage, sie vor allem Unbill zu beschützen. Vermutlich werden die beiden nach der Hochzeit ebenfalls nach Italien wollen, so dass wir gemeinsam dorthin reisen können."
"Und was ist mit Louise und Caius?"
"Die beiden können sehr gut aufeinander achten, wobei ich Euch verrate, dass Caius starkes Heimweh hat und es nicht erwarten kann, wieder nach Hause zurückzukehren."
"Gut, sobald dies alles geklärt und ich meine eigenen Angelegenheiten geordnet habe, könnte ich Euren Vorschlag in Erwägung ziehen..."
"Marguerite und Louise wären sicherlich traurig, wenn Ihr uns nicht mit uns nach Italien begleitet, Amelie."
Die alte Dame seufzte tief auf und schenkte ihrem Gesprächspartner danach ein Lächeln.
"Nun ja, ich könnte mir gut vorstellen, mit Euch zu kommen", gab sie dann zu. "Doch Ihr müsst verstehen, dass es mir nicht so leicht fällt, mein bisheriges Leben einfach hinter mir zu lassen. Allerdings ich bin froh, dass meine beiden Mädchen in Sicherheit sein werden. Diese ganze Sache mit dem Marquise de Charron gefällt mir einfach nicht! Ich befürchte, dass sich bei Hofe und in Paris immer noch zwielichtige Gestalten herumtreiben, die eine Gefahr für andere darstellen. Und da man das letzte Mal die Lebrunnes überfiel und die Baronesse bei einer schwarzen Messe opferte, habe ich Angst, dass irgendwer es auf Marguerite abgesehen haben könnte. Mir wäre wohler, wenn sie und Louise so rasch wie möglich aus Paris gebracht werden könnten, denn ich habe seit der Entdeckung der schwarzen Bruderschaft keine ruhige Minute mehr."
"Ein Sündenpfuhl fürwahr", pflichtete Marcus ihr bei. "Umso eher habt Ihr Grund, mit mir zu kommen. Ich bin mir sicher, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis wir alle Paris verlassen werden. Wie ich hörte, soll Baron de Lebrunne mit den sterblichen Überresten seiner Gattin heute Morgen aufgebrochen sein, um sie zu bestatten."
"Was denn? Ohne Marguerite?!", fragte Madame de Colignon alarmiert und starrte ihren Gesprächspartner ungläubig an.
"So viel ich weiß, verweilt die Comtesse noch in ihrem Stadthaus", erwiderte Marcus. "Aber ängstigt Euch nicht unnötig. Aro hat Wachen um dieses Haus herum postiert und hält sich selbst stets in der Nähe auf. Glaubt mir, er ist genauso um Marguerites Sicherheit besorgt wie Ihr es seid."
"Wenigstens er kümmert sich um das Kind", murmelte die ältere Dame und wirkte etwas aufgebracht. "Es ist doch wirklich unglaublich, dass Baron de Lebrunne seine Nichte in dieser Situation allein lässt! Natürlich verstehe ich, dass er seine Ehefrau anständig unter die Erde bringen will. Aber dann hätte er Marguerite bitten müssen, ihn zu begleiten."
"Das hat er auch getan, doch sie lehnte dies ab!"
"Wie bitte?! Hat das Mädchen völlig den Verstand verloren?!"
"Keineswegs, Amelie. Vielmehr hat sie kein Vertrauen in Lebrunne, sondern wollte, dass er endlich aus ihrem Haus verschwindet. Schließlich gibt es für ihn keinen Grund mehr, länger dort zu sein, da er sich inzwischen recht gut von dem Überfall erholte. Glaubt mir, seine Abwesenheit aus Paris ist kein großer Verlust für Marguerite."
"Nun ja, mag sein... aber der Gedanke, dass das Mädchen allein in dem großen Haus ist, behagt mir nicht!"
"Sie ist nicht allein, Aro ist heute Nachmittag bei ihr, und ansonsten hält er sich immer in der Nähe ihres Hauses auf, zusammen mit einigen sehr fähigen Wachposten, die aus unserem Personal rekrutiert worden sind. Aber ich bitte Euch, Marguerite nichts davon zu verraten. Ich glaube kaum, dass es ihr gefallen wird, ständig bewacht zu sein."
"Eure Bruder Aro achtet sehr gut auf die Comtesse."
"Ja, das tut er. Darüber hinaus haben Caius und ich Euren Schützling auch seit langem ins Herz geschlossen und betrachten sie als unsere neue Schwester. Glaubt mir, sie wird mit Aro überaus glücklich sein."
"Zumindest ist der Anfang vielversprechend, die beiden sind ja sehr ineinander verliebt."
"In dieser Hinsicht sind sie nicht die Einzigen, liebste Amelie", murmelte Marcus und schenkte ihr einen warmen Blick. Sie errötete etwas und senkte leicht ihren Blick, wieder einmal bemerkend, dass sie sich wie eine Sechzehnjährige fühlte...
*
Nach dem Mittagessen und dem Abschied von Agnes und ihrem Verlobten zog sich Marguerite in die Bibliothek zurück und versuchte, sich durch Lektüre etwas abzulenken, bis Aro kam. Sie musste nicht lange warten, denn kaum hatte sie zwei Seiten gelesen, meldete ihr ein Bediensteter, dass Conte di Volturi sie zu sprechen wünsche.
"Ich lasse bitten", gab Marguerite zurück, legte das Buch beiseite und erhob sich, als ihr heimlicher Bräutigam den Raum betrat.
"Möchtet Ihr etwas essen oder trinken?", erkundigte sie sich bei ihm, doch Aro schüttelte nur den Kopf, worauf die junge Frau sich an den Bediensteten wandte, der wartend an der Tür stand: "Ich empfange ab jetzt niemanden mehr und möchte nicht gestört werden. Falls Mademoiselle Lefevre kommt, soll sie in ihrem Zimmer auf mich warten."
"Sehr wohl, Comtesse", sagte der Diener, verneigte sich leicht, verschloss die Tür und verschwand umgehend. Einen Augenblick wartete Marguerite noch, ehe sie überprüfte, ob nicht jemand hinter der Tür lauschte. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass dies nicht der Fall war, schloss sie die Tür erneut und wandte sich Aro zu, der sie mit amüsierten Blick musterte.
"Du scheinst kein großes Vertrauen in deine Dienerschaft zu haben, Liebes", meinte er dann mit leicht verhaltenem Lachen.
"Dienstboten sind immer neugierig und es ist besser, wenn man darauf achtet, was sie mitbekommen", erklärte sie lächelnd, ging dann auf ihn zu, umarmte und küsste ihn. Dann löste sie sich aus seinen Armen und setzte sich zusammen mit ihm auf das Sofa. "Heute Mittag habe ich zusammen mit Agnes und Thierry gespeist und sie von unserer baldigen Heirat in Kenntnis gesetzt. Sie waren sehr erfreut über diese Nachricht und sind gerne bereit, unsere Trauzeugen zu sein. Sobald Madame de Colignon also genesen ist, können wir heiraten, Aro."
"Dann dürfte es nicht mehr allzu lange dauern. Wie ich hörte, geht es Eurer Freundin schon sehr viel besser. Sie darf bereits aufstehen und Besuch empfangen."
"Das sind wirklich gute Neuigkeiten, Liebster. Hast du dich schon darum gekümmert, wo wir heiraten werden?"
"Es ist alles arrangiert, doch wie soll es nach der Heirat weitergehen, mein Herz?"
"Nun, zunächst einmal müssen wir uns offiziell verloben und ich schlage vor, dass wir das in zwei Tagen hier bei mir im kleinen Kreis unserer engsten Freunde machen, am besten am späten Nachmittag gegen halb sechs. Was hältst du davon?"
"Ganz wie du willst, Liebes. Wen möchtest du einladen?"
"Deine Brüder, Madame de Colignon, Louise, Thierry sowie Agnes und ihre Eltern."
"Soll ich das...?"
"Nein, nein, Aro, die Einladungen schreibe ich gerne selbst."
"Gut, möchtest du, dass ich etwas Besondere für unsere kleine Feier besorge?"
"Liebster, alles was ich mir wünsche ist, unseren Freunden mitzuteilen, dass wir uns verlobt haben und sie noch am gleichen Tag zu unserer Trauung einladen."
"Das trifft sich gut, denn sie findet in drei Tagen statt, mein Herz."
"Oh, so rasch schon! Wie wundervoll!"
"Du hast bestimmt ein sehr schönes Kleid, das du zu diesem Anlass anziehen kannst. Oder möchtest du dir ein neues anfertigen lassen? In diesem Fall verschiebe ich die Trauung um ein oder zwei Tage."
"Nein, auf gar keinen Fall! Ich habe genau das richtige Kleid für diesen Anlass, Aro! Erinnerst du dich noch daran, was ich auf dem Ball zu Silvester trug? Gibt es ein schöneres Gewand für unsere Trauung, Liebster?"
"Kaum, du siehst darin zauberhaft aus", erwiderte Aro, der einen verträumten Blick bekam. "Ganz gewiss wirst du die schönste Braut aller Zeiten sein."
"Und unsere Hochzeitsnacht verbringen wir dann hier in meinem Haus, ganz ungestört, in meinem Gemach", schlug Marguerite vor, wobei sich ihre Wangen vor Aufregung rot verfärbten. Ein Anblick, der den schwarzhaarigen Vampir nervös werden und ihn die Grenzen seiner Selbstbeherrschung spüren ließ. Doch mit dem Gedanken, dass sie ihm noch früh genug gehören würde, beruhigte er sich rasch und drängte seinen aufsteigenden Blutdurst zurück.
"Die Vorstellung, allein mir dir in einem Bett zu verbringen, ist wirklich sehr verführerisch", wandte Aro dann mit kaum verhohlenem Verlangen in der Stimme ein. "Allerdings wäre es für dich sehr viel angenehmer, wenn wir die Ehe an einem viel ruhigeren und angenehmeren Ort vollziehen würden als ausgerechnet in Paris, wo es derzeit so unruhig ist und man sich selbst im eigenen Haus nicht sicher sein kann."
"Wirklich rührend, wie besorgt du um meine Sicherheit bist", meinte Marguerite. "Aber ich bin kein besonders ängstlicher Mensch und so lange du in meiner Nähe bist, fühle ich mich vollkommen sicher. Außerdem habe ich Vertrauen in die Garden des Königs und des Kardinals. Seine Majestät lässt extra einige Musketiere immer wieder in dieser Straße hier patrouillieren, um mich zu schützen."
"Sehr fürsorglich von dem König", gab Aro zurück und nickte. "Die Liebenswürdigkeit Seiner Majestät für deine Person ist recht eindrucksvoll. Doch nachdem du meine Frau geworden bist, stehst du nicht mehr unter seiner Vormundschaft. Daher obliegt es in erster Linie mir, für deine Sicherheit zu sorgen, Marguerite."
"Also schön, Liebster, wo möchtest du dann unsere Hochzeitsnacht verbringen?", gab sie nach.
"Am liebsten in den Gemächern meines Palazzo in Italien, wo wir ganz sicher für mehrere Tage oder auch Wochen ungestört sind", schlug Aro vor und grinste sie an.
"Klingst verlockend", meinte Marguerite. "Doch das hieße, dass wir mit dem Vollzug unserer Ehe so lange warten müssen, bis wir in deine Heimat gereist sind. Dabei kann ich es kaum erwarten, die Nacht in deinen Armen zu verbringen."
"Je mehr du dich beherrschen musst, desto schöner wird unser Zusammensein, Liebes, das verspreche ich dir."
"Aber wird man denn nicht überprüfen, ob wir tatsächlich...?"
"Wer sollte das schon überprüfen? Deine Tante gewiss nicht mehr, dein Onkel ist zum Glück weg und niemand anderes wird Interesse daran haben, ob wir die Ehe miteinander vollzogen haben, sobald wir verheiratet sind. Lass uns dann gleich danach aus Paris nach Rochefort abreisen, worüber sich kein Mensch wundern dürfte."
"Oh ja, dort richte ich dann die Hochzeit zwischen Louise und meinem Verwalter aus. Sobald ich dem jungen Mann dann meine Instruktionen gegeben habe, können wir gerne nach Italien aufbrechen. Ich hoffe nur, dass die Fahrt dahin nicht allzu lange dauern wird."
"Es wird dir vorkommen, als ob du dorthin geflogen seist, Liebling."
Marguerite schwieg einen Moment mit glücklichem Lächeln und sah Aro verträumt an.
"Ich kann es kaum erwarten, endlich dort anzukommen und mit dir allein sein zu dürfen, Liebster", erklärte sie nach einer Weile mit sanfter Stimme. "Ein verlockendes Angebot, unserer Flitterwochen in deinem Palazzo zu verbringen. Doch vor meiner Abreise sollte ich unbedingt noch diesen Haushalt hier auflösen. Zuvor muss ich für die Dienerschaft Zeugnisse ausstellen, die gut ausfallen werden, denn ich war mit ihrer Arbeit zufrieden. Gewiss finden sie bald eine neue Anstellung. Nur um Arlette sorge ich mich etwas, sie lässt sich zu leicht vom äußeren Schein beeinflussen."
"Wer ist Arlette?", fragte Aro, obwohl er es wusste.
"Meine Kammerzofe, die meine Tante für unsere Zeit in Paris einstellte. Sie ist sehr jung und ich fürchte, dass sie in Paris untergehen wird, wenn sie weiterhin hier lebt und arbeitet. Wer weiß, bei welchen Herrschaften sie Anstellung findet? Auf dem Lande wäre sie sicherlich besser aufgehoben."
"Du könntest sie als deine Kammerzofe behalten und mitnehmen, mein Herz."
"Nein, ich möchte niemandem zumuten, seine Heimat zu verlassen, nur weil ich es tue."
"Das heißt also, du möchtest auch keinen deiner vertrauen Dienstboten mit nach Italien nehmen, Liebes?"
"Ja, richtig. Weißt du, wenn ich schon ein neues Leben mit dir beginne, spricht doch nichts dagegen, auch neue Dienerschaft in Italien einzustellen. Oder hast du etwas dagegen, Liebster?"
"Nein, natürlich nicht! Möglicherweise bist du jedoch auch mit meinen Bediensteten zufrieden, die bereits in meinem Palazzo angestellt sind."
"Vielleicht, mal sehen", meinte Marguerite, hob eine Hand, um seine Wange zu streicheln, und fuhr fort: "Ich bin wirklich sehr glücklich, dass wir beide uns begegnet sind."
Dann zog sie seinen Kopf näher an ihren und verschloss seinen Mund mit ihren Lippen...
Kapitel 48
Wenn jeder Mensch einen anderen Menschen glücklich macht,
wäre die ganze Welt in kurzer Zeit glücklich.
~ Anonymus~
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Bereits früh am nächsten Tag verabschiedete sich Baron de Lebrunne von seiner Nichte, um mit den sterblichen Überresten seiner Gattin nach Rochefort aufzubrechen, bedankte sich ein weiteres Mal bei ihr und bat sie erneut darum, ihn auf seinem Landgut zu besuchen. Genau wie gestern hielt sich Marguerite bei der Antwort bedeckt, verwies darauf, Rücksicht auf Madame de Colignon nehmen zu müssen und wünschte ihm eine gute Reise. Sie war erleichtert, als die Kutsche mit ihm endlich abfuhr, und fest davon überzeugt, ihn nie wiederzusehen.
Bedauerlicherweise hatte sie mit ihrem Onkel allein am Frühstückstisch gesessen, da Louise ihr gestern am späten Nachmittag eine Nachricht schickte, um sie darüber zu informieren, dass sie noch eine Weile bei Madame de Colignon bleiben würde. Die ältere Dame war etwas erkältet, aber bereits auf dem Wege der Besserung, dennoch hielt Louise es für angebracht, sie selbst zu pflegen. Marguerite war damit einverstanden, gab ihr dies doch Gelegenheit, heute Nachmittag endlich für eine längere Zeit allein mit Aro zusammen zu sein. Für diese Aussicht ließ sie gerne das Gefasel ihres Onkels über sich ergehen, der sich von seinem Schock prächtig erholt zu haben schien und den ganzen Morgen viel redete. Nochmals schilderte er in detailreichen Ausschmückungen den Überfall der Banditen auf seine Frau und ihn und sparte nicht damit zu betonen, wie gefährlich es für eine junge Dame sei, sich allzu lange ohne jegliche männliche Obhut in Paris aufzuhalten. Natürlich ahnte Marguerite, dass er ihr damit Furcht einflößen wollte, um sie dazu zu bringen ihn zu bitten, bald wieder zu ihr in die Hauptstadt zurückzukehren. Allerdings tat sie nichts dergleichen, obwohl der Baron sich tatsächlich große Mühe gab, sie mit den gefährlichen Banditen, die für schwarze Magier Auftragsarbeiten erledigten, einzuschüchtern.
"Lieber Onkel, Ihr macht Euch viel zu große Sorgen um mich", beendete sie diese Ausführungen schließlich in freundlichem Ton. "Aber ich versichere Euch, dass mir Kardinal Mazarin unmissverständlich zu verstehen gab, dass ich als ein Mündel des Königs bis zu meiner Heirat unter einem besonderen Schutz stehe. Es ist also zu vermuten, dass in der Nähe meiner Wohnung Personen postiert wurden, damit mir nichts geschieht. Somit könnt Ihr unbesorgt nach Rochefort fahren, Eure Gemahlin beerdigen lassen und danach auf Euer eigenes Anwesen zurückkehren. Ich werde auch nicht mehr allzu lange in Paris verweilen."
Nach diesen Worten ließ Baron de Lebrunne seine Erzählungen von dem Überfall bleiben, um danach darüber zu sprechen, wie unbegreiflich es für ihn sei, dass Charron ausgerechnet seine Frau als Opfer auserwählt habe, obwohl er weder sie noch ihn persönlich kannte. Auch dass sein Freund Guignot sterben musste, sei ihm unverständlich. Ihm sei völlig schleierhaft, was jener im Hause Charrons zu suchen hatte und gleichfalls geopfert wurde, obwohl er ein Mann war.
"Seine Majestät hat Personen beauftragt, diese und andere Fragen zu klären", gab Marguerite nach diesen Ausführungen zurück, in der Hoffnung, damit endlich den Redeschwall ihres Onkels beenden zu können. "Es tut mir sehr leid, was mit Tante Adrienne und Monsieur Guignot passiert ist, doch hat es keinen Sinn, weiter darüber zu spekulieren. Das Geschehene können wir nicht ändern, sondern lediglich alles dafür tun, damit die Seelen der uns Nahestehenden Frieden finden. Deshalb wünsche ich Euch eine gute Reise auf dem Weg, um die sterblichen Überreste Eurer Gemahlin zur letzten Ruhestätte unserer Familie zu bringen und dort in der Gruft beisetzen zu lassen. Sobald ich nach Hause zurückkehre, werde ich ebenfalls eine Messe für die lesen lassen."
"Habt Dank für diese Freundlichkeit, mein liebes Kind", erwiderte der Baron. "Darüber hinaus möchte ich Euch versichern, dass Ihr Euch immer an mich wenden könnt, wenn Ihr Hilfe braucht."
Ohne dieses Anerbieten zu beantworten, nickte Marguerite ihm zu und atmete innerlich auf, als er sich kurz danach verabschiedete, um nach Rochefort aufzubrechen. Rasch bestellte sie eine Bedienstete zu sich und ordnete an, dass heute pünktlich um halb eins das Essen auf dem Tisch stehen sollte, da sie zwei Gäste erwartete. Innerlich freute sie sich schon darauf, Agnes und Thierry wiederzusehen, die sie mittlerweile sehr lieb gewonnen hatte.
Um etwa zwölf Uhr traf das junge Brautpaar ein und Marguerite ließ im Kleinen Salon, in den sie die beiden hereinbat, einen leichten Weißwein servieren. Danach setzten sie sich zusammen und die junge Hausherrin beschloss, ihre neuen Freunde von ihrem baldigen Vorhaben zu informieren.
"Es freut mich, dass Ihr beiden meiner Einladung so rasch gefolgt seid", begann die Comtesse. "Auch muss ich mich noch bei Euren Eltern dafür bedanken, dass sie Euch allein zu mir kommen ließen, Agnes."
"Meine Eltern vertrauen Euch vollkommen", antwortete das Mädchen. "Sie halten große Stücke auf Euch und waren der Meinung, dass Ihr momentan jede Art von Zerstreuung braucht, um über die traurigen Umstände hinwegzukommen."
"Das ist sehr freundlich von Euren Eltern und ich bin mir sicher, sie hätten nichts dagegen einzuwenden, dass ich auch Euren Verlobten zu mir einlud."
"Dagegen hätten sie absolut nichts", bejahte Agnes und tauschte mit Thierry einen verliebten Blick aus. "Wenn es nach meinen Eltern ginge, könnten wir schon morgen heiraten, aber ich wünsche mir eine große Feier und deshalb findet diese im Frühling statt, vor oder nach Ostern, da sind wir uns noch nicht einig."
"Eine schöne Jahreszeit, um den Bund fürs Leben zu schließen", gab Marguerite lächelnd zurück. "Allerdings will ich damit nicht so lange warten."
Agnes und Thierry starten die Comtesse an, dann fragte das junge Mädchen erstaunt: "Soll das etwa heißen, dass Ihr bald heiraten wollt?"
"Ja, das habt Ihr richtig verstanden", bestätigte die Herrin des Hauses. "Genauer gesagt, wird meine Hochzeit noch im Januar stattfinden."
"Welch eine Überraschung!", entfuhr es Agnes, dann strahlte sie über das ganze Gesicht. "Wisst Ihr schon, an welchem Tage?"
"Nein, darüber werde ich mit meinem Bräutigam erst heute Nachmittag sprechen. Aber er meinte, wenn ich es wollte, könnte dies sehr rasch gehen."
"Und der Glücklich ist wohl... Conte Aro?"
"Ja, Agnes, aber das habt Ihr wohl schon geahnt, nicht wahr?"
"Herzlichen Glückwunsch, Comtesse", sagte nun Thierry. "Doch ist es vor einer Eheschließung nicht üblich, dass man sich verlobt?"
"Ihr habt selbstverständlich recht", stimmte ihm Marguerite zu. "Allerdings sind Conte Aro und ich schon seit längerem heimlich verlobt und haben auch schon einen Ehevertrag geschlossen, dem zwei Zeugen beiwohnten. Einer davon ist Madame de Colignon, die mich in dieser Hinsicht vollkommen unterstützt hat."
"Wenn ich das richtig verstehe, wussten also weder Eure Tante noch Euer Onkel davon?"
"So ist es! Meine Tante hätte niemals ihre Zustimmung zu dieser Verbindung gegeben, obwohl Conte Aro vom gesellschaftlichen Stand durchaus eine angemessene Partie für mich darstellt."
"Warum war Eure Tante dann gegen diese Verbindung?"
"Wenn es stimmt, was mein Onkel mir gestand, wollte sie mich mit Monsieur de Guignot verheiraten, den ich absolut nicht ausstehen konnte!"
"Wie bitte?!", entfuhr es Agnes und Thierry gleichzeitig und sie starrten Marguerite ungläubig an.
"Nun ja, ich weiß nicht, ob das, was mein Onkel mir sagte, tatsächlich der Wahrheit entspricht. Doch wenn dem so gewesen ist, hätte das mein Ansehen beschmutzt", erklärte Marguerite. "Guignot war weder adelig noch besaß er ein großes Vermögen, aber dessen ungeachtet empfinde ich es weitaus bedenklicher, dass meine Tante ernsthaft jemanden als Ehemann für mich in Erwägung zog, der in Paris den Ruf eines Lüstlings genoss!"
"Vielleicht war der Ruf dieses Mannes Eurer Tante nicht bekannt?", wandte Thierry ein.
"Glaubt mir, sie wusste davon", gab die Comtesse zurück.
"Warum wünschte sie dann, dass dieser Mann Euch heiratet?", fragte der junge Mann verwundert.
"Es mag sich seltsam anhören, aber meine Tante hasste mich, schätzte Guignot jedoch über alles", erklärte Marguerite. "Vermutlich wünschte sie sich, dass er ständig in ihrer und der Nähe ihres Mannes lebte. Meine Empfindungen und auch mein Ruf waren ihr dabei völlig gleichgültig."
"Kaum zu glauben", wunderte sich Thierry, der sichtlich erschüttert wirkte. "Bei einer Heirat hätte er gewiss nach Gutdünken über Euer Vermögen verfügen können, was doch bestimmt nicht dem Wunsche Eurer Tante entsprechen konnte."
"Vermutlich hatten sie und Ihr Gemahl schon einen Ehevertrag formuliert, der die beiden absicherte", meinte die Comtesse. "Anders kann ich mir nicht erklären, warum sie ausgerechnet auf Guignot als potentiellen Ehemann für mich kamen. Meine Tante hat sich von Anfang an als Herrin von Rochefort aufgespielt und wollte ganz sicher nicht die Verfügungsgewalt über mein Vermögen verlieren."
"Das ist allerdings sehr bedenklich", stimmte der junge Mann zu und schüttelte den Kopf. "Denkt Ihr wirklich, dass die Baronesse etwas Derartiges vorhatte?"
"Jedenfalls behauptet mein Onkel dies", erwiderte Marguerite. "Allerdings erzählte er mir dies, bevor der Überfall auf seine Frau und ihn stattfand."
"Demnach muss es also gar nicht der Wahrheit entsprechen?"
"Nein, obwohl mir schleierhaft ist, weshalb mein Onkel so etwas behaupten sollte. Das ergibt keinen Sinn für mich."
"Bestimmt wollte er Euch nur einschüchtern", mutmaßte Agnes. "Verzeiht mir bitte, wenn ich das jetzt sage, Comtesse, aber wir alle kannten die Baronesse gut und vielleicht hat Euer Onkel nur so etwas zu Euch gesagt, weil seine Frau sich mal wieder über Euch beschwerte."
"Ach? Mir war nicht bekannt, dass Außenstehende davon wussten. Hat meine Tante etwas darüber verlauten lassen?"
"Nun, Eure Tante sprach bei gesellschaftlichen Zusammenkünften zwar nie direkt schlecht über Euch, allerdings sprach ihr Gesichtsausdruck Bände, wenn Sie Euch beobachtete oder wenn jemand in ihrer Nähe Euch lobte", erklärte Agnes. "Außerdem dürfte Guignot, als Vertrauter Eurer Verwandten und als der von ihnen für Euch auserwählte Ehekandidat, davon gewusst haben."
"Ja, das glaube ich auch", stimmte Marguerite ihrer jüngeren Freundin zu. "Glücklicherweise gehört all das nun der Vergangenheit an, selbst wenn die Umstände, durch die sowohl meine Tante als auch Guignot ums Leben kamen, sehr unerfreulich und im Falle meiner Verwandten für mich persönlich äußerst schmerzlich sind. - Doch eine Frage habe ich noch: Findet Ihr, dass es unangebracht ist, wenn ich so kurz nach dem Tod meiner Tante heirate?"
"Aber nein!", versicherte Agnes ihr rasch. "Das gilt doch nur für Ihren Ehemann, der anstandshalber ein Jahr warten sollte, ehe er sich erneut mit einer anderen Frau verbindet. In Eurem Fall kommt noch hinzu, dass Ihr minderjährig seid und ein Ehemann Euch Schutz bietet. Niemand wird sich daran stören, dass Ihr Conte Aro zum Manne nehmt."
"Und wie seht Ihr das, Thierry?"
"Ich stimme Agnes völlig zu, Comtesse."
"Demnach seid Ihr also mit der Wahl meines Ehemannes einverstanden?"
Die beiden jungen Leute nickten.
"Wenn das so ist, bitte ich Euch, unsere Trauzeugen zu sein", erklärte Marguerite.
"Ja, sehr gerne", sagte Agnes sofort.
"Mit dem größten Vergnügen", antwortete Thierry.
"Es freut mich sehr, dass Ihr einverstanden seid", fuhr die Comtesse fort. "Und ich bin Euch außerdem für Euren Rat überaus dankbar."
"Nennt uns nur den Tag Eurer Hochzeit, wir werden da sein", versprach der junge Mann.
"Heute Nachmittag werde ich mit Aro alles besprechen", sagte Marguerite, die bei diesen Worten wieder glücklich wirkte. "Ich kann es wirklich kaum erwarten, seine Frau zu werden."
"Das verstehe ich nur allzu gut", pflichtete Agnes ihr bei. "Wo werdet Ihr nach Eurer Heirat leben? In Frankreich oder in Italien?"
"Das weiß ich noch nicht, vielleicht reisen wir erst einmal eine Weile in der Welt herum. Darum habe ich Aro gebeten und er versprach es mir."
"Aber Ihr werdet doch bestimmt zu unserer Hochzeit kommen, nicht wahr?", fragte das junge Mädchen.
"Natürlich, darauf freue ich mich sehr", erwiderte Marguerite.
"Ist es nicht schön, wie sich die Dinge so wunderbar zusammenfügen?", seufzte Agnes verträumt. "Wenn doch alles so einfach wäre."
"Nun, ich glaube, mein Leben wird in Zukunft etwas weniger kompliziert sein als in den letzten Monaten", meinte Marguerite und erhob sich. "Kommt, lasst uns zu Tisch gehen. Das Mittagessen wird sicher in wenigen Augenblicken serviert werden."
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Die Comtesse hob kurz ihre Augenbrauen und erklärte amüsiert: "Sagte ich es nicht?"
Agnes und Thierry lachten, als das Dienstmädchen eintrat und meldete: "Das Essen ist fertig!"
***
Am Nachmittag des gleichen Tages lag Madame de Colignon halb auf dem Sofa im Wohnzimmer ihres Stadthauses und ließ sich von Louise, die auf der freien Stelle neben ihr saß, alle Einzelheiten berichten, die man bisher über das Verschwinden der Baronesse de Lebrunne und dem ominösen Fund im Hause des Marquis de Charron herausgefunden hatte. Mit ungläubigem Blick lauschte die alte Dame den Spekulationen, die in Paris kursierten, als einer ihrer Bediensteten zaghaft klopfte und meldete, dass die Conte di Volturi gekommen seien.
"Ich lasse bitten", sagte die Herrin des Hauses und lächelte etwas. Bereits gestern schon hatte Conte Marcus vorgesprochen, sich nach ihrem Befinden erkundigt und angefragt, ob er etwas für sie tun könne. Die Mitteilung Louises darüber freute sie insgeheim und auch jetzt spürte sie, dass ihr Herz klopfte wie damals, als sie ein junges Mädchen war. Konnte es tatsächlich möglich sein, dass sie mehr als Freundschaft für den älteren Bruder der drei italienischen Grafen zu empfinden begann? Himmel, sie war doch keine 16 Jahre mehr... töricht, und dennoch...
Ihre Gedanken wurden durch den Eintritt von Marcus und seinem jüngeren Bruder Caius unterbrochen, denen sie sogleich ihre Aufmerksamkeit schenkte.
"Bitte verzeiht mir, meine Herren, dass ich mich heute noch nicht erheben kann, um Euch auf angemessene Weise zu begrüßen", entschuldigte sich Madame de Colignon bei ihnen. "Mein Arzt empfahl mir, mich noch zu schonen und erlaubte mir lediglich, mich im Wohnzimmer aufzuhalten."
"Geht es Euch wirklich schon etwas besser?", erkundigte sich Marcus mit besorgter Miene.
"Aber ja, mein Lieber, kein Grund zur Sorge", beruhigte sie ihn und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. "Ich fühle mich ganz gut, aber ich darf mich nicht übermäßig anstrengen - und meine liebe Louise passt auf, dass ich mich an die Anweisungen des Arztes halte."
"Ich bin sehr froh, dass Louise auf Euch achtet, Amelie", antwortete Marcus und lächelte die junge Gesellschafterin an. "Habt vielen Dank für Eure Fürsorge, mein liebes Kind. Bitte, erlaubt mir, für eine Weile Euren Platz neben Madame de Colignon einzunehmen."
"Selbstverständlich", gab die junge Frau zurück und erhob sich, ihm ihren Platz einräumend. Gleich danach gesellte sie sich an die Seite von Caius, der neben seinem Bruder gestanden hatte.
Nachdem der blonde Vampir Louise ein kurzes Lächeln schenkte, wandte er sich sogleich an die Herrin des Hauses und sagte: "Mich freut es auch, dass es Euch besser geht, Madam."
Nach diesen Worten verneigte er sich vor der älteren Dame und fuhr fort. "Wenn Ihr erlaubt, möchte ich Euch ein wenig auf dem Spinett vorspielen."
"Eine hübsche Idee", meinte Madame de Colignon und nickte. "Sehr freundlich von Euch."
"Würdet Ihr so gut sein, mir dabei Gesellschaft zu leisten, Louise?", wandte sich Caius danach an seine Scheinverlobte.
"Natürlich", gab die junge Frau zurück und begleitete ihn zu dem Instrument, vor dem er sich niederließ und begann einige der Notenblätter, die darauf lagen, durchzusehen. Madame de Colignon und Marcus achteten nicht auf ihn, sondern waren damit beschäftigt, sich miteinander zu unterhalten. Diese Gelegenheit nutzte Caius, um Louise zuzuraunen: "Wie schön, dass wir endlich mal wieder zusammen sind, meine Liebe, denn ich gestehe, dass ich Eure Gesellschaft genieße und tatsächlich etwas vermisse, wenn wir uns einige Zeit nicht sehen."
"Ihr seid sehr freundlich, Caius, aber mir wäre es lieber, wenn Ihr nicht solche Worte an mich richten würdet", murmelte Louise.
"Es tut mir leid, wenn Euch meine Ehrlichkeit unangenehm ist, aber ich kann wirklich nichts dafür, dass meine Sympathie für Euch von Tag zu Tag wächst", flüsterte er in entschuldigendem Ton. "Eure liebenswürdige Art nimmt mich nun einmal für Euch ein, Louise, und ich kann sehr gut verstehen, dass Comtesse Marguerite Eure Freundschaft über alles schätzt. So ist es auch mit mir. Sagt, wollt Ihr wirklich den jungen Mann heiraten, mit dem Ihr Euch heimlich verlobtet?"
"Natürlich, Caius, das wisst Ihr und Ihr habt mir versprochen, Euch dem nicht in den Weg zu stellen", erinnerte sie ihn. "Ihr gabt mir Euer Wort als Ehrenmann, dass wir uns nur zum Schein verloben, damit mich keiner der edlen Herren bei Hofe belästigt. Das habt ihr doch hoffentlich nicht vergessen?"
"Nein, natürlich nicht! Und ich werde mein Wort halten!", erwiderte der blonde Jüngling. "Aber Ihr dürft mir nicht verübeln, dass ich mich hin und wieder vergewissere, ob sich Eure Gefühle nicht doch geändert haben. Nur ein Wort von Euch und ich bin ganz der Eure, Louise. Glaubt mir, ich hätte nichts dagegen, wenn wir unsere Beziehung vertiefen würden, denn ich mag Euch sehr."
"Eure Worte bringen mich in Verlegenheit, Caius, denn ich liebe nach wie vor nur meinen echten Verlobten. Tut mir leid, wenn Euch diese Wahrheit schmerzt, aber Ihr wusstet von Anfang an, dass ich jemand anderen liebe."
"Ihr habt recht, verzeiht mir bitte", meinte er und legte mehrere Notenblätter auf die dafür vorgesehene Ablagefläche über der Tastatur. "Entschuldigt, dass meine Zunge manchmal ausplaudert, wie es mir ums Herz ist, auch wenn ich mir jedes Mal vornehme, zu schweigen."
"Dass ich dermaßen starke Gefühle in Euch hervorrufe, tut mir sehr leid, denn das lag niemals in meiner Absicht und es quält auch mich, dass die Liebe zu meinem Verlobten Euch unglücklich macht. Deshalb bitte ich Euch inständig, nicht immer wieder nachzufragen, ob sich meine Empfindungen Euch zugewandt haben. Ihr seid mir ein guter Freund geworden und ich bin Euch dankbar dafür, dass Ihr mich beschützen wollt - aber mehr möchte ich wirklich nicht von Euch, Caius. Bitte, respektiert dies."
"Ich wollte Euch wirklich niemals quälen, bitte glaubt mir das, Louise. Das Einzige, was ich mit meinen Fragen bezweckte, war die Vergewisserung Euer Empfindungen, da mir Euer Glück wirklich am Herzen liegt - denn ich habe Euch sehr liebgewonnen", erwiderte Caius. "Da meine Brüder und ich bald wieder nach Italien zurückkehren werden, drängte sich mir die Erkenntnis schmerzhaft auf, wie bald wir voneinander Abschied nehmen müssen und uns vermutlich danach eine lange Zeit oder gar nicht mehr wiedersehen. Nur deshalb sah ich mich gezwungen, mich nochmals bei Euch zu erkundigen, ob sich Eure Gefühle geändert haben. Nun ist zwischen uns jedoch alles klar und deshalb wird mir die uns verbleibende Zeit miteinander sehr wertvoll sein. Sobald wir in die Heimat aufbrechen, werde ich Euch zu vermissen beginnen, dessen seid gewiss. Und noch eines kann ich Euch versprechen: Selbst wenn wir uns nie mehr begegnen werden, bleibt Ihr mir auf ewig in Erinnerung als eine liebenswürdige, kluge, junge Dame, die für mich mehr Wert besitzt als all die eingebildeten, adligen Hofschranzen, die Euch nicht das Wasser reichen können. Vergesst nie, welch ein wertvoller Mensch Ihr seid, Louise! Und ich hoffe wirklich sehr, dass Euer zukünftiger Mann immer zu schätzen weiß, welch eine wundervolle Gefährtin er in Euch gefunden hat."
"Das wird er, dessen bin ich mir gewiss", versicherte ihm die junge Frau.
"Falls es wider Erwarten anders ist, dann scheut Euch nicht, mich davon in Kenntnis zu setzen", gab Caius zurück. "Denn ich werde immer Euer Freund sein und Euch helfen, solltet Ihr in Not geraten."
"Ein einfaches Mädchen wie ich und ein Gutsverwalter, für den sich niemand interessiert, werden gewiss ein ruhiges Leben führen, Caius, darum mache ich mir wenig Sorgen. Und nun wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr endlich damit beginnen würdet, für Madame de Colignon zu spielen. Sicherlich wundert sie sich schon, warum wir immer noch hier herumstehen und miteinander flüstern."
Der blonde Vampir warf einen kurzen Blick auf das Sofa, auf dem die Herrin des Hauses mit Marcus saß und sich immer noch mit diesem unterhielt, wobei die beiden ihre Augen nicht voneinander lösen konnten. Amüsiert schaute Caius Louise an und murmelte: "Weder Madame noch mein Bruder scheinen sich dafür zu interessieren, ob wir hier miteinander reden oder musizieren. Und falls doch, dann nimmt unsere werte Hausherrin gewiss an, dass wir beiden ebenfalls unsere Ruhe haben wollen, so wie mein Bruder und sie."
Louise sah nun auch zu ihrer Dienstherrin, staunte darüber, wie glücklich sie aussah und wandte sich danach ihrem Scheinverlobten zu: "Wisst Ihr, ob Euer Bruder ernste Absichten auf Madame de Colignon hat?"
"Marcus spricht nicht viel, schon gar nicht über seine Gefühle - und wenn doch, dann nicht mit mir. Allerdings ist Aro und mir nicht entgangen, wie sehr er sich für unsere liebe Nachbarin interessiert. Ich glaube, er ist in Madame de Colignon verliebt."
"Mon Dieu", seufzte Louise und schüttelte dann den Kopf. "Ich weiß nicht, was ich davon zu halten habe."
"Gar nichts habt Ihr davon zu halten, meine Liebe", ermahnte Caius sie. "Schließlich wollt auch Ihr, dass man Eure Gefühle und Eure Beziehung zu Eurem Verlobten respektiert. Den gleichen Respekt haben aber auch alle anderen verdient, findet Ihr nicht? Madame de Colignon scheint gerne in Gesellschaft von Marcus zu sein und ihm geht es genauso. Mein älterer Bruder ist ein sehr verschlossener Charakter und nun sehe ich zum ersten Mal, dass er aufzublühen scheint. Darüber freue ich mich sehr, und meiner Meinung nach hat darüber niemand ein Urteil zu fällen."
"Natürlich nicht, Ihr habt recht", pflichtete ihm Louise bei. "Bitte, verzeiht mir, doch in letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass sich alle Angelegenheiten mit rasender Geschwindigkeit zu entwickeln scheinen, ohne dass jemand eine Kontrolle darüber hat. Hinzu kommt noch diese schreckliche Geschichte mit Baronesse de Lebrunne, die von schwarzen Magiern geopfert wurde. Wer hätte je gedacht, dass sich solche fruchtbaren Menschen mitten in Paris befinden und zum Großteil aus Hofkreisen stammen? Das ist einfach erschreckend! Glaubt mir, Caius, je eher wir alle Paris den Rücken kehren, desto besser werde ich mich fühlen."
"Das verstehe ich vollkommen, denn mir geht es genauso", gab der blonde Vampir ihr Recht. "Ich habe den Eindruck, dass es viele falsche Schlangen bei Hofe gibt. Man kann nur hoffen, dass den Majestäten nichts passiert. Aber mir wäre auch wohler, wenn Marguerite, Ihr und Madame de Colignon so bald wie möglich abreisten."
Louise, der nicht entgangen war, dass Caius zuerst den Namen ihrer Freundin nannte, schwieg dazu, doch in ihr keimte der Verdacht auf, dass der Jüngste der Volturi-Brüder mehr für Marguerite empfand, als er zugab; und möglicherweise waren die angeblich zunehmenden Sympathien für sie, seine Scheinverlobte, nur Caius' verzweifelter Versuch, die starken Gefühle, die er für Marguerite hegte, auf eine andere Person zu lenken. Schließlich waren ihre Freundin und sein Bruder Aro ineinander verliebt, heimlich verlobt und wollten bald heiraten. Eine schwierige und womöglich auch überaus schmerzvolle Situation für Caius. Er tat ihr wirklich leid, aber sie wusste nicht, wie sie ihm in solch einer Seelenlage beistehen sollte.
"Kommt, lasst uns zusammen ein Stück spielen", schlug Louise daher vor und setzte sich zu Caius auf die Klavierbank.
"Wundervoll, ich wagte es nicht, Euch darum zu bitten", behauptete der blonde Jüngling mit breitem Lächeln und wenig später klang ein melancholisches Musikstück durch den Raum...
*
Kaum dass Caius mit Louise zum Spinett gegangen war, begannen Madame de Colignon und Marcus eine Unterhaltung miteinander.
"Gewiss könnt Ihr kaum ermessen, wie glücklich ich bin, dass es Euch wieder besser geht, liebe Amelie", begann der ältere Mann, nahm die ihm dargereichte Hand der verehrten Dame und hauchte einen Kuss darauf. "Euer Unwohlsein hat mir wirklich Sorgen bereitet."
"Tut mir wirklich leid, das zu hören, mein lieber Marcus", erwiderte die Herrin des Hauses. "Dennoch rührt mich Eure Fürsorge, da ich für Euch doch eigentlich eine Fremde bin und wir uns noch nicht lange kennen."
"Oh, Ihr seid keinesfalls eine Fremde für mich", wandte der Angesprochene ein und lächelte sie freundlich an. "Selbst wenn wir uns erst eine kurze Zeit kennen, fühle ich mich bei Euch wie zu Hause - es ist, als sei ich endlich dort angekommen, wo man mich seit langem erwartet hat. Zwischen uns gibt es eine besondere Verbindung, Amelie, spürt Ihr das nicht auch?"
"Nun, ich muss zugeben, dass ich mich zu Euch hingezogen fühle, obgleich ich dies nicht zu erklären vermag, Marcus."
"Und ich vermisse Eure Gesellschaft, sobald ich nicht mehr bei Euch bin. Gibt es ein eindeutigeres Zeichen dafür, dass wir zueinander gehören, liebste Amelie? Darum würde ich mich sehr freuen, wenn Ihr uns nach Italien begleiten würdet, um dort als mein persönlicher Gast zu verweilen. Es wird Euch auf unserem Schloss sicherlich gefallen und wir haben Gelegenheit, uns besser kennenzulernen."
"Ihr habt mir diesen Vorschlag schon einmal unterbreitet und ich sagte Euch, dass ich es mir überlegen wolle. Denn ich kann nicht nur an mich selbst denken, sondern fühle mich für Marguerite und Louise verantwortlich."
"Marguerite wird bestimmt bald Aros Frau und er ist sehr gut in der Lage, sie vor allem Unbill zu beschützen. Vermutlich werden die beiden nach der Hochzeit ebenfalls nach Italien wollen, so dass wir gemeinsam dorthin reisen können."
"Und was ist mit Louise und Caius?"
"Die beiden können sehr gut aufeinander achten, wobei ich Euch verrate, dass Caius starkes Heimweh hat und es nicht erwarten kann, wieder nach Hause zurückzukehren."
"Gut, sobald dies alles geklärt und ich meine eigenen Angelegenheiten geordnet habe, könnte ich Euren Vorschlag in Erwägung ziehen..."
"Marguerite und Louise wären sicherlich traurig, wenn Ihr uns nicht mit uns nach Italien begleitet, Amelie."
Die alte Dame seufzte tief auf und schenkte ihrem Gesprächspartner danach ein Lächeln.
"Nun ja, ich könnte mir gut vorstellen, mit Euch zu kommen", gab sie dann zu. "Doch Ihr müsst verstehen, dass es mir nicht so leicht fällt, mein bisheriges Leben einfach hinter mir zu lassen. Allerdings ich bin froh, dass meine beiden Mädchen in Sicherheit sein werden. Diese ganze Sache mit dem Marquise de Charron gefällt mir einfach nicht! Ich befürchte, dass sich bei Hofe und in Paris immer noch zwielichtige Gestalten herumtreiben, die eine Gefahr für andere darstellen. Und da man das letzte Mal die Lebrunnes überfiel und die Baronesse bei einer schwarzen Messe opferte, habe ich Angst, dass irgendwer es auf Marguerite abgesehen haben könnte. Mir wäre wohler, wenn sie und Louise so rasch wie möglich aus Paris gebracht werden könnten, denn ich habe seit der Entdeckung der schwarzen Bruderschaft keine ruhige Minute mehr."
"Ein Sündenpfuhl fürwahr", pflichtete Marcus ihr bei. "Umso eher habt Ihr Grund, mit mir zu kommen. Ich bin mir sicher, dass es nicht mehr allzu lange dauern wird, bis wir alle Paris verlassen werden. Wie ich hörte, soll Baron de Lebrunne mit den sterblichen Überresten seiner Gattin heute Morgen aufgebrochen sein, um sie zu bestatten."
"Was denn? Ohne Marguerite?!", fragte Madame de Colignon alarmiert und starrte ihren Gesprächspartner ungläubig an.
"So viel ich weiß, verweilt die Comtesse noch in ihrem Stadthaus", erwiderte Marcus. "Aber ängstigt Euch nicht unnötig. Aro hat Wachen um dieses Haus herum postiert und hält sich selbst stets in der Nähe auf. Glaubt mir, er ist genauso um Marguerites Sicherheit besorgt wie Ihr es seid."
"Wenigstens er kümmert sich um das Kind", murmelte die ältere Dame und wirkte etwas aufgebracht. "Es ist doch wirklich unglaublich, dass Baron de Lebrunne seine Nichte in dieser Situation allein lässt! Natürlich verstehe ich, dass er seine Ehefrau anständig unter die Erde bringen will. Aber dann hätte er Marguerite bitten müssen, ihn zu begleiten."
"Das hat er auch getan, doch sie lehnte dies ab!"
"Wie bitte?! Hat das Mädchen völlig den Verstand verloren?!"
"Keineswegs, Amelie. Vielmehr hat sie kein Vertrauen in Lebrunne, sondern wollte, dass er endlich aus ihrem Haus verschwindet. Schließlich gibt es für ihn keinen Grund mehr, länger dort zu sein, da er sich inzwischen recht gut von dem Überfall erholte. Glaubt mir, seine Abwesenheit aus Paris ist kein großer Verlust für Marguerite."
"Nun ja, mag sein... aber der Gedanke, dass das Mädchen allein in dem großen Haus ist, behagt mir nicht!"
"Sie ist nicht allein, Aro ist heute Nachmittag bei ihr, und ansonsten hält er sich immer in der Nähe ihres Hauses auf, zusammen mit einigen sehr fähigen Wachposten, die aus unserem Personal rekrutiert worden sind. Aber ich bitte Euch, Marguerite nichts davon zu verraten. Ich glaube kaum, dass es ihr gefallen wird, ständig bewacht zu sein."
"Eure Bruder Aro achtet sehr gut auf die Comtesse."
"Ja, das tut er. Darüber hinaus haben Caius und ich Euren Schützling auch seit langem ins Herz geschlossen und betrachten sie als unsere neue Schwester. Glaubt mir, sie wird mit Aro überaus glücklich sein."
"Zumindest ist der Anfang vielversprechend, die beiden sind ja sehr ineinander verliebt."
"In dieser Hinsicht sind sie nicht die Einzigen, liebste Amelie", murmelte Marcus und schenkte ihr einen warmen Blick. Sie errötete etwas und senkte leicht ihren Blick, wieder einmal bemerkend, dass sie sich wie eine Sechzehnjährige fühlte...
*
Nach dem Mittagessen und dem Abschied von Agnes und ihrem Verlobten zog sich Marguerite in die Bibliothek zurück und versuchte, sich durch Lektüre etwas abzulenken, bis Aro kam. Sie musste nicht lange warten, denn kaum hatte sie zwei Seiten gelesen, meldete ihr ein Bediensteter, dass Conte di Volturi sie zu sprechen wünsche.
"Ich lasse bitten", gab Marguerite zurück, legte das Buch beiseite und erhob sich, als ihr heimlicher Bräutigam den Raum betrat.
"Möchtet Ihr etwas essen oder trinken?", erkundigte sie sich bei ihm, doch Aro schüttelte nur den Kopf, worauf die junge Frau sich an den Bediensteten wandte, der wartend an der Tür stand: "Ich empfange ab jetzt niemanden mehr und möchte nicht gestört werden. Falls Mademoiselle Lefevre kommt, soll sie in ihrem Zimmer auf mich warten."
"Sehr wohl, Comtesse", sagte der Diener, verneigte sich leicht, verschloss die Tür und verschwand umgehend. Einen Augenblick wartete Marguerite noch, ehe sie überprüfte, ob nicht jemand hinter der Tür lauschte. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass dies nicht der Fall war, schloss sie die Tür erneut und wandte sich Aro zu, der sie mit amüsierten Blick musterte.
"Du scheinst kein großes Vertrauen in deine Dienerschaft zu haben, Liebes", meinte er dann mit leicht verhaltenem Lachen.
"Dienstboten sind immer neugierig und es ist besser, wenn man darauf achtet, was sie mitbekommen", erklärte sie lächelnd, ging dann auf ihn zu, umarmte und küsste ihn. Dann löste sie sich aus seinen Armen und setzte sich zusammen mit ihm auf das Sofa. "Heute Mittag habe ich zusammen mit Agnes und Thierry gespeist und sie von unserer baldigen Heirat in Kenntnis gesetzt. Sie waren sehr erfreut über diese Nachricht und sind gerne bereit, unsere Trauzeugen zu sein. Sobald Madame de Colignon also genesen ist, können wir heiraten, Aro."
"Dann dürfte es nicht mehr allzu lange dauern. Wie ich hörte, geht es Eurer Freundin schon sehr viel besser. Sie darf bereits aufstehen und Besuch empfangen."
"Das sind wirklich gute Neuigkeiten, Liebster. Hast du dich schon darum gekümmert, wo wir heiraten werden?"
"Es ist alles arrangiert, doch wie soll es nach der Heirat weitergehen, mein Herz?"
"Nun, zunächst einmal müssen wir uns offiziell verloben und ich schlage vor, dass wir das in zwei Tagen hier bei mir im kleinen Kreis unserer engsten Freunde machen, am besten am späten Nachmittag gegen halb sechs. Was hältst du davon?"
"Ganz wie du willst, Liebes. Wen möchtest du einladen?"
"Deine Brüder, Madame de Colignon, Louise, Thierry sowie Agnes und ihre Eltern."
"Soll ich das...?"
"Nein, nein, Aro, die Einladungen schreibe ich gerne selbst."
"Gut, möchtest du, dass ich etwas Besondere für unsere kleine Feier besorge?"
"Liebster, alles was ich mir wünsche ist, unseren Freunden mitzuteilen, dass wir uns verlobt haben und sie noch am gleichen Tag zu unserer Trauung einladen."
"Das trifft sich gut, denn sie findet in drei Tagen statt, mein Herz."
"Oh, so rasch schon! Wie wundervoll!"
"Du hast bestimmt ein sehr schönes Kleid, das du zu diesem Anlass anziehen kannst. Oder möchtest du dir ein neues anfertigen lassen? In diesem Fall verschiebe ich die Trauung um ein oder zwei Tage."
"Nein, auf gar keinen Fall! Ich habe genau das richtige Kleid für diesen Anlass, Aro! Erinnerst du dich noch daran, was ich auf dem Ball zu Silvester trug? Gibt es ein schöneres Gewand für unsere Trauung, Liebster?"
"Kaum, du siehst darin zauberhaft aus", erwiderte Aro, der einen verträumten Blick bekam. "Ganz gewiss wirst du die schönste Braut aller Zeiten sein."
"Und unsere Hochzeitsnacht verbringen wir dann hier in meinem Haus, ganz ungestört, in meinem Gemach", schlug Marguerite vor, wobei sich ihre Wangen vor Aufregung rot verfärbten. Ein Anblick, der den schwarzhaarigen Vampir nervös werden und ihn die Grenzen seiner Selbstbeherrschung spüren ließ. Doch mit dem Gedanken, dass sie ihm noch früh genug gehören würde, beruhigte er sich rasch und drängte seinen aufsteigenden Blutdurst zurück.
"Die Vorstellung, allein mir dir in einem Bett zu verbringen, ist wirklich sehr verführerisch", wandte Aro dann mit kaum verhohlenem Verlangen in der Stimme ein. "Allerdings wäre es für dich sehr viel angenehmer, wenn wir die Ehe an einem viel ruhigeren und angenehmeren Ort vollziehen würden als ausgerechnet in Paris, wo es derzeit so unruhig ist und man sich selbst im eigenen Haus nicht sicher sein kann."
"Wirklich rührend, wie besorgt du um meine Sicherheit bist", meinte Marguerite. "Aber ich bin kein besonders ängstlicher Mensch und so lange du in meiner Nähe bist, fühle ich mich vollkommen sicher. Außerdem habe ich Vertrauen in die Garden des Königs und des Kardinals. Seine Majestät lässt extra einige Musketiere immer wieder in dieser Straße hier patrouillieren, um mich zu schützen."
"Sehr fürsorglich von dem König", gab Aro zurück und nickte. "Die Liebenswürdigkeit Seiner Majestät für deine Person ist recht eindrucksvoll. Doch nachdem du meine Frau geworden bist, stehst du nicht mehr unter seiner Vormundschaft. Daher obliegt es in erster Linie mir, für deine Sicherheit zu sorgen, Marguerite."
"Also schön, Liebster, wo möchtest du dann unsere Hochzeitsnacht verbringen?", gab sie nach.
"Am liebsten in den Gemächern meines Palazzo in Italien, wo wir ganz sicher für mehrere Tage oder auch Wochen ungestört sind", schlug Aro vor und grinste sie an.
"Klingst verlockend", meinte Marguerite. "Doch das hieße, dass wir mit dem Vollzug unserer Ehe so lange warten müssen, bis wir in deine Heimat gereist sind. Dabei kann ich es kaum erwarten, die Nacht in deinen Armen zu verbringen."
"Je mehr du dich beherrschen musst, desto schöner wird unser Zusammensein, Liebes, das verspreche ich dir."
"Aber wird man denn nicht überprüfen, ob wir tatsächlich...?"
"Wer sollte das schon überprüfen? Deine Tante gewiss nicht mehr, dein Onkel ist zum Glück weg und niemand anderes wird Interesse daran haben, ob wir die Ehe miteinander vollzogen haben, sobald wir verheiratet sind. Lass uns dann gleich danach aus Paris nach Rochefort abreisen, worüber sich kein Mensch wundern dürfte."
"Oh ja, dort richte ich dann die Hochzeit zwischen Louise und meinem Verwalter aus. Sobald ich dem jungen Mann dann meine Instruktionen gegeben habe, können wir gerne nach Italien aufbrechen. Ich hoffe nur, dass die Fahrt dahin nicht allzu lange dauern wird."
"Es wird dir vorkommen, als ob du dorthin geflogen seist, Liebling."
Marguerite schwieg einen Moment mit glücklichem Lächeln und sah Aro verträumt an.
"Ich kann es kaum erwarten, endlich dort anzukommen und mit dir allein sein zu dürfen, Liebster", erklärte sie nach einer Weile mit sanfter Stimme. "Ein verlockendes Angebot, unserer Flitterwochen in deinem Palazzo zu verbringen. Doch vor meiner Abreise sollte ich unbedingt noch diesen Haushalt hier auflösen. Zuvor muss ich für die Dienerschaft Zeugnisse ausstellen, die gut ausfallen werden, denn ich war mit ihrer Arbeit zufrieden. Gewiss finden sie bald eine neue Anstellung. Nur um Arlette sorge ich mich etwas, sie lässt sich zu leicht vom äußeren Schein beeinflussen."
"Wer ist Arlette?", fragte Aro, obwohl er es wusste.
"Meine Kammerzofe, die meine Tante für unsere Zeit in Paris einstellte. Sie ist sehr jung und ich fürchte, dass sie in Paris untergehen wird, wenn sie weiterhin hier lebt und arbeitet. Wer weiß, bei welchen Herrschaften sie Anstellung findet? Auf dem Lande wäre sie sicherlich besser aufgehoben."
"Du könntest sie als deine Kammerzofe behalten und mitnehmen, mein Herz."
"Nein, ich möchte niemandem zumuten, seine Heimat zu verlassen, nur weil ich es tue."
"Das heißt also, du möchtest auch keinen deiner vertrauen Dienstboten mit nach Italien nehmen, Liebes?"
"Ja, richtig. Weißt du, wenn ich schon ein neues Leben mit dir beginne, spricht doch nichts dagegen, auch neue Dienerschaft in Italien einzustellen. Oder hast du etwas dagegen, Liebster?"
"Nein, natürlich nicht! Möglicherweise bist du jedoch auch mit meinen Bediensteten zufrieden, die bereits in meinem Palazzo angestellt sind."
"Vielleicht, mal sehen", meinte Marguerite, hob eine Hand, um seine Wange zu streicheln, und fuhr fort: "Ich bin wirklich sehr glücklich, dass wir beide uns begegnet sind."
Dann zog sie seinen Kopf näher an ihren und verschloss seinen Mund mit ihren Lippen...
Kapitel 49
Wen die Flamme der Eifersucht umringt, der wendet zuletzt,
gleich dem Skorpione, gegen sich selber den vergifteten Stachel .
~ Aus: "Also sprach Zarathustra",
Friedrich Nietzsche (1844 - 1900) ~
~~~~~
Wie geplant wurde zwei Tage nach dem Gespräch zwischen Marguerite und Aro ihre offizielle Verlobung im Hause der Comtesse gefeiert, worüber besonders Madame de Fournier höchst erstaunt war. Dennoch freute sie sich über Marguerites Glück, einen adäquaten Ehemann gefunden zu haben. Als sie jedoch hörte, dass die Hochzeit bereits am nächsten Tag stattfinden sollte, fragte sie erstaunt: "Ist das nicht ein wenig verfrüht, Comtesse?"
"Nein, Madame de Fournier, das finde ich nicht. Nach all den Turbulenzen in der letzten Zeit halte ich es für sehr vernünftig, zu heiraten."
"Oh ja, ich verstehe, was Ihr meint", pflichtete ihr Agnes' Mutter bei und seufzte etwas. "Natürlich ist es für eine Frau besser, unter dem Schutz eines Ehemannes zu stehen. Wird Euer Onkel denn heute Abend nach Paris zurückkehren, um Eurer Trauung beizuwohnen?"
"Nein, Baron de Lebrunne ist gewiss schon in sein eigenes Domizil zurückgekehrt", meinte Marguerite. "Ich glaube, er möchte sich für eine gewisse Zeit zurückziehen. Vergesst nicht, was er durchgemacht hat. Der Verlust meiner Tante hat ihn tief getroffen."
"Ja, ja, das glaube ich wohl. Allerdings ist es doch recht ungewöhnlich, wenn eine junge Dame ohne einen Verwandten heiratet, oder?"
"Mag sein, aber im Grunde ist er nur ein angeheirateter Verwandter, ansonsten habe ich niemanden mehr."
"Armes Kind, kein Wunder, dass Ihr Euch so rasch wie möglich vermählen wollt."
"Seid bedankt für Euer Verständnis."
Doch außer Madame de Fournier fragte niemand mehr nach. Ihr eigener Ehemann wusste bereits, dass Marguerite nach dem Tode ihrer Tante unter der Vormundschaft des Königs stand, bis sie verheiratet war. Daher schloss er, dass die baldige Hochzeit nicht nur aus Liebe, sondern auch deshalb stattfand, damit die junge Dame über ihr Vermögen selbst verfügen konnte.
Außerdem wusste Monsieur de Fournier durch seinen zukünftigen Schwiegersohn, der bei Hofe wohlgelitten war, dass viele der adligen Herrlein, die von der Verlobung Marguerite de Rocheforts erfuhren, darüber alles andere als glücklich waren. Nichtsdestotrotz vertrat Agnes' Vater die Meinung, dass Rocheforts Tochter mit dem italienischen Grafen eine gute Wahl getroffen hatte. Denn allem Anschein nach war Conte Aro nicht nur schrecklich verliebt in das Mädchen und zudem eine überaus gute Partie, sondern auch kein törichter Laffe wie so viele andere junge Herren von Adel. Gut nachvollziehbar, warum sie einem solchen Mann den Vorzug gab, selbst wenn das hieß, dass sie möglicherweise Frankreich mit ihrem Gatten verließ. Sollte sie sich tatsächlich dazu entschließen, nach Italien zu gehen, wäre dies durchaus verständlich - vor allem nach dem schrecklichen Mord an ihrer Tante, der bislang von niemandem aufgeklärt werden konnte. Darüber hinaus wäre es möglich, dass noch weitere Mitglieder dieser sogenannten "schwarzen Bruderschaft" existierten. Wer wusste denn schon, ob wirklich alle während des letzten Ritualmords dabei waren? Bedachte man all diese Umstände, könnte Marguerite de Rochefort möglicherweise in Gefahr schweben. In diesem Fall war es für sie besser, so rasch wie möglich außer Landes und in Sicherheit gebracht zu werden; und wer würde nicht gerne in Sicherheit gebracht von jemandem, den man liebte. Ohne Zweifel waren das Mädchen und der italienische Adlige bis über beide Ohren ineinander verliebt, so dass es für die Kleine kein großes Opfer wäre, ihre Heimat zu verlassen...
*
Zur gleichen Zeit saß Arlette, die junge Zofe Marguerites, trübselig in der Küche am Tisch, ohne auf das geschäftige Treiben um sie herum zu achten. Sie war keinesfalls glücklich darüber, dass Comtesse Marguerite am Tage der Hochzeit ihren Haushalt komplett auflösen wollte. Nicht einmal die Feier fand mehr in den Räumen des gemieteten Stadthauses statt, sondern im Hause ihres Bräutigams. Durchaus verständlich, aber dennoch traurig. Das Mädchen wusste nicht, was aus ihr wurde, sobald ihr Dienst endete. Die Comtesse hatte ihr zwar ein gutes Zeugnis ausgestellt, aber so rasch fand sie keine neue Arbeit. Was sollte sie nur machen?
Auch, dass Mademoiselle Lefevre heute Nacht wieder hier blieb, um der Comtesse am nächsten Tag bei den Vorbereitungen zur Hochzeit zu helfen, gefiel Arlette nicht und sie fragte sich, weshalb man sie nicht gleich vor die Tür gesetzt hatte?
"Warum so trübsinnig?", fragte eine der anderen Bediensteten die Zofe, als sie sie in der Küche traurig herumsitzen sah. "Im Hause ist eine Verlobung und alle sind fröhlich. Aber dich schein all das nicht zu interessieren. Warum?"
"Morgen heiratet die Comtesse und ich sitze dann auf der Straße, weil ich nicht weiß, wohin", gab Arlette missmutig zurück. "Glaub mir, ich gönne es unserer jungen Herrin von Herzen, dass sie glücklich wird, aber angesichts meiner wenig erfreulichen Zukunft ist es mir unmöglich, mich darüber zu freuen."
"Kopf hoch! Es findet sich schon eine Lösung", meinte das andere Mädchen und schenkte ihr ein Lächeln. "Was hältst du davon, mich zu meiner neuen Herrschaft zu begleiten? Vielleicht haben sie noch eine Stellung für dich oder kennen jemanden, der eine Zofe braucht."
"Nun ja... warum nicht?", meinte Arlette. "Schließlich habe ich nichts zu verlieren."
"Was hältst du davon, ein wenig im Großen Salon auszuhelfen? Das bringt dich wenigstens auf andere Gedanken."
"Ja, gut, ich habe ohnehin nichts zu tun."
*
Als Arlette mit einem Tablett voller Gebäck in den Großen Salon trat, um die Süßigkeiten allen Anwesenden darzubieten, stand Marguerite gerade mit Agnes und Thierry zusammen im Gespräch. Die jungen Leute hatten ihr gerade erzählt, dass Monsieur und Madame de Fournier geneigt seien, ihnen zu erlauben, bald zu heiraten.
"Das habe ich nur Eurem Entschluss, Euch morgen zu vermählen, zu verdanken", meinte Agnes gerade. "Womöglich könnte ich dann einen Teil Eurer Dienerschaft übernehmen, schließlich brauche ich auch einige Bedienstete für mich. Eine Zofe zum Beispiel."
"Und Eure Köchin würde ich sehr gerne übernehmen", sagte Thierry. "Das Essen ist hervorragend."
"Was ist denn mit Eurer eigenen Köchin auf Eurem Landsitz?", fragte Marguerite erstaunt. "Ihr wollt sie doch nicht etwa entlassen?"
"Nein, aber sie ist schon recht betagt", erklärte der junge Mann. "Eigentlich gab ich ihr durch die Blume zu verstehen, sich besser zur Ruhe zu setzen, doch davon wollte sie partout nichts hören. Daher lasse ich die gute Seele weitermachen, hätte aber gern jemanden zu ihrer Unterstützung in der Küche."
"Schön, ich werde später darüber mit meiner Köchin sprechen. Leider weiß ich nicht, ob sie schon einen neuen Dienstherrn hat", antwortete die Comtesse. In diesem Moment kam Arlette mit dem Gebäck bei ihnen vorbei und der Blick Marguerites fiel auf das Mädchen.
"Allerdings könnte ich Euch eine hervorragende Zofe empfehlen", fuhr die Braut danach fort. "Dies hier ist Arlette, meine eigene Zofe. Ich glaube, sie sucht noch eine neue Stellung."
"Ist es so?", wandte sich Agnes sofort an die Bedienstete.
"Ja, Mademoiselle", gab Arlette zu und nickte.
"Würdest du in meine Dienste treten?"
"Natürlich! Sehr gern sogar", stimmte Arlette sogleich zu, ihr Glück kaum fassen könnend.
"Ausgezeichnet! Dann melde dich bei meinen Eltern, den Fourniers, sobald du deinen Dienst bei Comtesse de Rochefort beendet hast."
"Vielen Dank, Mademoiselle de Fournier, ich werde kommen."
"Gut, ich freue mich darauf, dich bald näher kennenzulernen. Bis dann."
Agnes nahm eines der Gebäckstücke und Marguerite nickte Arlette mit freundlichem Lächeln zu. Die junge Zofe gab das Lächeln zurück, während sie spürte, wie ihr ein großer Stein vom Herzen fiel...
***
Während Marguerite mit Aro ihre Verlobung feierte, begegneten sich während der Nachmittagsstunden, die die Königin heute bei ihren Kindern verbrachte, Giselle de Roux und Francois de Hervais, mitten auf dem Flur des Palastes.
"Welch Freude, Euch zu sehen", begrüßte Giselle den jungen Mann.
"Die Freude liegt ganz auf meiner Seite", behauptete Francois, lächelte sie an und neigte leicht sein Haupt vor ihr. "Habt Ihr frei, meine Liebe?"
"Nur bedingt und die Zeit will ich dazu nutzen, an Comtesse de Rochefort ein kleines Glückwunschschreiben zu verfassen", erklärte sie und beobachtete interessiert ihr Gegenüber.
"Ein Glückwunschschreiben?", erkundigte sich Francois stirnrunzelnd. "Ich dachte, der Geburtstag der Comtesse sei erst übermorgen?"
"Mag sein, das weiß ich nicht so genau wie anscheinend Ihr", gab Giselle lächelnd zurück. "Aber deshalb will ich ihr nicht schreiben."
"Ach nein? Und weshalb dann? Gibt es einen besonderen Grund, Ihr Glückwünsche zu übermitteln?"
"Das kann man wohl sagen, mein Lieber: Comtesse de Rochefort verlobt sich heute offiziell."
"Was? Woher wisst Ihr davon?"
"Gestern erhielt ich einen Brief meiner Tante Amelie, die mir berichtete, heute zu der Verlobungsfeier der Comtesse eingeladen worden zu sein."
Es bereitete Giselle innerliches Vergnügen zu beobachten, wie Hervais alle Farbe aus dem Gesicht verlor. Genau wie sie vermutete, hatte er noch nichts über diese nicht allseits bekannte Neuigkeit gehört. Bewundernswert war es schon, wie die kleine Rochefort es geschafft hatte, die Ankündigung ihrer Verlobung geheim zu halten. Ihre Freunde waren äußerst verschwiegen, worum man das Mädchen tatsächlich beneiden könnte.
"Ist das auch wirklich sicher?", fragte der Jüngling nach.
"Oh ja, meine Tante würde mir so etwas sonst nicht mitteilen."
"Wer... hm... wer ist denn... der... beneidenswerte... Glückliche?"
"Könnt Ihr Euch das denn nicht denken, Monsieur de Hervais?"
"Würde ich sonst fragen? Bitte, sagt es mir, Mademoiselle de Roux."
"Conte Aro di Volturi hat ihr für jeden offensichtlich den Hof gemacht, was der Comtesse so sehr gefiel, dass sie ihn erhört und seinen Heiratsantrag angenommen hat."
Sprachlos starrte Francois die junge Hofdame vor ihm an, die ihn freundlich anlächelte.
"Conte Aro di Volturi...", wiederholte der Jüngling nach einer Weile fast unhörbar. "Einer dieser reichen italienischen Brüder also. Meine Güte, was findet sie nur an dem?"
"Das fragt Ihr doch nicht im Ernst, oder?", gab Giselle zurück, die den Anblick ihres leidenden Gesprächspartners genoss. "Aro di Volturi ist überaus charmant, versteht es meisterhaft, Konversation zu betreiben, ist ein hervorragender Tänzer und sieht überdies gut aus. Hinzu kommt, dass er gesellschaftlich auf einer Stufe mit der Comtesse steht und in jeder Hinsicht einen ihr adäquaten Partner darstellt. Ich würde sogar sagen, dass er die vorteilhaftere Partei von beiden ist."
"Deshalb also stimmte Baron de Lebrunne dieser Heirat zu", murmelte Francois, der etwas verwirrt wirkte.
"Oh, die Comtesse bedurfte keiner Zustimmung seinerseits", klärte Giselle ihn auf. "Sie erhielt von Seiner Majestät, der derzeit als ihr nomineller Vormund fungiert, eine Heiratserlaubnis, so dass sie sich ihren zukünftigen Gemahl selbst wählen konnte."
"Wie bitte? Das darf doch nicht wahr sein!", entfuhr es Francois.
"Aber was habt Ihr denn? Missfällt Euch die Wahl der Comtesse?", fragte Giselle mit gespielter Verwunderung, obwohl sie wusste, wie sehr ihr Gegenüber selbst in Marguerite verliebt war.
"Dazu habe ich wohl kaum ein Recht", knurrte er, sich mühsam selbst beherrschend, aber sichtlich verärgert. "Dennoch muss ich eingestehen, dass es mir nicht gefallen will, wenn ein Italiener, auch wenn er ein Ehrenmann ist, eine junge Dame aus altem, französischen Adel zur Gattin nehmen will, um mit ihr danach in sein Heimatland zu verschwinden."
"Es ist doch nicht ungewöhnlich, dass eine Frau ihrem Ehemann in sein Domizil folgt. Ist das nicht der Lauf der Welt, Monsieur Hervais?"
"Normalerweise würde ich Euch zustimmen, aber in diesem Fall ist Comtesse de Rochefort das letzte Mitglied der alten Familie der Rocheforts. Es wäre viel besser, wenn sie einen Landsmann ehelichen würde."
"Nun, momentan verlobt sie sich nur und Ihr könntet immerhin noch heute bei ihr vorsprechen, um ihr die Hochzeit mit Conte Aro di Volturi auszureden. Vielleicht leuchten ihr die Argumente ein, die Ihr mir soeben vortrugt."
"Das glaube ich kaum, denn sie muss völlig blind vor Liebe sein, wenn sie sich so kurz nach dem Ableben ihrer Tante mit diesem Volturi verlobt, den sie kaum kennt."
"Ich bin geneigt, Euch zuzustimmen, dass die Comtesse sehr verliebt in Conte Aro ist. Vor allem, wenn man bedenkt, dass sie bereits morgen Nachmittag seine Frau werden will."
"WAS?!"
"Die Comtesse kann es offenbar nicht erwarten, so rasch wie möglich unter die Haube zu kommen. Nun ja, wer kann es ihr verdenken? So jung und alleinstehend bietet ihr ein Ehemann immerhin einen gewissen Schutz."
"Ist wenigstens ihr Onkel wieder nach Paris zurückgekehrt?"
"Davon habe ich nichts gehört", erwiderte Giselle freimütig. "Ganz gewiss weilt er noch auf Gut Rochefort, wo er seine verstorbene Frau beisetzen lassen und für sie eine Messe lesen lassen wollte. Ich bin sogar davon überzeugt, dass er weder von der Verlobung noch von der Heirat seiner Nichte mit Aro di Volturi etwas weiß. Womöglich wäre es ganz gut, ihn davon in Kenntnis zu setzen?"
"Wie kann die Comtesse nur ohne die Anwesenheit eines Verwandten einen ihr völlig Fremden heiraten?", gab Francois erregt zurück. "Dieser Volturi muss ihr völlig den Kopf verdreht haben oder er nutzt es aus, dass sie derzeit aus Trauer über den Verlust ihrer Tante nicht in der Lage ist, klar zu denken."
"Mag sein, dass Ihr in dieser Hinsicht der Wahrheit recht nahe kommt", goss Giselle mit süßen Worten noch Öl in das lodernde Feuer der zornigen Eifersucht, die Hervais ganz offensichtlich erfasst hatte.
"Ich werde sogleich den König um Erlaubnis bitten, mir ein paar Tage freizugeben."
"Seine Majestät wird es gewiss nicht gutheißen, wenn Ihr Euch in die Angelegenheiten seines Mündels einmischt."
"Es liegt nicht in meiner Absicht, mich in die Angelegenheiten der Comtesse einzumischen. Doch hier geht es darum, jemanden zu schützen - eine Person, der ich mich nahe fühle. Der König kann nichts dagegen haben, wenn ich ihn darum bitte, einer nahen Angehörigen beizustehen. Er wird gewiss nicht nachfragen."
"Und was dann? Was habt Ihr vor?"
"Ich denke, dass ich Gut Rochefort heute Abend erreichen werde, um Baron de Lebrunne über die neuesten Unternehmungen seiner Nichte aufzuklären."
"Ihr habe sicherlich nur das Beste für Comtesse Marguerite de Rochefort im Sinn", meinte Giselle in leicht ironischem Ton, der dem zornigen Jüngling allerdings entging. "Viel Glück, Monsieur Hervais."
"Danke, das kann ich gut gebrauchen", erwiderte er, verneigte sich leicht vor der Hofdame, drehte sich dann um und stapfte mit raschen Schritten davon.
Giselle sah ihm mit spöttischem Lächeln nach, überzeugt davon, dass weder er noch Baron de Lebrunne irgendetwas unternehmen konnten. Was sollten sie schon machen? Die Majestäten wussten von Marguerites Wahl und hatten offensichtlich nichts dagegen. Warum auch? Conte Aro di Volturi war eine sehr gute Partie und der König womöglich froh darüber, dass ein Mädchen, welches er nicht als Mätresse für sich gewinnen konnte, das Land bald mit ihrem Ehemann verließ.
Auch Giselle freute sich darüber, dass Marguerite bereits morgen Nachmittag eine verheiratete Frau war und nur noch wenige Tage in Paris verweilen würde. Danach entdeckten einige der jungen Herren bei Hofe vielleicht wieder, dass noch andere heiratsfähige Mädchen existierten...
***
Nachdem der König ihm auf seine eindringlichen Bitten endlich einige Tage freigegeben hatte, verließ der zu allem entschlossene Francois de Hervais auf dem Rücken seines schlanken, geschmeidigen Rappens Paris. Auf dem Weg nach Rochefort ritt der junge Adlige eine Weile, seine Gedanken voller Sehnsucht bei Marguerite verweilend, die er aus den Fängen dieses Aro di Volturi retten wollte, und sich immer wieder einredend, dass Volturi ihre Trauer für seine Zwecke ausgenutzt hatte, um ihr Ja-Wort zu bekommen, bis er schließlich selbst davon überzeugt war.
Francois hatte bereits eine beträchtliche Strecke hinter sich gebracht, als es zu dämmern begann und ihm aus der anderen Richtung ein kräftiger Mann auf einem ebenso kräftigen, braunen Pferd entgegenkam, seinen Mantel eng um sich geschlungen und den Hut tief ins Gesicht gezogen.
"Bonsoir, Monsieur", begrüßte der Jüngling den anderen Reiter, der den Gruß erwiderte. "Ist es noch weit bis Rochefort?"
"Ungefähr eine halbe Tagesreise, junger Freund", antwortete der kräftige Mann. "Es wäre besser für Euch, bald irgendwo einzukehren und Eure Reise morgen früh fortzusetzen. Bei Nacht ist das viel zu gefährlich."
"Ich fürchte die Gefahr nicht!"
"Mon Dieu, mein Junge, was kann denn so wichtig sein, dass Ihr dies auf Euch nehmen wollt?!"
"Ich muss dem Baron de Lebrunne unbedingt etwas mitteilen, was keinerlei Aufschub bedarf."
"Dann könnt Ihr Euch den Weg sparen, junger Freund", gab der kräftige Mann zurück und schob seinen Hut nach oben, so dass Hervais das Antlitz seines Gegenüber besser sehen konnte.
"Baron! Ihr seid es selbst!", entfuhr es Francois überrascht. "Demnach scheint Euch die unglaubliche Nachricht bereits zugetragen worden zu sein."
"Welche Nachricht denn?", fragte Roger erstaunt. "Wovon sprecht Ihr, junger Freund?"
"Verzeiht, ich nahm an, dass..."
"Kommt, lasst uns den Weg nach Paris gemeinsam fortsetzen. Dabei könnt Ihr mir berichten, was Ihr auf dem Herzen habt", schlug der Baron vor, worauf der Jüngling nickte. "Entschuldigt bitte, junger Freund, Ihr kommt mir zwar bekannt vor, aber ich kann Euch momentan nicht recht einordnen."
"Mein Name ist Francois de Hervais. Wir sind uns auf dem Ball an Silvester begegnet."
"Ach ja, ich erinnere mich... Tut mir leid, dass mir Euer Name entfiel, aber die schrecklichen Ereignisse, die ich erlitt, haben mich sehr mitgenommen. Doch dessen ungeachtet möchte ich natürlich meine Nichte nicht länger als nötig allein lassen, weshalb ich jetzt wieder nach Paris zurückkehre."
"Oh, demnach erwartet Euch die Comtesse?"
"Nein, nein! Sie weiß nichts davon. Das gute Kind meinte vielmehr, ich solle auf mein eigenes Landgut zurückkehren und mich dort erholen", erklärte Lebrunne. "Aber Ihr wolltet mir etwas Wichtiges mitteilen, Monsieur de Hervais?"
"Ja, es handelt sich um Eure Nichte, die Comtesse de Rochefort."
"Um Himmels Willen! Ist Ihr etwas geschehen? Wurde sie entführt?", erkundigte sich der Baron sofort voller Unruhe.
"Nein, nichts dergleichen!", versicherte Francois sofort. "Verzeiht meine ungeschickte Wortwahl, es lag nicht in meiner Absicht, Euch einen Schrecken einzujagen. Nach meiner Kenntnis geht es Eurer Nichte gut und sie befindet sich in ihrem Stadthaus, wo sie ihre Verlobung mit Conte Aro di Volturi feiert."
"WIE BITTE?!!!", entfuhr es Roger, der glaubte, sich verhört zu haben. "Das ist ein schlechter Scherz, Monsieur de Hervais!"
"Bedauerlicherweise handelt es sich um keinen Scherz, Baron! Comtesse Marguerite hat sich heute offiziell mit Aro di Volturi verlobt."
"Unglaublich! Einfach unglaublich!", rief Lebrunne aufgebracht aus. "Was fällt den beiden ein, sich ohne mein Wissen zu verloben?! Wie konnte Marguerite mir so etwas antun?!"
"Ich bin sicher, dass sie dies nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte tat", nahm Francois das junge Mädchen sofort in Schutz.
Der Baron wandte ihm sein wutverzerrtes Gesicht zu und fragte: "Wie meint Ihr das?"
"Sie war bestimmt immer noch verwirrt, traurig und möglicherweise verängstigt, als Conte Aro di Volturi ihr einen Heiratsantrag unterbreitete", erklärte der Jüngling seine Sichtweise der Dinge.
Lebrunnes wutverzerrte Miene verwandelte sich in eine höchst erstaunte.
"Wie kommt Ihr zu dieser Annahme, Monsieur de Hervais?", erkundigte er sich interessiert.
"Der plötzlich Tod Eurer Frau und die Umstände, die dazu führten, haben Comtesse de Rochefort sicherlich beunruhigt", meinte Francois. "Außerdem ist sie noch so jung und momentan ohne jeglichen, männlichen Schutz, dass sie vielleicht die erste Hand ergriffen hat, die sich ihr entgegenstreckte. Ich wünschte nur, ich wäre schneller gewesen als Volturi! Aber wer hätte denn ahnen können, dass dieser Italiener so unverfroren ist, ihr so kurz nach dem Ableben ihrer Tante einen Antrag zu machen? Gesellschaftliches Feingefühl scheint ihm vollkommen zu fehlen."
"Ihr sprecht mir aus der Seele, junger Freund", stimmte Roger ihm zu und nickte. "Es entspricht zwar der Wahrheit, dass meine Nichte durch den Tod ihrer Tante etwas durcheinander war - allerdings hatte sie bereits kurz nach dem Silvesterball eine heftige Vernarrtheit in Aro di Volturi entwickelt, wie wohl kaum jemandem entging. Anfangs hielten meine Frau und ich das für eine vorübergehende Schwärmerei, doch Marguerite interessierte sich bald für keinen anderen der jungen Herren mehr."
"Habt Ihr denn nicht versucht, es Eurer Nichte auszureden?"
"Doch, vor allem meine Frau, aber auch ich redeten mit Engelszungen auf Marguerite ein und wiesen sie mehrfach auf den fragwürdigen Charakter jenes Herren hin, mit dem sie sich jetzt verlobt hat", behauptete der Baron. "Aber seid Ihr denn wirklich sicher, dass Marguerite sich tatsächlich mit ihm verlobt hat? Möglicherweise handelt es sich nur um ein Gerücht?"
"Nein, Baron, ich fürchte, dass es wahr ist. Mademoiselle de Roux hat es von ihrer Tante, Madame de Colignon, erfahren - und diese Dame war doch mit dem verstorbenen Comte de Rochefort gut befreundet und unterhält nun auch ein freundschaftliches Verhältnis zu Eurer Nichte. Es muss stimmen."
"Ihr habt recht! Madame de Colignon würde so etwas nicht einfach so dahin sagen, wenn es nicht wahr wäre!"
"Was wollt Ihr nun unternehmen?"
"Ich weiß es nicht, Monsieur de Hervais, für mich kam die Nachricht über Marguerites Verlobung völlig unerwartet."
"Man müsste nochmal mit ihr sprechen, Baron! Sagtet Ihr nicht, dass sie ein wenig durcheinander gewesen sei, als Ihr abreistet?"
"Ja, ja, das trifft zu..."
"Seht Ihr! Volturi hat diesen schwachen Augenblick ausgenutzt, gewartet, bis Ihr gegangen seid, um Eurer Nichte dann aus heiterem Himmel einen Antrag zu machen."
"Könnte sein. Zumindest sähe das diesem Aro ähnlich..."
"Wir sollten zu ihr gehen und nochmal das Gespräch unter vier Augen mit ihr suchen", ließ Francois nicht locker. "Ich bin gerne bereit, Euch bei dem Versuch, Eure Nichte wieder zur Vernunft zu bringen, zur Seite zu stehen."
"Sehr nett von Euch, aber warum wollt Ihr das tun?"
"Verzeiht mir bitte, wenn ich Euch gestehe, dass ich mich in Eure Nichte verliebte und mir nichts mehr wünsche, als sie zur Frau zu nehmen. Das Glück der Comtesse liegt mir mehr als alles andere am Herzen."
"Nun... ich verstehe...", gab Roger zurück, dem es gar nicht gefiel, in seinem jungen Begleiter einen potenziellen Konkurrenten an seiner Seite zu haben. Bei ihm würde er aufpassen müssen, was er sagte. Darum fuhr er fort: "Marguerite ist ein hübsches, reizendes Kind und gefällt sicherlich vielen Männern. Aber sie hat auch einen eigenen Kopf - und da sie, wie ich bereits erklärt habe, in Aro di Volturi vernarrt ist, glaubt sie, ihr Glück liege darin, seine Frau zu werden."
"Deshalb müssen wir Ihr diesen Irrtum so schnell wie möglich ausreden!", beharrte Francois auf seinem Vorschlag.
"Meine Frau und ich haben es lange und eindringlich vergebens versucht", antwortete Roger und schüttelte den Kopf. Dann seufzte er laut und sprach weiter: "Ich fürchte, es ist aussichtslos, mit Marguerite darüber zu sprechen, dass sie einen Fehler begeht, indem sie den Antrag von Aro di Volturi annimmt. Bei allem, was diesen Mann betrifft, ist meine Nichte leider so stur wie ein Maulesel. Der Kerl hat ihr die Sinne verwirrt und ihr kleines Herz verzaubert, so dass..."
"Genau!", fiel der junge Hervais ihm ins Wort. "Aro di Volturi hat sie verzaubert, behext... deshalb ist sie so vernarrt in ihn... es muss ein Liebeszauber sein, der sie an ihn bindet! Vielleicht gehört Aro di Volturi auch zu dieser schwarzen Bruderschaft, die Eure Frau ermordet haben, Baron?!"
"Aber wie kommt Ihr denn darauf?!"
"Diese italienischen Brüder tauchten an Silvester auf - und seit Ende Dezember und Anfang des Jahres findet man hin und wieder Leichen, ohne sichtbare Spuren von Gewalt. Sie sind meistens sehr gut versteckt und halb verwest, bis man sie entdeckt. Der Gestank ist fürchterlich!"
"Nicht doch, junger Freund, Eure Eifersucht regt Euch zu wilden Spekulationen an! Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass drei so vornehme Herren wie die Volturi-Brüder mit dergleichen zu tun haben!"
"Warum denn nicht?!"
"Bedenkt doch, der Ältere der Brüder ist sehr zurückhaltend und feinsinnig. Er macht Madame de Colignon den Hof und wirkt äußerst vertrauenswürdig."
"Nun ja... das gebe ich zu..."
"Der Jüngste der Brüder scheint zwar ein wenig leichtsinnig zu sein und flirtet gerne rum, aber er verlobte sich ausgerechnet mit einem bürgerlichen Mädchen, das keinerlei Mitgift zu haben scheint. Und obwohl sie mehr Vorteile von der Verbindung hat als er, sind seine Brüder mit der Wahl seiner Braut einverstanden."
"Mag sein, das der Älteste und der Jüngste in Ordnung sind, aber dieser Aro ist ein höchst suspektes Subjekt. Dem wollt Ihr doch wohl nicht widersprechen?"
"Nein, in diesem Punkt sind wir uns einig. Meines Erachtens handelt es sich bei Aro di Volturi um einen Weiberhelden mit einem höchst undurchsichtigen Charakter, dem ich so einiges zutraue, was sich nicht gehört - aber Mord? Nein! Das denke ich nicht!"
"Zu der schwarzen Bruderschaft gehörten Personen, denen man das vorher auch nie zugetraut hätte. Dem äußeren Schein traue ich nicht. Gerade darum sollten wir nichts unversucht lassen, Marguerite zur Vernunft zu bringen."
"Gut, ich werde versuchen, mit ihr zu sprechen."
"Freut mich, dass ich Euch davon überzeugen konnte. Noch heute Abend müsst Ihr das Gespräch mit ihr suchen - und ich begleite Euch gerne dabei."
"Vielen Dank für Euer freundliches Anerbieten, aber ich halte es für besser, unter vier Augen mit Marguerite zu sprechen", erklärte Lebrunne in ruhigem Ton. Er war froh, dass sie gerade durch das Stadttor ritten, und hoffte innerlich, dass Hervais endlich zurück an den Hof verschwand.
"Aber vielleicht kann ich sie überzeugen, dass..."
"Monsieur de Hervais", schnitt Roger dem Jüngling in scharfem Ton das Wort ab. "Ich habe Euch bereits zu vieles über unsere Familie preisgegeben, obwohl es Euch als einen Nichtverwandten nichts angeht. Glaubt Ihr allen Ernstes, meine Nichte wäre geneigt, einem Mann wie Euch, den weder sie noch ich gut kennen, Gehör zu schenken oder gar bereit, ein Gespräch über solch ein delikates Thema zu führen?"
"Aber ich liebe Eure Nichte und würde alles für sie tun!"
"Das mag sein, mein Junge, aber Marguerite ist derzeit nun einmal in Aro verliebt. Sie ist sicher gerne bereit, mit mir darüber zu sprechen und auch über die Gründe, warum sie sich mit ihm verlobte - doch mit Euch würde sie es nicht tun. Sie kennt Euch nicht und es ist Euch bedauerlicherweise bisher nicht gelungen, ihre Aufmerksamkeit auf Euch zu ziehen. Ansonsten wäre die Verlobung, über die Ihr mich informiertet, gar nicht stattgefunden haben. Stimmt Ihr mit mir darin überein?"
"Ja, Ihr habt recht. Verzeiht einem törichten Narren, der sein Herz an ein junges Mädchen verloren hat."
"Nicht für ungut, junger Mann. Womöglich erhält Euer Herz noch eine Chance, wenn Ihr Euch nicht in unsere Familienangelegenheiten einmischt."
"Dann seid Ihr also einverstanden, wenn ich... falls ich... mich eines Tages Euer Nichte erkläre?"
"Jeder wäre besser als dieser Aro", erwiderte Lebrunne, der ihm zunickte. "Und jetzt wäre ich Euch sehr verbunden, wenn Ihr mich allein ließet. Ich habe noch einiges hier in Paris zu erledigen."
Hervais schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein, verabschiedete sich und ritt zurück Richtung Palast. Der Baron war erleichtert, endlich diesen verliebten Schmachtlappen los zu sein, der ihm auf die Nerven zu gehen begann. Dieser junge Fant war ihm ebenso wie Aro di Volturi an der Seite seiner Nichte unwillkommen, bedeutete er doch nur einen neuen Konkurrenten - so etwas brauchte er gerade nicht. Aber dass Marguerite es wirklich gewagt haben sollte, sich hinter seinem Rücken mit diesem schmierigen Italiener zu verloben, war ein starkes Stück - wobei er den Wahrheitsgehalt dieser Neuigkeit durch den jungen Hervais immer noch bezweifelte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass das Mädchen tatsächlich so dreist war. Andererseits passte es zeitlich hervorragend in den Plan der kleinen Intriganten, Aro ihre Hand zu gewähren, sobald er - ihr Onkel - ihr den Rücken kehrte.
Nun, da er auf dem Weg zur Wohnung seines alten Freundes Guignot war, dessen Miete er für diese Woche bezahlt hatte und wo er vorerst zu leben beabsichtigte, würde er sich von Rouvens Diener allen Pariser Klatsch, den dieses Faktotum ohne Zweifel kannte, brühwarm erzählen lassen...
Begehren, verbunden mit der Erwartung, das Gewünschte zu erlangen,
nennt man Hoffnung.
~ Thomas Hobbes (1588 - 1679) ~
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Guignots Diener empfing Baron de Lebrunne, der ihm einen Teil des Lohns bezahlt hatte, damit jener die Wohnung seines verstorbenen Herrn reinlich und in Ordnung hielt, mit einer unterwürfigen Verneigung und fragte verwundert: "Was führt Euch um diese Uhrzeit in diese Gegend, Monsieur?"
"Ich habe noch einige Dinge in Paris zu erledigen, ehe ich diesen Hausstand auflöse und auf mein eigenes Gut zurückkehre", erklärte Roger. "Versorg mein Pferd und bereite mir danach ein Essen zu. Ich gedenke, einige Tage in dieser Wohnung zu verbringen!"
Danach steckte Lebrunne dem Diener wortlos einige Münzen in die Hand, damit jener einen Stall für sein Pferd mieten konnte. Der Bedienstete verneigte sich und verschwand, um sich um das Tier zu kümmern.
Roger hingegen legte Mantel und Hut auf einer Truhe ab, die sich im Flur befand, bevor er in das kleine Wohnzimmer seines verstorbenen Freundes eintrat und sich umschaute. Obwohl er die letzten Monate etwas Besseres auf Rochefort und im Stadthaus seiner Nichte gewohnt war, störte ihn die einfache Einrichtung nicht. Auf seinem eigenen Besitz sah es nicht viel besser aus und er würde es schon noch die wenigen Tage bis zur Ausführung seines Plans hier aushalten. Die Wohnung hatte er kurz vor seiner Abreise für zwei Monate bezahlt, damit ihn der Vermieter zufriedenließ. Womöglich behielt er sogar Guignots Diener bei sich, sollte dieser sich als nützlich erweisen. Gutes Personal zu finden war nicht immer einfach, aber er brauchte gerade jetzt jemanden an seiner Seite, auf den er sich verlassen konnte. Es war schon mal ein gutes Zeichen, dass Guignots Faktotum keinerlei Fragen gestellt hatte.
***
Gegen halb neun Uhr abends erklärte Madame de Colignon, dass sie sich etwas müde fühle und gerne nach Hause fahren würde. Marcus erklärte sich sofort dazu bereit, sie zu begleiten, was Amelie dankbar annahm.
"Ich könnte mitkommen", bot Caius an. "Louise wird gewiss entschuldigen, dass ich mich nun auch verabschiede, nicht wahr?"
Der blonde Vampir sah seine Scheinverlobte fragend an, worauf diese mit einem Lächeln nickte.
"Kommt gut nach Hause", meinte Louise sowohl zu ihm als auch zu Madame de Colignon und Marcus. Caius vollzog einen Diener vor ihr und zwinkerte danach Marguerite zu, bevor er Madame de Colignon und Marcus, die sich ebenfalls mit einer leichten Verneigung in Richtung des Brautpaares verabschiedeten, hinaus folgte.
"Wir sollten auch gehen", wandte sich Monsieur de Fournier an Marguerite und Aro. "Es hat uns wirklich sehr gefreut, dass Ihr uns zu Eurer Verlobungsfeier eingeladen habt. Aber es ist recht spät geworden und wir wollen doch morgen Nachmittag frisch und ausgeruht an Eurer Hochzeit teilnehmen. Wenn Ihr also meine Familie und mich für heute entschuldigen würdet?"
"Natürlich", antwortete die Comtesse freundlich und ihr Bräutigam nickte bestätigend. "Und ich danke Euch allen, dass Ihr unserer Einladung Folge geleistet habt. Ich hoffe, Ihr seid auch morgen bei unserer Trauung dabei?"
"Um nichts in der Welt würde ich mir das nehmen lassen", erklärte Fournier jovial. "Vor allem in Hinblick darauf, dass meine Tochter Eure Trauzeugin ist."
"Ich hoffe, ich kann Agnes eines Tages einen ebenso großen Gefallen erweisen", erwiderte Marguerite, verabschiedete sich danach auch von Madame de Fournier, deren Tochter und Thierry, der die Familie seiner zukünftigen Frau nach Hause begleiten wollte.
Nachdem die Fourniers gegangen waren, wandte sich Louise, die als Einzige der Gäste im Raum verblieb, an das Brautpaar: "Wenn Ihr erlaubt, ziehe ich mich nun auf mein Zimmer zurück."
"Ja, aber ich würde später gerne noch einmal unter vier Augen mit dir sprechen", meinte Marguerite.
"Selbstverständlich bin ich für Euch da", versprach Louise und ging.
Kaum war er allein mit seiner Braut, ließ Aro sich in das nächstbeste Sofa fallen und seufzte erleichtert auf.
"Endlich haben wir nur uns beide", sagte er leise.
Lachend setzte sich Marguerite neben ihn.
"Du sprichst nicht gerade nett von unseren Freunden", ermahnte sie ihn danach mit sanfter Stimme.
"Ich mag sie, aber wenn es nach mir gegangen wäre, hätte diese kleine Feier ruhig schon einige Stunden früher beendet werden können", gab der Vampir lächelnd zurück. "Verzeih mir, Liebste, wenn ich mich danach sehnte, mit dir allein zu sein."
"Verziehen", sagte sie, umarmte ihn, und danach küssten sie sich leidenschaftlich.
Nach einer Weile löste sie ihre Lippen von denjenigen Aros und schaute ihn an, streichelte dabei zärtlich eine seiner Wangen und meinte leise: "Wir sollten uns darüber unterhalten, wie es nach unserer Trauung weitergeht."
"Wir werden eine wunderbare Hochzeitfeier in meinem Hause haben und danach auf deinen Landbesitz fahren", erklärte Aro leichthin. "Das ist es doch, was du wolltest, oder?"
"Ja, natürlich möchte ich zurück nach Rochefort", erwiderte sie. "Schon allein, damit Louise endlich ihren André heiratet. Allerdings fürchte ich mich etwas davor, Madame de Colignon gestehen zu müssen, dass Louises Verlobung mit Caius nur zum Schein erfolgte und ich meiner Freundin noch zuriet, Caius' Angebot anzunehmen. Was, wenn Madame mir deshalb grollt?"
"Das wird sie ganz gewiss nicht tun, wenn du ihr erzählst, dass ihre Nichte Giselle den Plan hegte, deine Freundin mit diesem Lüstling Guignot zu verheiraten", meinte der schwarzhaarige Vampir. "Womöglich öffnet es der guten Amelie die Augen über den zweifelhaften Charakter ihrer vorwitzigen Nichte."
"Das hoffe ich", seufzte Marguerite.
"Und sobald Louise unter der Haube ist und du alle wichtigen Angelegenheiten auf Rochefort geregelt hast, würde ich mich sehr freuen, wenn du mit mir nach Italien kommst - schließlich müssen wir noch unsere Hochzeitsnacht nachholen."
Die junge Frau errötete, lachte jedoch verhalten.
"Eigentlich könnten wir sie schon in Rochefort nachholen", meinte sie dann. "Das Schloss ist groß, ebenso mein Gemach - und natürlich wird niemand es wagen, uns zu stören, wenn ich es befehle."
"Wir werden sehen...", murmelte Aro vage und löste sich sanft aus den Armen seiner Braut, ehe er sich erneut an sie wandte: "Doch was sagst du zu meinem Vorschlag, mein Engel? Willst du mit mir in meinem Palazzo leben?"
"Es spricht im Grunde nichts dagegen", sinnierte Marguerite. "Der junge André verwaltet meinen Landsitz gut und ich kann ja hin und wieder nach Rochefort zurückkehren, um die Bücher zu überprüfen."
"Ausgezeichnete Idee!", stimmte Aro ihr zu. "Selbst bei den zuverlässigsten Mitarbeitern empfiehlt es sich, ihnen ab und an auf die Finger zu sehen!"
"Es ist sicherlich sehr schön bei euch in Italien und ich freue mich darauf, mit dir dort zu leben. Allerdings wünsche ich mir auch, mit dir zu verreisen, um andere Länder und Kulturen kennenzulernen."
"Natürlich! Wenn du es wünscht, reise ich mit dir, wohin du willst. Wir können nach unserer Hochzeit alles tun, was wir wollen, Liebste."
"Es klingt verlockend und ich kann es kaum erwarten", sagte die junge Frau und strahlte ihn an.
"Bald ist es so weit", versprach er, erhob sich und verneigte sich leicht vor ihr. "Und damit du noch genügend Schlaf findest, meine liebste Marguerite, verabschiede ich mich jetzt. Wir haben nämlich morgen um 14.00 Uhr eine wichtige Verabredung in der Saint-Leu-Saint-Gilles [1], dort warte ich voller Sehnsucht auf dich, mein Herz."
Marguerite sprang vom Sofa auf und schlang ihre Arme um seinen Hals.
"Du willst doch nicht wirklich schon gehen, Aro?"
"Doch, mein Schatz, es muss leider sein."
"Oh, nicht doch...", protestierte sie und bedeckte sein Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen.
Er lachte zwar etwas, löste danach aber dennoch mit einiger Mühe ihre Hände von seinem Hals und küsste sie, wobei er sie zärtlich anblickte.
"Glaub mir, Liebste, es fällt mir genauso schwer wie dir, mich zu trennen. Aber wenn ich jetzt nicht gehe, kann ich nicht versprechen, mich zu beherrschen. Bitte, Marguerite, hilf mir, ein Ehrenmann zu bleiben und gedulde dich noch ein wenig. Wir werden bald für immer vereint sein und dann schenke ich dir so viel Zeit, wie du nur möchtest. Das verspreche ich dir."
Sie seufzte tief auf und nickte langsam.
"Also gut, es muss wohl sein...", murmelte sie enttäuscht.
"Ich weiß, dass es manchmal gar nicht leicht ist, vernünftig zu bleiben", meinte er tröstend und strich ihr sanft über die Wange. "Aber glaub mir, mein Schatz, du wirst eines Tages verstehen, warum es besser für uns war, dass wir mit allem warteten. Dafür wird es dann umso schöner sein."
Er küsste sie auf die Stirn, sagte leise: "Schlaf schön, Liebes" und verschwand rasch aus dem Raum. Marguerite blickte ihm traurig nach, ließ sich dann auf das Sofa sinken und starrte eine Weile zu Boden. Einerseits verstand sie ihn: Er war ein Ehrenmann und wollte um jeden Preis verhindern, dass sie beide ihrem Verlangen nachgaben - das sprach für Aro... Doch andererseits.... Nein, er hatte recht! Sie musste sich gedulden! Und sie konnte sich gedulden! Schließlich war sie stets stolz auf ihre Selbstbeherrschung gewesen... und sie war auch stolz auf ihren zukünftigen Mann und dessen Selbstbeherrschung... oh ja, sie waren sich sehr ähnlich...
***
"Ich muss sagen, dass ich sehr zufrieden mit dir bin", erklärte Baron de Lebrunne, nachdem er das Abendessen, welches Guignots Diener ihm kochte und servierte, genossen hatte und wischte sich den Mund ab. "Sag, hättest du Interesse daran, in meine Dienste zu treten?"
"Aber ja, Monsieur, vielen Dank", gab der Diener rasch zurück.
"Komm her, setz dich", bot Lebrunne dem älteren Mann einen Platz am Tisch an. "Es ist noch genug übrig, iss ruhig."
"Oh... Danke, Herr", sagte der Bedienstete überrascht, ließ sich auf einem Stuhl gegenüber dem Baron nieder und nahm sich ein Stück Brot, auf das er eine kleine Scheibe Fleisch legte. "Ihr seid zu gütig."
"Nun, ich nehme es nicht so genau, wenn ich allein mit einem Diener bin", erklärte der Baron jovial. "Anders als meine selige Frau, die mich dafür bestimmt tadeln würde."
"Es tut mir wirklich leid, was mit Eurer Gemahlin geschah, Herr."
"Ja, mir auch. Ich kann es irgendwie immer noch nicht fassen."
"Es muss schwer für Euch sein, Herr."
"Genauso wie für dich, von einem Tag zum anderen plötzlich keinen Herrn mehr zu haben, nicht wahr?"
"Das ist richtig, Herr."
"Guignot war ein guter Freund von mir und ich bedaure seinen Tod fast so sehr wie den meiner Gattin."
"Entspricht es der Wahrheit, was man sagt, Herr? Ihr habt sein Begräbnis bezahlt?"
"Ja, er hatte doch niemanden, der sich sonst darum kümmerte."
"Sehr gütig von Euch, Herr."
"Wie gesagt, er war ein guter Freund."
"Einer der besten Freunde, die man haben kann, Herr", pflichtete der Bedienstete ihm bei, schlug sich dann auf den Mund und fuhr in entschuldigendem Ton fort: "Verzeiht, dass ich so vorlaut war. Das lag nicht in meiner Absicht."
"Schon gut, ich bin nicht so streng", beruhigte Lebrunne ihn. "Warum denkst du, dass Guignot einer der besten Freunde gewesen ist, den man haben kann?"
"Nun ja... ich hörte, dass er vermutlich nur deshalb zu Tode kam, weil er versuchte, Eure Gemahlin vor dem Ritualmord zu retten."
"Von wem hörtest du so etwas?"
"Es gehen viele Gerüchte über diesen Ritualmord und die sogenannte schwarze Bruderschaft in Paris um."
"Dessen bin ich sicher. Betreffen diese Gerüchte vielleicht auch meine Nichte, die Comtesse de Rochefort?"
"Nur ein bisschen, Herr. Manche meinen, dass sie ebenfalls in Gefahr sei, da womöglich nicht alle dieser Schwarzmagier ums Leben kamen, sondern sich vor dem Feuer retten konnten oder dass nicht alle Mitglieder der schwarzen Bruderschaft an dem Ritual teilnahmen. Sie könnten sich an der Comtesse für den Tod ihrer Mitbrüder rächen wollen."
"Welch ein Unsinn! Was hat meine Nichte denn damit zu tun?!"
"Vielleicht nichts! Allerdings gibt es schon einige, die sich darüber wundern, warum Eure Gattin als Opfer für das Ritual gewählt wurde. Normalerweise haben die Schwarzmagier sonst immer junge Mädchen dafür genommen. Andere denken, dass man sie mit Eurer Nichte verwechselte."
"Dummes Zeug! Man hat gezielt die Kutsche überfallen, mit der meine Frau und ich unterwegs waren. Das war geplant!"
"Umso mehr hoffe ich, dass wirklich alle dieser Schwarzmagier bei dem Brand ums Leben kamen. Eure Nichte jedenfalls scheint sich dessen nicht sicher zu sein."
"Wie kommst du darauf?"
"Wie ich hörte, trägt sie sich mit dem Gedanken, bald zu heiraten."
"Ach? Davon wusste ich ja gar nichts", log der Baron, für den das Gespräch nun eine interessante Wendung nahm. "Sagen die Gerüchte auch, wen sie zu heiraten beabsichtigt?"
"Es soll sich um einen vornehmen Ausländer von Adel heiraten, doch mehr hörte ich nicht!"
"Nun, dann sollte ich meiner Nichte morgen einmal einen Besuch abstatten und mit ihr über diese Gerüchte sprechen."
"Mich wunderte es ohnehin, dass Ihr hier bleiben wollt, anstatt im vornehmen Haus der Comtesse. Warum geht Ihr nicht schon heute Abend zu ihr?"
"Dafür ist es viel zu spät. Außerdem weiß sie nicht, dass ich nach Paris zurückgekehrt bin. Ursprünglich hatte ich vor, auf meinem Landgut zu bleiben. - Nun, ich kläre das Morgen mit ihr."
"Dann wünsche ich Euch viel Erfolg, Herr."
***
Nachdem sie sich nach einer Weile wieder gefasst hatte, begab sich Marguerite in das Gemach ihrer Freundin, mit der sie ohnehin noch sprechen wollte. Doch erhoffte sie sich von Louise auch ein wenig Trost und Ablenkung, sehnte sie sich doch wie nie zuvor nach Aro. Es war fast quälend.
"Comtesse, ich habe Euch noch gar nicht hier erwartet", wurde sie von Louise begrüßt, als sie nach einem zaghaften Klopfen einfach in das Zimmer ihrer Freundin eintrat, die bereits im Bett lag und ein aufgeschlagenes Buch in den Händen hielt.
"Nun ja, ich auch nicht", gab Marguerite zu und setzte sich an den Rand des Bettes. "Tut mir leid, dass ich deine Lektüre unterbreche."
"Ach, das macht doch nichts. Ich las ohnehin nur, um mich wachzuhalten, bis Ihr kommt. Ihr seid bestimmt sehr aufgeregt wegen Morgen, nicht wahr?"
"Ja, ich kann es kaum glauben, dass ich Morgen endlich Aros Frau werde", gab Marguerite zu und seufzte dann leise.
"Nanu? Was ist denn los?", erkundigte sich Louise mitfühlend. "Ihr seht nicht sehr glücklich aus. Ist etwas geschehen? Habt Ihr es Euch vielleicht anders überlegt?"
"Wie? Aber nein! Ich freue mich darauf, Aro endlich heiraten zu können. Doch zu meinem großen Bedauern wollte mein Liebster nicht mehr so lange bleiben, nachdem unsere Gäste gegangen waren. Dabei hatte ich gehofft, ihn wenigstens noch eine ganze Stunde für mich beanspruchen zu dürfen."
"Conte Aro hatte gewiss gute Gründe, nicht mehr so lange bleiben zu wollen."
"Nun ja, nachdem wir geklärt haben, wie es nach der Trauung weitergeht, verabschiedete er sich von mir und meinte, dass ich mich für den morgigen Tag ausruhen müsse."
"Klingt fürsorglich, er meinte es bestimmt gut", sagte Louise. "Wir dürfen Morgen auch nicht so lange schlafen, schließlich möchte ich Euch doch schön herrichten für Eure Trauung."
"Arlette hilft bestimmt dabei, das ist mein geringstes Problem."
"Sagt das nicht, Comtesse, Morgen wird es für Euch sicherlich ein anstrengender Tag. Euer Bräutigam hat gewiss nicht nur Eure Freunde von heute eingeladen, sondern auch einige andere aus der adligen Gesellschaft."
"Oh je, ich hoffe nicht! Diese Hofleute empfinde ich schon als recht anstrengend, da man bei ihnen aufpassen muss, was man sagt."
"Macht Euch nicht zu viele Sorgen, Comtesse, bei Hofe seid Ihr wohlgelitten und niemand wird Euch eine unbedachte Äußerung übelnehmen. Außerdem werdet Ihr den größten Teil wohl an der Seite Eures Bräutigams verbringen und zur Not stehe ich Euch gerne zur Verfügung und bin bei Euch, wann immer Ihr mich braucht."
"Danke, Louise, das ist wirklich beruhigend. Wie froh werde ich sein, wenn dieser ganze Rummel endlich vorbei ist... andererseits... Hör mal, Louise, wie würdest du es finden, wenn dein zukünftiger Ehemann mit der Hochzeitsnacht warten will, bis er mit dir in seiner Heimat ist?"
"Hat Conte Aro so etwas denn angedeutet?"
"Ja, er meinte sinngemäß, dass wir in seinem Palazzo mehr Ruhe hätten und dass er von Anfang an alles richtig machen wolle. Findest du das nicht merkwürdig?"
"Eigentlich nicht, es klingt sehr liebevoll. Aber wollt Ihr denn gleich nach Eurer Hochzeit nach Italien fahren?"
"Nein, zuerst fahren wir nach Rochefort. Dort werden wir dann deine Hochzeit feiern - nachdem ich Madame de Colignon unseren Schwindel gestanden habe. Davor fürchte ich mich ein bisschen, denn ich hatte niemals vor, sie anzulügen oder gar zu verletzen."
"Ja, mir war bei dieser Sache auch nicht ganz wohl. Am besten kläre ich das mit ihr und verrate ihr gleich den Grund für meine Scheinverlobung mit Caius. Das versteht sie sicher. Woher konnte sie denn ahnen, auf welche absurde Idee ihre Nichte kommt? Sie verzeiht uns allen ganz sicher, denn außer Euch, Caius und mir wussten die anderen Volturi-Brüder auch davon."
"Hoffentlich bedeutet das nicht, dass sie auf Marcus böse ist. Er betet sie förmlich an."
"Madame de Colignon ist eine vernünftige Frau - vernünftiger als wir beide, Comtesse. Für sie sind wir zwei junge Mädchen, die sich in einer Notlage sahen. Sie wird uns den kleinen Schwindel nachsehen."
"Das hoffe ich wirklich sehr."
Louise bemerkte, wie aufgeregt Marguerite war. Um sie abzulenken, wechselte sie das Thema und fragte: "Wisst Ihr schon, wie es mit Rochefort weitergehen soll, wenn Ihr mit Eurem Mann nach Italien fahrt?"
"Ich spreche alles mit deinem André ab. Er ist ein ausgezeichneter Verwalter und wird das Gut gewiss hervorragend während meiner Abwesenheit führen, so wie jetzt. Ich werde ein- oder zweimal im Jahr vorbeischauen, um die Bücher zu kontrollieren und um zu sehen, ob dir der Ehestand bekommt, meine Liebe."
Louise lächelte und nickte, wobei sie leicht errötete.
"Ich selbst kann kaum glauben, dass ich André noch in diesem Jahr heiraten werde. Damit haben wir beide überhaupt nicht gerechnet, sondern gedacht, es dauere noch mindestens drei Jahre oder länger."
"So ein Unsinn! Hättest du nur schon früher einmal mit mir gesprochen."
"Ihr wisst, dass dazu kein passender Zeitpunkt vorhanden war, Comtesse. Aber lassen wir das! Ich freue mich jedenfalls, dass Ihr ebenfalls die Liebe fürs Leben gefunden habt. Euren Vater würde es sicher beruhigen, wenn er wüsste, welch einen guten Mann Ihr Euch erwählt habt."
"Dann bist du also mit meiner Wahl einverstanden, Louise?"
"Aber natürlich! Conte Aro liebt Euch und Ihr werdet bestimmt glücklich mit ihm."
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[1] Saint-Leu-Saint-Gilles = eine Kirche in Paris
Bitte nehmt es nicht persönlich!
Hochzeit feiert man gewöhnlich
ja sehr groß und aufwendig.
Das ist schön, ganz sicherlich,
doch wir wollen es ganz schlicht.
~ Textauszug aus dem Gedicht "Einladung"
von Ellen Zaroban (zu finden auf: Aphorismen.de) ~
~~~~~
Viel zu aufgeregt in Erwartung ihrer bevorstehenden Hochzeit, hatte Marguerite in dieser Nacht kaum ein Auge zugemacht. Sie war erleichtert, als endlich der Morgen heraufdämmerte und sie aufstehen konnte. Sehnsuchtsvoll trat sie an ihr Fenster, schob die Vorhänge beiseite, öffnete es und lehnte sich weit heraus, den Blick über die vor ihr liegenden Häuser und Plätze schweifen lassend. In der Nähe erkannte sie Renata, wie sie verwundert registrierte. Nichtsdestotrotz winkte sie ihr zu und wünschte ihr einen 'Guten Morgen'. Renata erwiderte den Gruß freundlich und ging dann rasch davon.
"Seltsam", dachte Marguerite. "Was hat Aros Bedienstete so früh am Morgen vor meinem Haus zu suchen? Ob er sie geschickt hat, um mir bei den Vorbereitungen für die Hochzeit zu helfen?"
Es dauerte nicht lange, bis eine ihrer eigenen Dienstmädchen an ihre Zimmertür klopfte und zaghaft fragte: "Seid Ihr schon wach, Comtesse?"
"Ja, komm rein!"
"Verzeiht mir, dass ich Euch bereits zu einer so frühen Stunde störe", sagte die Bedienstete leise, nachdem sie die Tür geöffnet und an der Schwelle stehen geblieben war. "Aber unten sind einige Personen, die behaupten, dass Conte Aro sie geschickt habe, um etwas für Eure Hochzeit zu bringen. Darunter befindet sich eine Frau, die erklärte, dass sie Euch bereits am Fenster gesehen habe und es nur deshalb wagte, schon jetzt Einlass zu begehren."
"Wie du siehst, entspricht das der Wahrheit", gab Marguerite zurück. "Was hat Conte Aro mir denn geschickt?"
"Vier Körbe voller roter Rosen, Comtesse. Seine Bediensteten warten unten, denn sie sollen diese Blumen entweder nur Mademoiselle Lefevre oder Euch persönlich übergeben."
"Nun, das wird schwierig sein, denn Mademoiselle Lefevre schläft sicher noch. - Aber gut, wecke zunächst Arlette auf, damit sie mir beim Ankleiden hilft. Bis ich unten bin, kann es eine Weile dauern. Daher biete der Dienerschaft meines Bräutigams doch einige Erfrischungen an."
"Sehr wohl, Comtesse!"
*
Etwa eine halbe Stunde später kam Marguerite, in ein einfaches, blaues Kleid gehüllt, aus ihrem Zimmer und traf auf dem Weg zur Treppe ihre Freundin Louise, die sich ebenfalls angekleidet hatte.
"Du bist schon auf?", wunderte sich die Comtesse.
"Ja, ein sehr aufgeregtes Dienstmädchen weckte mich und erzählte mir, dass unten einige Diener von Conte Aro warten", klärte Louise sie auf.
"Niemand trug ihr auf, dich zu wecken", grummelte Marguerite. "Ich war doch schon wach und das Personal meines Bräutigams sollte warten, bis ich hinunterkomme."
"Oh, das arme Ding war sehr aufgeregt", meinte ihre Freundin. "Seid nachsichtig mit ihr. Für uns alle ist heute ein sehr aufregender Tag, oder?"
"Du hast recht, Louise, ich will mal nicht so sein."
Zusammen schritten die Freundinnen hinunter in den Flur, in dem fünf Personen mit blassen Gesichtern standen, vier von ihnen mit einem großen Korb voller Rosen in den Händen - Renata jedoch nicht. Diese stand vielmehr wie eine Art Anführerin vor den zwei Männern und den zwei Frauen und schenkte ihrer neuen Herrin sowie der Verlobten Caius' ein freundliches Lächeln.
"Willkommen in meinem Haus", begrüßte Marguerite sie. "Tut mir sehr leid, dass Ihr warten musstet. Doch ich hoffe, man hat Euch während dieser Zeit Erfrischungen angeboten?"
"Ja, Eure Dienerschaft war überaus zuvorkommend", erwiderte Renata, die offenbar als Sprachrohr für das Personal der Volturi-Brüder fungierte. "Verzeiht, dass wir es wagten, so früh hier einzutreffen. Wenn ich gewusst hätte, dass Ihr noch nicht aufgestanden seid, hätte ich mir niemals erlaubt, mit meinen Begleitern um diese Stunde vorzusprechen."
"Es gibt nichts zu verzeihen", meinte die Comtesse in sanftem Ton. "Mein Dienstmädchen meldete mir, dass Ihr mir Blumen meines Bräutigams bringt, die Ihr jedoch nur mir oder Mademoiselle Lefevre übergeben solltet."
"Das ist richtig!", bestätigte Renata und trat etwas vor, neigte ihr Haupt leicht vor Marguerite und überreichte ihr ein Schreiben. "Diese Botschaft schickt Euch Meister Aro, Comtesse."
"Oh, vielen Dank", sagte die junge Frau überrascht und nahm den Brief entgegen, öffnete ihn rasch und las: >>Rosen für meine Rose, mein geliebter Engel. Ich habe sie extra aus unseren Gärten in Italien für dich holen lassen, damit du dich und dein Haus an diesem wundervollen Freudentag schmücken kannst, wie es dir beliebt. Alle Welt soll sich an unseren Hochzeitstag erinnern! Bis bald, mein Herz, ich liebe dich.<<
"Wie überaus romantisch!", hauchte Marguerite und zeigte ihrer Freundin danach den Brief, den diese rasch überflog und danach bestätigend nickte.
"Welch ein Gentilhomme", meinte Louise. "Nein, auf solch eine reizende Idee zu kommen."
"Ja, das finde ich auch", stimmte die Comtesse ihr zu. "Wir sollten die Körbe gleich zu mir aufs Zimmer bringen, mir schwebt etwas Bestimmtes vor."
Kaum waren diese Worte über Marguerites Lippen gekommen, wandte sich Renata an ihre Begleiter: "Ihr habt gehört, was die Comtesse wünscht. Also bringt die Körbe nach oben."
"Nein! Nicht doch!", protestierte die junge Braut. "Wartet, ich rufe meine Dienstboten her. Sie können Euch die Körbe abnehmen und hinauftragen."
"Es macht uns wirklich nichts aus, es selbst zu tun", wandte sich einer der jungen Männer an Marguerite. "Sagt uns nur, wohin wir die Rosen bringen sollen."
Ehe die Comtesse darauf antworten konnte, meinte Louise: "Bitte, folgt mir. Ich zeige es Euch."
Danach schritt sie voran und gehorsam trotteten die beiden Burschen und die zwei Frauen hinter ihr her. Marguerite sah ihnen kurz nach, lächelte dann etwas und drehte sich wieder zu Renata herum, die immer noch vor ihr stand.
"Wenn Ihr noch etwas von uns wünscht, stehen wir Euch gern zu Diensten", sagte die Vampirin. "Ihr braucht es nur zu sagen."
"Sehr freundlich, aber ich denke, mein Personal, meine Freundin und ich kommen gut alleine zurecht", gab Marguerite gut gelaunt zurück. "Bestellt Eurem Herrn meinen herzlichen Dank und dass ich ihn in der Kirche treffen werde. Ich hoffe, er läuft mir nicht davon."
"Nein, das braucht Ihr nicht zu befürchten", erwiderte Renata. "Meister Aro liebt Euch - allerdings... ich hoffe sehr, Ihr lauft ihm nicht davon."
Die junge Frau wurde sofort ernst und sah ihr Gegenüber stirnrunzelnd an.
"Wie kommt Ihr nur auf solch eine absurde Idee?", fragte Marguerite. "Diese Heirat mit Eurem Herrn ist einer meiner größten Wünsche."
"Mag sein, Comtesse, aber vielleicht... nun ja, vielleicht überlegt Ihr es Euch doch noch anders. Verzeiht mir, wenn ich so offen mit Euch spreche, aber unser Leben in Italien unterscheidet sich sehr von Eurem bisherigen. Wie ich hörte, seid Ihr in einem großen Landsitz aufgewachsen, der zu Euren Besitzungen gehört, und Ihr habt gute Freunde und könntet ein schönes Leben führen, wenn Ihr wollt. Mir jedenfalls würde es schwerfallen, all das einfach aufzugeben, um in ein anderes Land zu ziehen."
"Das hört sich ja ganz so an, als ob Ihr etwas dagegen hätte, dass ich Euren Herrn heirate."
"Nein, nein!", protestierte Renata sofort. "So war es keinesfalls gemeint! Ihr müsst Meister Aro zweifellos sehr lieben, wenn Ihr dazu bereit seid, mit ihm in seiner Heimat zu leben - mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt. Es wird wahrlich eine große Umstellung."
"Das soll nicht Eure Sorge sein, meine Liebe. Mir ist klar, dass sich nach meiner Heirat einiges in meinem Leben ändern wird. Seid versichert, dass ich eine gute Erziehung genoss und mehrere Fremdsprachen erlernte, zu denen auch das Italienische zählte. Ich werde mich in der Heimat meines Mannes sicherlich zurechtfinden."
"Und ich werde Euch beistehen, wenn Ihr es mir erlaubt."
"Vielen Dank, Renata, das ist sehr freundlich von Euch."
Die schöne Vampirin nickte und schwieg dann. Wenige Minuten später waren ihre Begleiter wieder bei ihr, verneigten sich vor Marguerite und verließen danach das Haus. Louise, die mit ihnen hinuntergekommen war, trat nun neben Marguerite und wisperte ihr ins Ohr: "Schon sehr merkwürdige Gestalten, die Euer Bräutigam und seine Brüder für sich arbeiten lassen."
"Mag sein, aber anscheinend sehr zuverlässig", tat die Comtesse es ab. "Komm, lass uns nach oben gehen. Es wird Zeit, dass ich mit dir bespreche, was ich bei der Trauung zu tragen beabsichtige."
***
Arlette war entzückt über die vielen Körbe voller Rosen, von denen sie einige besonders schöne heraussuchte, um sie in den Schleier, den Madame Martin gestern Morgen geliefert hatte, zusammen mit Perlen und Myrtenzweiglein einzuarbeiten.
Viele weitere Rosen wurden von ein paar anderen Dienstmädchen sortiert, zurechtgeschnitten und in Vasen gesteckt, die man im Zimmer der Comtesse, in der Gesindeküche, in den beiden Salons und auf der Kommode im Eingangsbereich des Flurs verteilte. Louise selbst ließ es sich nicht nehmen, aus einem Teil der Rosen einen Brautstrauß mit Myrthenzweiglein zusammenzubinden, den Marguerite später mit in die Kirche nehmen würde.
Die Rosen, die danach noch übrig waren, schenkte Marguerite allen weiblichen Angestellten, als sie ihre Dienstboten in der Gesindeküche zusammenrief, bevor sie sich in ihr Gemach zurückziehen wollte. Als alle Augen erwartungsvoll auf ihr ruhten, begann sie: "Wie ihr wisst, wird dieser Haushalt allmählich aufgelöst. Ihr habt alle Euren Lohn für den ganzen Monat sowie gute Zeugnisse erhalten und ich hoffe, dass ihr danach auch wieder eine gute Stellung bekommen werdet. Ein paar gute Freunde von mir suchen jedoch auch Personal, weshalb ich diejenigen unter euch, die noch keine neue Anstellung habe, bitte, in den nächsten Tagen bei Madame und Monsieur de Fournier vorzusprechen."
Einige der Dienstboten klatschten nach dem letzten Satz. Marguerite lächelte etwas, bevor sie fortfuhr: "Sobald ich mit Mademoiselle Lefevre das Haus verlassen habe, bitte ich Euch, damit zu beginnen, das Haus gründlich zu reinigen, aufzuräumen und die Möbel jedes Zimmers abzudecken. Außerdem erlaube ich Euch, die restlichen Getränke und Lebensmittelvorräte mitzunehmen, da ich keine Verwendung mehr für sie habe, denn ich werde nach meiner Heirat im Hause meines Gemahls leben. Für all die Arbeiten gebe ich Euch drei Tage Zeit, das sollte genügen. Danach dürft Ihr zu Euren neuen Herrschaften gehen. Ich erwarte, dass mir einer von Euch dann die Schlüssel dieses Hauses überbringt. Ich habe selbst noch einige private Dinge in meinem Gemach, die ich vor meiner Abreise holen werde."
"Wir wünschen Euch viel Glück für die Zukunft, Comtesse!", rief einer der männlichen Bediensteten und die anderen stimmten darin überein, dann klatschten alle in die Hände, während Marguerite etwas errötete.
"Vielen Dank für die guten Wünsche", erwiderte die junge Hausherrin, nachdem es in der Küche wieder ruhig geworden war. "Auch Euch wünsche ich ebensoviel Glück wie ich es gerade habe. Auf Wiedersehen."
Erneutes Klatschen folgte diesem letzten Gruß. Marguerite empfand Rührung, da sie nicht geahnt hatte, wie freundlich ihr das städtische Personal gesonnen war. Bevor ihr die Tränen kamen, wandte sie sich rasch um und verließ die Küche...
***
"Ihr seht wundervoll aus", schwärmte Arlette, nachdem sie und Louise der Comtesse beim Ankleiden ihres weißen Spitzenkleides, beim Frisieren und anschließendem Drapieren des mit Rosen, Perlen und Myrten geschmückten Brautschleiers in ihrem Haar geholfen hatten.
"Ach ja? Findest du?", fragte Marguerite ein wenig kritisch . "Wirke ich nicht eher wie eine Figur auf einer Zuckergusstorte?"
"Aber nein", beschwichtigte Louise ihre Freundin. "Glaubt mir, Ihr seid eine sehr schöne Braut."
"Nun gut... vielleicht bin ich ein wenig überempfindlich", räumte die Comtesse ein, die zusehends nervös wirkte. "Was, wenn in letzter Minute etwas dazwischen kommt?"
"Nichts wird passieren", versuchte Louise sie zu beruhigen. "Es ist völlig normal, dass Ihr an Eurem Hochzeitstag aufgeregt seid. Wir werden gleich losfahren. Wenn Ihr erlaubt, würde ich gerne Arlette und noch eines der Dienstmädchen mitnehmen, damit sie uns bis zur Kirche begleiten. Draußen ist es doch sehr kalt, weshalb Ihr Euch in einen warmen Mantel hüllen solltet. Sobald wir in der Kirche sind, nehme ich Euren Mantel an mich, während die beiden danach Euer kleines Gepäck an die Bediensteten Eures Bräutigams übergeben und mit Eurer Kutsche zurück in Euer Stadtdomizil fahren. Schließlich haben sie noch genügend zu tun."
"Ja, das klingt vernünftig", stimmte Marguerite dem Vorschlag ihrer Freundin zu und wandte sich dann an ihre Zofe. "Also, Arlette, lauf nach unten und nimm eines der anderen Dienstmädchen, zieht Euch warm an und haltet die Mäntel für mich und Mademoiselle Lefevre bereit!"
Arlette tat sofort, wie ihr geheißen, während Marguerite sich erneut im großen Spiegel des Zimmers hin und her drehte, um sich kritisch zu betrachten.
"Es gibt für Euch keinen Grund, besorgt zu sein", sagte Louise mit sanfter Stimme. "Kommt, ich möchte Euch etwas zeigen."
Die brünette, junge Frau trat ans Fenster, schob den Vorhang etwas beiseite und fuhr fort: "Seht, wer dort unten vor unserem Hause steht. Obwohl ich annehme, dass dies auf Bitten Seiner Majestät erfolgt, scheint Seine Eminenz nicht vergessen zu haben, dass Euer Vater einst der Hauptmann dieser Truppe war."
Neugierig trat die Comtesse neben ihre Freundin und schaute herab. Dort unten saßen etwa zehn bewaffnete Männer der Roten Garde vor und hinter ihrer eigenen bereitstehenden Kutsche auf Pferden, während der Wagen nur darauf zu warten schien, endlich Richtung Rue Saint-Denis, wo sich die Kirche Saint-Leu-Saint-Gilles befand, losfahren zu dürfen.
"Wie überaus aufmerksam von Seiner Eminenz", murmelte Marguerite gerührt und musste unwillkürlich an ihren verstorbenen Vater denken. Wie bedauerlich, dass er ihre Hochzeit nicht mehr miterleben durfte. Er wäre gewiss nicht nur mit seinem zukünftigen Schwiegersohn einverstanden gewesen, sondern hätte sich über die nette Geste der Roten Garde, seiner Tochter Geleit zu geben, sehr gefreut. Eine kleine Träne schlich sich verstohlen aus den Augenwinkeln Marguerites, doch sie wischte sie vorsichtig weg und wandte sich wieder ihrer Freundin zu: "Wir sollten weder meinen Bräutigam noch die Rote Garde warten lassen."
*
Das lange, schwarze Haar mit einer silbernen Spange am Hinterkopf zusammengehalten und gekleidet in einen festlichen, silberdurchwirkten, weißen Seidenanzug, an dessen linker Seite ein einfacher Myrtenzweig festgemacht war, angetan mit zum Anzug passenden Seidenstrümpfen und glänzend lackierten, schwarzen Schnallenschuhen wartete Aro di Volturi in der Kirche neben seinen Brüdern stehend und blickte immer wieder unruhig auf die Tür.
"Dov'è?", murmelte der Bräutigam ungeduldig. "Ich verstehe das nicht!" [1]
"Nur die Ruhe", gab Caius in leicht ironischem Ton zurück. "Du solltest eigentlich wissen, wie Frauen sind. Marguerite hat womöglich Mühe mit ihrem Brautkleid oder dem Schleier oder was weiß ich?"
"Gestern Abend wollte sie mich nicht gehen lassen und nun..."
"Nun lässt sie dich warten, wie du es verdient hast. - Komm, beruhige dich. Sie wird schon noch kommen, schließlich liebt sie dich und darüber solltest du glücklich sein. Letztlich hat sie sich für dich entschieden, nicht wahr?"
"Gebt endlich Ruhe, Ihr beiden!", rief Marcus seine Brüder zur Ordnung. "Aro, lass dich nicht von Caius provozieren! - Und du, kleiner Bruder, finde dich endlich damit ab, dass Marguerite sich für Aro entschieden hat."
"Das ist längst geschehen!", behauptete der blonde Jüngling. "Selbstverständlich respektiere ich die Entscheidung Marguerites - doch Aro sollte mehr Dankbarkeit zeigen, dass sie ihn erwählte. Stattdessen steht er hier und grummelt rum, nur weil sich seine Braut ein wenig verspätet. Es ist noch keine zwei Uhr!"
"Still jetzt!", fuhr Marcus ihn leise an und wandte seinen Blick zur Tür. "Die Menschen kommen!"
"Ach ja, wir haben noch Gäste", murmelte Aro. "Das hatte ich beinahe vergessen."
"Schau ihn dir an! Er ist so verliebt, dass er nichts anderes als seine Braut im Kopf hat", spottete Caius und blickte danach zur Tür. Einen Moment später trat Madame de Colignon ein und hinter ihr erschien - zur Überraschung der Volturi-Brüder - ihre Nichte Giselle, die sich ebenfalls fein angezogen hatte.
Marcus fasste sich als Erster wieder, schritt auf seine Angebetete zu und begrüßte sie.
"Wie schön, dass Ihr da seid, Amelie", sagte er. "Und wie ich sehe, habt Ihr Mademoiselle de Roux mitgebracht."
"Ja, ich hoffe, dass es in Ordnung ist?", fragte sie mit leisem Zweifel. "Eigentlich war Giselle nicht eingeladen, aber sie erschien vor einer halben Stunde bei mir und erklärte, dass sie im Auftrag des Königspaares komme, um persönlich deren Glückwünsche an das Brautpaar zu überbringen. Sie hat sogar ein Schreiben für Comtesse de Rochefort dabei."
Aro und Caius traten näher zu der älteren Dame, wobei der schwarzhaarige Vampir sein Haupt leicht vor ihr neigte und ihr freundlich versicherte: "Es stört uns keineswegs, dass Ihr Eure reizende Nichte mitgebracht habt."
"Sehr gütig von Euch", bedankte sich Madame de Colignon und schenkte allen Brüdern ein Lächeln, das sie erwiderten. Als Caius' Blick jedoch auf Giselle fiel, verschwand die Freundlichkeit aus seinem Gesicht und er starrte das junge Mädchen mit kaltem Blick an. Schließlich war sie es, die Louise ursprünglich mit dem Lüstling Guignot verkuppeln wollte. Das hatte er keineswegs vergessen.
"Es wäre uns außerdem eine Freude, wenn Ihr später noch an unserer Hochzeitsfeier teilnehmt, Mademoiselle de Roux", wandte sich in diesem Augenblick Aro an die alberne, junge Gans. Hatte sein Meister jetzt komplett den Verstand verloren, diese kleine Intrigantin einzuladen?
In diesem Augenblick beschloss Caius innerlich, dass er sich nach dem Fest um Giselle kümmern würde. Rache war süß - und in ihrem Fall würde sie für das heuchlerische Fräulein tödlich sein.
"Caius!", hörte er in diesem Augenblick die strenge Stimme seines Bruders Marcus. "Wo bist du nur mit deinen Gedanken? Wir erwarten jeden Augenblick die Braut, sei also wachsam!"
"Ja, natürlich", murmelte der blonde Vampir und starrte den Älteren an. "Ich werde mal nach draußen gehen, um zu schauen, ob Marguerites Kutsche gleich kommt."
Damit verschwand Caius aus der Kirche. Die frische Luft außerhalb des Gotteshauses tat ihm gut. Ebenso der Anblick der Familie Fournier und ihrem Schwiegersohn in Spe, deren Tochter mitsamt Bräutigam er immerhin erträglich fand. Außerdem war die kleine Agnes mit Marguerite gut befreundet, weshalb es ihm leicht fiel, gegenüber diesem Geschöpf freundlich zu sein, auch wenn sie - wie beinah alle jungen Mädchen - etwas albern war.
"Wir kommen doch nicht etwa zu spät?", erkundigte sich Madame de Fournier erschrocken.
"Natürlich nicht, Madame", versicherte Caius ihr und vollführte einen leichten Diener vor der älteren Frau und ihrer Tochter. "Ich wollte nur sehen, ob die Kutsche der Comtesse schon da ist."
"Junge Bräute sind am Hochzeitstag immer sehr aufgeregt und manchmal passiert ein kleines Malheur, so dass sie sich etwas verspäten", meinte Monsieur de Fournier amüsiert. "Wie geht es denn dem Bräutigam?"
"Er ist sehr nervös. Vielleicht gelingt es Euch, ihn ein wenig zu beruhigen", erwiderte Caius. "Geht ruhig schon rein. Ich bin sicher, Marguerite und Louise kommen auch gleich."
Thierry und die Fourniers ließen sich das nicht zweimal sagen und traten in die Kirche ein.
"Fehlt eigentlich nur noch meine kleine Comtesse", dachte Caius und überließ sich wenige Minuten lang der tröstenden Vorstellung, Marguerite könne es sich anders überlegt haben und würde gar nicht zur Hochzeit erscheinen. Oh, es würde Aro gar nicht gefallen, am Altar stehen gelassen zu werden.
Doch dann sah er die Kutsche der Braut, die von einer Truppe rotgewandeter Musketiere und - von allen unbemerkt - den zu Marguerites Schutz abgestellten Volturi-Wächtern begleitet wurde, und musste enttäuscht von seiner Wunschvorstellung Abschied nehmen. Nun war es also so weit: Seine kleine Comtesse wurde die Ehefrau von Aro, diesem Verräter! Zwar hatte sich dieser bei ihm entschuldigt und behauptet, nicht gewusst zu haben, dass Marguerite das Mädchen gewesen sei, welches Caius unbedingt kennenlernen wollte, doch er hatte es ihm nicht ganz abgenommen. Aro war ein gerissener Mann, der es verstand, zu bekommen, was immer er sich in den Kopf setzte - und bedauerlicherweise hatte Marguerite sich in ihn verliebt. Das akzeptierte er und ertrug all dies nur, um ihr unnötigen Kummer zu ersparen. Doch wie es später in Volterra weitergehen sollte, wenn sie alle im Palazzo miteinander lebten, wusste er nicht. Womöglich wäre es dann Zeit für ihn, für eine Weile fortzugehen und woanders zu leben...
In diesem Moment hielt die Rochefort'sche Kutsche vor der Kirche und Caius eilte zur Tür, um der Braut und Louise beim Aussteigen behilflich zu sein. Den beiden jungen Frauen folgten zwei Dienstmädchen, die sie bis zum Eingang der Kirche begleiteten. Louise wollte Marguerite gerade den Umhang abnehmen, als Caius ihr zuvorkam und behutsam den schweren Stoff von ihren Schultern zog. Danach übergab er den Mantel einem der Mädchen und öffnete sogleich die Tür für die Braut und ihre Freundin, die in das Innere der Kirche verschwanden. Im ersten Moment wollte Caius ihnen folgen, überlegte es sich dann aber anders, schloss die Tür und wandte sich den beiden Dienstmädchen zu.
"Zweifellos hat die Comtesse Euch nicht ohne Grund mitgenommen", sagte Caius. "Also, welchen Auftrag hat sie Euch erteilt?"
"In der Kutsche ist eine kleine Kleiderkiste, die wir umladen sollen in die Kutsche, die zu Eurem Haus fährt, Herr", antwortete Arlette.
"Zeigt mir die Kiste, ich lade sie rasch in den Wagen um, mit dem mein Bruder Marcus und ich nachher zurückfahren!"
*
Kaum hatten Marguerite und Louise die Kirche betraten, begegneten ihr auch schon die strahlenden Augen ihre Bräutigams. Aro sah wirklich prächtig aus, der schönste Mann, der ihr jemals begegnet war. Und ab heute gehörte er nur noch ihr, ganz ihr!
Die Orgel begann zu spielen.
"Ich lasse Euch nun allein, Comtesse", wisperte Louise ihr ins Ohr und ging dann nach vorne, um sich in eine der ersten Kirchenreihen zu setzen. Marguerite folgte ihrer Freundin mit den Augen, war beruhigt, als sie Madame de Colignon sah, die ihr aufmunternd zulächelte, und sehr überrascht, Giselle de Roux neben ihrer Tante zu erblicken. Aber was kümmerte sie die Anwesenheit dieses Mädchens? Es störte sie kaum und für sie war heute nur noch eins wichtig: Vorne stand der Mann, dem ihr ganzes Herz gehörte.
Marguerite besaß leider keinen Vater mehr und hatte auch keinen väterlichen Freund, der sie aus seiner Obhut in diejenige ihres zukünftigen Mannes übergeben konnte. Der König ließ sich dazu nicht herab, ebenso wenig Kardinal Mazarin - außerdem kannte sie die beiden nur flüchtig, so dass es auch unpassend wäre. Und ihren Onkel, der vehement gegen Aro eingenommen war und dem sie ohnehin misstraute, hätte sie nie darum gebeten. Stattdessen war sie froh, dass Baron Lebrunne weit fort war und sie ihn nie mehr wiedersehen musste. Was machte es schon, dass sie hier allein stand? Sie war es ohnehin gewohnt, nach dem Tode ihres Vater alles allein zu regeln.
Beherzt begann Marguerite, sich langsam in Bewegung zu setzen und auf den Altar zuzuschreiten. Ungefähr in der Mitte der Kirche kam ihr Aro entgegen, in dessen Arm sie sich sofort einhakte und nun mit ihm zusammen den Weg fortsetzte.
"Ich bin so glücklich, dass du da bist", flüsterte ihr ihr Bräutigam zu, während die Orgel über ihnen hinwegbrauste, so dass niemand außer Marguerite seine Worte hörte. "Einen Moment lang fürchtete ich, du würdest nicht kommen."
"Deine Furcht war unbegründet, du weißt doch, dass ich nur dich liebe", gab sie wispernd zurück und wurde durch das schönste Lächeln belohnt, das sie jemals sah.
"Ich liebe dich auch, mein Herz", erwiderte Aro.
Danach schwiegen sie, kamen vor dem Altar an, neben sich Agnes und Thierry stehend, um den warmen Worten des Priesters zu lauschen, der von Liebe und Achtung sprach und davon, sich in Glück und Unglück beizustehen. Endlich kam der Priester zum Ende, sie tauschten die Ringe aus, die ihnen Thierry und Agnes auf einem roten Samtkissen reichten, und danach schlug Aro den Schleier seiner Braut zurück, um sie endlich vor aller Augen zu küssen...
***
Gegen drei Uhr am Nachmittag schlenderte Baron de Lebrunne wie unbeabsichtigt auf das Haus zu, in dem er vor nicht allzu langer Zeit noch mit seiner Frau und seiner Nichte zusammengelebt hatte. In dem Wissen, dass seine Nichte sich auf ihrer eigenen Hochzeit befand, klopfte er an die Tür und wenig später öffnete ihm einer der männlichen Bediensteten, der ihn staunend anblickte.
"Monsieur, Ihr hier?", wunderte sich der Lakai. "Wir haben gar nicht mit Euch gerechnet."
"Normalerweise wäre ich auch gar nicht hier", behauptete Roger. "Eigentlich hatte ich vor, nach der Beerdigung meiner seligen Gemahlin auf meinen eigenen Landsitz zurückzukehren, doch ich habe etwas hier vergessen, das mir sehr wichtig ist. Dürfte ich kurz hineinkommen und meine Kammer aufsuchen?"
"Natürlich, Monsieur", antwortete der Diener und ließ ihn eintreten. "Aber wollt Ihr denn gar nicht auf die Hochzeitsfeier Eurer Nichte?"
"Nein, danach steht mir augenblicklich nicht der Sinn", erwiderte der Baron. "Auch wenn ich mich natürlich freue, dass die Comtesse ihr Glück gefunden zu haben scheint. Ich wünsche ihr alles Gute. - Sag, ist mein Kammerdiener noch hier im Haus? Ich würde gerne mit ihm sprechen."
"Selbstverständlich, Monsieur, ich schicke ihn sofort zu Euch", versprach der Diener und eilte davon, während Lebrunne die Treppe hochstieg, um zu seinem Gemach zu gelangen. Rasch überlegte er dabei, was er dem Kammerdiener erzählen sollte, denn im Grunde hatte er bei seiner Abreise all seine Gegenstände mitgenommen. Bevor er in sein Zimmer ging, hörte er noch, wie unten eine Tür aufging und die Stimmen zweier fröhlicher Mädchen miteinander plauderten und lachten. Eine der Stimmen gehörte Arlette, der Kammerzofe seiner Nichte. Interessant, dass die noch hier war. Vielleicht könnte er sie später ein wenig aushorchen?
Zu dem fröhlichen Stimmengewirr gesellten sich plötzlich schwere Schritte, die sich ihm zu nähern schienen. Das musste sein ehemaliger Kammerdiener sein! Besser, wenn er sich in sein Zimmer verzog.
Rasch betrat Roger sein Gemach, schloss hinter sich die Tür und öffnete dann den Schrank, um glaubhaft darzustellen, dass er tatsächlich dachte, hier im Hause etwas vergessen zu haben.
Als es klopfte, rief der Baron ungeduldig: "Herein!"
Sein ehemaliger Kammerdiener trat ein.
"Herr, was für eine Überraschung! Wie man mir zutrug, sollt Ihr hier etwas zurückgelassen haben?"
"Ja, ich vermisse eine goldene Kette, die ich meiner Frau vor vielen Jahren zu ihrem Geburtstag schenkte. Ein seltenes Stück mit drei Rubinen bestückt. Nach meiner Erinnerung habe ich es in diesen Schrank gelegt, wo es sicher zu sein schien...", erzählte Lebrunne und tat so, als denke er nach. "Seltsam! Ich war mir gewiss, dass das Schmuckkästchen, in dem sich die Kette befand, in diesem Schrank war."
"Vielleicht habt Ihr es doch eingesteckt und es bisher nur nicht gefunden", meinte der Kammerdiener.
"Hm... nein... als ich in Rochefort ankam, wollte ich diese Kette meiner Frau mit ins Grab geben, aber sie war unauffindbar. Deshalb dachte ich, ich hätte sie hier vergessen."
"Nach Eurer Abreise habe ich Euer Gemach gründlich aufgeräumt und gesäubert. Es war nichts von Euren Dingen mehr da, Herr."
"Na schön, dann muss ich mich geirrt haben. Womöglich ist das Schmuckkästchen in einer meiner anderen Reisekisten. Sobald ich auf meinem Landsitz bin, werde ich es bestimmt wiederfinden. Da meine Frau in einer Gruft beigesetzt ist, dürfte es kein Problem sein, ihr die Kette noch nachträglich in den Sarg zu legen."
"Es tut mir leid um Eure Frau und auch, dass Ihr Euch extra die Mühe machtet, herzukommen", sagte der Bedienstete. "Darf ich Euch eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken bringen, Herr?"
"Wenn es nicht zu viel Mühe macht, dann sehr gerne."
"Wenn Ihr schon erneut Reisestrapazen auf Euch nehmt, ist es doch das Mindeste, Euch etwas zur Stärkung anzubieten."
"Danke."
Der Kammerdiener verneigte sich leicht und verließ das Zimmer, um ihm eine kleine Mahlzeit zu holen. Kaum war er gegangen, begab sich der Baron an die Tür, öffnete sie etwas und lauschte. Unweit von ihm hörte er wieder die fröhlichen Stimmen von Arlette und einem anderen Mädchen. Leise trat er auf den Flur, schloss die Tür hinter sich und schlich sich zum Gemach seiner Nichte, aus dem diese Stimmen kamen. Da die beiden Bediensteten laut miteinander sprachen, konnte er ihre Unterhaltung gut hören.
"Wie schade, dass wir keinen Blick auf Conte Aro erhaschen konnten", sagte eines der Mädchen gerade. "Dabei hätte ich viel dafür gegeben, um ihn noch einmal zu sehen. Er ist wirklich ziemlich attraktiv, findest du nicht?"
"Oh ja, ein ansehnliches Mannsbild", pflichtete Arlette ihr bei. "Kein Wunder, dass die Comtesse keinen anderen mehr angeschaut hat. Die beiden sind so ein schönes Paar."
"Nach allem, was man hört, soll diese Volturi-Familie sogar über noch mehr Vermögen verfügen als der verstorbene Kardinal Richelieu. Jedenfalls hat unsere Comtesse mit Conte Aro eine sehr gute Partie gemacht."
"Pah! Als ob es ihr darauf angekommen wäre! Comtesse Marguerite ist überaus verliebt in Conte Aro und das ist der einzige Grund, weshalb sie dazu bereit war, ihn zu heiraten. Sie hätte ja auch einen noblen Franzosen heiraten können. Weißt du noch, dieser Monsieur de Hervais, der neulich hier vorsprach?"
"Oh ja, ich erinnere mich gut! Er hat unsere Comtesse beinahe mit den Augen verschlungen. Richtig unheimlich war das!"
"Aber ein fescher Bursche war er doch!"
"Unsere Comtesse hatte ein große Auswahl an potenziellen Ehemännern wie man so hört. Sie ist ja auch eine überaus hübsche, junge Frau von angenehmem Wesen. Kein Wunder, dass halb Paris für sie schwärmt."
"Muss schön sein, derart angehimmelt zu werden", seufzte Arlette. "Ich wünschte, mir würde das auch passieren."
"Glaube kaum, dass das erstrebenswert ist", widersprach das andere Dienstmädchen. "Zum Glück hat unsere Comtesse sich ja für einen der jungen Männer entschieden und es freut mich, dass dies eine echte Liebesheirat ist."
"Oh ja, das ist natürlich das Erstrebenswerteste von allem", erwiderte die Kammerzofe. "Weißt du, was ich für die Comtesse in die kleine Reisekiste gepackt habe? Darin sind einige Strümpfe, Unterwäsche, zwei Kleider, ein Morgenrock und ein süßes, mit Spitzen versehenes Schlafgewand für die Hochzeitsnacht drin. Conte Aro wird entzückt sein, wenn er sie darin sieht."
"Doch er wird noch mehr darüber entzückt sein, es seiner Braut auszuziehen..."
Die beiden Mädchen lachten, während Lebrunne diese Vorstellung schmerzte. Natürlich würde Marguerite zuerst diesem schmierigen Aro gehören, aber danach... was sollte es schon? Er war auch nicht gerade ein treuer Typ! Hauptsache, es gelang ihm, seinen Plan auszuführen, selbst wenn er noch nicht wusste, wie er dies bewerkstelligen sollte...
Kaum mit seinen Gedanken zu Ende, hörte Lebrunne wieder schwere Schritte auf der Treppe und schlich sich rasch zurück in sein Gemach. Den Kammerdiener ging es schließlich nichts an, dass er soeben ein Gespräch belauschte. Doch warum hielten sich die Kammerzofe und das Dienstmädchen derart lange im Zimmer seiner Nichte auf und führten zum Teil unsittliche Gespräche miteinander? Es konnte doch wirklich nicht so lange dauern, das Ehebett für das Brautpaar herzurichten... wobei... nun ja, in der Nacht, wenn ihn keiner erwartete, könnte er ja in das Brautgemach schleichen, wenn die beiden schliefen, und sich dieses Aro entledigen. Er musste nur achtgeben, dabei Marguerite nicht zu wecken. Sie würde ihn gewiss nicht erhören, wenn sie wüsste, dass er ihrem Bräutigam ermordet hatte. Es dürfte auch kein Problem sein, die Leiche des schmierigen Italieners irgendwo im Hause zu verstecken und später zu entsorgen. Hauptsache war, dass er alle Spuren dieses Mordes beseitigte und Marguerite am nächsten Tag davon überzeugen konnte, dass ihr Ehemann sie verlassen hatte. Stolz, wie seine Nichte war, würde sie Aro niemals verzeihen.
Ein zufriedenes Grinsen stahl sich auf das Gesicht des Barons, bevor dessen ehemaliger Kammerdiener erneut eintrat und ihm ein Tablett mit einer warmen Mahlzeit sowie Käse, Brot und Wein servierte.
"Mit den besten Grüßen unserer Köchin", sagte der Diener dabei. "Wohl bekomm es Euch, Herr."
"Vielen Dank für die Freundlichkeit - und bestellt das ruhig auch dem Gesinde in der Küche. Ich bin und war wirklich stets sehr zufrieden mit euch allen", gab Lebrunne zurück. "Ich hoffe, meine Nichte hat Euch allen ein gutes Zeugnis ausgestellt? Oder nimmt sie Euch gar mit in ihren neuen Hausstand?"
"Das nicht, Herr, aber unsere Zeugnisse hat sie selbst geschrieben und uns darin alle gelobt. Einige von uns haben sogar schon eine neue Stellung. Arlette, die Kammerzofe der Comtesse, wird bei Mademoiselle de Fournier ihren Dienst antreten."
"Und was ist mit Euch?"
"Monsieur de Renouard, der Verlobte von Mademoiselle de Fournier, hat mir ein Angebot gemacht, das ich dankbar annahm. Übermorgen verlasse ich dieses Haus, um zu ihm zu gehen."
"Wie lange gedenkt meine Nichte, mit ihrem Mann noch in Paris zu bleiben? Hat sie davon etwas erwähnt?"
"Sie hat den Haushalt hier heute offiziell aufgelöst und uns drei Tage Zeit gegeben, alles sauberzumachen und aufzuräumen. Danach dürfen wir das Haus verlassen. Einer von uns soll ihr den Schlüssel in das Haus ihres Mannes bringen."
"Warum übergebt ihr es nicht gleich dem Vermieter?"
"Die Comtesse hat noch einige Sachen hier, die sie am Tag ihrer Abreise abholen wird. Arlette und Nicole sind gerade dabei, alle Kleidungsstücke und andere Dinge der Comtesse in Reisekisten zu packen. Darum ist es gerade auch so laut im Haus. Offensichtlich amüsieren sich die beiden Mädchen bei der Arbeit ganz köstlich - nun ja, junge Mädchen erzählen sich oft albernes Zeug. Vermutlich sprechen sie über die Hochzeit Eurer Nichte, die ihre Phantasie gewiss beflügelt."
Der Baron lachte ein wenig und nickte.
"Wen heiratet meine Nichte eigentlich?", fragte er dann, obwohl er es längst wusste. "Bei meiner Abreise erwähnte sie nicht einmal, dass sie ernsthaft einen ihrer Verehrer als möglichen Ehemann ins Auge gefasst hat. Es kommt alles ein bisschen plötzlich, nicht?"
"Mag sein, andererseits ist Eure Nichte noch sehr jung und steht ganz allein da."
"Unsinn! Es gibt doch noch mich!"
"Ich glaube gern, dass Ihr alles tun würdet, um Eurer Nichte beizustehen, Herr, aber der Comtesse scheint Euer guter Wille nicht auszureichen."
"Hm... vermutlich, weil ich nicht in der Lage war, meine eigene Frau zu schützen?"
Der Kammerdiener nickte, wagte jedoch nicht, ein Wort an den Baron zu richten.
"Also, wer ist nun der Glückliche, dessen Antrag Marguerite annahm?", erkundigte sich Lebrunne erneut.
"Es handelt sich um einen Conte Aro di Volturi", antwortete der Kammerdiener. "Vermutlich kennt Ihr ihn?"
"Ja, natürlich! Seine Brüder und er sind meiner Frau und mir auf verschiedenen Bällen und Festen begegnet, wobei er wie viele andere unserer Nichte den Hof machte. Aber damals erschien er mir nicht wie ein Mann, der ernsthaft auf der Suche nach einer Heiratskandidatin ist. Nun ja, wie man sich irren kann, nicht?"
"Er macht einen überaus guten Eindruck, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf."
"Ich hoffe wirklich, dass er meiner Nichte ein guter Ehemann sein wird", behauptete Lebrunne. "Vorhin erzähltet Ihr mir noch, dass Marguerite abzureisen gedenkt. Wird sie mit ihrem Mann etwa nach Italien fahren?"
"Das ist höchst wahrscheinlich, Herr, wobei in vielen Gesprächen immer wieder die Rede davon war, nach Rochefort zu fahren - aber natürlich hat uns die Comtesse nicht in ihre weiteren Pläne eingeweiht."
"So, so? Und woher weißt du, worüber sich meine Nichte unterhielt?"
"Ach, Herr, Ihr wisst doch - die Gesindeküche hat offene Ohren und Münder..."
"Schon gut, ich verstehe! Wenigstens habe ich diesen neugierigen und offenen Ohren und Mündern zu verdanken, dass ich von den Zukunftsplänen meiner Nichte erfahre. Aber du sagtest, dass meine Nichte nochmals in dieses Haus hier zurückkehren wird?"
"Ja, um ihre Reisekisten abzuholen - vermutlich geschieht dies, sobald sie sich mit ihrem Mann auf den Weg nach Rochefort oder Italien macht. Es dürfte auch nicht mehr so lange dauern, bis sie abreist."
"Anzunehmen", gab ihm Lebrunne recht und nickte. "Danke für diese Informationen, mein Bester. Für deine Zukunft wünsche ich dir alle Gute - und hier...", er legte dem Kammerdiener ein Geldstück in die Hand, "...das ist für deine Mühe. Vergiss nicht, der Köchin für ihre Freundlichkeit zu danken. Und jetzt erlaube mir bitte, allein zu speisen und mich etwas auszuruhen, bevor ich gehe."
"Selbstverständlich, Herr", erwiderte der Diener und verließ den Raum.
Lebrunne lehnte sich bequem in seinen Stuhl zurück, höchst zufrieden mit der Auskunft, die er erhalten hatte...
***
Marguerite und Aro traten mit strahlenden Gesichtern aus der Kirche.
"Schau, mein Herz, die festlich geschmückte Kutsche ist unsere", erklärte der Bräutigam und deutete auf einen großen, weißen Wagen, der sogleich vor die Kirchentür fuhr. "Komm, folge mir in dein neues Zuhause, Contessa di Volturi."
Die junge Frau lachte, umarmte und küsste ihn. Danach schaute sie sich noch einmal nach den anderen um, drehte ihnen dann den Rücken zu und rief übermüig: "Wer das fängt, ist als Nächstes dran!"
Kaum hatte sie das gesagt, warf sie ihren Brautstrauß hinter sich und er fiel direkt in Louises Arme. Erneut sah sich Marguerite um und lachte laut auf.
"Wie überaus passend!", rief sie fröhlich. "Auf Rochefort wird die nächste Hochzeit gefeiert!"
Bis auf Louise, die stark errötete, lachten alle und einige von ihnen klatschten Beifall. Caius trat dicht an Louise heran und reichte ihr seinen Arm: "Mademoiselle, darf ich bitten, mich im anderen Wagen zu begleiten?"
Louise hakte sich dankbar bei ihm ein, während Aro seiner Braut bereits in die Kutsche half und danach mit ihr davonfuhr. Marguerite warf einen Blick durch das Fenster zurück und winkte allen noch einmal zu, ehe sie sich wieder ihrem Bräutigam zuwandte und erklärte: "Ich bin so glücklich, dass wir endlich verheiratet sind und unsere Liebe nicht mehr verstecken müssen, Liebster. Und vielen Dank für die Rosen, die du mir sandtest. Diese Geste hat mich sehr berührt. Wenn ich nicht schon längst verliebt in dich wäre, würde ich mich neu in dich verlieben."
"Für dich ist mir nichts teuer genug", erwiderte Aro und küsste sie.
Als die beiden Liebenden endlich ihre Lippen voneinander gelöst hatten, fragte Marguerite: "Sag mal, was hatte eigentlich Mademoiselle de Roux bei unserer Trauung zu suchen?"
"Ach das! Sie sprach heute bei ihrer Tante vor und behauptete, Glückwünsche Ihrer Majestäten überbringen zu wollen. Außerdem will sie dir noch einen Brief überreichen. Deshalb sah ich mich gezwungen, sie auch zu unserer Hochzeitsfeier einzuladen. Es tut mir leid, aber alles andere wäre ein Affront gegenüber Madame de Colignon gewesen. Das wollte ich uns an unserem Hochzeitstag ersparen."
"Das hast du gut gemacht, Aro! Mich stört die Anwesenheit Mademoiselle de Roux' wirklich nicht und wenn wir Glück haben, bleibt sie auch nicht allzu lange."
"Am besten beachten wir sie gar nicht, so weit das möglich ist. Ich habe ohnehin nur Augen für dich...", sagte Aro zärtlich und küsste sie erneut...
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[1] Dov'è (ital.) = Wo bleibt sie denn nur?
Kein Wissen scheint schwerer zu erwerben
als die Erkenntnis, wann man aufhören muss.
~ Aus: "Ein Tonnenmärchen",
Jonathan Swift (1667 - 1745) ~
~~~~~
Außer Marguerite war noch keiner der anderen Menschen im Hause der Volturi-Brüder gewesen. Aber es hatte trotz der schweigsamen, blassen Dienerschaft nichts Unheimliches an sich. Ganz im Gegenteil: An der Eingangstür hing ein geflochtener Myrtenkranz, in dem Rosen eingearbeitet worden waren und ein mit unzähligen Rosenblüten übersäter Fußboden erwartete die Braut, als die Tür geöffnet wurde.
Aro hob Marguerite auf seine Arme und trug sie über die Schwelle.
"Nun, mein Schatz, wie gefällt dir der Empfang", fragte er flüsternd.
"Ausgesprochen gut, Liebster", gab sie leise zurück und küsste ihn. "Bitte, versprich mir, dass du diese gefühlvolle Seite immer behältst."
"Bei dir behalte ich sie immer", versprach er und trug sie in einen großen Raum, in welchem auf der rechten Seite ein runder, mit einem weißen Leinentuch versehener Tisch mit einer Tafel voller appetitlich aussehender Speisen stand. Ein geschmackvolles silbernes Service, bestehend aus 10 Gedecken an jedem Platz, befand sich darauf. Vor den beiden Plätzen, auf denen die Gedecke zusätzlich mit kleinen Rosenblättern und Myrtenzweigen verziert waren, setzte er Marguerite wieder ab, zog einen der Stühle hervor und sagte: "Nimm Platz, meine holde Braut!"
Nachdem die Comtesse dieser Aufforderung nachgekommen war, wandte sich Aro mit breitem Lächeln an die anderen Gäste, die ihnen in den Raum gefolgt waren: "Bitte, nehm Platz und greift zu!"
Danach winkte er einen der vermeintlichen Bediensteten herbei und sagte: "Bring noch einen Stuhl und ein Gedeck. Unvermutet hat sich ein weiterer Gast eingestellt."
Francois, um den es sich bei dem Diener handelte, eilte, den Befehl seines Herrn auszuführen. Währenddessen richtete Aro das Wort an Giselle: "Verehrte Mademoiselle de Roux, bitte nehmt so lange auf meinem Stuhle Platz, bis mein Diener für Euch ein weiteres Gedeck hergerichtet hat. Bis dahin erlaube ich Euch, mit meiner Braut zu sprechen. Nutzt diese Zeit, denn danach will ich die neue Contessa di Volturi nur für mich allein haben!"
Verhaltenes Lachen war zu hören, was die gute Laune Giselles jedoch nicht trübte. Vorwitzig, wie es ihre Art war, kam sie auf Aro zu und setzte sich auf seinen Platz.
"Vielen Dank, Conte di Volturi, Ihr zeigt mal wieder, dass Ihr ein Mann von Welt seid", sagte sie zu ihm. Danach wandte sie sich jedoch Marguerite zu und hielt ihr einen Brief hin. "Zunächst einmal möchte ich Eurem Mann und Euch zu Eurer Hochzeit gratulieren und Euch viel Glück in der Ehe und reichen Kindersegen wünschen. Darüber hinaus wünschen Euch selbstverständlich die Majestäten viel Glück - und dieses Schreiben hier soll ich Euch überbringen, nachdem Ihr getraut worden seid."
Neugierig nahm die junge Braut das Schreiben entgegen, während einer der Volturi-Wachen einen Stuhl hereintrug und am Tisch platzierte und einen Augenblick später Francois mit dem neuen Gedeck ankam. Giselle, die das selbstverständlich genau gesehen hatte, erhob sich daraufhin, schenkte sowohl Marguerite als auch Aro ein strahlendes Lächeln und erklärte: "Ich freue mich wirklich über Euer beider Glück, dessen seid versichert. Nun überlasse ich selbstverständlich gerne dem Bräutigam wieder seinen Platz und begebe mich zu den anderen Gästen."
Während Aro der Nichte von Madame de Colignon lächelnd zunickte und sich dann neben Marguerite niederließ und die übrigen Gäste Giselle mit einem nachsichtigem Lächeln bedachten, blickte Caius finster drein. Er empfand die Art sowie das ganze Benehmen dieser albernen, kleinen Gans als respektlos, was ihn in seinem Entschluss bekräftigte, dafür zu sorgen, dass sie nicht mehr lebendig zum Hofe zurückkehrte. Marcus empfing diese negative Schwingung seines jüngeren Bruders, sah den giftigen Blick, mit dem jener die kleine Roux bedachte und nahm sich vor, Caius gut im Auge zu behalten. Von Aro konnte er das heute nicht verlangen, schenkte jener doch seine ganze Aufmerksamkeit Marguerite, was völlig normal war, wenn man sich mit der Liebe seines Lebens verband. Es wäre eine Katastrophe, wenn einem der Menschen wegen Caius' mangelnder Selbstbeherrschung und Eifersucht etwas geschah.
"Kommt, Mademoiselle de Roux, setzt Euch neben Eure Tante", forderte Marcus das junge Mädchen auf, während er sich auf den neu hereingebrachten Stuhl setzte, der sich zwischen seiner Angebeteten und Louise befand, an deren andere Seite sich Caius nun gesellte.
"Geht es Euch nicht gut, Caius?", erkundigte sich in diesem Augenblick Louise bei ihrem Scheinverlobten und zog so die Aufmerksamkeit des blonden Jüngling auf sich. "Ihr scheint mir nicht glücklich zu sein. Kann ich Euch irgendwie helfen?"
"Nein, nein, es ist nichts", beruhigte Caius sie und schenkte ihr ein Lächeln. Dann senkte er seinen Ton und wisperte Louise zu: "Mir missfallen nur manche der Gäste und ihr Verhalten gegenüber meiner Schwägerin und meinem Bruder. Findet Ihr nicht auch?"
Die brünette, junge Frau ließ ihren Blick wie absichtslos kurz zu Giselle schweifen, die ins Gespräch mit ihrer Tante vertieft war, ehe sie antwortete: "Ich verstehe Euch durchaus, mein Lieber, aber wo kämen wir hin, wenn wir jedes Unbedacht einer unreifen Person auf die Goldwaage legten."
"Wie immer muss ich Euch zustimmen, obwohl mir ein solch respektloses Verhalten nicht gefallen will."
"Seht Euch das Brautpaar an, Caius. Die beiden kümmern sich nicht darum und deshalb sollten wir es auch ignorieren."
"Wie gut, dass Ihr bei mir seid, Louise, und ich Euch meinen Kummer anvertrauen kann. Ihr seid eine der wenigen Personen, die mich verstehen - und es auch verstehen, mein aufgebrachtes Gemüt wieder zu beruhigen. Was werde ich nur ohne Euch machen?"
"Nun, ich bin mir sicher, dass Euch dies gelingt", gab Louise lächelnd zurück.
"Euer Vertrauen in mich ehrt Euch, meine Liebe", antwortete Caius und war ihr innerlich dankbar dafür, dass sie ihm vorerst die Wut auf Mademoiselle de Roux genommen hatte. Louises Hinweis auf das Brautpaar ließ ihn überdies zu Marguerite und Aro blicken, wobei ihm vor allem 'seine kleine Comtesse' noch schöner als je zuvor erschien. Darüber hinaus spürte er voller Unbehagen, wie neidisch er darauf war, dass Aro seinen Arm besitzergreifend um Marguerites Schulter legte und mit ihr nun das Schreiben las, welches Amelies alberne Nichte ihr überreicht hatte.
"Was steht denn in dem Brief?", erkundigte Caius sich neugierig, um auf andere Gedanken zu kommen. Alles war besser als diese quälende Eifersucht beim Anblick des Brautpaares.
"Die Majestäten gratulieren uns zur Hochzeit", teilte Marguerite ihm mit rosigen Wangen mit. "Außerdem schreibt mir Seine Majestät, dass ich ab dem heutigen Tag frei über mein Vermögen und meine Besitztümer verfügen darf. Endlich habe ich keinen Vormund mehr!"
"Eine gute Nachricht", stimmte der blonde Vampir ihr zu, dachte jedoch: >Dein neuer Vormund heißt Aro, Comtess'chen.<
Nun erhob sich Marcus und schlug leicht mit einem Teelöffel an sein Weinglas, womit er sofort die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden hatten.
"Liebes Brautpaar, liebe Gäste", begann der ältere Vampir mit leichtem Pathos in der Stimme. "Heute ist wahrhaftig ein Freudentag, da zwei Liebende sich gefunden und den Bund fürs Leben geschlossen haben..."
Caius richtete seinen Blick auf sein eigenes Weinglas, goss aus einer Karaffe rasch etwas Rotwein hinein und nahm dann einen Schluck. Anders würde er Marcus' lange Rede und den Rest dieses Festes, das er nur Marguerite und Louise zuliebe ertrug, nicht überstehen können...
***
"Eine schöne Rede habt Ihr vorhin gehalten, Conte Marcus", lobte ihn Giselle, nachdem sich die Gäste ausgiebig dem Essen und Trinken gewidmet hatten, wobei auch die Volturi-Brüder sich überwanden und etwas aßen [1]. Es würde die Menschen sonst zu sehr verwundern und offenbar schien es Aro zu gefallen, dass ihm seine Braut immer wieder kleine Stücke von ihrer Gabel in den Mund schob. Er seinerseits tat es ihr gleich. Ein Anblick, dem Caius nicht immer ausweichen konnte, der ihn jedoch mit brennender Eifersucht quälte. Wie gern säße er jetzt dort neben der Braut - dem schönsten Mädchen der Welt, das niemals zu ihm gehören würde - Nein, sie durfte für ihn nichts anderes als seine kleine Schwester sein.
Um sich nicht weiter quälen zu müssen, wandte der blonde Vampir seine Aufmerksamkeit wieder seinem älteren Bruder Marcus zu, der gerade auf eine Frage der albernen Nichte Amelies antwortete: "Warum auf dieser Hochzeit so viele Rosen und Myrtenzweige zu finden sind? Aber, Mademoiselle de Roux, wisst Ihr denn nicht, dass sowohl die Rose als auch die Myrte der Liebesgöttin Aphrodite geweiht sind? Bereits im alten Griechenland war es Brauch, dass die jungfräuliche Braut mit einem Myrtenkranz geschmückt wurde."
"Was gehen uns heute heidnische Götter und deren Bräuche an, Conte Marcus? Ist es nicht vielmehr eine Sünde, diese zu übernehmen?", wandte Giselle ein. "Es stimmt zwar, dass rote Rosen auch unter uns Christen als Boten der Liebe gelten, aber zugleich haben sie Dornen - ein klarer Hinweis darauf, dass das Leben schwere und schmerzhafte Wege für einen bereithält."
"Die Liebe ist ein sehr starkes Gefühl, bei der die Liebenden die ganze Breite der Emotionen durchleben können", erwiderte Marcus. "Und die so genannten heidnischen Götter, mein Kind, standen für die widersprüchlichen Gefühle, die in jedem von uns wohnen. Doch am Anfang einer Ehe sollten neben Liebe sowohl Tugend als auch Lebenskraft, Glück sowie viele gesunde Kinder als Ziel stehen. Das ist doch kein Widerspruch, sondern müsste Euch verdeutlichen, wie breitgefächert unser aller Schicksal sich spannt."
"Ich liebe es, Euren poetischen Erzählungen zu lauschen", schwärmte Giselle. "Ihr versteht es vorzüglich, etwas auf angenehme Art zu erklären."
Caius bemerkte erstaunt, wie angetan dieses dumme Ding von seinem älteren Bruder, der vom Aussehen her ihr Vater sein könnte, war. Das hatte gerade noch gefehlt, dass dieses intrigante, kleine Miststück sich in Marcus verliebte und damit in Konkurrenz zu ihrer eigenen Tante trat. Es wurde Zeit, dass er sich in das Gespräch einmischte.
"Wann müsst Ihr eigentlich wieder bei Hofe sein, Mademoiselle de Roux?", fragte Caius interessiert.
"Oh, erst morgen Nachmittag", gab das junge Mädchen in heiterem Ton zurück.
"Demnach übernachtet Ihr also bei Eurer Tante?"
"Nein, nein - meine Mutter erwartet mich gegen acht. Wir haben uns schon eine Weile nicht mehr gesehen und sicherlich manches miteinander zu besprechen."
"Es wäre mir ein Vergnügen, wenn ich..."
"Bitte, Caius, wir haben bereits geklärt, dass Madame de Colignon und ich die junge Dame nach Hause fahren werden", schnitt ihm Marcus das Wort im Munde ab. "Deine Dienste sind hier nicht mehr vonnöten."
"Wie schade", meinte der blonde Jüngling und bedachte Giselle mit einem bedauernden Blick. Sie bemerkte das mit Verwunderung.
"Nanu, hegt Ihr denn den Wunsch, mich unbedingt nach Hause begleiten zu wollen?", fragte das Mädchen ihn.
"Eine junge Dame kann keinesfalls ohne männlichen Schutz in der Dunkelheit nach Hause fahren", wich Caius ihr aus. "Vielleicht wäre es doch besser, wenn Ihr bei Eurer Tante übernachten und morgen Eure Frau Mutter besuchen würdet."
"Oh, aber meine Mutter erwartet mich und ich kann sie einfach nicht enttäuschen."
"Da kann man wohl nichts machen", erwiderte Caius und tauschte dann einen kurzen Blick mit Marcus aus, wobei er in seinen Gedanken deutlich die Botschaft empfing: >Ich verbiete dir, irgendetwas zu unternehmen, was Amelie schockieren könnte. Ihre Verwandten sind tabu! Hast du das verstanden?<
Unmerklich nickte der blonde Jüngling und erhob sich danach, um an die frische Luft zu gehen...
*
Louise wartete eine Weile, ehe sie sich erhob und ihrem offiziellen Verlobten nach draußen folgte. Sie fand ihn hinter dem Haus auf einer kleinen Terrasse, trat neben ihn und fragte: "Was ist los mit Euch, Caius? Warum habt Ihr einfach ohne Erklärung die Hochzeitsfeier verlassen?"
"Mir wurde ein wenig übel und frische Luft ist das beste Mittel dagegen", behauptete der blonde Vampir. "Macht Euch nicht zu große Sorgen um mich, sondern geht lieber wieder ins Haus zurück. Es ist für Euch viel zu kalt hier draußen."
"Ein wenig frische Luft kann ich auch gut vertragen", meinte Louise, die so tat, als ob sie die beiden letzten Sätze nicht gehört hätte. "Was sollte das eben mit Mademoiselle de Roux? Hattet Ihr wirklich die Absicht, sie zu ihrer Mutter zu begleiten?"
"Je eher diese impertinente Person aus dem Hause ist, desto besser", gab Caius in unmutigem Ton zurück. "Bitte, denkt nicht, dass das Mädchen mir irgendetwas bedeuten würde. Doch ich hatte den Eindruck, dass sie anfing, mit Marcus schönzutun."
"Wie bitte?!", entfuhr es Louise. "Das könnt Ihr doch nicht wirklich glauben! Die kleine Roux weiß, dass Euer Bruder Marcus ihrer Tante den Hof macht. Vermutlich wurde sie durch ihre Mutter beauftragt, ihn näher in Augenschein zu nehmen. Alles halb so schlimm."
"Ach! Natürlich!", erwiderte Caius, dem es erst jetzt wie Schuppen von den Augen fiel. "Ihr habt vollkommen recht. Offenbar funktioniert mein eigener Verstand nicht mehr richtig. Das muss an meiner Aversion gegen dieses Mädchen liegen. - Louise, habt Ihr nicht eine Idee, wie man sie schnell aus dem Hause treiben könnte?"
"Sie bleibt vermutlich gar nicht mehr so lange", meinte die brünette, junge Frau und lachte ein wenig. "Ich hörte sie vorhin sagen, dass sie nur noch den Brauttanz abwartet, um sich dann zu verabschieden und zu ihrer Mutter zu fahren."
"Ausgezeichnet!", befand Caius und lächelte grimmig. "Dann werden wir dafür sorgen, dass der Tanz in Kürze beginnt."
"Aber, Caius...!"
"Nichts da, meine liebe Freundin! Lasst uns rasch wieder hineingehen und alles dazu tun, um einen missliebigen Gast hinaus zu komplimentieren."
*
Als Caius wieder in den großen Saal trat, wo die Hochzeitsfeier stattfand, suchte er sogleich das Spinett in einer anderen Ecke des Raumes auf, setzte sich an das Instrument und erklärte laut: "Es wird allmählich Zeit für den Hochzeitstanz!" Danach begann er zu spielen.
Aro und Marguerite schauten sich erstaunt an, dann meinte der Bräutigam: "Eigentlich ist es eine hervorragende Idee, mein Herz. Möchtest du mit mir tanzen?"
"Mit dem größten Vergnügen, Liebster", erwiderte Marguerite und küsste ihn, bevor sie sich gemeinsam erhoben und zu einer großen, freigeräumten Fläche des Raumes schritten, der speziell für das Tanzen vorbereitet worden war.
"Bitte, spiele eine Allemande für uns, Bruder", bat Aro und Caius tat ihm den Gefallen, während Louise fassungslos neben dem Spinett stand und sich fragte, warum in aller Welt sich der liebenswürdiger Mann, als den sie den Jüngsten der Volturi-Geschwister kannte, plötzlich so unberechenbar aufführte. Doch niemand außer ihr schien zu bemerken, wie aufgewühlt Caius war.
Marguerite und Aro indessen tanzten gutgelaunt die Allemande.
Danach schlug die Braut vor, ein Menuett zu tanzen, worauf sich auch gleich Marcus und Madame de Colignon, Madame und Monsieur de Fournier sowie Agnes und Thierry bereit fanden.
Louise beschloss, sich auf eines der Sofas zu setzen und sich das Geschehen schweigend zu betrachten. Vielleicht vermochte dieser etwas langsamere Tanz es, das Gemüt von Caius zu beruhigen. Es dauerte nicht lange, bis sich Giselle zu ihr gesellte.
"Euer Verlobter ist ein wahrer Virtuose auf dem Spinett", lobte das junge Mädchen. "Ich glaube, wenn er bei Hofe vorspielen würde, flögen ihm viele Herzen zu. Dazu ist er noch ein besonders hübscher Jüngling. Ja, ich finde, er sieht sogar viel besser aus als Monsieur de Hervais."
"Vor allem ist er ein sehr gebildeter und liebenswürdiger Mann", antwortete Louise, die spürte, dass Madame de Colignons Nichte gerade versuchte, sie zu provozieren. Mademoiselle de Roux konnte ja nicht ahnen, dass ihr Herz keineswegs Caius, sondern einem anderen gehörte.
"Junge Männer sollten sich nicht zu früh binden, finde ich", fuhr Giselle fort. "Monsieur Francois de Hervais glaubte bis vor kurzem auch, die Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Leider versäumte er, dies dem Fräulein, welches er anbetete, zu gestehen - und nun hat sie einen anderen Mann geheiratet, dem ihr Herz gehört."
"Fremde Angelegenheiten gehen uns nichts an, Mademoiselle de Roux."
"Ihr habt recht, meine Liebe. Mir ging es nur darum, Euch darauf hinzuweisen, dass manche Männer eben... hm... unstet... sind."
"Untreu wolltet Ihr wohl sagen, nicht wahr?"
"Wenn Ihr es so direkt auszudrücken beliebt, dann stimme ich zu."
"Was möchtet Ihr mir eigentlich genau mitteilen, Mademoiselle de Roux?", fragte Louise sie direkt und schaute ihr ins Gesicht. "Redet nicht um den heißen Brei herum! Das kostet uns beide nur unnötig Zeit."
"Euer Verlobter scheint recht wankelmütig zu sein", sprach Giselle es aus. "Habt Ihr vorhin nicht mitbekommen, dass er mich unbedingt nach Hause begleiten wollte?"
"Das solltet Ihr nicht überbewerten, Mademoiselle de Roux. Nach allem, was in letzter Zeit geschah, wollte Caius nur sichergehen, dass Ihr unbeschadet bei Eurer Mutter ankommt!"
"Euer Vertrauen in Euren Verlobten scheint grenzenlos zu sein, Mademoiselle Lefevre."
"Ja, und es ist vollkommen berechtigt!"
In diesem Augenblick endete das Menuett und sowohl Giselle als auch Louise waren erstaunt, dass fast im gleichen Moment Caius vor ihnen stand und sich mit süßen Worten an Amelies Nichte wandte: "Mademoiselle de Roux, wärt Ihr wohl so freundlich, eine Gavotte zu spielen? Meine Verlobte und ich möchten sie gerne mit dem Brautpaar zusammen tanzen."
"Selbstverständlich, Conte di Volturi", versprach Giselle gut gelaunt und ging zu dem Instrument, um seinem Wunsch nachzukommen.
*
Erschöpft ließ sich Marguerite nach der Gavotte auf das Sofa fallen.
"Bist du etwa schon müde, mein Schatz?", neckte Aro sie, der sich neben ihr niederließ.
"Nein, Liebster, aber ich brauche eine kleine Pause", gab sie zu und lächelte ihn mit einem bittenden Blick an. "Das braucht dich aber nicht davon abhalten weiterzutanzen, wenn du gerne möchtest. Ich habe nichts dagegen."
"In diesem Fall finde ich es angebracht, wenigstens einmal Madame de Fournier aufzufordern. Ihr Mann macht auf mich den Eindruck, als hätte er auch gerne eine Verschnaufpause", scherzte Aro, küsste sie wie bereits so oft an diesem Tag auf den Mund und erhob sich. "Entschuldige mich bitte, Liebling. Wir werden aber nachher wieder zusammen tanzen, nicht wahr?"
"Sobald du den Tanz mit Madame de Fournier absolviert hast, würde ich gerne mit dir an den Tisch zurückkehren und mich ein wenig mit den übrigen Gästen unterhalten. Nach dem heutigen Tag werde ich vielleicht nicht mehr oft die Gelegenheit dazu haben."
"Einverstanden", gab Aro nach. "Bis später, ich muss jetzt mit Agnes' Mutter tanzen. Das bin ich deiner kleinen Freundin schuldig."
"Du bist ihr gar nichts schuldig, sondern willst einfach nur tanzen", berichtigte Marguerite ihn und lachte etwas, während er ihr amüsiert zuzwinkerte und dann zu Agnes' Eltern ging, um Madame de Fournier für den nächsten Tanz aufzufordern. Natürlich willigte sie ein und während wenig später die Melodie für eine Pavane erklang, gesellte sich Monsieur de Fournier zu Marguerite auf das Sofa.
"Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, dass ich mich zu Euch setze, Comtesse?", fragte der ältere Mann.
"Natürlich nicht, ich bin auch ein wenig erschöpft vom Tanzen", antwortete die Braut. "Nun, wie gefällt Euch unser kleines Fest?"
"Sehr angenehm, wirklich. Außerdem freue ich mich, dass Ihr und Conte Aro offensichtlich ein sehr glückliches und verliebtes Paar seid. Ich hoffe überdies, dass meine Agnes mit Thierry ebenso glücklich wird."
"Ganz bestimmt, Monsieur de Fournier. Die beiden sind sehr verliebt ineinander und Thierry ist ein feiner Bursche mit gutem Charakter."
"Meine Frau und ich mögen ihn auch", stimmte ihr Gesprächspartner ihr zu. "Dennoch fällt es uns nicht leicht, unser einziges Kind gehen zu lassen."
"Das verstehe ich gut. Es ist schwer zu akzeptieren, einen nahestehenden Menschen loslassen zu müssen. Leider lässt uns das Leben oftmals keine Wahl."
"Verzeiht mir, Comtesse, es lag nicht in meiner Absicht, mit den unbedachten Äußerungen eines besorgten Vaters einen Schatten über Euren Hochzeitstag zu legen. Vergesst am besten gleich, was ich sagte. Meine Frau und ich sind überaus froh darüber, dass Agnes sich in den jungen Renouard verliebt hat, der vom Alter her viel besser zu ihr passt als irgendein älterer Mann aus Adelskreisen."
"Sie werden ein glückliches Paar sein", bekräftigte Marguerite die Hoffnungen Monsieur de Fourniers.
"Das denke ich auch. Erlaubt mir bitte, Euch ein Kompliment zu machen, Comtesse - oder vielmehr Contessa di Volturi, wie Ihr ja jetzt heißt: Ihr seid mit Abstand die schönste Braut, die ich seit langem gesehen habe."
"Vielen Dank."
"Und Euer Bräutigam ist beinahe ebenso gut aussehend und braucht sich hinter Euch nicht zu verstecken. Ihr habt zwar eine kleine Hochzeit, aber dennoch ist sie sehr prächtig."
"Ja, das stimmt. Dabei erwartete ich das gar nicht."
"Wirklich nicht? Ich dachte immer, Eurer Vater habe Euch verwöhnt."
"Mein Vater war stets gütig zu mir, aber dennoch sehr vernünftig und streng. So hat er mich erzogen."
"Er wäre sicher stolz auf Euch, Contessa di Volturi."
"Meint Ihr wirklich?"
"Ja, Ihr habt gute Manieren, ein tadelloses Benehmen, seid gebildet und zudem überaus hübsch. Ich muss sagen, dass Ihr eine frappierende Ähnlichkeit mit einer Dame habt, die früher bei Hofe einmal als große Schönheit galt, von der viele Männer schwärmten."
Marguerite horchte auf. Das war ja interessant.
"Wisst Ihr noch, wie diese Dame hieß?"
"Leider entsinne ich mich im Augenblick nicht mehr Ihres Namens, aber er klang ein wenig ausländisch... ja, ein englischer Name... Wenn ich mich nur erinnern könnte. Jedenfalls war sie mit Eurem Vater sehr gut bekannt."
> Mutter! Das muss meine Mutter sein! < schoss es Marguerite plötzlich durch den Kopf und sie spürte, wie ihr Herz vor Aufregung heftiger zu schlagen begann. >Oh, hoffentlich fiel Monsieur de Fournier ihr Name noch ein. <
"Könnt Ihr Euch wirklich nicht erinnern?", fragte Marguerite erneut.
"Die Dame war früher sehr bekannt, aber es ist schon viele Jahre her... der Name liegt mir auf der Zunge, aber... vielleicht fällt er mir ja noch ein, Contessa."
"Das hoffe ich sehr. Meine Tante deutete an, dass diese Dame eventuell mit unserer Familie verwandt sein könnte."
"Nun, das glaube ich kaum. Sie trug einen englischen Namen, dessen bin ich mir sicher... aber Euer Vater und sie kannten sich sehr gut."
Marguerite spürte, dass sie es nicht länger aushalten würde, sich zusammenreißen zu müssen und ihrem Gesprächspartner nichts von ihrem Verdacht erzählen zu dürfen. Darum erhob sie sich plötzlich, wandte sich an Monsieur de Fournier: "Entschuldigt mich bitte" und lief aus dem Zimmer. Aro, der das sah, beendete sofort seinen Tanz mit Agnes' Mutter, um seiner Braut zu folgen. Er fand sie draußen im Flur an das Treppengeländer gelehnt und den Kopf auf den Boden gerichtet. Vorsichtig trat er näher zu ihr heran und legte ihr seine Hände um die Schultern.
"Was ist mit dir, mein Herz?"
"Oh, Aro, soeben unterhielt ich mich angeregt mit Monsieur de Fournier und dabei erwähnte er, dass er vor vielen Jahren eine Dame kannte, der ich ähnlich sehen soll."
"Na ja, das kommt schon einmal vor, dass sich Menschen ähneln - das hat nichts zu bedeuten", log er, obwohl er vor seinem inneren Auge sah, welche Vermutung seine junge Frau hegte. Doch er konnte ihr natürlich nicht sagen, dass sie damit richtig lag. Ihre Mutter musste nach ihrer Geburt eine Mission erledigen und war danach nicht zurückgekehrt. Vermutlich lebte sie nicht mehr und Comte de Rochefort würde schon seine Gründe gehabt haben, seiner Tochter zu verschweigen, wer ihre Mutter war. Da wollte er sich nicht einmischen. Es spielte jetzt auch keinerlei Rolle mehr. "Komm, Marguerite, beruhige dich ein wenig."
"Nein, Liebster, du verstehst mich nicht richtig", erwiderte sie, drehte sich zu ihm um und schaute ihn eindringlich an. "Diese Frau, von der Monsieur de Fournier sprach hielt sich vor vielen Jahren am Hofe auf und war sehr gut mit meinem Vater bekannt. Was, wenn es sich dabei um meine Mutter handelt?"
"Das ist lediglich eine Vermutung von dir, mein Schatz."
"Das stimmt, aber dennoch... es quält mich, nicht zu wissen, wer meine Mutter ist."
"Das verstehe ich, doch du musst keine voreiligen Schlüsse ziehen. Dass diese Dame mit deinem Vater gut bekannt war, heißt doch nicht, dass sie auch deine Mutter sein muss."
"Monsieur de Fournier sagte, dass ich eine auffallende Ähnlichkeit mit ihr hätte. Kann das wirklich Zufall sein?"
"Oh, mein liebes Herz, es gibt so viele Menschen, die eine verblüffende Ähnlichkeit miteinander haben und dennoch nicht verwandt sind."
"Mag sein, Aro, aber dennoch hätte ich gerne Gewissheit."
"Also schön, ich werde versuchen herauszufinden, was mit dieser Dame ist. Wie lautet Ihr Name?"
"Monsieur de Fournier kann sich im Augenblick nicht daran erinnern. Aber ich hoffe, es fällt ihm noch ein, so lange die Feier dauert."
"Marguerite, wie soll ich etwas über eine Person herausfinden, deren Namen ich nicht kenne?"
"Gewiss erinnert er sich wieder daran, wie sie heißt!", meinte seine Frau hoffnungsvoll.
"Komm, Liebes, versuch, dich zu beruhigen", gab Aro zurück und zog sie in seine Arme. Sie lehnte dankbar ihren Kopf an seine Brust, während er ihr behutsam über den Rücken fuhr. Nach einer Weile gewann sie wieder ihre Fassung zurück und einen Moment später fragte er: "Wollen wir wieder zu unseren Gästen zurückkehren?"
"Ja, jetzt wird es wieder gehen", antwortete sie, hakte sich dann bei ihm am Arm ein und kehrte zu der Feier zurück.
*
Nachdem Aro seiner Frau gefolgt war, unterbrach die übrige Hochzeitsgesellschaft ihren Tanz. Während Giselle am Spinett sitzen blieb und alle interessiert beobachtete, wobei sie ihre Ohren weit aufsperrte, damit ihr ja nichts entging, näherte sich Madame de Fournier zusammen mit ihrer Tochter und Caius dem Sofa, auf dem ihr Gemahl saß.
"Was hast du zu Comtesse de Rochefort gesagt, dass sie sich gezwungen sah, den Raum zu verlassen?", wollte Agnes' Mutter von ihrem Mann wissen.
"Ich habe wirklich keine Ahnung", antwortete Monsieur de Fournier ratlos. "Wir haben uns über Verschiedenes unterhalten und plötzlich stand die Braut auf und lief hinaus."
"Was war das Letzte, worüber Ihr spracht?", erkundigte sich Caius ungeduldig.
"Nichts besonderes, über den Hof und die Bekanntschaften, die man dort macht. Dabei kam das Gespräch auch kurz auf ihren Vater... Mon Dieu, vielleicht hat die Erinnerung an ihn sie erschüttert."
"Unwahrscheinlich", mischte sich nun Marcus ein, der sich zu ihnen gesellte. "Marguerite sprach hin und wieder selbst von ihrem Vater, ohne dass sie sich gezwungen sah, aus dem Zimmer zu gehen. Nein, irgendetwas von dem, was Ihr miteinander spracht, hat sie an etwas erinnert."
"Es lag nicht in meiner Absicht, die junge Braut aufzuregen."
"Es ist nicht Eure Schuld, Monsieur de Fournier", beruhigte ihn Marcus und warf dabei kurz einen warnenden Blick zu Caius, der verärgert wirkte. "Woher soll man schon wissen, was das Gemüt einer Frau bewegt? Dieser Tag dürfte ohnehin sehr aufregend für meine junge Schwägerin gewesen sein."
"Oder es gibt einen anderen, sehr viel triftigeren Grund", meinte Giselle, die nun aufstand und sich zu der kleinen Gruppe um Monsieur de Fournier gesellte. Auch Madame de Colignon und Louise traten näher, neugierig, was der ungebetene Gast zu sagen hatte. "Womöglich ist der neuen Contessa di Volturi einfach schlecht geworden, weil...", der Mund des jungen Mädchen verzog sich zu einem ironischen Grinsen, bevor sie fortfuhr: "... nun ja, vielleicht kann Contessa di Volturi es sich sparen, einen Myrtenzweig aus ihrem Schleier in einen Topf zu pflanzen..." [2]
"Ihr verfügt zweifellos über sehr viel Phantasie!", entrüstete sich Louise als Erste. "Das ist unmöglich!"
"Aber unser Brautpaar war sich doch bereits vor der Vermählung sehr zugetan", gab Giselle mit unschuldigem Blick zurück und sah alle Anwesenden der Reihe nach an. Als ihr Caius' kalter Blick begegnete, erfasste sie unwillkürlich ein eisiger Schauer. In Erkenntnis dessen, dass sie mit ihrem vorlauten Mundwerk zu weit gegangen war und damit die Wut des jungen Volturi auf sich gezogen hatte, fuhr sie rasch fort: "Es ist doch nichts dabei, wenn man sich liebt. Ist die Liebe nicht das Schönste aller Dinge auf der Welt?"
"Das hast du zweifellos recht, Giselle", erwiderte Madame de Colignon in strengem Ton. "Dennoch gehört es sich nicht, alles auszuplaudern, was einem durch den Kopf geht. Du musst noch sehr hart an deiner Selbstbeherrschung arbeiten, mein Kind. Wenn ich dich nachher zu deiner Mutter bringe, werde ich ein ernstes Wort mit ihr darüber sprechen. Womöglich bist du zu unreif, um weiterhin bei der Königin am Hof zu dienen."
"Aber, Tante Amelie!", protestierte das junge Mädchen.
In diesem Augenblick kehrten Marguerite und Aro zu der Gesellschaft zurück.
"Nanu, was ist denn hier los?", fragte der Bräutigam verwundert. "Wir haben eine fröhliche Gesellschaft erwartet, die miteinander tanzt, lacht und sich unterhält. Stattdessen finden wir nun eine Art Versammlung um ein Sofa vor. Habt Ihr etwas Wichtiges zu besprechen?"
"Wir sorgten uns um das Wohlergehen Eurer jungen Frau", antwortete Madame de Colignon, die Marguerite eindringlich musterte. "Sie lief auf einmal hinaus und wir konnten uns nicht erklären, was der Grund dafür ist."
"Es tut mir leid, dass ich Euch Grund zur Besorgnis gab", sagte Marguerite daraufhin in entschuldigendem Ton. "Mir war ein wenig übel und ich brauchte etwas Ruhe, nichts weiter. Es geht mir schon wieder gut."
Auf das Gesicht von Mademoiselle de Roux schlich ein kleines Lächeln, aber eingedenk ihres eben erhaltenen Tadels und der Drohung ihrer Tante, dafür zu sorgen, dass sie ihre Stellung bei der Königin verlor, wagte sie nicht, noch ein Wort zu äußern.
"Warum war Eure Nichte denn eben so aufgebracht?", wollte Aro wissen, da ihm der Protest Giselles nicht entgangen war.
"Ich gab Ihr zu verstehen, dass sie vielleicht noch nicht die Reife besitzt, um weiterhin am Hof zu dienen", erklärte Madame de Colignon.
"Was? Aber warum denn? Gerade dies ist der geeignetste Ort für Eure reizende Nichte, um Dinge wie Verschwiegenheit und Selbstkontrolle zu lernen. Lasst sie dort! Ihre Majestät wäre sonst bestimmt enttäuscht, eine ihrer Hofdamen zu verlieren."
"Meine Schwester und ich werden uns darüber unterhalten", versprach Amelie. "Eure Sichtweise werden wir dabei natürlich in Erwägung ziehen."
"Und nun sollten wir uns wieder angenehmeren Dingen widmen", meinte Marguerite und schenkte ihren Gästen ein Lächeln. "Unsere Hochzeitstorte wird gleich hereingebracht sowie Tee, Kakao oder Kaffee und ich lade Euch alle ein, an der Tafel Platz zu nehmen. Was mich betrifft, habe ich großen Appetit."
Die Anspannung im Raum verschwand nach diesen Worten und Amelie duldete es sogar, dass ihre vorwitzige Nichte wieder an ihrer Seite Platz nahm. Zwar glaubte die ältere Dame nicht, dass Marguerite und Aro vor ihrer Ehe das Bett miteinander geteilt hatten, aber konnte sie das wirklich ausschließen?
Madame de Colignon beobachtete, dass die junge Braut ein großes Stück Torte mit Genuss verspeiste. Sie konnte sich nicht erinnern, Rocheforts Tochter jemals so viel essen gesehen zu haben. Hatte Giselle womöglich recht?
Marguerite und Aro hatten sich heimlich getroffen, das wusste sie - und sie hatte Marguerite stets vertraut. Konnte sie sich wirklich so geirrt haben? Aber wer war sie, um darüber zu urteilen? Hatten sich nicht auch Dianne de Winter und Comte de Rochefort geliebt, ohne den Segen der Kirche zu besitzen? Wenn sich dies bei ihrer Tochter wiederholte, war es wirklich so schlimm? Genau wie ihre Eltern hatten Marguerite und Aro geheiratet. Und damit war alles in Ordnung. Rocheforts Tochter wurde von ihrem Ehemann geliebt und ihre beiden Schwager hegten offenbar auch eine große Zuneigung für sie. Es gab keinen Grund zur Sorge, eher zur Freude. Wäre es nicht schön, wenn aus dieser Liebesverbindung ebenfalls ein gesundes Kindlein entsprang? Nur dass in diesem Fall die Mutter keinen gefährlichen Auftrag für ihr Vaterland zu erfüllen hatte, sondern bei Mann und Kind bleiben konnte. Wahrhaftig ein Segen!
***
Obwohl Caius sich gewünscht hatte, dass Giselle die Feier früher verließ, blieb das Mädchen, bis gegen halb neun ihre Tante erklärte, dass sie sich verabschieden wolle.
"Gerne wäre ich noch geblieben, aber ich muss meine Nichte zu Ihrer Mutter bringen", erklärte Madame de Colignon dem Brautpaar. "Herzlichen Dank nochmals für dieses schöne Hochzeitsfest. Ich wünsche Euch eine angenehme Nacht und viel Glück auf Eurem gemeinsamen Lebensweg."
"Vielen Dank, Madame", erwiderte Marguerite, die wieder glücklich wirkte. "Aber wir werden uns bestimmt bald wiedersehen. Schließlich wollen wir doch gemeinsam nach Hause fahren, nicht wahr?"
"Natürlich, mein Kind. Doch ich hoffe sehr, dass wir uns vorher noch treffen. Was haltet Ihr beiden davon, morgen gegen 11.00 Uhr zu einem gemeinsamen Frühstück zu mir zu kommen?", schlug Amelie vor. "Ich wohne ja gleich gegenüber."
Die Braut tauschte mit ihrem Mann einen kurzen Blick aus. Als Aro unmerklich nickte, wandte sie sich wieder ihrer mütterlichen Freundin zu und antwortete: "Sehr gern. Bis dann. Eine gute Fahrt zu Eurer Schwester und kommt auch selbst gut nach Hause."
"Dafür werde ich sorgen", mischte sich Marcus ein. "Madame de Colignon hat mir erlaubt, sie zu begleiten."
"Und wenn Ihr erlaubt, würden Louise und ich uns dem gerne anschließen", bot Caius an und erhob sich gemeinsam mit seiner Verlobten.
"Es war wirklich ein sehr angenehmes Fest, Comtesse... Verzeiht bitte, Contessa", sagte Louise. "Ich wünsche Euch eine gute Nacht und schöne Träume."
"Wie lieb von dir", erwiderte Marguerite, erhob sich und umarmte ihre Freundin. Danach umarmte sie auch Madame de Colignon, die sich das gern gefallen ließ. Giselle hingegen reichte sie nur die Hand. "Kommt gut nach Hause, Mademoiselle de Roux, und bestellt dem Königspaar meinen herzlichen Dank für Ihre Freundlichkeit, Güte und guten Wünsche. Übermittelt Ihnen auch von mir, dass ich ihnen ebenfalls herzliche Grüße sende und ihnen alles Gute wünsche."
"Danke, Contessa di Volturi, das richte ich gerne aus. Bitte glaubt mir, dass auch ich Euch von Herzen alles erdenklich Gute wünsche, vor allem Glück in der Ehe und gesunde Kinder. Aber bei einem so wunderbaren Ehemann wie dem Euren habe ich in dieser Beziehung keinerlei Bedenken."
"Vielleicht hat Eure Tante recht und Ihr seid noch ein wenig zu unreif für die Gesellschaft", gab die junge Braut zwar freundlich, aber in sehr reserviertem Ton zurück und löste ihre Hand aus derjenigen des Mädchens. "Ihr müsst unbedingt daran arbeiten, Eure Selbstbeherrschung zu verbessern und Eure vorlaute Zunge ein wenig im Zaum zu halten. Lebt wohl!"
***
Nachdem die Hochzeitsgesellschaft das Haus verlassen hatte, zog Aro seine Braut auf seine Knie, umarmte und küsste sie lange. Als sie endlich ihre Lippen voneinander lösten, blickte sich Marguerite in dem Raum um und meinte: "Schon seltsam, dass plötzlich alles so still ist."
"Ich finds schön, mit dir allein sein zu können."
"Ja, natürlich, ich auch, obwohl ich alle sehr gern um mich habe", antwortete die junge Braut. "Eine Ausnahme gibt es allerdings: Madame de Colignons Nichte finde ich doch recht unangenehm und möchte sie nie wieder treffen."
"Brauchst du auch nicht", meinte Aro. "Obwohl ich zugeben muss, dass ich es höchst amüsant fand, als du sie ermahntest, sich mehr in Selbstbeherrschung zu üben und ihre Zunge im Zaum zu halten."
Marguerite lachte und küsste ihn, ehe sie erwiderte: "Du meinst, weil ich selbst nicht viel besser bin?"
"So ungefähr..."
"Ja, du hast wohl recht. Bei unserer ersten Begegnung im Haus von Madame de Colignon war es von mir sehr ungehörig, Euch etwas über den Charakter meiner schwierigen Tante zu verraten. Dabei kannten wir uns gar nicht. Also werde auch ich weiter daran arbeiten, meine Selbstbeherrschung zu verbessern und meine Zunge im Zaum zu halten."
"Das ist eine hervorragende Idee, Liebes, Selbstbeherrschung ist eine wichtige Eigenschaft."
"Nur weil wir verheiratet sind, musst du nicht damit beginnen, ungalant zu mir zu sein", gab Marguerite in amüsiertem Ton zurück und versetzte ihm spielerisch einen Hieb gegen seine Schulter.
"Ich bin nicht ungalant", widersprach ihr Mann. "Selbstbeherrschung kann in einigen Situationen wirklich wichtig sein... sogar lebenswichtig."
"Warum bist du auf einmal so ernst, Aro? Was hast du?"
"Ich möchte nicht, dass du dir schadest oder irgendjemandem sonst, den du gern hast."
"Das werde ich nicht, keine Sorge. Aber dich scheint etwas zu bedrücken. Bitte sag mir, was es ist. Ich würde dir gerne helfen."
"Nein, mich bedrückt nichts. Vermutlich brauche ich nur ein wenig Ruhe. Für dich war das gewiss auch ein recht aufregender, langer Tag. Du wirkst ein wenig erschöpft auf mich, Liebes."
"Ich bin jedoch nicht so erschöpft, um nicht noch gerne mit dir zusammen zu sein; und endlich müssen wir uns nicht mehr trennen. Bringst du mich in unser Gemach, Liebster?"
"Gern, mein Engel", sagte Aro, hob sie auf seine Arme und trug sie hinauf...
***
Nachdem Madame de Colignon ihre Nichte bei ihrer Schwester Marie abgeliefert hatte, stellte sie ihr Louise, Marcus und Caius vor. Marie fand jeden von ihnen reizend, bot ihnen Wein an, den die drei jedoch dankend ablehnten.
"Wir müssen uns dringend unter vier Augen über Giselle unterhalten", sagte Madame de Colignon danach. "Allerdings ist es mir heute etwas zu spät und ich fühle mich erschöpft. Wenn es dir recht ist, würde ich dich bitten, morgen zum Abendessen zu mir zu kommen."
"In Ordnung, Amelie, wenn du es wünscht", erwiderte ihre Schwester. "Geht es dir auch gut?"
"Aber ja, es war nur ein langer Tag für mich", beruhigte Madame de Colignon sie. "Wie du vielleicht hörtest, hat heute Comtesse de Rochefort geheiratet und ich war bis vor kurzem noch auf ihrer Hochzeit. Conte Marcus und Conte Caius sind die Brüder des Mannes, den die Comtesse ehelichte."
"Oh ja, Giselle berichtete mir kurz davon. Wie schön, wenn sich ein junges Paar findet, nicht wahr?"
Bei den letzten Worten sah Marie zu den drei Besuchern, die unmerklich nickten.
"Nun gut, bestell den Brautleuten von mir die besten Wünsche auf ihrem weiteren Weg, Amelie", wandte sich Marie danach wieder ihrer Schwester zu. "Wir sehen uns dann morgen."
Sie blickte erneut zu Louise und den beiden Volturi-Brüdern: "Bitte, bringt meine Schwester gut nach Hause."
"Das werden wir", versprach Marcus und verneigte sich etwas vor Marie. Dann gingen sie mit Madame de Colignon zu ihrer Kutsche zurück...
***
In Aros Gemach angekommen, staunte Marguerite erneut, dass auf dem Bett ebenfalls viele Rosenblätter lagen. Der ganze Raum roch danach und sie sog genießerisch diesen Duft ein.
"Oh, Liebster, welche Überraschungen hast du noch für mich?", fragte sie.
"Wenn ich es verriete, wären es keine Überraschungen mehr", gab er neckend zurück und legte sie auf das Bett, zog ihr die Schuhe aus und stellte sie neben die Schlafstatt. Danach erhob er sich und füllte eines der zwei Gläser, die neben einer mit Wein gefüllten Karaffe auf einem kleinen Tisch standen. Mit dem gefüllten Glas kehrte er zu seiner Braut zurück und reichte es ihr: "Trink ein wenig, mein Schatz, das wird dich entspannen."
Marguerite nahm das Glas entgegen und trank einige Schlucke des süßen Weines, bevor sie es auf dem Nachttischchen abstellte.
"Komm zu mir, Aro", bat sie und streckte beide Hände nach ihm aus.
"Aber doch nicht in Kleidern", wehrte er ab, ergriff nichtsdestotrotz ihre Hände und zog sie in eine sitzende Position. Danach begann er, sich am hinteren Teil ihres Kleides zu schaffen zu machen, wobei seine Braut anfing zu kichern.
"Willst du mich etwa ausziehen?", fragte sie neckisch.
"Ja, das hatte ich vor", antwortete er.
"Lass das, Liebster, das ist viel zu kompliziert für dich und könnte lange dauern. Bitte, geh und schick mir Renata herein. Sie kann mir sicher dabei helfen."
"Eine gute Idee", meinte er und tat, worum sie ihn gebeten hatte.
Eine Viertelstunde später suchte ihn Renata im Wohnzimmer auf und sagte: "Eure Braut erwartet Euch oben, Meister."
"Sehr gut. Danke für deine Hilfe, meine Liebe", erwiderte er und erhob sich.
"Meister, darf ich etwas sagen?", fragte ihn Renata unvermittelt.
Aro hielt inne und schaute sie erstaunt an. Dann sagte er: "Natürlich, was gibt es denn?"
"Eure Braut ist noch sehr jung und überaus schön. Wie... soll es... gut gehen?"
"Du machst dir Sorgen, dass ich meine Frau bereits heute Nacht verwandeln könnte?"
"Ja, Meister Aro."
"Das wird ganz gewiss nicht passieren", versicherte er in sanftem Ton. "Das Risiko ist viel zu groß und ich erklärte meiner Frau, dass wir mit der Hochzeitsnacht warten, bis wir in Italien sind."
"Nun, Meister, es hat leider den Anschein, dass Eure Frau damit nicht zu warten beabsichtigt. Sie ist so verliebt in Euch und Ihr liebt sie doch auch. Wie könnt Ihr sicher sein, Eure Selbstbeherrschung nicht zu verlieren?"
"Deine Besorgnis ehrt dich, Renata, aber du kannst mir ruhig vertrauen. Ich kenne meine Frau und ihre Sehnsucht nach unserer Vereinigung genau, weshalb deine Worte mich nicht überraschen. Und da ich meine Frau gut kenne, weiß ich, was zu tun ist."
Die hübsche Vampirin nickte und zog sich zurück, während Aro wieder sein Gemach aufsuchte. Doch er hatte nicht erwartet, einen derart süßen Anblick präsentiert zu bekommen. Marguerite saß in einem spitzenbesetzen, seidigen Nachtgewand, den Körper halb zugedeckt, und das blonde Haar offen über ihre Schultern fließend im Bett und schaute ihn mit strahlenden Augen und rosigen Wangen an. Er fand sie so appetitlich, dass er spürte, wie seine Selbstkontrolle ins Wanken geriet.
"Na, willst du nicht zu mir kommen?", fragte ihn seine junge Frau.
"Wie schön du bist!", hauchte er fast unhörbar.
"Du kannst mir mehr solcher Komplimente ins Ohr flüstern, wenn du näher bei mir bist. Komm, Liebster, bei mir im Bett ist es sehr viel angenehmer als dort stehenzubleiben, wo du bist. Du siehst beinahe wie eine Statue aus... Komm, Aro, komm endlich zu mir!"
Der schwarzhaarige Vampir entledigte sich seines Jacketts, drehte sich dann jedoch um und schritt rasch zu dem Tisch, auf dem die Weinkaraffe stand. In aller Eile füllte er sich ein Glas und stürzte es die Kehle hinunter. Doch es linderte nicht das quälende Verlangen, seiner geliebten Frau das Blut auszusaugen. NEIN! Das wollte er nicht! Nicht jetzt! Es durfte nicht jetzt geschehen!
"Musst du dir erst Mut antrinken, Aro?", hörte er hinter sich die neckende Stimme seiner süßen Braut.
"JA!", entkam es seiner Kehle, wobei er gerade alles in seinen Kräften stehende tat, um seinen Blutdurst niederzukämpfen. Er spürte, wie er die Kontrolle über sich zurückgewann und seine Augen sich entspannten. Sie verwandelten sich wohl gerade in ihr natürliches Braun zurück. Nach einiger Zeit fühlte er sich sicher genug, um sich zu Marguerite umzudrehen und zum Bett zurückzukehren, auf dessen Rand er sich setzte.
Behutsam streckte er eine Hand aus, um das Antlitz der geliebten Frau zu berühren.
"Ich liebe dich so sehr, Marguerite", flüsterte er.
"Ich liebe dich auch sehr, Aro", erwiderte sie, näherte ihr Gesicht dem seinen und küsste ihn zärtlich.
"Wir dürfen DAS heute nicht tun", erklärte er, nachdem sich ihre Lippen wieder voneinander gelöst hatten. "Du weißt doch, dass ich damit warten will, bis wir in meinem Palazzo sind."
"Aber, Liebster, dein Gemach ist ein perfekter Ort für die Hochzeitsnacht", widersprach sie und begann, mit seinem Haar zu spielen. "Deine Dienerschaft sorgt sicher dafür, dass niemand uns stört. Außerdem finde ich diese Renata sehr nett."
"Oh ja, sie ist überaus freundlich", bestätigte er. "Sie scheint dich auch zu mögen."
"Tatsächlich?"
"Sie ist sehr um dein Wohlergehen besorgt und wies mich darauf hin, dass du noch sehr jung bist."
"Du bist doch nicht viel älter als ich, Aro."
"Doch... doch, auch wenn es nicht so scheint."
"Ach, du beliebst zu scherzen. Du kannst nicht älter als 25 Jahre sein."
"Ja, das ist mein Alter...", murmelte er und senkte den Blick. Er verschwieg ihr wohlweislich, dass er seit mehr als 1.000 Jahren ein 25jähriger Mann war, der in all der Zeit nicht das geringste Bedürfnis verspürt hatte, sich an eine Frau zu binden. Bis er Marguerite kennenlernte.
"Oh, du bist nervös", mutmaßte Marguerite und klang amüsiert. "Nun gut, ich werde dich nicht weiter drängen. Aber ist es zu viel verlangt, wenn du dich wenigstens zu mir legst? Ich möchte heute Nacht nicht allein schlafen!"
"Einverstanden", gab Aro nach, zog seine Schuhe aus und kam zu ihr unter die Decke. Sie legten sich zusammen hin und Marguerite kuschelte sich sofort an ihn, ihr Haupt an seiner Schulter bettend und eine seiner Hände haltend. Es war an sich harmlos, aber er merkte dennoch, dass die Nähe zu seiner Frau, ihr Duft und ihr warmer Leib erneut seinen Blutdurst wachriefen. Er musste etwas unternehmen, jetzt sofort. Aro schaute seine Frau an und hielt ihren Blick fest, während er mit sanfter Stimme leise zu sprechen begann: "Liebes, mir ist zwar schon aufgefallen, wie schön deine Augen sind, doch bisher bemerkte ich nicht, welch intensives Blau sie haben. Es ist einfach faszinierend. Deine blauen Augen erinnern mich an das Meer. Und das Meer rauscht leise an die Brandung und wiegt alle Menschen abends in einen ruhigen Schlaf. Das Auf und Ab der Wellen trägt ihnen Träume zu, wundervolle Träume..."
"Oh ja, ich kann es mir gut vorstellen", seufzte Marguerite und schloss die Augen. "Bitte, erzähle mir mehr davon."
"Das Meer wiegt alle mit dem Kommen und Gehen der Wellen in den Schlaf, trägt sie auf Händen davon in das Reich der Träume... und auch dir, mein süßer Engel, schenkt es Träume... wundervolle Träume... von einem schönen Garten, von Sonnenschein... wir werden das Meer sehen... es ist so blau wie deine Augen es sind... doch nun bist du müde und deine Augen wollen ruhen... sie finden Ruhe im Bild des Meeres, das alle in seinen Armen wiegt und sie ins Reich der Träume trägt...
Tiefe, regelmäßige Atemzüge verrieten ihm, dass Marguerite eingeschlafen war. Welch ein Glück!
Vorsichtig erhob Aro sich aus dem Bett, zog seine Schuhe und sein Jackett wieder an und verließ den Raum.
"Renata, Felix!", rief er leise und sofort standen die beiden vor ihm.
"Passt gut auf meine Frau auf", befahl er. "Ich muss auf die Jagd gehen..."
***
Madame de Colignon zog sich mit Louise sogleich in ihr Gemach zurück, nachdem die Volturi-Brüder sie bis zur Haustür begleitet und sich verabschiedet hatten. Während die junge Gesellschafterin ihr beim Entkleiden, bei der Toilette und dem Anziehen ihres Nachtgewandes half, meinte die ältere Dame: "Hältst du es für möglich, dass an der Vermutung meiner Nichte bezüglich einer möglichen guten Hoffnung bei der Comtesse etwas Wahres sein könnte?"
"Auf keinen Fall, Madame", widersprach Louise sofort und starrte sie ungläubig an. "Zweifelt Ihr etwa an der Tugendhaftigkeit meiner Freundin?"
"Früher hätte ich das verneint, aber sie ist doch sehr verliebt in Aro und könnte sich in einer schwachen Stunde vergessen haben."
"Welche schwache Stunde denn? Die beiden waren nie allein!"
"Ach ja? Würdest du das beschwören?"
Louise senkte beschämt den Blick und schwieg.
Madame de Colignon nickte und fuhr fort: "Bitte, denk nicht, dass ich kein Verständnis für die Verliebtheit Marguerites habe. Zum Glück ist sie nun mit Aro verheiratet - und wenn nicht, dann würde er sich bestimmt nicht seiner Verantwortung entziehen. Er ist ein Ehrenmann, daran zweifle ich nicht."
"Ach, Madame, Eure Nichte hatte keinen Grund, eine derartige Vermutung anzustellen", entgegnete Louise. "Mag sein, dass die Comtesse und Conte Aro einmal für längere Zeit alleine waren, aber sie erzählte mir immer wieder, dass ihr Verlobter bis zur Hochzeitsnacht warten wolle. Deshalb ist es unmöglich, dass meine Freundin guter Hoffnung sein kann. Eure Nichte hingegen ist ein ungezogenes Geschöpf!"
"Da hast du vollkommen recht, mein Kind", stimmte Madame de Colignon ihr zu, wirkte jedoch erleichtert. "Aufgrund von Giselles heutigem ungebührlichem Verhalten werde ich meine Schwester davon überzeugen, dass sie gänzlich ungeeignet ist, um als Hofdame bei der Königin zu bleiben. Meine Schwester wird mir sicherlich zustimmen und ihre Tochter zu sich nehmen. Ihrer Majestät werde ich dann schreiben, dass meine Nichte leider erkrankt ist und einen Aufenthalt auf dem Lande benötigt."
"Eure Schwester wirkt sehr freundlich", meinte Louise. "Darum wundert es mich, dass Eure Nichte ein derart unverschämtes Verhalten an den Tag legte."
"Giselle denkt sich einfach nichts dabei, sie ist noch so jung. Leider war sie der Liebling ihres Vaters, der ihr auch einbläute, dass sie eine de Roux ist und damit etwas Besonderes. Mein Schwager war immer sehr anständig zu meiner Schwester, aber auch ein überaus eingebildeter Mann, dessen Gegenwart ich nur Marie zuliebe ertrug. Nun ist sie zwar seit zwei Jahren Witwe und hat zum Glück keine Probleme mit ihren beiden Söhnen und ihrer ältesten Tochter, aber Giselle war und ist schon immer ein sehr verwöhntes Mädchen gewesen. Sie braucht eine strenge Hand, die ihr ihre Schwester wohl angedeihen lassen wird."
"Ihr Schwester?"
"Ja, meine Nichte Cécile ist mit einem netten Mann verheiratet und lebt die meiste Zeit des Jahres auf dem Lande. Zum Glück ist sie genauso wohlerzogen wie du und hat sich bei mir brieflich des Öfteren über die Unarten ihrer kleinen Schwester beklagt. Es wird ihr sicher ein Vergnügen sein, Giselles restliche Erziehung in die Hand zu nehmen."
"Ich fürchte, dass wird nicht viel nutzen."
"Sag das nicht, Louise, denn Cécile wird nicht zögern, ihre kleine Schwester mit Arbeiten wie Eier sammeln, melken oder putzen einzudecken, sollte sie ungehorsam sein."
"Oh!", entfuhr es der jungen Gesellschafterin überrascht. "Zu solchen Mitteln würde Eure ältere Nichte greifen?"
"Sie ist sehr streng, auch mit sich selbst. Eine wirklich wunderbare Frau, die von ihrem Mann angebetet wird", erwiderte Madame de Colignon. "Doch kommen wir zurück zu Comtesse de Rochefort: Es freut mich überaus zu hören, welch anständigen Charakter Conte Aro besitzt. Das hat für mich etwas überaus Beruhigendes."
"Die beiden werden gewiss eine gute Ehe führen", stimmte Louise ihr zu.
"Und du mit Caius sicherlich auch", sagte die ältere Dame lächelnd. Da Louise ihr gerade in ihr Nachtgewand half, entging ihr, dass die junge Frau ihren Blick erneut kurz zu Boden senkte und schwieg.
Erst als Madame de Colignon sich in ihr Bett begab, richtete die Gesellschafterin das Wort an sie.
"Madame, es gibt da etwas, was ich Euch sagen muss."
"Hat das nicht Zeit bis morgen, Kind? Ich bin wirklich sehr müde."
"Es ist nur... wegen Caius und mir..."
"Willst du denn nicht heiraten?"
"Doch, schon... aber... es wird ganz anders als Ihr denkt, Madame, denn..."
"Na schön, Ihr werdet nicht in Rochefort, sondern erst in Italien heiraten, nicht wahr?"
"Madame, ich..."
"Morgen, Louise, morgen sprechen wir weiter darüber. Aber jetzt muss ich schlafen. Bitte, sei so gut und nimm das Licht mit hinaus. Gute Nacht, mein Kind."
"Gute Nacht, Madame", gab die junge Frau nach und verließ das Gemach der älteren Dame...
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[1] In meiner Story schadet es den Vampiren nicht, wenn sie hin und wieder menschliche Nahrung zu sich nehmen oder Wein trinken. Das bedeutet allerdings, dass sie des Nachts wieder auf die Jagd gehen müssen.
[2] Ich weiß zwar nicht genau, ob es diesen Brauch im Frankreich Mitte des 17. Jahrhunderts schon gab. Aber ab dem 16. Jahrhundert existierte in einigen Gegenden Deutschlands der Brauch, dass die junge Ehefrau einen Myrtenzweig aus ihrem Brautkranz in die Erde setzte, damit er Wurzeln schlug. Entwickelte sich daraus eine Pflanze, die gut gedieh, galt das als Zeichen für ein beständiges Eheglück. - Kindersegen ist nicht ausdrücklich damit angesprochen, bietet sich aber als erweiterte Vermutung an. Hier will Giselle de Roux in dieser Geschichte andeuten, dass Marguerite deshalb aus dem Zimmer lief, weil ihr schlecht war - als Anzeichen für eine Schwangerschaft, was von den anderen durchaus verstanden wird.
Die süßesten Gifte wirken langsam, aber effektiv.
~ Lucy Monk ~
~~~~~
Erst in den frühen Morgenstunde kehrte Aro nach Hause zurück, wollte seine junge Frau jedoch nicht aufwecken und sich nicht noch einmal in unnötige Versuchung führen. Deshalb suchte er das Wohnzimmer auf, in dem er Marcus mit einem glücklichen Lächeln in seinem Lieblingssessel am Fenster vorfand.
"Gefällt es dir wirklich, immer wieder auf das Haus zu starren, in dem Amelie wohnt?", fragte Aro, der sich auf dem Sofa vor dem Kamin niederließ.
"Wenn ich nicht bei ihr sein kann, will ich wenigstens ihr Domizil im Auge behalten", erwiderte der ältere Vampir. "Doch was ist mit dir, frischgebackener Ehemann? Warum liegst du nicht bei deiner hübschen Frau?"
"Heute Nacht habe ich es versucht", gab Aro zu und senkte beschämt den Blick. "Ich dachte, meine Selbstkontrolle wäre stark genug, um so nahe bei ihr zu sein. Aber es war tatsächlich ein innerer Machtkampf, nicht ihre Kehle zu zerreißen! Also setzte ich meine hypnotischen Fähigkeiten ein, damit sie schnell einschlief und ich auf die Jagd gehen konnte. - Marcus, das halte ich nicht lange durch!"
"Dann sollten wir am besten so schnell wie möglich nach Volterra aufbrechen!"
"Ja, doch wie soll ich Marguerite davon überzeugen? Sie will zuerst auf ihr Landgut fahren, um dort nach dem Rechten zu sehen und die Hochzeit ihrer Freundin auszurichten, und ich habe dem zugestimmt."
"Überlass das mir, Aro! Mir fällt schon etwas ein, dass uns dringend nach Italien zurückruft! Sie wird mit dir dorthin fahren wollen - und sobald wir zu Hause sind, kannst du sie in aller Ruhe zu einer der Unseren machen. Aber bitte sei sanft! Sie ist ein junges, zartes Mädchen, das dich wirklich liebt."
"Natürlich, ich würde ihr nie absichtlich weh tun. Sie ist die Liebe meines Lebens!"
"Wir sollten Amelie mitnehmen."
"Gern, wenn sie damit einverstanden ist. Doch was machen wir mit Louise? Und wo ist eigentlich Caius? Er war gestern ein wenig seltsam, findest du nicht?"
"Der Junge ist genauso wie du auf die Jagd gegangen, jedoch noch nicht zurück. Er war äußerst aufgebracht über die kleine de Roux. Aber sein merkwürdiges Verhalten lässt sich nicht allein darauf zurückführen. Er ist eifersüchtig auf dich, Aro."
"Eifersüchtig auf mich? Aus welchem Grund denn?"
"Fragst du das im Ernst?", wollte Marcus wissen und zog die Augenbrauen in die Höhe. "Er ist ebenfalls in Marguerite verliebt, da kannst du mir erzählen, was du willst! Natürlich behauptet er, ihre Entscheidung für dich akzeptiert zu haben, aber das ist eine Lüge! Er nimmt dir übel, dass du ihm die kleine Sirene ausgespannt hast."
"Verständlich, aber blanker Unsinn", erwiderte Aro. "Caius bildet sich tatsächlich ein, wenn Marguerite ihm zuerst begegnet wäre, hätte sie sich in ihn verliebt. Dabei traf er sie kaum weniger als wir, da wir meisten immer zusammen waren, und hatte genügend Gelegenheiten, sie für sich zu gewinnen. Sie findet ihn zwar sympathisch und ist ihm gewogen, aber nur in meiner Gegenwart empfindet sie starke Gefühle und heftiges Herzklopfen. Sie liebt mich wirklich."
"Aber Caius wird das niemals wahrhaben wollen! Deshalb musst du in Volterra mit ihm darüber sprechen und versuchen, dich mit ihm auszusöhnen. Ansonsten könnten wir durch seine Unberechenbarkeit in große Schwierigkeiten geraten."
"Gut, ich werde es versuchen", versprach Aro, dann glitt ein Grinsen über sein Gesicht. "Apropos, Marcus: Deine Amelie hat Marguerite und mich heute um elf zu sich zum Frühstück gebeten."
"Könnte ich da vielleicht mitkommen?"
"Amelie wäre sicherlich entzückt."
***
Marguerite erwachte allein in einem großen Bett, den lieblichen Duft von Rosen in der Nase. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war, bis sie sich erinnerte, dass sie gestern geheiratet hatte. Aro musste schon aufgestanden sein, hatte sie aber wohl nicht wecken wollen.
Die junge Frau gähnte und räkelte sich ausgiebig im Bett, dabei ließ sie ihre Gedanken wieder zu dem gestrigen Tag schweifen. Es war ein aufregender und wundervoller Tag gewesen und die Hochzeitsfeier wirklich überaus angenehm, trotz der vorlauten Nichte von Madame de Colignon.
Sie lächelte nachsichtig.
Man sollte das Geplapper dieses albernen, jungen Mädchens wirklich nicht auf die Goldwaage legen. Vermutlich hatte Giselle sich bei all dem nichts gedacht, denn andererseits schien sie sich wirklich sehr über ihre Heirat mit Aro gefreut zu haben.
Ach ja - Aro! Nach dem Gesetz galten sie zwar als Mann und Frau, aber die Ehe hatten sie noch nicht vollzogen. Wirklich sehr seltsam, wie er sich gestern verhielt. Mon Dieu! Wer hätte für möglich gehalten, dass Aro di Volturi, der in der Öffentlichkeit so selbstsicher auftrat, dermaßen schüchtern sein konnte? Womöglich war es auch für ihn das erste Mal, dass er allein mit einer Frau zusammen war - mit seiner Frau; und womöglich wollte er die Ehe erst deshalb in seinem Palazzo vollziehen, weil er sich da sicher fühlte. Wie hatte er es ausgedrückt? Er wolle alles richtig machen. Oh, Aro war einfach entzückend!
Gut gelaunt erhob sich die neue Contessa di Volturi aus dem Bett und ging zu der kleinen Reisekiste, die in einer Ecke auf einem Stuhl neben einem großen Schrank stand, und schlug den Deckel auf. Was sollte sie heute anziehen? Das rosafarbene oder das grünes Kleid?
In Anbetracht der Tatsache, dass sie frisch verheiratet war, entschied sie sich schließlich für das grüne Gewand. Erst danach wurde ihr klar, dass Arlette gar nicht mehr in ihren Diensten stand und sie noch nicht in Rochefort waren.
Da Marguerite nirgendwo eine Glocke oder etwas Ähnliches fand, womit sie Dienstboten herbeirufen konnte, ging sie zur Tür und öffnete diese. Im Flur standen Renata und Felix, die sie stumm anstarrten.
"Guten Morgen", begrüßte Marguerite die beiden. "Renata, würdet Ihr bitte zu mir kommen? Ich benötige Eure Hilfe."
"Selbstverständlich, Contessa", antwortete die Vampirin und folgte ihr, während Felix den beiden hinterher starrte, ohne den Mund zu bewegen, bis die Tür sich hinter Renata wieder schloss...
***
Louise plagte das schlechte Gewissen und sie war fest entschlossen, Madame de Colignon alles über ihre Schein-Verlobung mit Caius und den Grund dafür zu erzählen. Deshalb konnte sie es kaum erwarten, dass die ältere Dame zum Frühstück erschien.
Die junge Gesellschafterin war gegen halb zehn heruntergekommen und hatte den Dienstmädchen beim Herrichten der Frühstückstafel im Esszimmer geholfen, weil sie nicht einfach herumsitzen mochte. Außerdem freute sie sich darauf, ihre Freundin und deren Ehemann wiederzusehen, die wahrscheinlich Conte Marcus mitbringen würden, für den Louise gleich mitdecken ließ.
Die Hochzeitsfeier gestern wäre sehr viel angenehmer gewesen, wenn Madames Nichte einfach nur die Glückwünsche des Königspaars übermittelt und den Brief an Marguerite übergeben hätte. Es war unverständlich, warum Aro es für nötig hielt, Mademoiselle de Roux ebenfalls zur Feier einzuladen. Doch vermutlich war er sehr glücklich gewesen und wollte alle anderen deshalb an seinem Glück teilhaben lassen. Nun, wenn er gehört hätte, welche Vermutungen dieses ungezogene Mädchen über das Brautpaar geäußert hatte, wäre es mit seiner Freundlichkeit ihr gegenüber wohl schnell vorbei gewesen. Caius jedenfalls empfand diese Respektlosigkeit der kleinen de Roux von Anfang an als beleidigend und hätte sie wohl gerne hinauskomplimentiert. Auch wenn Louise seine Art ein wenig übertrieben fand, konnte sie ihn irgendwie verstehen.
Die junge Frau blickte auf die Uhr am Kamin, deren Zeiger schon Viertel nach zehn zeigten.
Merkwürdig! Madame pflegte sonst nicht so lange zu schlafen. Ob es ihr wirklich gut ging?
"Natalie!", rief die Gesellschafterin einem der Dienstmädchen zu. "Schau doch mal rasch nach Madame de Colignon. Vielleicht benötigt sie Hilfe."
"Ja, Mademoiselle", erwiderte die Angesprochene und verschwand rasch aus dem Zimmer.
Wenige Minuten später kehrte sie mit einem verstörten Ausdruck im Gesicht zurück, ihre Wangen waren bleich und ihr Blick schreckerfüllt.
"Mademoiselle, bitte! Kommt rasch! Ich weiß nicht genau, was mit Madame los ist!"
"Warum? Was ist denn mit ihr? Hat sie sich verletzt?"
"Nein, ich glaube nicht... ich weiß nicht... sie... sie reagiert nicht..."
Louise tauschte mit dem anderen Dienstmädchen einen Blick aus, dann liefen alle drei hinauf in Madame de Colignons Schlafgemach.
"Madame?", sprach Louise die vermeintlich Schlafende an.
Keine Reaktion.
Die Gesellschafterin trat näher an das Bett heran, die beiden Dienstmädchen folgten ihr.
"Madame de Colignon", sprach Louise die Hausherrin nochmals mit sanfter Stimme an. "Madame, es ist Zeit zum Aufstehen. Ihr erwartet Gäste um elf."
Die ältere Dame lag mit friedlichem Ausdruck im Bett und rührte sich nicht.
Vorsichtig kam Louise noch näher an das Bett heran und rüttelte Madame de Colignon leicht am Arm. Doch dieser fühlte sich so schwer und kalt an, dass sie ihre Hand erschrocken zurückzog.
"Madame? Madame de Colignon? Hört Ihr mich?"
Die Hausherrin lag nach wie vor unbeweglich im Bett.
Louise beschlich ein Gefühl der Angst, während sie ungläubig auf ihre Dienstherrin starrte.
"Natalie! Lauf hinunter und sag einem der Diener Bescheid, dass dringend ein Arzt benötigt wird! Mit Madame stimmt etwas nicht!"
*
Als Marguerite das Wohnzimmer ihres neuen Heims betrat, erhoben sich Marcus und Aro von den Plätzen und neigten leicht das Haupt vor ihr.
"Guten Morgen, die Herren", sagte die junge Frau beim Eintritt.
"Guten Morgen", erwiderten die Brüder fast gleichzeitig. Dann fragte Aro: "Hast du gut geschlafen, mein Herz?"
"Ja, sehr gut, obwohl ich mir meine Hochzeitsnacht etwas anders vorgestellt habe", gab sie neckend zurück. "Wie ist es, Aro? Bekomme ich auch ein Frühstück?"
"Natürlich!", antwortete ihr Mann und rief dann in gebieterischem Ton: "Francois!"
Der Diener erschien sofort an der Tür.
"Sie wünschen, Meister?"
"Ein Frühstück für meine Frau!"
Francois' Augen weiteten sich und er starrte Aro erstaunt an.
"Ein Frühstück, Herr?"
"Ja, habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt?!", fragte der schwarzhaarige Vampir leicht verärgert. "Die Contessa wünscht ein Frühstück!"
"Aber, Meister Aro, ich weiß nicht..."
"Verzeihung, wenn ich mich einmische", ergriff Marcus in ruhigem Ton das Wort und schaute seinen Bruder an. "Erzähltest du mir nicht vorhin, dass deine Frau und du zum Frühstück bei Madame de Colignon eingeladen seid?"
"Ach ja, das sind wir tatsächlich, Aro", stimmte Marguerite ihrem Schwager zu. Dann wandte sie sich an Francois und sagte freundlich: "Es wäre dennoch schön, wenn Ihr mir eine Tasse Kakao zubereitet!"
"Kakao?", echote der Diener verblüfft und starrte erst die neue Contessa und danach seine beiden Meister an. "Ich... es... im Haus gibt es keinen Kakao."
"Meine Güte!"; knurrte Aro. "Dann besorg eben welchen! Das kann doch nicht so schwer sein! Maledetto!"
"Jawohl, Herr", gab Francois zurück und verschwand.
"Ich finde, dass du ein wenig zu hart mit dem Diener umgesprungen bist, Aro", sagte Marguerite zu ihrem Mann, sobald der Bedienstete außer Sichtweite war. "Wie kann er denn wissen, dass Kakao im Hause sein soll, wenn ihr sonst keinen trinkt?"
"Gestern auf der Feier wurde auch Kakao serviert!", entgegnete der schwarzhaarige Vampir, allerdings in einem sehr viel milderen Ton und dennoch ungeduldig. "Verzeih mir, Liebling, aber Personal, das nicht mitdenkt, kann ich nun einmal nicht ausstehen!"
"Womöglich ist der arme Mann einfach noch müde von gestern", nahm Marguerite Francois in Schutz. "Dieses Haus wurde gestern von euren Dienstboten sicherlich seit den frühen Morgenstunden für unsere wunderbare Hochzeit hergerichtet, damit wir eine schöne Feier haben. Bitte, sei ein wenig nachsichtig mit diesem Diener."
Aro seufzte und lächelte. Seine Frau hatte den schwerfälligen Francois auf so liebenswürdige Art verteidigt, dass er einfach nicht länger böse sein konnte.
"Ah, du hast tatsächlich die Gabe, den Charakter meines Bruders zu verbessern", wandte sich Marcus an seine Schwägerin und verneigte sich tief vor ihr. "Und nun wollen wir aufhören, uns weiterhin auf förmliche Art anzusprechen. Schließlich gehörst du seit gestern zu unserer Familie, meine liebe Marguerite."
"Danke, Conte Marcus."
"Nur Marcus!"
"In Ordnung... Marcus."
Plötzlich legte sich die Stirn des älteren Mannes in Falten und er ließ den Blick auf die andere Straßenseite gleiten. Marguerite folgte diesem Blick und sah, dass er auf das Haus von Madame de Colignon schaute. Wie merkwürdig! Sie hatte kein Geräusch von draußen vernommen.
Als sie ihre Augen auf Aro richtete, bemerkte sie erstaunt, dass dieser in die gleiche Richtung wie Marcus schaute und dabei ein ernstes Gesicht machte.
"Ich muss sofort hinübergehen", erklärte Marcus unvermittelt und verließ eilig den Raum.
Marguerite erhob sich und starrte ihm fassungslos hinterher, dann wandte sie sich an ihren Mann: "Kannst du mir bitte erklären, was los ist, Aro?"
"Ich weiß es nicht genau, Liebling, aber drüben scheint irgendetwas nicht in Ordnung zu sein."
"Wie kommst du darauf?"
"Marcus hat ein Gespür für Madame de Colignon entwickelt, anders kann ich es dir nicht erklären. Doch wenn er so reagiert, stimmt etwas nicht."
"Dein Bruder liebt sie und womöglich existiert eine unsichtbare Verbindung zwischen ihnen, denn ich weiß, dass Madame ihn auch sehr gern hat", meinte Marguerite. "Bitte, Aro, wir sollten Marcus folgen. Vielleicht benötigt Madame de Colignon unsere Hilfe."
"Nein! Bleib lieber hier, mein Schatz", widersprach Aro und hielt sie an den Schultern fest. "Womöglich sind wir dort drüben nur im Wege. Marcus wird uns ganz sicher Bescheid geben, wenn etwas geschehen ist."
*
Der herbeigerufene Arzt konnte nur noch den Tod Madame de Colignons feststellen und erklärte der schockierten Louise, dass sie friedlich eingeschlafen war. Die junge Frau brauchte einen Moment, ehe sie es realisierte, dann brach sie in Tränen aus.
In eben diesem Augenblick erschien Marcus in der Tür, die zum Gemach Amelies führte, und starrte ungläubig auf den regungslosen Körper der Frau, in die er sich verliebt und mit der er sein weiteres Dasein zu verbringen beabsichtigt hatte. Nun war sie tot... einfach so...
"NEIN!", rief er schmerzerfüllt aus. "NEIN! Amelie! ... Amelie..."
"Conte Marcus, wer hat Euch hier hinauf gelassen?", fragte Louise, die ihn erst bemerkte, als sie seine Stimme hörte und sich zu ihm umdrehte.
"Was ist geschehen? Warum ist Amelie... gestorben?", wollte der ältere Mann wissen, ohne auf die Frage der Gesellschafterin einzugehen und ohne den Arzt oder die beiden Dienstmädchen anzusehen.
"Seid Ihr ein Verwandter der Verstorbenen?", erkundigte sich der Arzt.
"Ich... ich wollte sie... um ihre Hand bitten", erklärte Marcus einfach, ohne seinen Blick von der verehrten Dame zu nehmen. "Ich liebe sie... habe sie geliebt... Warum, Doktor, warum ist sie jetzt tot?"
"Sie scheint in der Nacht friedlich von uns gegangen zu sein", antwortete der Arzt mitfühlend. "Es tut mir wirklich sehr leid für Euch, Monsieur, aber so ist der Lauf der Dinge."
"Hätte ich dies nur geahnt...", seufzte Marcus, dessen Augen sich mit Tränen füllten. Dann drehte er sich wortlos um und verließ das Zimmer.
Louise schaute ihm voller Mitleid nach. Dass es zwischen Madame de Colignon und Conte Marcus bereits derart konkrete Pläne für eine gemeinsame Zukunft gab, hatte niemand geahnt. Umso tragischer musste ihn ihr Tod treffen. Es erschien der Gesellschafterin einfach so sinnlos und ungerecht. Sie hätte Madame noch gern eine neue Liebe gegönnt... doch das war jetzt vorbei. Einfach so...ohne Vorwarnung...
"Fasst Euch, junge Frau", hörte sie den Arzt sagen. "Eure Herrin war nicht mehr die Jüngste und ein friedliches Hinüberschlummern in die andere Welt scheint mir ein gnädiger Abschluss für ihr Leben zu sein."
"Mag sein, Doktor", kam es zitternd von Louises Lippen. "Im Moment allerdings empfindet das keiner der Menschen, die ihr nahe stehen, so. Verzeiht bitte, der Verlust von Madame ist überaus schmerzlich."
"Wir müssen ihre nächste Verwandte benachrichtigen", wagte eines der Dienstmädchen zu sagen, deren Stimme ebenfalls weinerlich zitterte.
Louise nickte.
"Ja, du hast recht. Ich schicke sofort einen Boten zu Marie de Roux, ihrer Schwester."
"Und ich kümmere mich um den Rest", sagte der Arzt.
*
Voller Anspannung starrte Marguerite aus dem Fenster des Wohnzimmers auf das gegenüberliegende Haus, wie es sonst Marcus zu tun pflegte. Aro, der mit seinem feinen Gehör bereits wusste, was geschehen war, wagte es nicht, seiner Frau diese traurige Nachricht mitzuteilen. Sie würde es noch früh genug erfahren.
"Marcus kommt gerade aus dem Haus", sagte Marguerite, ohne ihren Blick vom Fenster abzuwenden. "Er scheint zu weinen... Mon Dieu! Es muss drüben etwas Schreckliches passiert sein."
"Ja, wenn mein Bruder weint, ist das anzunehmen", murmelte Aro, der tiefes Bedauern über den Tod der älteren Dame empfand, die seiner Frau stets eine mütterliche Freundin und für Marcus die große Liebe gewesen war. Doch wie konnte es nur geschehen, dass Amelie plötzlich starb, wo es ihr gestern doch ausgezeichnet ging? Und wie sollte er Marcus und Marguerite nur trösten? Sobald seine Frau davon erfuhr, würde er zwei Trauernde im Haus haben.
Man hörte die Haustür aufgehen und ehe Aro es verhindern konnte, lief Marguerite hinaus zu Marcus.
"Um Himmels willen, was ist passiert?", fragte sie ihren Schwager, dessen Antlitz nass von Tränen war.
"Ich... kann es... nicht sagen... Es ist schrecklich!", erklärte Marcus stockend und verschwand dann nach oben. Sie hörte, wie eine Tür zugeschlagen und abgeschlossen wurde.
"Er hat einen Schock erlitten!", wandte sich die junge Frau an Aro, der ihr gefolgt war. "Komm, wir müssen rüber. Ich will wissen, was geschehen ist."
"Nein, Marguerite, das ist keine gute Idee! Vielleicht wird es dich genauso schockieren wie meinen Bruder."
"Wo ist eigentlich Caius?"
"Er ist unterwegs und noch nicht wieder nach Hause gekommen."
"Vielleicht hat er Louise besucht und ihm ist dabei ein Unglück passiert."
"Nein, Liebes, Caius ist nicht bei Louise, sondern macht einen ausgiebigen Spaziergang", behauptete Aro. "Er pflegt das des Öfteren zu tun, weiß du... stundenlang."
In diesem Moment klopfte es an die Haustür und Marguerite zuckte erschrocken zusammen. Aro schloss sie in seine Arme und gab einem der Wachen mit der Geste zu verstehen, dass er öffnen solle. Draußen stand ein Lakai, der dem Wächter ein Schreiben überreichte.
"Für Contessa di Volturi und ihren Mann!", erklärte er.
Bevor der Wächter es in Empfang nehmen konnte, schritt Marguerite zur Tür, schnappte sich den Brief und öffnete ihn. Als sie ihn überflog, konnte ihr Mann besorgt beobachten, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht wich.
"Schließ doch endlich die Tür!", sagte Aro ungeduldig zu dem Wächter, der die junge Frau aufgrund ihrer selbstbewussten Aktion neugierig anstarrte.
Jetzt richtete Marguerite ihre blauen Augen, in denen sich Tränen zu bilden begannen, auf ihn. Die Lippen zitterten und sie sagte langsam: "Madame de Colignon ist tot."
Was dann geschah, hatte Aro nicht mehr in der Hand. Zunächst stürzte seine Frau sich in seine Arme und weinte laut und hemmungslos, ohne sich beruhigen zu wollen. Er versuchte es erst gar nicht, sondern strich ihr einfach nur behutsam über den Rücken. Nach einer Weile löste sie sich plötzlich von ihm, was er seltsamerweise nicht in ihr gelesen hatte, öffnete die Haustür und rannte, ohne sich umzusehen, hinüber zum Haus von Madame de Colignon.
Einen Moment später erschien Caius vor Aro, schaute erstaunt zu Marguerite, die gerade in das Haus auf der anderen Seite eingelassen wurde, und wandte sich mit spöttischem Blick an Aro: "Hast du nur eine Nacht gebraucht, um deine Frau aus dem Haus zu treiben?"
Eine schallende Ohrfeige war die Antwort seines Meisters.
"Ich bitte mir etwas mehr Respekt von dir aus, Junge!", wies der schwarzhaarige Vampir ihn zurecht. Danach ließ er ihn stehen, um ebenfalls in das gegenüberliegende Haus zu laufen.
"Was sollte das denn?!", wandte sich der blonde Jüngling an den Wächter an der Haustür. "Hat Meister Aro seinen Verstand verloren?"
"Die Freundin der Contessa ist gestorben", klärte der Angesprochene ihn auf.
"WIE BITTE?!", fuhr Caius ihn an. "Mach keine schlechten Scherze!"
"Aber es ist wahr! Gerade eben überbrachte ein Bote vom gegenüberliegenden Haus die Nachricht, dass Madame de Colignon gestorben ist", gab der Wächter mit unbewegter Miene zurück.
"Madame de Colignon?", hakte der blonde Vampir nach, worauf sein Gegenüber nickte. "Das ist wirklich eine überraschende Nachricht und traurig - Sag, wo ist Meister Marcus?"
"Er hat sich in sein Gemach zurückgezogen und wünscht, nicht gestört zu werden."
"Ja... natürlich... überaus verständlich", murmelte Caius, den heftiges Mitleid mit dem Älteren erfasste. Er überlegte einen Augenblick, dann ging er hinauf und klopfte vorsichtig an die Zimmertür von Marcus. Außer heftigem Weinen bekam er jedoch keinerlei Reaktion.
"Es tut mir so leid, Marcus", wisperte der blonde Vampir. "Wenn du mit jemandem reden willst, bin ich für dich da."
Keine Antwort, aber das hatte Caius auch nicht erwartet. Er beschloss, hier im Haus zu bleiben, denn Louise brauchte ihn sicher nicht. Marguerite war nun bei ihr und die beiden trösteten sich jetzt bestimmt gegenseitig, wobei Aro nur zuschauen und außen vor bleiben konnte. Doch diese Vorstellung vermochte es diesmal nicht, in ihm die übliche Schadenfreue über Dinge, die sein Meister nicht kontrollieren konnte, hervorzurufen - dazu war der Tod der alten Dame viel zu tragisch für alle Beteiligten...
Siehe, die Trauer,
sie ist des Trauernden einziger Trost.
~ Robert Hamerling (1830 -1889) ~
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Hilflos betrachtete Aro seine Marguerite, die in einer engen Umarmung mit Louise in dem Salon stand, in dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren, und hemmungslos weinte. Ihrer Freundin ging es genauso und er spürte, dass niemand die beiden jetzt aus ihrem gemeinsamen Weinkrampf zu lösen vermochte.
Mit menschlicher Trauer hatte sich der schwarzhaarige Vampir noch nie auseinandergesetzt. Waren es normalerweise doch Geschöpfe wie er, die den Menschen Tod oder Transformation brachten, aber niemals Trost.
"Was soll denn jetzt nur werden?", fragte nach einer Weile Louise mit tränenerstickter Stimme. "Oh, Comtesse, was soll ich nur tun? Ich habe keine Ahnung, was jetzt geschehen soll."
"Du musst Madames nächster Angehöriger mitteilen, was passiert ist", antwortete Marguerite stockend und heiser, aber sie hatte immerhin die Sprache wiedergefunden.
"Das habe ich getan. Madame de Roux wird bestimmt bald hier eintreffen."
"Madame de Roux?"
"Madames Schwester. Noch gestern Abend hat sie uns miteinander bekannt gemacht und nun... oh, Comtesse, wie kann das sein, dass Madame nun tot ist? Gestern Abend schien es ihr gut zu gehen und sie freute sich so über Euer Glück..."
Erneut fielen die beiden Freundinnen in einen gemeinsamen Weinkrampf, den Aro nur als stummer Zeuge beobachten durfte. Er wagte es nicht, sie dabei zu stören... Sowohl Marguerite als auch Louise schienen derzeit nicht in der Lage, vernünftig zu denken oder zu handeln. Ach, Menschen neigten nun einmal dazu, alles sehr tragisch zu nehmen. Selbst dann, wenn es sich um ein natürliches Ereignis handelte.
Selbstverständlich bedauerte auch er den Verlust von Amelie, vor allem im Hinblick darauf, dass Marcus sich in die ältere Dame verliebt hatte. Wie würde er sich wohl verhalten, wenn er an seiner Stelle wäre? Ein Blick auf seine Frau und deren Freundin lieferte ihm die Antwort. Und Marcus hatte genauso emotional reagiert - demnach konnten Vampire also keineswegs die >seelenlosen< Geschöpfe sein, als die man sie seit der Antike betrachtet hatte. Allein, dass seine Brüder und er sich in sterbliche Frauen verliebt hatten, sprach dafür - nicht nur die Trauer.
Der Gedanke an Marcus rief in Aro ein schlechtes Gewissen hervor. Bestimmt benötigte sein Bruder ebenfalls etwas Trost, doch er war hier bei seiner Frau... auch sie konnte er nicht allein lassen, machte sie doch gerade den Eindruck, ein wenig wahnsinnig geworden zu sein. Hier gab es keine Lösung. Er wagte kaum zu hoffen, dass Caius sich in dieser Situation einmal nicht kindisch aufführte, sondern versuchte, Marcus ein wenig beizustehen...
In diesem Augenblick klopfte es zaghaft an die Tür und Aro ließ seinen Blick sofort dorthin gleiten.
"Ja...?", fragte Louise mit verweinter Stimme.
Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein Dienstmädchen steckte vorsichtig seinen Kopf hindurch.
"Entschuldigt bitte, Mademoiselle, aber Madame de Roux ist gerade gekommen und wünscht, mit Euch zu sprechen."
"Natürlich...", gab die Gesellschafterin ein wenig irritiert zurück und löste sich allmählich aus der Umarmung mit ihrer Freundin. "Verzeiht mir, Comtesse, aber ich muss mit Madames Schwester sprechen."
"Selbstverständlich", erwiderte Marguerite nickend. Endlich ergriff sie wieder Aros Hand und setzte sich mit ihm auf eines der Sofas, während Louise zu dem Dienstmädchen sagte: "Bitte, führ Madame de Roux herein."
Als die Schwester der Verstorbenen eintrat, wunderte sich Marguerite über die Ähnlichkeit mit Madame de Colignon. Zwar sah Madame de Roux nicht wie ihr Zwilling aus, aber die gütigen Augen, das freundliche Lächeln und eine insgesamt sympathische Ausstrahlung waren auch ihr zu Eigen. Seltsam, dass ihre Tochter gar nichts von alledem besaß.
"Guten Tag, Mademoiselle Lefevre", begrüßte die ältere Dame Louise.
"Guten Tag, Madame de Roux", erwiderte die Gesellschafterin den Gruß und machte einen Knicks vor ihr. "Ich bin froh, dass Ihr so schnell kommen konntet."
"Mon Dieu! Das ist doch selbstverständlich", gab die Angesprochene in aufgeregtem Ton zurück, dann ließ sie ihren Blick kritisch zu Marguerite und Aro schweifen.
"Verzeiht, Madame de Roux", beeilte sich Louise zu sagen und stellte vor: "Dies sind Contessa und Conte di Volturi. Die Contessa ist eine gute Freundin Ihrer Schwester gewesen, Madame."
"Ach ja, ich erinnere mich", sagte Madame de Roux, deren Miene ein wenig freundlicher wurde. "Freut mich sehr, Euch endlich kennenzulernen, Contessa di Volturi. Euer Mädchenname lautet gewiss Rochefort, nicht wahr?"
"Das ist richtig", stimmte Marguerite ihr zu, erhob sich und vollzog ebenfalls einen leichten Knicks vor der älteren Dame. "Mein Mann und ich sind überaus erschüttert vom Ableben Eurer Schwester, die mir sehr nahe gestanden hat, fast, als wäre sie mir anverwandt."
"Wir bedauern zutiefst Euren Verlust, Madame", bekräftige Aro die Worte seiner Frau und verneigte sich leicht vor der Schwester der Verstorbenen.
"Danke für Euer Mitgefühl, es bedeutet mir mehr, als ich im Augenblick sagen kann", erwiderte Madame de Roux. "Als ich die Nachricht erhielt, wollte ich es erst nicht glauben."
Sie wandte sich wieder Louise zu und fragte in vorwurfsvollem Ton: "Wie konnte das nur passieren? Warum hat man nicht bereits gestern Abend einen Arzt konsultiert? Womöglich wäre meine Schwester noch am Leben!"
"Bitte, Madame, ich versichere Euch, dass Eure Schwester gestern Abend wohlauf war", antwortete Louise.
"Wie kann das möglich sein, wenn man sie heute Morgen tot auffand?!"
"Ich kann es mir nicht erklären, Madame de Roux."
"Was sagt der Arzt? Woran ist meine Schwester gestorben?!"
"Verzeiht, Madame", ergriff Aro nun das Wort. "Ich verstehe durchaus, dass Ihr erschüttert und aufgeregt seid. Aber ich versichere Euch, dass Mademoiselle Lefevre eine sehr umsichtige Person ist, die sofort einen Arzt herbeigerufen hätte, wäre das leiseste Anzeichen eines körperlichen Unwohlseins bei Eurer Schwester erkennbar gewesen."
Die ältere Dame schien ein wenig zur Ruhe zu kommen und nickte.
"Ja, daran zweifle ich nicht", gab sie nach einer Weile zu und wandte sich an Louise: "Meine Schwester sprach stets in den höchsten Tönen von Euch. Entschuldigt bitte, dass ich eben so unleidlich war."
"Völlig verständlich, Madame. Ich bin auch überaus erschüttert."
"Aber woran genau ist meine Schwester denn gestorben, Mademoiselle Lefevre?"
"Der Arzt meinte, dies sei der natürlich Lauf der Dinge und sie sei friedlich von uns gegangen."
"Vermutlich ist es so", seufzte Madame de Roux und setzte sich auf den ihr nächstgelegenen Stuhl. Dann richtete sie ihren Blick erneut auf Marguerite und fragte: "Contessa di Volturi, darf ich Euch um einen Gefallen bitten?"
"Was kann ich für Euch tun?"
"Es wäre für mich eine große Erleichterung, wenn Ihr mir bei den Vorbereitungen für die Totenmesse und die Beerdigung helft. Bedauerlicherweise sehe ich mich nicht in der Lage, dies allein zu tun."
"Natürlich, Madame de Roux", versprach Marguerite, ehe ihr Mann dagegen protestieren konnte.
"Aber nicht heute!", mischte sich Aro nun in einem äußerst scharfen Ton ein und bedachte die Schwester der Verstorbenen mit einem strengen Blick. "Meine Frau ist zutiefst erschüttert und meiner Meinung nach derzeit nicht in der Lage, Euch in irgendeiner Weise zu unterstützen."
"Es muss nicht heute sein, Conte di Volturi, das hat niemand verlangt", beschwichtigte Madame de Roux den offensichtlich verärgerten Mann. "Vielleicht können wir später noch einmal darüber sprechen."
"Ja, lasst uns dieses Gespräch auf einen anderen Tag legen", bat Marguerite, die sich wieder zu Wort meldete. "Doch nun erlaubt mir, nach Hause zu gehen. Ich fühle mich wirklich nicht gut."
Aro musterte sie besorgt, während Madame de Roux nickte.
"Auf Wiedersehen, Contessa di Volturi", sagte sie und sah dann zu deren Mann. "Auf Wiedersehen, Conte di Volturi."
"Madame!", sagte Aro kühl, bot Marguerite seinen Arm und verließ mit ihr das Haus...
*
Kaum zu Hause angekommen, zog Marguerite sich sofort in das gemeinsame Gemach zurück, wo sie sich wieder hemmungslos ihrer Trauer überließ.
"Sorgt dafür, dass niemand meine Frau stört", befahl Aro Felix und Renata. "Ohne meine Erlaubnis darf kein fremder Besucher dieses Zimmer betreten! Habt Ihr verstanden!"
"Jawohl, Meister!", versprachen die beiden.
Ein wenig beruhigt machte Aro sich auf dem Weg hinunter ins Wohnzimmer. Dabei bemerkte er, dass Caius offenbar beabsichtigte, das Haus zu verlassen. Sofort war er an dessen Seite und fragte streng: "Wo willst du schon wieder hin, Junge?"
"Jetzt, da Marguerite und du wieder im Hause seid, werde ich zu Louise gehen und ihr beistehen", erklärte der blonde Vampir. "Sie ist jetzt drüben ganz allein mit diesem Drachen, der ihr Vorwürfe wegen Amelies Tod macht. Ein wenig Schutz und Unterstützung ist da meiner Meinung nach angebracht, vor allem, da ich ihr offizieller Verlobter bin. Niemand darf in derart respektloser Weise mit meiner Braut sprechen, auch nicht diese Marie!"
"Marie?"
"So heißt Madame de Roux mit Vornamen. Amelie stellte uns gestern Abend einander vor und ihre Schwester zeigte sich da von ihrer angenehmsten Seite. Heute verhält sie sich anders!"
"Die Frau ist aufgebracht wegen des Todes ihrer Schwester und hat sich bei Louise längst entschuldigt, Caius."
"Ja, in eurer Gegenwart. Doch nun, da keine Zeugen mehr dabei sind, gibt sie Louise die Schuld am Tod ihrer Schwester. Dabei ging es Amelie gestern Abend, als wir sie heimbrachten, überaus gut und sie war sehr vergnügt, sprach davon, wie glücklich sie über eure Verbindung wäre und lauter solches Zeug. Warum also hätte Louise einen Arzt für sie rufen sollen?!"
"Gut, ich verstehe dich! Aber bevor du hinübergehst, komm auf ein Wort mit mir."
"Aber wirklich nur ganz kurz!"
Die beiden Männer zogen sich ins Wohnzimmer zurück. Aro schloss die Tür hinter sich und wandte sich in eindringlichem Ton an Caius: "Ich bedaure zutiefst den Tod von Amelie de Colignon, doch wir befinden uns dadurch in einer höchst fatalen Situation."
"Warum denn das?", wunderte sich der jüngere Vampir. "Ist es wegen Marcus?"
"Das natürlich auch, aber... nun ja, reden wir Klartext: Wir können nicht mehr lange hier in Paris bleiben. Darüber sprach ich heute Morgen bereits mit Marcus, bevor wir vom Tod Amelies erfuhren, und er war auch dafür, so rasch wie möglich nach Volterra zurückzukehren."
"Dafür muss es doch einen besonderen Grund geben!"
"Oh ja, den gibt es, Bruder! Es geht dabei vor allem um Marguerite. Ich liebe sie wirklich von Herzen, doch das ist gerade das Problem. Es ist mir unmöglich, allzu lange Zeit allein bei ihr zu sein - sie regt meinen Blutdurst zu sehr an und ich weiß nicht, ob und wie lange ich in der Lage sein werde, mich in ihrer Gegenwart zu kontrollieren."
"Ach? Mein großer Meister gibt einmal ehrlich zu, wie schwer es sein kann, seine Selbstkontrolle aufrecht zu erhalten?", hakte Caius in spöttischem Ton nach. Doch gleich darauf verfinsterte sich seine Miene und er fuhr in drohendem Ton fort: "Wenn du Marguerite auch nur ein Haar krümmst, ist es mit meiner Loyalität für dich ein für alle Mal vorbei!"
"Es ist also wahr, was Marcus sagte: Du bist tatsächlich immer noch in sie verliebt", stellte Aro in ernstem Ton fest.
"Natürlich! Ich war von Anfang an von ihr verzaubert, seit jenem Tage, da ich zum ersten Mal ihre Stimme hörte! Doch du hast dich einfach zwischen uns gedrängt und mir 'meine Comtesse' weggenommen!"
"Das ist Unsinn und das weißt du auch! Wenn ich mich recht entsinne, gab es zwischen uns die Vereinbarung, dass wir beide ihr den Hof machen und ihre Entscheidung für einen von uns akzeptieren. Und sie hat sich nun einmal in mich verliebt und meinen Antrag angenommen. Sei also ein guter Verlierer, Caius!"
"Ich gebe mir wirklich die größte Mühe", sagte der blonde Jüngling. "Aber es fällt mir sehr schwer! Du weißt gar nicht, welch ein Glück du hast, dass deine Frau dich erwählte."
"Doch das weiß ich, denn ich kann mir nicht vorstellen, mein Dasein ohne sie zu verbringen! Gerade darum können wir nicht in Paris bleiben, sondern müssen so schnell wie möglich nach Volterra zurückkehren, wo ich sie zu einer von uns machen werde."
"Jetzt ist eine denkbar ungünstige Situation", entgegnet Caius. "Weder Marcus noch Marguerite werden verreisen wollen, nachdem Amelie gestorben ist. Wir müssen damit bis nach dem Trauerritual warten."
"Maledetto! Ich fürchte, du hast recht", gab Aro zu und nickte. "Dann muss ich es jedoch vermeiden, nachts lange allein bei meiner Frau zu sein. Ich bringe sie sonst unnötig in Gefahr, auch wenn ich es nicht will."
"Marguerite ist jetzt erschüttert und hat sicher nichts dagegen, wenn du sie allein lässt. Sie wird dir dafür dankbar sein. - Und nun entschuldige mich. Es gibt noch eine junge Dame, die in diesem Moment Trost und Unterstützung braucht."
Nach diesen Worten verließ Caius das Haus und Aro setzte sich an den Kamin, die Hände nachdenklich aneinandergelegt und sinnierend das Feuer betrachtend. Anerkennend musste er einräumen, dass sein kleiner Bruder die Situation vollkommen richtig einschätzte, während er selbst sich durch Marguerites heftige Trauer um Amelie überfordert fühlte und deshalb anscheinend Schwierigkeiten hatte, klar zu denken...
Voller Mitgefühl hörte Aro, wie seine Frau oben weinte. Er wollte ihr so gerne helfen, aber er wusste einfach nicht, wie er das machen sollte. Am besten man ließ sie und Marcus in Ruhe, bis die beiden von selbst wieder ihre Nähe suchten...
***
Nachdem Madame de Roux sie mit immer wieder denselben vorwurfsvollen Fragen gequält hatte und darum immer wieder dieselben Antworten erhielt, erlaubte sie Louise schließlich, sich auf ihr Zimmer zurückziehen zu dürfen. Endlich überließ sich die junge Frau wieder ihren Tränen und sehnte sich danach, bei Marguerite zu sein. Aber natürlich war ihre Freundin jetzt verheiratet, zudem von Adel, so dass sie nicht einfach in das gegenüberstehende Haus hinüberlaufen konnte. Gewiss würde Marguerite sie willkommen heißen, aber wenn Conte Aro schon aufgrund der einfachen Bitte von Madame de Roux so unleidlich wurde, wollte sie gar nicht erst herausfinden, wie er darauf reagierte, wenn sie plötzlich vor der Tür stand. Natürlich verstand sie, dass er damit nur Marguerite zu schützen versuchte, aber dennoch... sie fühlte sich völlig allein gelassen...
Madame de Colignon war tot.
Madame de Roux gab ihr dafür die Schuld, weil sie gestern Abend keinen Arzt gerufen hatte.
Ergo würde sie bald dieses Haus verlassen müssen. Es war ja so leicht, einfach eine Angestellte zum Sündenbock zu erklären und dann aus dem Haus zu werfen, wenn man nicht akzeptieren wollte, dass ein geliebter Mensch eines natürlichen Todes gestorben war.
Zu ihrer Trauer um den Verlust der gütigen Madame de Colignon kam nun noch ihre Sorge, wohin sie gehen sollte, wenn sie ihre Stellung verlor.
Plötzlich klopfte es behutsam an die Tür und Louise schreckte auf.
"Herein", sagte sie und wartete gespannt, wer etwas von ihr wollte.
Die Tür öffnete sich und Caius trat herein, sah sie und eilte mit besorgter Miene auf sie zu, kniete sich vor ihr nieder und ergriff ihre Hände.
"Louise, es tut mir so leid, was passiert ist", sagte er aufrichtig. "Gerade eben habe ich versucht, mit dieser Marie de Roux ein vernünftiges Gespräch zu führen, was jedoch nicht möglich war. Kommt, packt Eure Sachen zusammen. Bei uns im Hause ist Platz genug für Euch. Soll dieses törichte, alte Weib doch zusehen, wie sie allein mit diesem Haushalt zurechtkommt."
"Ach, Caius, sie ist einfach tief erschüttert über den Tod ihrer Schwester", fühlte die junge Frau sich verpflichtet, sie zu verteidigen.
"Bei allem Verständnis, liebe Freundin, rechtfertigt dies noch lange nicht, ein anständiges Mädchen grundlos zu diffamieren! Und das tut dieses Weib gerade! Madame de Colignon wäre sicher entsetzt über das Verhalten ihrer Schwester. Doch jetzt verstehe ich, woher die kleine de Roux ihr unverschämtes Verhalten hat. Der Apfel fällt nun einmal nicht weit vom Stamm!"
"Ich danke Euch, dass Ihr mich bei Euch aufnehmt, Caius. Aber bitte, tut mir einen Gefallen und hört auf, die Familie von Madame de Colignon derart herabzusetzen. Das ist Eurer nicht würdig! Ihr seid doch ein Mann, der über solchen Dingen steht, oder?"
Der blonde Jüngling küsste beide Hände Louises und murmelte: "Ihr habt völlig recht, liebe Freundin. Ich werde meine Zunge in Zaum halten. Und nun zögert nicht länger, packt Eure Sachen, damit wir endlich von hier verschwinden können."
*
Als Caius Louise mit ins Haus brachte, war Aro sofort damit einverstanden, dass sein kleiner Bruder sie in das Zimmer führte, in dem sich Marguerite befand. Die beiden Freundinnen würden sich gegenseitig trösten und ihm bot es eine gute Ausrede, nicht die Nacht mit seiner Frau verbringen zu müssen, da selbstverständlich Louise bei ihr schlief. Das Haus besaß nicht so viele Zimmer wie dasjenige ihrer Nachbarin, weshalb dieser Vorschlag keine Verwunderung bei Marguerite und Louise hervorrufen würde. Zumindest war dies vorerst eine gute Lösung...
***
Es war später Nachmittag, als Baron de Lebrunne erwachte. Sogleich rief er nach Guignots Diener, der jetzt der seine war und auf den Namen Jaques hörte.
"Warum hast du mich nicht geweckt, Kerl?", erkundigte sich Roger ärgerlich.
"Ihr habt mir nicht aufgetragen, Euch um eine bestimmte Uhrzeit zu wecken", verteidigte sich der Diener.
"Na schön, dann mach mir etwas zu essen", befahl Lebrunne. "Gibt es Neuigkeiten in der Stadt?"
"Ja, Herr, eine gewisse Madame de Colignon ist gestorben. Kanntet Ihr sie vielleicht?"
"Natürlich, sie war eine gute Freundin meines Schwagers und auch meiner Nichte, um die sie sich rührend kümmerte. Eine sehr feine Dame, deren Tod wirklich bedauerlich ist. Weiß man, woran sie starb?"
"Es heißt allgemein, sie sei friedlich eingeschlafen."
"Schön, die gute Seele hat das verdient", brummelte der Baron und erhob sich aus dem Bett, während Jaques davonging, um ihm etwas zuzubereiten.
Beim Anziehen erinnerte sich Roger auf einmal daran, dass Guignot die alte Dame seinerzeit verdächtigt hatte, Marguerite dabei zu unterstützen, einen der Volturi-Brüder zu heiraten. Doch damals wie auch jetzt hielt Roger das für lächerlich. Allerdings schien Guignot von seiner eigenen Theorie überzeugt gewesen zu sein; und eingedenk des Umstandes, dass jener als Schwarzmagier Kenntnisse über Schlaf- und Rauschmittel sowie Gifte besaß, fragte der Baron sich, ob der Tod der alten Dame möglicherweise auf die Machenschaften Guignots zurückging. Andererseits war sein Freund tot und konnte demnach nichts damit zu tun haben, zumal Madame de Colignon friedlich ins Jenseits gegangen war. Vermutlich war einfach die Zeit der alten Dame abgelaufen gewesen... oh ja, die Zeit nagte an jedem von ihnen. Umso mehr musste er alles daran setzen, sich so schnell wie möglich neu zu verbinden und den Sohn zu zeugen, der seine Nachfolge antreten sollte.
"Euer Essen ist fertig, Herr", meldete in diesem Augenblick sein Diener.
"Danke, ich komme gleich. Aber sag mal: Hast du vielleicht gehört, ob meine Nichte bereits abreiste?", erkundigte sich der Baron neugierig bei ihm.
"Die Comtesse hat doch gerade erst geheiratet und da sie, wie Ihr erzähltet, sehr gut mit dieser Madame de Colignon befreundet war, wird sie bestimmt nicht fahren, ehe die Beerdigung der Verstorbenen stattgefunden hat."
"Nein, gewiss wird sie vorher nicht fahren", stimmte ihm der Baron zu und widmete sich dann seinem Essen, während Jaques anderweitige Arbeiten im Haus erledigte. So konnte sich Lebrunne seinen Gedanken hingeben. Eigentlich war es fast aussichtslos, seinen Plan in die Tat umzusetzen, da Marguerite im Hause der Volturi-Brüder bei ihrem Ehemann lebte. Doch da gab es ja noch ihr Reisegepäck, welches sie aus ihrem früheren Pariser Domizil abholen wollte. Die Chance, dass sie selbst dort erschien, war zwar gering, aber dennoch möglich... es war seine einzige Chance, die er nicht verspielen durfte. Wenn Marguerite also tatsächlich allein in ihr Haus zurückkehrte, musste er dafür sorgen, dass er dann auch dort war...
***
Es war bereits später Nachmittag und Aro hörte, dass Marguerite und Louise, müde vom vielen Weinen, nun tief und fest schliefen. Caius war in ein Buch vertieft, um sich irgendwie abzulenken, und Marcus hielt sich immer noch in seinem Zimmer auf, wobei er hin und wieder schluchzte. Bis morgen hatten sich die aufgewühlten Gemüter sicherlich etwas beruhigt und man konnte vielleicht vorsichtig ein Gespräch über ihre baldige Abreise beginnen.
Plötzlich schaute Caius auf und sah aus dem Fenster.
"Du wirst nicht glauben, wer auf dem Weg zu uns ist", sagte er zu Aro. "Diese Schreckschraube Marie de Roux."
"Wie bitte? Was könnte sie von uns wollen?"
"Vermutlich will sie Louise um Verzeihung bitten, weil sie allein mit dem Haushalt dort drüben nicht zurechtkommt."
"Das ist äußerst unwahrscheinlich, Caius. Nun, mal hören, was sie auf dem Herzen hat."
Einen Augenblick später erschien Francois und meldete: "Eine Madame de Roux wünscht Conte di Volturi zu sprechen."
"Wen von uns beiden?", erkundigte sich Aro spöttisch.
"Das hat die Dame nicht gesagt."
"Nun denn, ich lasse trotzdem bitten!"
Keiner der beiden Volturi-Brüder erhob sich, als die ältere Dame ins Wohnzimmer trat. Stattdessen musterte Aro sie mit kaltem Blick, bot ihr mit einer Geste stumm einen Sitzplatz an und fragte: "Was kann ich für Euch tun, Madame de Roux? Oder wolltet Ihr möglicherweise meinen Bruder Caius sprechen?"
Maries Blick glitt einen Moment irritiert zwischen den beiden Männern hin und her, bis sie sich schließlich Aro zuwandte und antwortete: "Ich wollte zu Euch, Conte di Volturi, oder besser gesagt: Eigentlich möchte ich mit Eurer Frau sprechen."
"Meine Frau ist derzeit nicht in der Lage, irgendjemanden zu empfangen, Madame! Aber wenn es darum geht, sie erneut zu bitten, Euch bei den Angelegenheiten zu unterstützen, die die Beerdigung Eurer Schwester betreffen, muss ich Euch sagen, dass ich dagegen bin und es nicht erlauben werde!"
"Aber Eure Frau sagte mir ihre Hilfe zu!"
"Meine liebe Frau ist durch den Tod Madame de Colignons so sehr erschüttert, dass sie jedem alles versprochen hätte. Wie gut, dass es mir als ihrem Ehemann möglich ist, derlei Ansinnen im Keim zu ersticken", entgegnete Aro kühl. "Ich werde es nicht zulassen, dass man die Gutmütigkeit meiner Gemahlin ausnutzt."
"Bitte, Conte di Volturi, alleine werde ich all dies nicht schaffen! Ich brauche Hilfe!"
"So viel ich weiß, ist die Gesellschafterin Eurer verstorbenen Schwester eine kluge und tüchtige Person. Warum bittet Ihr nicht Mademoiselle Lefevre, Euch zu helfen?"
"Natürlich kenne ich all die Loblieder, die meine Schwester auf dieses junge Ding sang, und zweifellos ist sie ein gutes Kind und sehr fleißig. Aber klug? Wo war diese Klugheit denn gestern Abend, als sie einen Arzt hätte rufen müssen? Sie hat es nicht getan und nun ist meine Schwester tot!"
"Meine verehrte Madame de Roux, Eure Schwester, die sowohl meiner Frau, meinen beiden Brüdern und mir sehr ans Herz gewachsen ist, erfreute sich gestern bester Gesundheit. Das war auch noch so, als sie sich abends von uns verabschiedete", gab Aro in sachlichem Ton zurück und starrte seine Gesprächspartnerin durchdringend an. "Warum also hätte Mademoiselle Lefevre einen Arzt rufen sollen? Wäre er gekommen, hätte er bestätigt, dass ihr nichts fehlt. - Nein, Madame, der Tod Eurer Schwester - so bedauerlich und schmerzhaft er ist - war natürlicher Art. Niemand hätte ihn verhindern können - und damit müsst Ihr Euch abfinden. Gebt also nicht diesem anständigen Mädchen die Schuld dafür!"
"Verzeiht, wenn ich jetzt erst komme, um Euch zu begrüßen", ließ sich plötzlich eine sanfte Stimme vernehmen.
Madame de Roux schaute sich erschrocken um und auch Caius und Aro waren überrascht, als Marcus in der Tür stand. Seine Augen waren noch gerötet von den vielen Tränen, die er vergossen hatte, aber er wirkte gefasster als heute Morgen.
"Madame de Roux, wie kommt es, dass Ihr uns in dieser traurigen Situation persönlich aufsucht?", wandte sich Marcus an die ältere Dame und kam auf sie zu, verneigte sich leicht und setzte sich dann ihr gegenüber.
"Es tut mir leid, dass ich Euch störe, aber wie ich eben Eurem Bruder eindringlich zu erklären versuchte, benötige ich Hilfe, um all die Dinge zu erledigen, die man leider Gottes bei einem Todesfall machen muss."
"Und da kommt Ihr ausgerechnet zu uns?", tat Marcus verwundert, obwohl er die Unterhaltung von oben mitgehört hatte.
"Ja, denn Eure Schwägerin sagte mir ihre Hilfe zu", antwortete Marie de Roux. "Leider will ihr Mann es jedoch nicht erlauben."
"Nun, das ist allzu verständlich, Madame. Meine Schwägerin ist mit dieser ganzen Situation überfordert. Sie hing sehr an Madame de Colignon, die für sie wie eine Mutter war. Gestern erst tanzte Eure Schwester mit uns auf Marguerites Hochzeit und am Tag darauf müssen wir hören, dass sie verstorben ist. Ein bisschen viel für eine junge Frau, findet Ihr nicht auch?"
"Ihr habt gewiss recht, daran habe ich nicht gedacht. Die Contessa muss sehr schockiert darüber sein."
"Da sie Eurer Schwester so nahe stand, wird sie Euch in diesem Fall keine große Hilfe sein. Doch wenn Ihr wünscht, stehe ich Euch gern zur Seite", bot Marcus an.
Madame de Roux starrte den älteren Mann überrascht an und brauchte einen Moment, ehe sie die Sprache wiederfand.
"Euer Anerbieten ist überaus freundlich und ich werde es in Erwägung ziehen", erwiderte Marie und erhob sich. "Leider erlaubt mir meine Zeit nicht, noch länger in Eurer Gesellschaft zu verweilen. Einen Guten Tag, die Herren."
Nach diesen Worten rauschte Madame de Roux aus dem Zimmer und verließ das Haus.
"Marcus, du hättest dich wirklich nicht wegen dieser Frau aus deinem Gemach herbemühen müssen", wandte sich Aro mit mitfühlender Stimme an ihn. "Es wäre mir schon gelungen, sie hinauszukomplimentieren."
"Nein, du irrst dich, lieber Bruder", widersprach Marcus in müdem Ton und schüttelte den Kopf. "Marie de Roux wünscht sich unbedingt die Hilfe deiner Frau, weil sie genau weiß, wie eng das Verhältnis zwischen Ihrer verstorbenen Schwester und Marguerite war. Vermutlich teilt Marguerite diesen Wunsch und du solltest dich dem nicht entgegenstellen, Aro."
"Erlaube mal, meine Frau ist völlig verzweifelt! Nicht einmal ich vermag es, sie zu trösten. Stattdessen schaukeln sie und Louise sich in ihrem Schmerz um Amelie gegenseitig hoch."
"Im Moment ist das vorbei, weil sie schlafen. Morgen früh wird Marguerite etwas gefasster mit der Situation umgehen können, glaub mir."
"Aber es passt mir nicht, dass sie dieser impertinenten Madame de Roux behilflich ist."
"Bitte, Aro, es geht hier um die Beerdigung von Amelie... was kümmern uns da die Allüren einer vermutlich ebenso traurigen Schwester? Wir tun es als letzte Ehrehrbietung für die Frau, die ich liebte."
"Womöglich kommt Madame de Roux noch einmal auf dich zu", mutmaßte Aro, der sich immer noch sträubte, der Bitte seines Freundes nachzugeben.
"Ich würde es sehr gerne machen - ich tue es für Amelie", sagte Marcus mit trauriger Stimme. "Doch Marie de Roux will das nicht, das konnte ich deutlich spüren.
"Dabei weiß sie vermutlich genau, wie zugetan ihre Schwester dir war", antwortete Aro. "Diese Dame war von eurer beginnenden Liebe sicher etwas irritiert, weshalb sie gemischte Gefühle für dich hegen dürfte."
"Verständlich", gab Marcus zu. "Ach, Aro, wenn ich gewusst hätte, wie nah der Tod bei Amelie stand, hätte ich doch nicht gezögert, um... Doch sie wirkte so gesund und heiter... Warum nur habe ich sie nicht verwandelt, als sie noch lebte?"
"Aus dem gleichen Grund, aus dem auch ich mich bei Marguerite zurückhalten muss. Es ist einfach viel zu gefährlich mit einer Neugeborenen in einer fremden Stadt. Dieses Haus hier bietet nicht genügend Schutz nach einer Verwandlung."
"Natürlich, du hast recht. Wir müssen gehen... doch... ich kann einfach nicht!"
"Verständlich, denn du willst bestimmt so lange in der Nähe von Amelie bleiben, wie es geht?"
Marcus nickte.
"Gut, dann habe ich folgenden Vorschlag für dich: Um Marguerite nicht unnötig zu gefährden, werden Caius, Louise und ich nach Rochefort vorausfahren, damit wenigstens die Freundin meiner Frau sicher nach Hause kommt. Um den Landsitz herum gibt es bestimmt ausreichend Wälder, in die wir uns hin und wieder durch Ausritte, Spaziergänge oder ähnliches zurückziehen können, um von dort auf die Jagd zu gehen. Es dürfte nicht schwerer sein als hier, sich in Rochefort zu beherrschen. Jedenfalls wäre mir das lieber, als jeden Tag fürchten zu müssen, eine Gefahr für meine geliebte Frau zu werden."
"Und was ist mit Marguerite? Willst du sie hier allein zurücklassen?"
"Ich vertraue sie deiner Obhut an, Marcus. Sie wird bestimmt der Beerdigung von Amelie beiwohnen wollen. Natürlich werden einige Wachen zu Eurem Schutz hier bleiben. Doch sobald das Totenritual vorbei ist, bringst du Marguerite wohlbehalten nach Rochefort zu uns. Dort können wir etwa zwei Tage bleiben, ehe wir endgültig nach Volterra abreisen."
"Ein vernünftiger Vorschlag", stimmte Marcus zu. "Es wird wirklich Zeit, nach Hause zu kommen, wo ich mich dann völlig ungestört meinem tiefen Schmerz um den Verlust der verehrten Amelie hingeben kann."
Geburtstage sind Markierungspunkte
auf dem Weg zwischen Vergangenheit und Zukunft.
~ Helga Schäferling (*1957) ~
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Am nächsten Morgen erwachte Marguerite wie gerädert und wurde gewahr, dass ihre Freundin neben ihr lag und noch schlief. Sie erinnerte sich wieder, was gestern geschehen war, und sogleich schossen ihr Tränen in die Augen. Sie weinte leise in sich hinein, um Louise nicht zu wecken, die völlig verzweifelt war. Nicht nur, dass sie damit konfrontiert wurde, zusammen mit zwei Dienstmädchen zuerst die tote Madame de Colignon gefunden zu haben, nein - zu allem Überfluss beschuldigte sie Madame de Roux, am Tod ihrer Schwester schuld zu sein, weil sie abends nicht vorsorglich den Arzt gerufen hatte.
Natürlich hatte sie Louise versichert, sie bei sich behalten zu wollen und mit nach Rochefort zu nehmen. Das war für sie selbstverständlich, denn Louise war für sie fast wie eine Schwester.
Allerdings verstand sie nicht, wie sie selbst sich so in einem Menschen täuschen konnte. Dabei erschien ihr Madame de Roux im ersten Moment überaus sympathisch. Wenn sie allerdings tatsächlich Ähnlichkeit mit ihrer Schwester haben würde, hätte sie Louise niemals einen so ungeheuerlichen Vorwurf gemacht!
Marguerite beschloss, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal in Ruhe mit Madame de Roux zu sprechen und sie davon zu überzeugen, dass sie Louise Unrecht getan hatte.
Langsam setzte die Contessa sich im Bett auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. Es war überaus rücksichtsvoll von Aro gewesen, dass er sie und Louise gestern nicht gestört hatte. Lediglich am Abend brachte Renate ihnen auf einem Tablett eine kleine Mahlzeit mit einer Rose für sie und einem Briefchen, in dem Aro ihr versicherte, dass er ihre Trauer um Amelie de Colignon verstand und ihren Tod ebenfalls aufrichtig bedauerte. Sie solle sich so viel Zeit nehmen, wie sie brauche, um den Verlust ihrer mütterlichen Freundin zu beklagen.
Sie hatte wirklich einen fabelhaften Mann geheiratet und spürte ein schlechtes Gewissen, dass sie ihn gestern in ihrem übergroßen Schmerz um den Verlust von Madame de Colignon kaum beachtet hatte. Dabei war ihr durchaus nicht entgangen, wie Aro versucht hatte, sie vor dem Ansinnen Madame de Roux' zu schützen. Vermutlich dachte er, es würde ihr zu viel werden... ach, er war wirklich süß und wundervoll...
Wieder weinte Marguerite ein bisschen und begann, ihren Mann zu vermissen. Wo er wohl heute Nacht geschlafen haben mochte?
Ihr Blick fiel auf das Hochzeitskleid, das ordentlich aufgehängt vor dem Kleiderschrank hing. War es wirklich erst vorgestern gewesen, als sie sich das Ja-Wort gegeben hatten?
Meine Güte, und Madame de Colignon war dabei gewesen, sie hatten gescherzt, getanzt und gelacht und sie hatte ihr unter vier Augen deutlich zu verstehen gegeben, wie glücklich sie sei, dass sie einen so anständigen Mann wie Aro gefunden hatte. Ja, Madame hatte Aro auch sehr geschätzt... und nun war sie tot... so plötzlich... es erschien ihr nicht richtig...
Erneut stiegen Marguerite Tränen in die Augen, denen sie sich hingab.
"Comtesse Marguerite, seid Ihr schon lange auf?", hörte sie die verschlafene Stimme ihrer Freundin, die wohl gerade erwacht war.
"Nein, Louise... wie fühlst du dich?"
"Ich kann es irgendwie immer noch nicht glauben, dass Madame de Colignon wirklich tot sein soll. Bitte sagt mir, dass das nur ein böser Traum war, Comtesse."
"Leider ist dem nicht so, Louise. Und bitte, nenn' mich endlich bei meinem Vornamen!"
"Das kann ich nicht - der Standesunterschied! Es gehört sich nicht!"
"Der Standesunterschied interessiert mich nicht, du bist meine Freundin!"
"Euer Mann wird etwas dagegen haben!"
"Da irrst du dich gewaltig, Louise. Aro hat dich heute Nacht in unserem gemeinsamen Ehebett schlafen lassen, ohne deswegen ein Wort zu verlieren. Glaubst du wirklich, er würde sich daran stören, wenn du mich bei meinem Vornamen nennst, wie es Freundinnen normalerweise tun?"
"Nein, vermutlich nicht", gab Louise zu und errötete leicht. "Es ist ungewöhnlich, dass Euer Mann mich hier so nahe bei Euch duldete."
"Er weiß, wie nahe wir uns stehen - und vergiss nicht, dass du mit seinem Bruder verlobt bist."
"Ach, die Sache sollte auch schleunigst aus der Welt geschafft werden. Es belastet mich, mit dieser Lüge zu leben - außerdem scheint mir, dass Caius manchmal vergisst, dass wir kein Liebespaar sind. Gestern erschien er bei mir, kniete sich vor mir nieder und hielt meine Hände, bedeckte sie gar mit Küssen... dann bat er mich, mit ihm hierher zu kommen..."
"Geschah das nicht, weil Madame de Roux dich hinauswerfen wollte?"
"Doch, aber ich fürchte, dass Caius sich mehr als nur Freundschaft von mir erhofft."
"Er mag dich und schätzt dich sehr. Vermutlich schmerzt es ihn ebenso wie mich, wenn jemand dich ohne Respekt behandelt und dich für Dinge beschuldigt, für die du nichts kannst. Es war ganz richtig von Caius, dich zu uns zu holen."
"Wie wird es nun weitergehen?"
"Du kommst natürlich mit uns nach Rochefort."
"Ihr wollt demnach nicht gleich nach Italien fahren?"
"Nein, das habe ich mit Aro schon geklärt. Wir werden deine Hochzeit mit André feiern, wie ich es dir versprach."
"Oh, Comtesse, mir steht momentan nicht der Sinn danach, zu heiraten."
"Ja, das verstehe ich gut... dann verschieben wir deine Hochzeit eben und du kommst mit mir nach Italien. Ich bin sicher, dass uns der Ortswechsel auf andere Gedanken bringt. Stell dir nur vor, wir werden das Meer sehen und wunderbare Blumen und den ganzen Tag herrscht Sonnenschein..."
Louise weinte ein bisschen und murmelte: "Madame de Colignon freute sich gewiss auch darauf. Stellt Euch vor, sie und Conte Marcus planten zu heiraten."
"Wirklich? Woher weißt du das?"
"Er sagte es, als er gestern voller Entsetzen sah, dass Madame tot war."
"Der arme Marcus...", wisperte Marguerite. "Für ihn muss alles noch viel schmerzlicher sein als für uns."
"Bitte, nehmt es mir nicht übel, Comtesse, wenn ich unter diesen Umständen darauf verzichte, Euch nach Italien zu begleiten. Lieber bleibe ich auf Rochefort und sehe nach dem Rechten."
"Damit bin ich sehr einverstanden. Denn jemand muss doch auf alles achten, wenn ich einen großen Teil des Jahres bei meinem Mann lebe."
"Demnach werdet Ihr also in regelmäßigen Abständen immer wieder nach Rochefort kommen?"
"Ja, so hatte ich mir das vorgestellt."
"Madame de Colignon hätte das sicherlich gefallen."
"Ja, vor allem, weil wir dann immer zusammen mit unseren Männern gereist wären...Nun kann ich für Madame nur noch eines tun: Ihrer Schwester bei den Vorbereitungen für die Beerdigung zu helfen."
"Wollt Ihr das wirklich auf Euch nehmen, Comtesse?"
"Selbstverständlich, ich tue es für eine meiner besten Freundinnen. Das heißt aber auch, dass wir erst nach der Trauerfeier abreisen werden."
"Ihr solltet dies am besten mit Eurem Mann besprechen."
"Ja, ich wollte ihn ohnehin aufsuchen. Er hat mir gestern Abend einen netten, kleinen Brief geschrieben, für den ich mich bedanken möchte."
"Dann sollten wir besser aufstehen", meinte Louise. "Selbstverständlich helfe ich Euch bei Eurer Morgentoilette..."
"Und ich helfe dir bei deiner", schlug Marguerite vor.
"Aber, Comtesse, das geht doch nicht!"
"Und ob das geht, Louise. Hier bin ich die Hausherrin und kann demnach auch die Regeln bestimmen! Oder meinst du, ich würde es zulassen, dass meine beste Freundin mit zerzausten Haaren aus meinem Zimmer spaziert?"
Louise lachte ein wenig und auch Marguerite fühlte sich nach diesem kleinen Scherz etwas besser...
***
Die beiden Freundinnen kamen gemeinsam hinunter und gingen in den Raum, in dem die Hochzeit gefeiert worden war. Da die Bediensteten die beweglichen Trennwände wieder befestigt hatten, fanden sie sich in einem kleineren Zimmer wieder. Der runde Tisch, diesmal mit einer hellgrünen Decke versehen, stand nun in der Mitte dieses verkleinerten Raums. Eine große Schale mit Obst, eine Schale mit süßem Gebäck sowie zwei Gedecke aus Porzellan befanden sich auf dem Tisch. Vor einem der Gedecke stand eine Vase mit einem großen Strauß roter Rosen, an die ein Brief gelehnt worden war, auf dem in einer schön geschwungenen Schrift >Für Marguerite< stand. Neben dem Teller befand sich eine kleine Glocke, die zweifellos dazu diente, das Personal herbeizurufen. Contessa di Volturi setzte sich an den für sie vorgesehenen Platz und klingelte sofort.
Francois erschien diensteifrig im Zimmer und fragte: "Was wünscht Ihr, Herrin?"
"Wir möchten zum Frühstück Kakao trinken", teilte Marguerite ihm mit.
"Sehr gerne, und was noch? Möchtet Ihr vielleicht feines Weißbrot, frische Butter und Konfitüre?"
"Ja, das klingt gut. Tische es ruhig auf!"
Der Diener eilte davon, um ihnen das Gewünschte zu holen. Währenddessen nahm Marguerite den an sie adressierten Brief und öffnete ihn:
"Guten Morgen, geliebter Engel,
zu deinem neuen Lebensjahr wünsche ich dir Glück, Gesundheit und ein langes Leben. Natürlich hoffe ich, dass es dir heute ein wenig besser geht.
Ist der gedeckte Tisch nach deinem Geschmack, mein Herz?
Später werde ich dir ein kleines Geschenk geben, eine Überraschung.
Ich küsse dich tausendmal und mehr, mein Schatz.
Ganz der Deine.
In Liebe, Aro."
Wie versteinert blickte Marguerite auf diese liebenswürdigen Zeilen. Wie hatte sie nur ihren eigenen Geburtstag vergessen können?
"Was ist mit Euch, Comtesse?", fragte Louise besorgt, der nicht entging, wie schockiert ihre Freundin auf den Brief reagierte. "Schlechte Nachrichten?"
"Nein, ganz im Gegenteil", antwortete Marguerite, deren Augen sich wieder mit Tränen füllten. "Mein Mann bestellt mir Glückwünsche zu meinem Geburtstag... es ist nicht zu ertragen... das wird mir alles zu viel... Erst heirate ich, dann werde ich achtzehn und dazwischen stirbt Madame de Colignon..."
"Bitte, Comtesse, beruhigt Euch. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Es ist nur ein Zufall, weiter nichts."
Marguerite schniefte ein wenig und nickte.
"Ja, du hast recht... aber mir kommt all das sehr makaber vor... ein wirklich schlechter Scherz des Schicksals..."
*
Der Kakao schmeckte vorzüglich, Weißbrot und Butter waren frisch und die Konfitüre wirklich sehr gut. Dennoch aß Marguerite nur ein kleines Stück und nippte an ihrem Kakao, während Louise zumindest eine normale Scheibe Brot zu sich nahm.
"Ich frage mich, wo mein Mann und seine Brüder sind", meinte die Contessa nach einer Weile nachdenklich und erhob sich. "Ist es wirklich möglich, dass sie ganz früh am Morgen aufgestanden sind und gefrühstückt haben?"
"Das könnte gut sein, ich weiß nicht einmal, wie spät es ist."
Marguerite schaute sich im Zimmer um und stellte fest, dass tatsächlich keine Uhr vorhanden war.
"Komm, lass uns ins Wohnzimmer gehen", schlug sie ihrer Freundin vor und erhob sich. Louise folgte ihr in den anderen Raum, wo die drei Herren einträchtig beisammen saßen, zwei lesend und einer mit tieftrauriger Miene aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Haus starrend.
"Guten Morgen", sagten die beiden jungen Frauen und zogen damit sofort die Aufmerksamkeit der drei Brüder auf sich.
Aro erhob sich sofort und kam auf Marguerite sie, küsste sie auf beide Wangen und umarmte sie.
"Guten Morgen, mein Schatz", sagte er zärtlich. "Wie fühlst du dich heute?"
"Es geht mir etwas besser", antwortete sie und küsste ihn. "Tut mir leid, dass ich gestern wenig Zeit für dich hatte, Liebster, doch ich kann es immer noch nicht fassen, dass... nun ja, du weißt schon..."
Marguerite ließ ihren Blick zu Marcus schweifen, der ihr ein trauriges Lächeln schenkte. Er wirkte, als hätte man ihn innerlich zerbrochen. Armer Marcus! Er tat ihr unendlich leid.
"Wollt Ihr Euch nicht zu mir setzen, Louise?", forderte Caius seine Verlobte auf und sie ließ sich auf dem Sofa neben ihm nieder. "Gibt es etwas, das ich für Euch tun kann?"
"Nein, danke. Ihr habt schon genug für mich getan und ich weiß nicht, wie ich das jemals wieder gut machen kann", gab sie zurück.
"Ihr seid mir nichts schuldig, liebe Freundin", erwiderte der blonde Vampir.
"Aro, ich muss etwas mit dir besprechen", wandte sich Marguerite an ihren Mann und zog ihn mit sich auf ein anderes Sofa.
"Was gibt es denn, Liebes?", fragte er.
"Zunächst einmal möchte ich mich für deine liebenswerten Briefe bedanken, die du mir schriebst. Doch als ich heute Morgen erwachte, habe ich beschlossen, dass wir bald nach Rochefort aufbrechen."
"Dagegen habe ich nichts einzuwenden, mein Schatz."
"Allerdings möchte ich erst Madame de Roux bei den Angelegenheiten helfen, die ihre verstorbene Schwester betreffen."
"Das halte ich für keine gute Idee", widersprach Aro und runzelte die Stirn. "Ich fürchte, dass es dich zu sehr aufregt und traurig macht."
"Ich bin ohnehin überaus erschüttert, das kann man nicht mehr steigern."
"Nein, ich werde es dir nicht erlauben!"
"Aber, Aro, Madame de Colignon war meine Freundin!"
"Ja, eben deswegen. Du wirst es nicht verkraften, Liebes."
"Bitte, Liebster, ich möchte für Madame de Colignon auf ihrem letzten Lebensweg etwas tun."
"Es wäre mir eine Freude, dich dabei zu unterstützen, Marguerite", ließ sich Marcus' Stimme vernehmen. Erstaunt schaute sie zu ihm hin.
"Wirklich?"
"Ja, das ist mir ein großes Bedürfnis."
"Gut, ich kann gewiss deine Hilfe gebrauchen, Marcus."
"Alles schön und gut, aber ich habe noch nicht zugestimmt!", machte sich Aro wieder bemerkbar.
Marguerite wandte sich ihm erneut zu und sandte ihm einen flehentlichen Blick.
"Bitte, Liebster, erlaube es - um Madame de Colignons Willen."
Diesen Augen konnte Aro einfach nicht widerstehen. Er spürte, wie sein Widerstand dahinschmolz.
"Also gut", gab er schließlich nach. "Aber du triffst dich nur in Marcus' Begleitung mit der Schwester von Madame de Colignon."
"Natürlich, das verspreche ich dir."
"Darüber hinaus gibt es noch etwas, das wir dir vorschlagen möchten", begann Marcus und bedachte seine Schwägerin mit einem sanften Blick. "Was hältst du davon, wenn Louise, Caius und dein Mann morgen zu deinem Landgut aufbrechen, um alles für deine Ankunft vorzubereiten?"
"Aber ich dachte, wir wollten alle gemeinsam dort hinfahren", wunderte sich Marguerite und sah fragend zu ihrem Mann.
"Das war ursprünglich auch so gedacht, aber durch den Tod von Amelie hat es sich geändert. Eigentlich hatten wir vor, heute Paris zu verlassen", fuhr Marcus fort.
"Aha...und was ist mit Louise? Sollte sie nicht auf der Beerdigung von Madame de Colignon dabei sein?"
"Nachdem meine liebe Freundin dermaßen von Madame de Roux brüskiert wurde, halten wir es für besser, wenn sie Paris so schnell wie möglich verlässt", erklärte Caius. "Du willst Louise doch bestimmt in deinen Diensten behalten, nicht wahr?"
"Selbstverständlich! Was anderes kommt gar nicht in Frage!", bestätigte ihm Marguerite.
"Wir halten es für das Beste, um einen Eklat mit Madame de Roux zu vermeiden", sagte Aro.
"Mir gefällt es auch nicht, wie sie Louise behandelt hat", erwiderte Marguerite. "Doch sie war bestimmt sehr aufgeregt und durcheinander über den Tod ihrer Schwester. Ich werde noch einmal mit ihr darüber sprechen."
"Tue das, Liebes, obwohl ich nicht glaube, dass es einen Sinn hat", gab ihr Mann zurück.
"Wie auch immer, es ist meiner Meinung nach tatsächlich besser, Louise nach Rochefort zu bringen", erklärte Marcus.
"Dann willst du mich also hier allein lassen, Aro?", fragte Marguerite und sah ihren Mann ungläubig an.
"Nein, keineswegs. Marcus wird auf dich achten und natürlich bleibt auch ein Teil der Dienerschaft hier. Nach der Trauerfeier könnt ihr euch auf den Weg machen; ich warte voller Sehnsucht in Rochefort auf dich."
"Nun gut, aber jetzt bist du doch noch hier und verbringst etwas Zeit mit mir, nicht wahr?"
"Ich tue alles, was du wünscht, mein Herz", versprach Aro. Dann griff er in das Innere seines Jacketts und förderte daraus eine mittelgroße, dunkelrote Samtschachtel zutage, welche er Marguerite reichte. "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Schatz. Ich hoffe, es gefällt dir."
"Vielen Dank, Liebster", sagte sie und öffnete die Schachtel. Eine lange, goldene Kette mit einem V-förmigen Anhänger, in dessen oberem Teil ein kleiner, roter Rubin glitzerte, befand sich darinnen. "Ein hübsches Geschmeide mit einem ungewöhnlichen Anhänger. Hat er eine bestimmte Bedeutung?"
"Oh ja, das V steht natürlich für unseren Familiennamen: Volturi", antwortete Aro, nahm das Schmuckstück aus der Schachtel und legte es einer Frau behutsam um den Hals. "Alle Mitglieder unserer Familie pflegen es zu tragen - und sie sind die Einzigen, die das dürfen."
"Da du nun den Anhänger trägst, bist du ein vollwertiges Mitglied der Volturi-Familie", sagte Caius und lächelte sie an. "Herzlich Willkommen, kleine Schwester."
*
Noch am gleichen Tag bat Marguerite Madame de Roux um ein Treffen im Hause ihrer verstorbenen Schwester und ging zum vereinbarten Termin in Begleitung von Marcus dorthin. Ihr gegenüber verhielt sich Marie de Roux zuvorkommend und freundlich und war anscheinend froh, dass nicht ihr Mann, sondern ihr Schwager Marcus sie begleitete.
Sie besprachen lange, wie die Beerdigung und die Trauerfeier ablaufen sollten, welche Blumen, welche Kerzen, welche Predigt und welche Melodie dafür benötigt wurden und zum Abschluss wollte Marie über die Form und Farbe des Sarges sprechen.
"Tut mir leid, Madame, das überlasse ich ganz Euch", wehrte Marguerite ab.
"Ich denke, ein bequem geschnittener Sarg aus dunklem Kastanienholz entspräche dem Geschmack Eurer verstorbenen Schwester", schlug Marcus ihrer Gesprächspartnerin vor.
"Ja, eine gute Wahl", stimmte Marie ihm zu und nickte. "Ich denke, wir haben jetzt alles besprochen, so dass ich die Aufträge herausgeben kann."
"Wisst Ihr schon, wann die Beerdigung stattfinden soll?", erkundigte sich Marguerite.
"Übermorgen um halb elf findet die Totenmesse statt, danach erfolgt die Grablegung", antwortete Marie. "Bleibt nur noch, jemanden zu finden, der bereit ist, Totenwache bei meiner Schwester zu halten."
"Ich erkläre mich gerne bereit dazu", bot Marcus an.
"Und ich werde dir dabei Gesellschaft leisten", erklärte Marguerite.
"Freut mich, dass Ihr meiner Schwester diesen letzten Dienst erbringen wollt. Herzlichen Dank dafür."
"Es gibt noch etwas, über das ich gerne mit Euch sprechen möchte", sagte die Contessa.
"Natürlich, worum geht es?"
"Um Louise Lefevre, die mit mir aufgewachsen ist", kam Marguerite gleich zur Sache. "Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass sie für den Tod Eurer Schwester verantwortlich ist?"
"Nein, jetzt nicht mehr", gab Marie de Roux zu. "Ein längeres Gespräch mit dem Arzt, der meine Schwester untersucht und den Totenschein ausgestellt hatte, befreite mich von meinem Irrtum. Sie war vollkommen gesund und ist einfach in Frieden von uns gegangen."
"In diesem Falle wäre ich Euch sehr verbunden, wenn Ihr Euch bei Mademoiselle Lefevre entschuldigen würdet."
"Das hätte ich längst getan, wenn ich wüsste, wo sie sich aufhält."
"Sie wohnt zur Zeit im Hause bei uns, gleich gegenüber."
"Ausgezeichnet! Könntet Ihr dann bitte einen Brief von mir an sie mitnehmen?"
"Selbstverständlich, Madame de Roux."
"Und wegen der Totenwache gebe ich Euch noch Bescheid", versprach die ältere Dame.
Es brennt mein Licht die ganze Nacht,
Es steht mir gegenüber, wacht
Bei mir, dem Gott-Verlassenen,
Vergessenen, Verlassenen .
~ Erster Vers aus dem Gedicht "Nachtwache"
von Ludwig Scharf (1863 - 1938) ~
~~~~~
Am späten Vormittag des nächsten Tages fuhr eine große Kutsche vor das Haus der Volturi-Brüder und hielt vor dem Haupteingang. Wenige Minuten später konnten interessierte Passanten mehrere männliche Bedienstete dabei beobachten, wie sie den Wagen mit einigen Reisetruhen beluden.
Etwa eine Viertelstunde später traten fünf Personen vor die Tür: Zwei junge Frau und drei Männer.
Die junge Frau mit dem blonden Haar umarmte dann einen schwarzhaarigen, schlanken Mann, der in einen dunklen Umhang aus schwerem Stoff gehüllt war, und küsste ihn.
"Kommt alle wohlbehalten in Rochefort an", flüsterte Marguerite ihrem Gatten ins Ohr und umarmte ihn erneut. "Ach, ich vermisse dich jetzt schon, mein Liebster."
"Übermorgen sehen wir uns ja wieder, mein Engel", versprach Aro und lächelte ihr aufmunternd zu. Dann wandte er sich an Marcus, der neben seiner Frau stand. "Pass gut auf meinen Schatz auf, Bruder."
"Das werde ich, darauf kannst du dich verlassen", versprach sein Freund, der zwar immer noch traurig, aber sehr viel gefasster wirkte.
Danach umarmte Marguerite ihre Freundin Louise und ihren Schwager Caius.
"Kommt gut heim - und Caius, bitte sorg dafür, dass meiner Freundin nichts geschieht."
"Selbstverständlich, Schwesterchen", erwiderte der blonde Jüngling. "Ihr Wohlergehen liegt mir selbst sehr am Herzen."
Danach nickte er Marcus noch einmal zu, bevor er Louise beim Einsteigen half. Aro folgte ihnen, pochte mit einem Stock von Innen an das Dach der Kutsche und der Wagen setzte sich in Bewegung.
Noch einmal schauten die drei aus dem Fenster und winkten Marguerite und Marcus zu, bevor sie sich in das Innere der Kutsche zurückzogen. Die Contessa und ihr Schwager kehrten wieder ins Haus zurück und machten es sich im Wohnzimmer bequem.
"Ich werde Aro sehr vermissen", seufzte Marguerite.
"Es ist ja nicht für lange", versuchte Marcus sie zu trösten. "Wärst du so freundlich, mir etwas auf dem Spinett vorzuspielen?"
"Gern tue ich dir den Gefallen, aber erwarte nicht, dass ich etwas Fröhliches vortrage."
"Ist schon in Ordnung, ich bin ebenso traurig wie du und es gibt bestimmt genügend Melodien, die dieser Stimmung entsprechen."
Marguerite nickte, setzte sich an das Instrument und stimmte eine melancholische Weise an...
***
Baron de Lebrunne schlenderte am späten Nachmittag wie unbeabsichtigt in der Straße herum, in der sich das Haus befand, in dem bis vor kurzem noch seine Frau und er mit seiner Nichte gewohnt hatten.
Einige der Dienstmädchen waren dabei, die Fenster im unteren Stockwerk zu putzen und öffneten sie zu diesem Zweck für eine Weile, was Lebrunne Gelegenheit gab, einen Blick in die Innenräume zu werfen. Was er sah, versetzte ihn in einen höchst unruhigen Gemütszustand: Alle Möbel waren bereits mit Tüchern bedeckt, damit sie bis zur nächsten Vermietung keinen Staub ansetzten. Außerdem war dies bereits der dritte Tag, an dem die Dienstboten alles fertigbekommen sollten. Danach wurde das Haus verschlossen und die Schlüssel zu Marguerite gebracht. Wenn er also hinein wollte, musste er jetzt zusehen, wie er dies unbemerkt tun konnte.
In weiser Voraussicht hatte er gestern Jaques auf den Markt geschickt, um für ihn eine Flasche Wein, Brot und Käse einzukaufen, mit denen er sich versorgen wollte, bis Marguerite eventuell noch einmal dieses Haus aufsuchen würde.
Lebrunne war klar, dass er durch den Vordereingang nicht hineingelangen konnte, denn das Personal würde ihn sofort sehen. Darum flanierte er langsam um das Haus herum, in der Hoffnung, den Dienstboteneingang zu finden, um den er sich früher keinen Deut geschert hatte.
Nach einer Weile entdeckte er ihn und stellte erfreut fest, dass die Tür weit offen stand. Sich hinter der Fassade eines anderen Hauses versteckend, um von den Dienstboten seiner Nichte nicht gesehen zu werden, beobachtete er eine Weile, wie oft das Personal hinaus- oder hineinging. Nach einer Weile fiel ihm auf, dass dies in einem bestimmten Rhythmus geschah. So gab es immer wieder längere Zeitabschnitte, in denen sich kein Mensch am Dienstboteneingang befand. Er musste nur den nächsten Abschnitt abpassen, um sich ins Haus zu stehlen. Kaum glaubte er diesen Moment gekommen, näherte er sich raschen Schrittes der Hintertür und schlich ins Haus, in dem er sich sofort in die nächste dunkle Ecke verzog, um nicht entdeckt zu werden. Glücklicherweise war dies nicht der Fall und es blieb in diesem Teil des Hauses zunächst ruhig. Dies gab Lebrunne Gelegenheit, sich vorsichtig umzusehen und zu überlegen, wie er von diesem ihm unbekannten Teil des Gebäudeinneren in sein früheres Gemach gelangen würde. In der Nähe befand sich die Hintertreppe und da momentan weder Stimmen noch die Schritte von Personen zu hören waren, nutzte er die Chance, dort hinaufzugehen. Er schlich sich an der Öffnung zum Erdgeschoss vorbei, sich dabei vergewissernd, dass ihn kein Mensch sah, und gelangte dann in das 1. Stockwerk, in dem er sich wieder auskannte, da sich die Gemächer seiner Frau, seiner Nichte sowie sein eigenes hier befanden. Mit wenigen Schritten hatte er sein früheres Zimmer erreicht, öffnete es behutsam, schlüpfte hinein und verschloss leise die Tür hinter sich. Dann betrachtete er sich den Raum und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass hier alles mit weißen Tüchern abgedeckt war. Ausgezeichnet! Demnach stand nicht zu befürchten, dass noch einmal jemand vom Personal hier hereinkam. Dennoch verzog sich der Baron vorsichtshalber hinter einem Schrank, der beim Eintreten nicht gleich ins Auge fiel, und ließ sich auf einem Stuhl nieder. Heute Abend würden die Dienstboten sicherlich mit allem fertig sein, dieses Haus dann endlich verlassen und die Türen verschließen. Sobald dies geschehen war, würde er das weiße Abdecktuch vom Bett ziehen, sich dort hineinlegen und ausruhen, da mit einem Kommen Marguerits am heutigen Abend nicht zu rechnen war. Seine Nichte würde ganz gewiss an der Beerdigungszeremonie von Madame de Colignon teilnehmen, die morgen stattfinden sollte. Erst danach - vermutlich im Laufe des Nachmittags oder Abends - bestand eine, wenn auch geringe, Aussicht darauf, dass Marguerite hierher zurückkam, um ihr Gepäck abzuholen...
***
Etwa um die gleiche Zeit, da sich Baron de Lebrunne in ihrem alten Stadtdomizil versteckte, erreichte Marguerite eine Nachricht von Madame de Roux, die ihnen mitteilte, dass die Verstorbene in ihrem Haus aufgebahrt läge und damit die Gelegenheit gegeben sei, sich ein letztes Mal von ihr zu verabschieden.
Wortlos reichte die Contessa das Schreiben an Marcus weiter, der es rasch überflog.
"Ich gehe mich umziehen", sagte er zu seiner Schwägerin und erhob sich langsam aus seinem Sessel am Fenster. "Und du solltest besser noch eine Kleinigkeit zu dir nehmen, ehe wir hinübergehen."
"Nein, ich habe keinen Hunger", meinte Marguerite. "Lieber gehe ich mich ein wenig frischmachen und umziehen. Schade, dass Renata und Louise nicht mehr hier sind."
"Ich bin sicher, eine der anderen weiblichen Bediensteten kann dir genauso gut helfen", gab Marcus zurück, ehe er den Raum verließ, um in sein Gemach hinaufzugehen.
Marguerite blieb noch einen Moment vor dem Spinett sitzen und starrte auf die Tasten. Natürlich hatte sie versprochen, mit ihrem Schwager die Totenwache am Sarg von Madame de Colignon zu halten, doch jetzt - da dieser Zeitpunkt immer näher rückte - empfand sie bei dieser Vorstellung ein mulmiges Gefühl.
"Ich muss mich zusammennehmen", ermahnte sie sich selbst und schluckte. "Außerdem habe ich es versprochen - und schließlich ist Marcus auch noch bei mir. Es ist der letzte Gefallen, den ich Madame de Colignon tun kann."
Nachdem sie sich auf diese Weise selbst Mut zugesprochen hatte, erhob sich Marguerite endlich von der Sitzbank und eilte in ihr Zimmer hinauf. Dort drinnen betätigte sie dieselbe Glocke, die ihr bereits beim Frühstück gute Dienste geleistet hatte. Wenige Augenblick später kam eine junge Frau ins Zimmer, die ihr beim Umziehen half.
Etwa eine Dreiviertelstunde später machten sich Marguerite und Marcus dann auf den Weg in das gegenüberliegende Gebäude, um ihre Pflicht anzutreten...
*
Im Haus wimmelte es von Gästen, so dass die beiden Mühe hatten, in das große Wohnzimmer zu gelangen, wo man die Leiche von Amelie im offenen Sarg aufgebahrt hatte. Marguerite betrachtete sich die Tote sehr genau und fand, dass sie ganz friedlich und entspannt aussah. Nachdem sie zu dieser Erkenntnis gekommen war, wurde sie selbst auch etwas ruhiger und zog sich sodann in einen anderen Teil des Hauses zurück. Von hier aus konnte sie einen Blick auf ihren Schwager werfen. Dieser verharrte an der Stelle, wo sie sich eben befunden hatte, und starrte unentwegt auf die Verstorbene. Marguerite fand, dass dieser Anblick sowohl etwas Tragisches als auch etwas Heiliges hatte, dass kein Mensch stören dürfte.
"Guten Abend, Contessa di Volturi", drang plötzlich die ihr wohlbekannte Stimme Giselle de Roux' an ihr Ohr und sie verdrehte leicht ihre Augen nach oben. Natürlich war damit zu rechnen gewesen, dass die Nichte Madame de Colignons sich ebenfalls hier aufhalten würde.
Doch obwohl sie keinerlei Lust auf eine Konversation mit diesem vorwitzigen Mädchen hatte, setzte Marguerite ein Lächeln auf, drehte sich um und erwiderte: "Guten Abend, Mademoiselle de Roux. Ich hätte mir gewünscht, Euch bei einem weniger traurigen Anlass wiederzusehen."
"Ja, da stimme ich Euch zu", gab die junge Dame zurück. "Ist es nicht schrecklich, wie einen der Tod so plötzlich ereilen kann?"
Marguerite nickte und fragte: "Seid Ihr gar nicht im Hofdienst?"
"Ich habe frei bekommen, um an der Beerdigung meiner Tante Amelie teilnehmen zu können. Wie ich hörte, übernehmen Euer Schwager und Ihr dankenswerterweise die Totenwache?"
"Ja, denn ich wollte Eurer Tante unbedingt noch einen letzten Dienst erweisen. Sie hat so viel für mich getan."
"Das ist mir wohlbekannt, Contessa! Tante Amelie war richtiggehend vernarrt in Euch, wusstet Ihr das?"
"Sie hat sich manchmal um mich gekümmert, als ich noch sehr jung war - aber vernarrt in mich? Diese Behauptung finde ich doch sehr übertrieben."
"Aber es ist wahr! Nur um Euretwillen ließ Tante Amelie alle ihre Beziehungen spielen, damit Baronesse und Baron de Lebrunne eine Einladung zum königlichen Ball an Silvester erhielten. Ansonsten hättet Ihr vermutlich wieder einmal nicht bei Hofe erscheinen können, wo man schon lange daran interessiert war, die Tochter des Comte de Rochefort kennenzulernen. Wie mir zu Ohren kam, lag vor allem Kardinal Mazarin sehr an einer persönlichen Bekanntschaft mit Euch."
"Ach wirklich? Dafür kann ich mir jedoch keinen Grund vorstellen. Schließlich bin ich nur eine kleine Comtesse aus altem Adel."
"Oh, alter Adel wird sehr geschätzt und ein junges Mädchen mit Vermögen auch. Stellt Euer Licht nicht derart unter den Scheffel. Da Ihr glücklicherweise auch sehr hübsch seid, liegen Euch viele Männer zu Füßen."
"Ich war nur an einem Einzigen interessiert und mit dem bin ich jetzt verheiratet."
"Dazu kann man Euch wirklich nur gratulieren, Contessa. Nicht jedes Mädchen bei Hofe kann es sich aussuchen, wen sie heiratet. Manch Eine muss sogar damit zufrieden sein, wenn sie überhaupt von einem Mann bemerkt wird", erklärte Giselle und musterte Marguerite eingehend. "Ihr tragt übrigens einen sehr interessanten Anhänger an Eurer Kette."
"Ja, ich finde ihn überaus hübsch. Mein Mann hat ihn mir geschenkt."
"Euer Mann verwöhnt Euch sicher, so verliebt, wie er Euch anschaute, ist es nicht so?"
"Ich könnte mir keinen besseren Gemahl wünschen, Mademoiselle de Roux."
"Leidet Ihr eigentlich immer noch an Anfällen von Übelkeit?"
"Ich habe niemals an derlei Anfällen gelitten, Mademoiselle de Roux, wie kommt Ihr darauf?"
"Nun, ich erinnere mich noch gut an Euer Hochzeitsfest, wo Ihr für einen Moment nach draußen gelaufen seid, was Ihr später mit einer kleinen Übelkeit abtatet."
"Ach das! Es war halb so schlimm und sicherlich der ganzen Aufregung dieses Tages geschuldet", meinte Marguerite, wobei ihr jedoch wieder einfiel, dass der Grund für ihr kurzes Verschwinden von der Gesellschaft Monsieur de Fourniers Bericht über eine geheimnisvolle Dame bei Hofe gewesen war, der sie verblüffend ähnlich sehen sollte, was sie darum zu der starken Annahme bewog, diese Dame könne ihre Mutter gewesen sein. Danach hatte sie mit Aro darüber gesprochen und gehofft, Agnes' Vater könne sich später wieder des Namens dieser mysteriösen Frau erinnern. Doch als sie dann zur Hochzeitsgesellschaft zurückkehrten und sich all ihren Gästen widmeten, hatte sie es vergessen - bis jetzt, da Giselle sich erkundigte, ob sie an Übelkeit litte.
"Ich kann Euren Ehemann gar nicht entdecken", ergriff Mademoiselle de Roux das Wort. "Hat er Euch nicht hierher begleitet?"
"Nein, Ereignisse solcher Art stimmen ihn immer sehr melancholisch", behauptete Marguerite, die die Meinung vertrat, dass es Außenstehende nichts anging, welches Arrangement sie mit ihrer Familie abgesprochen hatte.
"Was für eine schöne Überraschung, Euch hier zu treffen, Comtesse", erklang plötzlich hinter ihr die Stimme eines jungen Mannes. Als sie sich überrascht umdrehte, sah sie Francois de Hervais auf sich zukommen.
"Nanu, ich hätte nicht erwartet, Euch hier zu begegnen", antwortete sie erstaunt. "Doch ein schöner Anlass ist das fürwahr nicht."
"Nein, da muss ich Euch rechtgeben. Der Tod von Madame de Colignon ist natürlich in höchstem Maße zu bedauern", stimmte Francois ihr sofort in entschuldigendem Ton zu. "Mit meiner Ansprache an Euch wollte ich lediglich zum Ausdruck bringen, wie sehr ich mich freue, Euch wiederzusehen - selbst wenn der Anlass ein so trauriger ist."
"Aber was macht Ihr hier?", wollte Marguerite wissen. "Ich kann mich nicht erinnern, von Madame de Colignon je gehört zu haben, dass zwischen ihr und Euch eine nähere Beziehung bestand."
"Die liebe Verstorbene war bei Hofe wohlgelitten, deshalb waren wir gut miteinander bekannt."
"Dass sie dermaßen bekannt ist, war mir nicht bewusst. Allerdings höre ich immer wieder von den vielen Beziehungen, die Madame de Colignon in Hofkreisen besaß. Dabei kann ich mir das gar nicht erklären. Sie lebte doch die meiste Zeit des Jahres auf dem Lande."
"Früher einmal war Tante Amelie eine der ersten Hofdamen der jungen Königinmutter. Und als ihr Sohn, König Louis, heiratete, war sie die erste Hofdame unserer Königin, der es oblag, Ihrer Majestät dabei zu helfen, sich am französischen Hof zurechtzufinden. Wie Ihr vielleicht wisst, stammt Königin Anna aus Spanien", klärte Giselle sie auf. "Bevor meine Tante heiratete, diente sie lange Jahre bei Hofe und kannte daher viele einflussreiche Personen, unter anderem auch Euren Vater."
"Davon hat mir Eure Tante nie etwas erzählt. Ich dachte immer, sie wäre lediglich eine kurze Zeit bei Hofe gewesen, bis sie in den Stand der Ehe trat, und nahm an, dass sie sich danach ausschließlich um ihren Mann und ihren Sohn gekümmert hätte - jedenfalls sprach sie meistens nur über ihre Familie."
"Jeder Mensch hat wohl seine kleinen Geheimnisse, Comtesse", machte sich Francois wieder bemerkbar, um Marguerites Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen.
"Verzeiht, Monsieur de Hervais, aber mein neuer Titel lautet Contessa di Volturi", berichtigte ihn die Angesprochene freundlich und zeigte ihm den Ehering an ihrem Finger.
Francois starrte ungläubig auf ihre Hand und fragte schließlich tonlos: "Ihr seid verheiratet?"
Giselle grinste und schien sich prächtig zu amüsieren, während Marguerite antwortete: "Ja, schon seit einigen Tagen."
"Seit einigen Tagen?", echote der junge Mann ungläubig. "Aber... aber hat Euer Onkel denn nicht vorher mit Euch darüber gesprochen?"
"Mein Onkel?", wunderte sich die Contessa. "Nein, dazu gab es keinen Grund. Nach dem Tod meiner Tante wurde ich ein Mündel des Königs und Seine Majestät erteilte mir die Erlaubnis, einen Mann meiner Wahl zu heiraten. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein."
"Aber habt Ihr vor Eurer Vermählung denn nicht ein Wort mit dem Baron gewechselt?"
"Nein, und ich lege auch keinerlei Wert darauf. Mein Onkel ist kein Mensch, der mein Vertrauen genießt. - Doch wie ist es Euch seit unserer letzten Begegnung ergangen, Monsieur de Hervais? Gefällt Euch Euer Dienst bei Hofe noch?"
"Oh ja, sehr..."
"Vermutlich kennt Ihr Mademoiselle de Roux dann auch sehr gut?"
"Wir sind uns zwar hin und wieder begegnet, aber von 'gut kennen' würde ich nicht sprechen."
"Nun, dann gebe ich Euch hiermit die Gelegenheit, die junge Dame ein wenig besser kennenzulernen", sagte Marguerite. "Sie bedarf gewiss ein wenig der Aufheiterung und ich bin sicher, dass Ihr Euch darauf versteht, eine anregende Konversation zu betreiben. Nun entschuldigt mich bitte, ich glaube, mein Schwager braucht mich."
Mit diesen Worten ließ die Contessa die beiden jungen Hofleute stehen und versuchte, zu Marcus zu gelangen, der nach wie vor am offenen Sarg von Madame de Colignon stand und sie traurig ansah...
*
Gegen zehn Uhr abends hatte sich das Haus von Madame de Colignon zusehends geleert, so dass am Ende nur noch Madame de Roux, einer ihrer Söhne und ihre Tochter Giselle anwesend waren.
Die ältere Dame kam auf Marguerite und Marcus zu, die mittlerweile an einem Tisch in der Nähe des Sarges stumm dasaßen.
"Meine Kinder und ich möchten uns nun von Euch verabschieden und uns noch einmal dafür bedanken, dass Ihr die Totenwache haltet."
"Das macht keinerlei Mühe, Madame, kaum der Rede wert", tat Marcus es ab und lächelte sie kaum merklich an. "Passt gut auf Euch auf. Ich wünsche eine gute Heimfahrt."
"Danke, Conte di Volturi", antwortete Marie und wandte sich an Marguerite: "Auch Euch gilt mein Dank, Contessa. Wir sehen uns doch morgen in der Kirche?"
"Ja, natürlich", versprach die junge Frau. "Kommt gut nach Hause."
Sie atmete erleichtert auf, als sich die Tür hinter Madame de Roux und ihren Kindern schloss.
"Endlich", seufzte Marcus und brachte damit genau das zum Ausdruck, was sie fühlte. Er schenkte seiner Schwägerin ein verständnisvoller Lächeln und fuhr fort: "Marie hat sehr an ihrer Schwester gehangen, so dass ich fürchtete, sie würde nie mehr gehen."
"Nanu, ich dachte, du könntest sie gut leiden?"
"Ich habe auch nichts persönlich gegen Marie de Roux, sie ist im Grunde eine nette Frau. Leider neigt sie zu unberechenbaren Stimmungsschwankungen, was einer Freundschaft nicht gerade förderlich ist. Sie ist ganz anders als Amelie..."
Marcus blickte mit bekümmerter Miene zum offenen Sarg und seufzte erneut, diesmal jedoch tief.
"Du hast sie sehr geliebt, nicht wahr?", wagte Marguerite zu sagen.
Ihr Schwager schaute sie an und nickte.
"Ja, und dabei haben wir uns nicht einmal geküsst", murmelte er, während von beiden Augen ein kleines Tränenrinnsal über seine schmalen Wangen lief. "Wenn ich nur gewusst hätte, dass... oh, Marguerite, ich bat sie, mit uns nach Italien zu fahren und während eurer Hochzeitsfeier sagte sie mir zu. Gemeinsam wären wir erst zu euren Landgütern gefahren, damit ihr beiden dem Personal die nötigen Anweisungen während der Zeit eurer Abwesenheit geben könnt, und danach wäre unsere Reise ohne Umwege nach Italien weitergegangen."
"Ein schöner Plan, und ich gäbe alles, um die Zeit noch einmal zurückzudrehen und ihren Tod ungeschehen machen zu können."
"Leider ist das nicht möglich, liebe Schwester", erwiderte Marcus mit traurigem Lächeln. "Wenn ich tatsächlich die Macht hätte, die Zeit noch einmal zurückzudrehen, würde ich Amelie wenigstens einmal sagen, wie sehr ich sie liebe... zu ihren Lebzeiten hatte ich dazu leider nicht den Mut..."
"Oh, Marcus, das tut mir so leid", meinte Marguerite betroffen und sie nahm eine seiner Hände in die ihre und drückte sie. "Vielleicht vermag es dich ein wenig zu trösten, wenn ich dir sage, dass sie dir ebenfalls sehr zugetan war."
"Das habe ich gespürt und dennoch wagte ich nicht, ihr meine Liebe zu gestehen...", murmelte ihr Schwager bekümmert. "Weißt du, dass ich mich bereits in sie verliebte, als ich sie vom Fenster unseres Hauses zum ersten Mal erblickte, wie sie mit deiner Freundin Louise ankam? Damals war es mir nicht klar, aber ich fand sie überaus anziehend... nur deshalb konnte Aro mich dazu überreden, bei ihr vorstellig zu werden. Nun ja, und dabei lernte Aro dich kennen... Nachdem ihr geheiratet habt, hielt ich dies für ein gutes Omen und gab mich der Hoffnung hin, dass Amelie meinen Antrag, den ich ihr in Italien zu machen beabsichtigte, annehmen würde... doch diese Illusion ist auf bittere Weise zerstört worden, denn ich habe niemals bedacht, dass der Tod meinen Traum zunichte machen könnte..."
Marcus entzog Marguerite seine Hand und barg sein Gesicht in den Händen. Er weinte und sie betrachtete ihn schweigend und voller Mitgefühl.
Nach einer Weile erhob sich die junge Frau und trat vorsichtig an den offenen Sarg heran, um Madame de Colignon zu betrachten. Sie sah immer noch sehr friedlich aus, als würde sie schlafen. Dazu war sie in ein feines, silberdurchwirktes, weißes Kleid mit spitzenbesetzten Bordüren gehüllt, ihren Ehering trug sie immer noch am Finger und auch eine silberne Kette, an der ein mit einer einzigen Perle in der Mitte verziertes Kreuz hing. Ihre Füße steckten in eleganten, weißen Schuhen, die mit einer silbernen Schnalle verziert waren. Und in die gefalteten Händen hatte man einen Strauß von weißen Rosen und Lilien gelegt, so dass die Tote alles in allem sehr schön aussah.
"Ach, Madame", flüsterte Marguerite. "Warum habt Ihr uns verlassen? Ich habe Euch so viel zu verdanken und nie mehr die Gelegenheit dazu, Euch dies zu vergelten. Ich vermisse Euch so sehr und hätte mir gewünscht, mit Euch nach Italien zu reisen und als Zeugin bei Eurer Hochzeit zu fungieren. Ich hoffe, dass Ihr nun in einer besseren Welt weilt, auch wenn ich Euch stets schmerzlich vermissen werde."
Die junge Frau spürte, wie ihr selbst wieder Tränen in die Augen stiegen.
Marcus erschien nun an der anderen Seite des Sarges, strich ihr kurz tröstend über die Wange und sah danach wieder auf die Tote.
"Wie schön sie ist", sagte er traurig, beugte sich behutsam über sie und näherte sein Antlitz dem ihren, berührte dann vorsichtig ihre Lippen mit seinen und küsste sie. Dann murmelte er: "Amelie, ich liebe dich... und ich werde dich niemals vergessen... niemals..."
Marguerite war von dieser Szene so berührt, dass sie sich umdrehte und ein wenig von dem Sarg wegging, um Marcus nicht durch den erneuten Weinkrampf, der gerade in ihr hochsteigen wollte, zu irritieren. Er hatte jedes Recht dazu, von ihrer mütterlichen Freundin auf diese Weise Abschied zu nehmen... sie weinte, sie konnte nicht anders... eine so tiefe Liebe, die sich niemals erfüllen würde - das war an Tragik kaum zu überbieten...
Einige Minuten später spürte sie, wie sich zwei Arme von hinten um sie schlangen, und hörte die sanfte Stimme ihres Schwagers: "Lass deinen Schmerz ruhig kommen, kleine Schwester, es ist gut... es wird dich erleichtern... du brauchst auf mich keine Rücksicht zu nehmen..."
Sie drehte sich zu ihm um und barg ihr weinendes Gesicht an seine Brust, während Marcus sie behutsam an sich zog und ihr auf väterliche Weise über das Haar strich. So standen sie eine Weile zusammen, sie wusste nicht wie lange, denn ihr war jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen.
Plötzlich waren leise Schritte zu hören und Marguerite starrte Marcus erschrocken an, ehe sie sich nervös umsah. Im Raum erschien ein adrett gekleideter Mann mittleren Alters, das dunkelbraune Haar fiel in wallenden Locken auf seine Schulter, an der eine breite Tasche hing.
"Wer seid Ihr und was habt Ihr hier zu suchen?!", fuhr die junge Frau den Fremden an.
"Beruhige dich, liebe Schwester", antwortete Marcus anstelle des Mannes. "Er ist ein Bekannter von mir, ein begabter Maler aus meiner ehemaligen Heimatstadt, den ich herbestellt habe. Es ist alles in Ordnung."
"Ein Maler aus deiner Heimatstadt?", fragte Marguerite verwirrt. "Warum hast du ihn hierher bestellt?"
"Meister Marcus wünscht, dass ich ein Porträt für ihn anfertige", sagte nun der Fremde und verneigte sich etwas vor der jungen Frau.
"Ein Porträt? Ich verstehe nicht...?"
"Paolo wird eine Skizze von Amelie machen und danach ihr Porträt für mich anfertigen, damit ich wenigstens eine Erinnerung an die Liebe meines Lebens behalte", erklärte Marcus. "Es wird in den Räumen meines Wohnbereichs einen Ehrenplatz erhalten."
"Aber ist das denn nicht pietätlos, Marcus? Sie ist doch tot!"
"Es wird sie nicht stören und ihr auch nicht schaden, Schwester. Bitte, versteh mich doch!"
"Natürlich kann ich deinen Wunsch nachvollziehen, eine Erinnerung an Madame behalten zu wollen. Aber es existieren genügend Porträts von ihr in ihrem Landsitz."
"Glaubst du wirklich, dass Amelies Erbe mir erlauben wird, davon eines für mich mitzunehmen? Das wird er nicht tun! Ich bin kein Verwandter!"
"Darf ich beginnen, Meister Marcus?", ließ sich in diesem Augenblick wieder der Maler namens Paolo vernehmen.
Der ältere Vampir nickte und wandte sich dann wieder Marguerite zu, die ungläubig beobachtete, wie der Künstler ein Buch [1] und einen Stift aus seiner Tasche hervorholte, damit auf den offenen Sarg zuging, einen Blick auf die Tote warf und dann damit begann, seinen Stift auf dem aufgeschlagenen Buch zu betätigen. Immer wieder schaute er Madame de Colignon an und zeichnete... es geschah mit unglaublicher Geschwindigkeit und schien nicht sehr lange zu dauern. Schließlich beruhigte sie sich und musste innerlich einräumen, dass es der Verstorbenen nicht schadete, wenn ein Maler eine Skizze von ihr anfertigte. Dennoch war sie froh, als Paolo endlich sein Buch zuklappte und an Marcus gewandt sagte: "Wenn Ihr erlaubt, ziehe ich mich jetzt zurück und werde Eure Trauer nicht weiter stören."
"Danke, Paolo. Wenn du den Auftrag erledigt hast, melde dich bei uns im Palazzo."
"Natürlich, Meister Aro", gab der Maler zurück, wandte sich dann an Marguerite und verneigte sich: "ArrivederLa, Contessa!" [2]
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[1] Es handelt sich hier um ein Skizzenbuch, wie die Maler es damals mit sich führten.
[2] ArrivederLa! = ital. "Auf Wiedersehen" (höfliche Verabschiedung von einer Einzelperson)
Alle Heimlichkeiten haben mal ein Ende.
~ Lucy Monk ~
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Wie in Trance ließ Marguerite die Totenmesse sowie die Grablegung Madame de Colignons über sich ergehen, stets Marcus an ihrer Seite, dessen Hand sie hielt. Während der Totenwache hatten sie über vieles gesprochen, was ihnen auf der Seele lag, zusammen geweint und sich gegenseitig zu trösten versucht. Nur aus diesem Grunde waren sie beide in der Lage, der Beerdigungszeremonie und allem, was damit zusammenhing, gefasst und ruhig beizuwohnen.
Als die Grablegung vorbei war, wollte Marguerite mit Marcus nach Hause gehen und alles für ihre Abreise vorbereiten, wurde jedoch von Madame de Roux aufgehalten.
"Contessa, bitte erweist mir die Ehre, mit Eurem Schwager an einer kleinen Totenfeier im Hause meiner Schwester teilzunehmen", lud sie sie ein.
Marguerite tauschte mit Marcus einen zweifelnden Blick aus, danach wandte sich ihr Schwager an Marie und antwortete: "Wir kommen gern."
Die Schwester von Madame de Colignon war damit zufrieden, nickte ihnen freundlich zu und ging dann in Begleitung eines Mannes von etwa dreißig Jahren zum Friedhofsausging, dabei ihren zweiten Sohn und Giselle im Schlepptau.
Marguerite betrachtete diese Schar und fragte Marcus, als die Familie außer Hörweite war: "Bist du sicher, dass du dir das antun willst, lieber Bruder?"
"Es ist vor allem deinetwegen, Marguerite", erwiderte der ältere Mann und sah sie besorgt an. "Du hast gestern kaum etwas gegessen und auch heute Morgen nur ein wenig Kakao getrunken. Meiner Meinung nach bedarfst du dringend einer Stärkung. Schließlich wollen wir später am Tage abreisen und ich möchte nicht riskieren, dass du während der Heimfahrt einen Schwächeanfall erleidest."
"Also nur meinetwegen, hm, damit ich etwas esse?", fragte die junge Frau ein wenig ironisch nach. "Komm, Marcus, gib zu, dass du vor allem daran interessiert bist, die übrigen Familienmitglieder von Madame de Colignon näher kennenzulernen."
"Es könnte nicht schaden", räumte er ein und lächelte sie an. "Aber du musst unbedingt etwas essen, Marguerite, sonst könntest du zusammenbrechen."
"Weißt du, irgendwie erinnerst du mich gerade an meinen Papa", gab sie nachsichtig zurück. "Also schön, gehen wir auf diese Leichenfeier, damit du genau beobachten kannst, ob ich auch genügend esse und trinke. Ich hoffe, dass ich damit dein Gemüt beruhige. Aber bitte, zwing mich nicht, allzu lange dortzubleiben."
"Mache ich nicht, versprochen."
***
Roger de Lebrunne erwachte nach einem erholsamen Schlaf gut ausgeruht am frühen Vormittag. Gestern Abend erst war die Dienerschaft seiner Nichte mit all den aufgetragenen Aufräumarbeiten im Haus fertig geworden, doch zum Glück schienen sie bereits mit dem oberen Stockwerk fertig, denn niemand von ihnen kam hinauf. Lebrunne fiel ein Stein vom Herzen, als er schließlich hörte, wie das Personal das Haus verließ und sich draußen vor dem Gebäude voneinander verabschiedete, während jemand damit beschäftigt war, es von allen Seiten zu verschließen. Nach einer Weile erklärte einer der männlichen Bediensteten, dass er gleich zum neuen Wohnsitz von Comtesse Marguerite gehen wolle, um ihr die Schlüssel zu übergeben. Dennoch hatte Lebrunne erst gewartet, bis es draußen still wurde, ehe er sich zum Schlafen niederlegte.
Der Baron erhob sich aus dem Bett und musste feststellen, dass Kälte ihn umfing. Natürlich, da niemand mehr hier wohnte, wurden auch die Kamine nicht mehr beheizt. Er hatte gestern lediglich das Glück gehabt, die restliche Wärme des noch nicht ganz erkalteten Kamins in seinem Zimmer genießen zu dürfen. Damit war es momentan allerdings vorbei. Er konnte es nicht riskieren, selbst ein neues Feuer zu entfachen, da sonst die Gefahr bestand, entdeckt zu werden - etwas, das er auf keinen Fall wollte. Da war es doch viel besser, sich in seinen dicken Mantel zu hüllen und ein wenig in dem leeren Haus herumzuspazieren. Wenn er Jaques' Berichten glauben konnte - und nichts sprach dagegen - , fand die Beerdigungszeremonie für Madame de Colignon erst am späten Vormittag statt. Danach würde es üblicherweise noch einen Leichenschmaus geben, an dem Marguerite bestimmt auch teilnahm.. er durfte also annehmen, dass sie erst gegen Abend hier auftauchte, wenn sie es überhaupt tat.
Roger zog sich rasch an, da die Kälte des Raum sich unangenehm um seine Haut legte, hüllte sich in den schweren Stoff seines Umhanges, und verließ sein Zimmer. Seine Schritte lenkten ihn fast wie von selbst zum Gemach seiner Nichte, in das er eintrat und sich neugierig umsah. Auch hier waren alle Möbel mit weißen Tüchern abgedeckt, bis auf die zwei großen Reisekisten, die in einer Ecke des Raums darauf warteten, von jemandem abgeholt zu werden. Seine Chance, dass Marguerite kommen könnte, war also noch nicht ganz verloren...
***
Nachdem Marguerite etwas gegessen und getrunken hatte und gezwungen war, mehreren Reden über die Verstorbene zu lauschen, fühlte sie sich plötzlich sehr müde. Doch Marcus, der neben ihr saß, machte nicht den Eindruck, schon aufbrechen sie wollen. Vielmehr schien er nicht genug davon bekommen zu können, den Leuten zuzuhören, die über Amelie de Colignon berichteten und was sie persönlich mit ihr erlebt hatten. Zum Glück war bisher noch niemand mit der Bitte an sie herangetreten, etwas über die Tote zu erzählen. Dazu fehlte ihr im Moment jegliche Kraft.
Aus Rücksicht auf Marcus, der die Frau verloren hatte, die er liebte, verzichtete Marguerite darauf, ihn zum Aufbruch zu drängen. Ihre Reisekisten im Hause der Volturi waren bereits gepackt, so dass sie sofort nach Rochefort aufbrechen konnten, wenn diese Feier vorbei war. In der Kutsche würde sie dann endlich ein wenig schlafen können.
Marguerite nahm einen Schluck Wein, um sich damit wachzuhalten, denn sie spürte, dass ihr fast die Augen zufallen wollten. Dann betrachtete sie sich die übrigen Gäste, die beinah alle mit der Verstorbenen verwandt waren. Neben Madame de Roux und ihren Kindern, von denen wenigstens die beiden Söhne wohlerzogen schienen, gab es noch zwei Schwestern, die Amelie ziemlich ähnlich waren. Die vielen jungen Leute am Tisch schienen Nichten und Neffen von Madame de Colignon zu sein, während es sich bei den älteren Herren vermutlich um Brüder, Schwäger oder Cousins handelte. Dann saßen noch vier andere Damen am Tisch, die recht hübsch aussahen und ihr von Madame de Roux als >unsere liebenswürdigen Cousinen vom Lande< vorgestellt wurden, während fünf ältere Damen offenbar als nicht so wichtig galten, um mit ihnen bekannt zu machen.
Außerdem hatte ihr Giselle, die es offenbar nicht lassen konnte, sie mit Sachen vollzuschwatzen, die sie im Grunde nicht interessierten, verraten, dass ihre ältere Schwester und deren Mann leider nicht kommen konnten, da sie guter Hoffnung sei. Dabei sah Giselle sie mit einem prüfenden Blick an, den sie sich nicht erklären konnte. Aber sie wollte auch nicht wissen, was dieses vorwitzige Mädchen dachte, sondern freute sich auf die Aussicht, bald wieder auf Rochefort und mit Aro zusammenzusein.
"Verzeihung, Contessa", wandte sich unvermittelt ein Bediensteter des Hauses an sie.
Überrascht sah sie zu ihm hoch und fragte: "Ja, bitte?"
"Draußen im Flur wartet ein Monsieur Cayot auf Euch, der Euch dringend zu sprechen wünscht."
Monsieur Cayot, der Anwalt? An den hatte sie schon lange nicht mehr gedacht. Doch nun war sie verheiratet und konnte über all ihre Besitztümer und ihr Vermögen frei verfügen. Was mochte er also von ihr wollen?
Neugierig geworden, erhob sie sich vom Stuhl, worauf Marcus sich überrascht zu ihr umdrehte.
"Ich bin gleich wieder da", wisperte sie ihm zu und folgte dem Diener dann hinaus in den Flur, wo bereits Monsieur Cayot auf sie wartete. Als er ihrer ansichtig wurde, verneigte er sich und sagte: "Darf ich Euch nachträglich meine herzlichsten Glückwünsche zu Euer Vermählung aussprechen?"
"Danke, Monsieur Cayot, sehr freundlich von Euch", erwiderte sie. "Aber deswegen seid Ihr doch gewiss nicht hergekommen?"
"Nein, Comtesse... verzeiht, ich weiß nicht recht, wie ich Euch jetzt richtig ansprechen soll...?"
"Contessa di Volturi", sagte Marguerite. "Also, weshalb wolltet Ihr mich so dringend sprechen?"
"Da ich unter anderem der Testamentsverwalter der leider verstorbenen Madame Amelie de Colignon bin, ist es meine Pflicht, Euch dies hier zu übergeben - so hat Madame de Colignon es verfügt", erklärte der Anwalt und streckte ihr ein silbernes, mit kleinen Diamanten versehenes, längliches Schmuckkästchen entgegen, das sie verblüfft in Empfang nahm.
"Was ist das?", fragte sie verwundert.
"Das weiß ich auch nicht, Contessa, aber in diesem Brief hier...", er reichte ihr ein verschlossenes Schreiben, "... befindet sich vermutlich ein Schlüssel, mit dem Ihr das Kästchen öffnen könnt."
"Aha, vielen Dank", sagte sie und nahm auch den Brief an sich. "Gibt es sonst noch etwas, was Ihr mir mitzuteilen habt?"
"Nein, Eure übrigen Dinge sind alle in Ordnung", antwortete er und verneigte sich erneut. "Bitte erlaubt mir nun, mich von Euch zu verabschieden und Euch auf Eurem weiteren Lebensweg alles erdenklich Gute zu wünschen."
"Danke schön, Monsieur Cayot, das gleiche wünsche ich Euch auch. Auf Wiedersehen."
"Auf Wiedersehen, Contessa."
Während der Anwalt das Haus wieder verließ, betrachtete Marguerite sich nachdenklich den Brief und das Schmuckkästchen. Vermutlich hatte Madame de Colignon ihr etwas Persönliches von sich überlassen, was sie sehr rührend fand. Sie würde das Kästchen zu einem späteren Zeitpunkt öffnen, da zum einen dessen Inhalt niemanden etwas anging und sie zum anderen Marcus nicht so lange allein bei den vielen fremden Menschen sitzen lassen wollte.
Ihr Schwager jedoch schien ganz entspannt zu sein, als sie wieder zu der Gesellschaft zurückkehrte und sich neben ihn setzte. Er wandte sich ihr zu und fragte leise: "Was war denn?"
"Mein Anwalt hat mir etwas gebracht, um das ich mich später kümmern werde", wisperte sie ihm zu.
"Ein hübsches Kästchen habt Ihr da", bemerkte Giselle, die unglücklicherweise genau ihr gegenüber platziert worden war.
"Ja, es handelt sich um das Geschenk einer lieben Freundin", gab Marguerite zurück. "Ein Bote brachte es mir gerade."
"Ausgerechnet hierher, Contessa? Recht merkwürdig."
"Keineswegs, Mademoiselle de Roux. Der Bote hatte den Auftrag, das Geschenk nur mir persönlich zu übergeben - und da er mich nicht zu Hause antreffen konnte, kam er hierher."
"Hätte das nicht Zeit gehabt bis morgen?"
"Morgen, meine Liebe, bin ich hoffentlich schon auf meinem Landsitz. Wir beabsichtigen nämlich, noch heute abzureisen. Daher konnte der Bote damit nicht warten", klärte Marguerite sie auf und hoffte, ihre Neugier damit befriedigt zu haben.
"Wollt Ihr es denn nicht öffnen?", ließ Giselle jedoch nicht locker.
"Das kann ich immer noch tun, wenn ich zu Hause bin", gab die Contessa zurück. "Aber sagt mal, habt Ihr die Gelegenheit gut genutzt, um Monsieur de Hervais etwas besser kennenzulernen."
"Das hätte ich schon gern gewollt", erwiderte Giselle und seufzte. "Dass es nicht dazu gekommen ist, lag keinesfalls an mir. Doch Monsieur de Hervais hat sein Herz bereits an eine andere Dame verloren und war an einer näheren Bekanntschaft mit mir nicht interessiert."
"Das tut mir sehr leid für Euch, meine Liebe. Aber macht Euch nichts daraus: Andere Mütter haben auch nette Söhne und einer davon könnte sich bestimmt für Euch erwärmen. Habt ein wenig Geduld."
Giselle nickte, wirkte aber nicht besonders glücklich und schien keine Lust mehr zu haben, diese Unterhaltung fortzusetzen. Marguerite jedoch war zufrieden, sah zu ihrem Schwager, um dessen Mundwinkel herum ein feines, spöttisches Lächeln spielte, und erwiderte sein Lächeln. Dann nahm sie einen Schluck Wein und lehnte sich zurück, denn der nächste Gast erhob sich, um eine weitere Rede über Madame de Colignon zu halten...
***
Mit Hilfe von zwei Gläsern Wein und einer köstlich schmeckenden Torte gelang es Marguerite, bis zum Ende der Trauerfeier um halb sechs wachzubleiben. Sie wollte Marcus einfach nicht nehmen, so viele und hübsche Geschichten und Anekdoten über Madame de Colignon und ihr Leben zu hören.
Als sie beide zu Hause ankamen, erwartete sie schon einer der Diener.
"Contessa, heute kam im Lauf des Tages ein Mann vorbei, der behauptete, Euch dies übergeben zu sollen", sagte der junge Mann und reichte ihr einen Schlüsselbund. "Es soll sich dabei um sämtliche Schlüssel für Euer Stadtdomizil - so nannte er es - handeln."
"Ja, das ist völlig richtig", erwiderte Marguerite und nahm die Schlüssel entgegen. "Das hätte ich beinahe vergessen, so schnell wie die Ereignisse sich überschlagen haben. - Hör mal, Marcus, könntest du mich vor unserer Abreise dorthin fahren? Ich habe noch einige Dinge, die ich mitnehmen will."
"Das ist kein Problem", antwortete der ältere Mann und wandte sich an den Wächter, den seine kleine Schwester immer noch für einen Diener hielt. "Habt Ihr unser Gepäck schon auf den Wagen geladen?"
"Selbstverständlich, Meister Marcus. Wir können jederzeit abfahren."
"Nicht so hastig, mein Junge! Zuerst müssen wir auch unser Haus abschließen und diese Schlüssel dem Vermieter zurückbringen. - Marguerite, hast du alle deine Kleinigkeiten heute Morgen zusammengepackt und auch nichts vergessen?"
"Nein, es ist alles gut verstaut, bis auf die Kleidung, die ich trage, und meine restlichen Sachen in meiner früheren Wohnung."
"Gut, dann lass uns in die Kutsche steigen, während die anderen überall das Licht löschen und das Haus verschließen."
Marguerite folgte diesem Vorschlag gern, konnte sie es doch kaum erwarten, bald wieder in Aros Armen zu liegen. Dann nahm sie wahr, dass sie das Schmuckkästchen, welches Madame de Colignon ihr hinterließ, auf ihrem Schoß festhielt. Der dazugehörige Brief befand sich in einer Innentasche ihres Mantels.
"Du verrietest mir vorhin, dass dein Anwalt es dir gebracht hat", begann Marcus, der ihrem Mienenspiel gefolgt war. "Vermutlich ist er der Bote, von dem du Mademoiselle de Roux erzähltest?"
"Ja, denn meine Angelegenheiten gehen sie nichts an!"
"Verzeih mir meine Neugier, liebe Schwester, aber darf ich wenigstens wissen, was es mit diesem Kästchen auf sich hat?"
"Natürlich, Marcus. Monsieur Cayot, mein Anwalt, ist gleichzeitig der Testamentsverwalter von Madame de Colignon. Sie hat ihn beauftragt, mir dieses Kästchen zu überbringen, wobei ich vermute, dass mir meine liebe Freundin etwas Persönliches hinterlassen hat."
"Wie liebenswürdig von Amelie. Sie hat dich wirklich gern gehabt, Marguerite, fast so, als sei sie tatsächlich mit dir verwandt."
"Ja, manchmal kam es mir auch so vor... Seltsam, dass andere Menschen einem viel näher stehen können als Blutsverwandte. Wenn ich da an meine Tante zurückdenke... obwohl ich die Art und Weise, wie sie ums Leben kam, auch niemandem wünschen würde..."
Marcus schwieg und Marguerite lehnte sich gegen das Sitzpolster zurück, während sie wartete, dass die Bediensteten fertig wurden. Es dauerte jedoch nicht lange, bis einer von ihnen an das Fenster trat und sich an ihren Schwager wandte: "Alles ist geordnet, sämtliche Lichter gelöscht und alle Eingänge wurden verschlossen, Meister. Wie lauten Eure weiteren Anweisungen?"
"Nenn ihm deine alte Adresse, Marguerite", forderte Marcus sie auf und sie sagte es dem Diener.
"Jetzt weißt du, wohin wir als nächstes fahren", bemerkte er dazu, an den Bediensteten gewandt. Dieser nickte und einen Moment später setzte sich der Wagen in Bewegung. Marcus richtete erneut das Wort an seine Schwägerin und erklärte: "Wir setzen dich vor deinem früheren Domizil ab und einer unserer Leute wird eine Fackel für dich entzünden, damit du dich zurechtfindest. Wenn du willst, lasse ich auch gern einige Bedienstete bei dir."
"Ach nein, das ist wirklich nicht nötig", wehrte die junge Frau ab. "Ich will nur kurz in mein Gemach hinaufgehen, nachschauen, ob die Mädchen auch alle meine Sachen gut verpackt haben und - wenn die Zeit es erlaubt - das Schmuckkästchen öffnen, welches Madame de Colignon mir hinterlassen hat. Ich muss gestehen, dass ich jetzt doch ein wenig neugierig geworden bin, was sich darinnen befindet."
"Nun gut, tue das in aller Ruhe. In der Zwischenzeit werde ich unseren Vermieter aufsuchen, um ihm die Schlüssel zu bringen. Danach fahre ich mit der Kutsche wieder vor, um dich und dein restliches Gepäck abzuholen. Dann können wir noch kurz zu deinem Vermieter fahren und dort den Schlüssel abgeben."
"Ja, das klingt vernünftig und ich brauche mich nicht allzu sehr beeilen."
"Du brauchst dich gar nicht zu beeilen, wir haben Zeit genug", versicherte ihr Marcus.
Wenig später hielt die Kutsche vor dem früheren Stadthaus Marguerites. Ihr Schwager stieg zuerst aus und geleitete sie, unter Begleitung zweier Bediensteter, bis zur Eingangstür. Sie schloss diese auf, einer der Diener ging hinein, nahm eine Fackel aus ihrer Halterung, ging damit kurz nach draußen und kehrte brennend mit ihr zurück. Er überreichte sie der jungen Frau: "Hier, Contessa, ich hoffe, sie spendet Euch genügend Licht?"
"Ich denke, dass sie für meine Zwecke ausreichen wird, vielen Dank", erwiderte Marguerite, nahm mit einer Hand die Fackel und hielt mit der anderen das Schmuckkästchen an sich gedrückt. "Bis später."
"Bis später", gab Marcus zurück und schloss die Eingangstür hinter sich, um zur Kutsche zurückzukehren, während seine junge Schwägerin die Treppe zu ihrem Gemach hochstieg...
*
"Bleib hier und achte darauf, dass der Contessa nichts geschieht", wandte sich Marcus an einen der jüngeren Wächter, der erst seit etwa einem halben Jahr zu ihnen gestoßen war. "Vermutlich ist alles in Ordnung, aber ich möchte sie ungern ohne Schutz wissen."
"Ihr könnt Euch ganz auf mich verlassen, Meister."
Marcus schien zufrieden, stieg in die Kutsche und fuhr davon.
Der junge Vampir warf einen Blick auf das Haus, konnte von dort aber weder etwas hören noch spürte er einen anderen Menschen außer der Contessa. Sie war zwar Meister Aros Ehefrau und noch sterblich, aber was sollte ihr schon in einem leeren Haus passieren? Dass Meister Marcus ihn hier zu ihrem Schutz zurückgelassen hatte, fand er etwas übertrieben. Ihn selbst begann ein leichtes Hungergefühl zu plagen und er erinnerte sich, dass ganz in der Nähe eine enge Gasse war, in die man leicht eine Beute bringen und sich an ihr sättigen konnte.
Noch einmal warf der junge Wächter einen Blick auf das Haus und konnte in einem der Fenster im oberen Stockwerk ein Licht erkennen. Die Contessa war also bereits ohne Probleme in ihrem Gemach angekommen. Sie wäre sicherlich erst einmal eine Weile damit beschäftigt, nach ihren Sachen zu sehen und dieses hübsche Kästchen zu öffnen. Zeit genug, um seinen Hunger zu stillen. Es würde nicht lange dauern, bis er wieder da war...
*
Lebrunne hatte bereits resigniert und Überlegungen angestellt, wie er wieder aus dem Haus gelangen könne, ohne Spuren zu hinterlassen oder aufzufallen. Als er gerade beschlossen hatte, erneut über die Hintertreppe zum Dienstbotenausgang hinunterzugehen, um von dort in einen Raum mit genügend großen Fenstern zu kommen, durch die er hindurchpassen und auf die Straße gelangen würde, vermeinte er plötzlich zu hören, dass eine Tür aufgeschlossen wurde. Er hielt die Luft an und lauschte. Einige Personen schienen Worte miteinander zu wechseln, danach war es wieder still. Leichte Schritte kamen die Treppe herauf. Konnte es wirklich sein, dass es sich dabei um Marguerite handelte?
Vorsichtig schlich sich der Baron zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Er konnte gerade noch ein Licht erkennen, das aus dem Zimmer seiner Nichte kam, bis deren Tür geschlossen war. Inzwischen hatten sich seine Augen jedoch an die Dunkelheit gewöhnt, so dass er die Umrisse der Ecken und Kanten und auch den Handlauf des Treppengeländers gut erkennen konnte. Er lauschte erneut, aber es schien sich außer Marguerite niemand anderes im Haus zu befinden. Mon Dieu, konnte er wirklich so viel Glück haben...?
*
Marguerite hängte die Fackel in einer dafür an der Wand befestigten Halterung ein und sah sich in ihrem Gemach um. Die Dienerschaft hatte alles ordentlich aufgeräumt und sämtliche Möbel abgedeckt, womit sie sehr zufrieden war. In einer Ecke sah sie ihre Reisetruhen, schaute sich noch einmal im Raum um, ob etwas versehentlich vergessen worden war, konnte jedoch nichts entdecken.
Da das Licht der Fackel auch genügend Licht auf ihre Kommode fallen ließ, schlug Marguerite das Tuch, welches den Stuhl davor abdeckte, zurück und ließ sich auf ihm nieder. Sie setzte das Schmuckkästchen auf die Abdeckung der Kommode, holte den dazugehörigen Brief aus ihrem Mantel, öffnete ihn und fand dort, wie vermutet, einen Schlüssel, den sie sogleich in das Schloss des Kästchens steckte. Er passte! Aufgeregt und mit ein wenig Vorfreude drehte sie den Schlüssel um und öffnete das Kästchen. Dort erblickte sie zwei Briefe, einer davon war an >Comtesse Marguerite< adressiert, der andere an >Marguerite, meine geliebte Tochter< .
Einen Moment starrte die Contessa auf den zweiten, sehr viel dickeren Brief, es kaum glauben könnend, dass ihre Mutter ihr geschrieben hatte. Ob sie jetzt wohl endlich erfuhr, wie ihr Name lautete?
Die junge Frau spürte, wie stark ihr Herz klopfte, doch sie wollte endlich wissen, welches Geheimnis ihre Mutter umgab und warum ihr niemand, nicht einmal der eigene Vater, je verraten hatte, um wen es sich dabei handelte. Das Einzige, was Papa ihr jemals über Mutter mitgeteilt hatte, war, dass sie früh gestorben war und sie geliebt hatte.
Mit zitternden Händen öffnete sie den zweiten Brief, der mehrere Seiten enthielt, und begann zu lesen:
"Marguerite, meine geliebte Tochter,
wenn du diese Zeilen hier liest, bin ich wahrscheinlich schon lange tot und ich hoffe, du kannst mir verzeihen, dass ich in Erfüllung meiner Loyalität zu Frankreich starb. Natürlich wirst du dich über diese Aussage wundern, wenn dein Vater sein Versprechen gehalten und dir niemals etwas über unsere gemeinsamen Aktivitäten verraten hat.
Doch zunächst möchte ich dir etwas über mich erzählen, damit du weißt, was für ein Mensch ich gewesen bin:
In der wunderschönen Stadt Avignon erblickte ich als die älteste Tochter von Gustave de Breuil, einem verarmten Landadligen, und seiner Frau Louise das Licht der Welt und wurde auf den Namen Dianne Amelie Francoise getauft. Ein Jahr darauf wurde meine Schwester Anne geboren, mit der ich mich immer gut verstand. Unsere Eltern waren zwar nicht reich, aber wir hatten ein sauberes Zuhause und Vater sorgte dafür, dass wir immer genügend zu essen, gutes Schuhwerk und anständige Kleidung hatten. Doch er konnte das Schulgeld für uns nicht bezahlen.
Unsere Mutter sorgte sich um uns und schrieb ihrer Cousine Amelie, nach der ich meinen zweiten Vornamen erhielt, davon. Diese Cousine war überaus gütig und übernahm die Kosten für den Besuch in einer Klosterschule, damit Anne und ich eine gute Erziehung und Bildung erhielten. Diese frommen Frauen förderten unseren Wissensdurst, so dass wir meiner Meinung nach mit unserer Erziehung nicht hinter der anderer adliger Fräuleins zurückstanden.
Als wir die Schule beendet und fast erwachsen waren, starben unglücklicherweise zuerst unsere Mutter und dann noch unser Vater. Ich glaube, er verlor ohne sie seinen ganzen Lebensmut und starb an gebrochenem Herzen. Ich weiß, das mag pathetisch klingen, aber damals empfanden Anne und ich es so. Zum Glück nahm Cousine Amelie uns bei sich auf und sorgte dafür, dass ich als die Älteste bei Hofe eingeführt wurde. Insgeheim hoffte unsere liebe Cousine wohl, dass sich einer der jungen Edelmänner in mich verliebte und mich zur Frau nahm. Tatsächlich machten mir viele Männer den Hof, hegten aber keinerlei Heiratsabsichten, da ich über keine Mitgift verfügte. Dennoch gefiel es mir, mich mit gebildeten Menschen zu unterhalten, womit ich insbesondere Kardinal Richelieu auffiel. Er bat mich eines Tages zu einem Gespräch zu sich, erklärte mir, dass er um meine Situation wisse und meine Klugheit und meinen Scharfsinn bewundere. Mit diesen Gaben könne ich meinem Vaterland hervorragende Dienste leisten, womit ich selbstverständlich einverstanden war. Was sollte ich auch machen, ohne Geld und ohne Aussicht auf eine gute Partie, immer angewiesen auf die Güte und Zuwendungen einer wohlhabenden Verwandten, die meiner Meinung nach schon so viel für meine Schwester und mich getan hatte, dass wir ihr das niemals würden vergelten können? So wurde ich zu einer Agentin im Auftrag der Krone. Offiziell wurde ich als königliche Diplomatin an den englischen Hof geschickt, wo ich herausfinden sollte, ob man dort heimlich einen Krieg gegen Frankreich vorbereite. Es gab auch immer genügend andere französische Spione, denen ich meine Berichte zuspielen konnte. Leider hatte man mich jedoch nicht darauf vorbereitet, dass es auch unter den Engländern recht anziehende Männer gab... nun, ich verliebte mich in einen davon, der mich vehement mit seinem Charme und seiner fröhlichen Art umgarnte und mein Herz zu fesseln verstand, auch wenn er sehr viel älter war als ich. Schließlich nahm ich seinen Heiratsantrag an; und so wurde aus Dianne de Breuil eine Mylady Dianne de Winter.
Aufgrund meiner Liebesheirat, die mich wirklich glücklich machte, nahm ich an, dass Kardinal Richelieu mich von meinen Pflichten als Agentin entband. Doch ich hatte mich in diesem Punkt geirrt, denn Seine Eminenz schrieb mir einen überaus freundlichen Brief und beglückwünschte mich zu meinem 'vorzüglichen Schachzug' , einen Briten geheiratet zu haben, was der gemeinsamen Mission um Frankreich wohl nur förderlich sein konnte. Natürlich verstand ich seine Anspielungen sofort, hoffte jedoch, dass er mich nicht noch einmal irgendwo anders hinschickte. Glücklicherweise ließ er mich in Ruhe, was - wie ich erst sehr viel später erfuhr - nur meiner Cousine Amelie zu verdanken war.
Einige Jahre lebte ich sehr zufrieden an der Seite meines Mannes, verfasste hin und wieder einige heimliche Berichte für den Kardinal, wenn mir etwas Verdächtiges, das sich gegen Frankreich richten könnte, zu Ohren kam, blieb aber ansonsten von weiteren Ansinnen verschont. Mit Cousine Amelie pflegte ich eine regelmäßige Korrespondenz, da ich natürlich wissen wollte, wie es meiner Schwester ging.
Dann starb mein Mann eines Tages. Er war friedlich eingeschlafen, doch ich trauerte um ihn und fühlte mich allein gelassen, da uns leider ein Kind versagt blieb. Mein Gemahl hatte mir deswegen nie einen Vorwurf gemacht, aber der Rest seiner Familie legte mir nahe, zu gehen. Ich beschloss, nach Frankreich zurückzukehren und mich um meine Schwester zu kümmern, die leider, wie Amelie mir mitteilte, viel zu leichtsinnig und vertrauensselig war. Bisher war sie immer gut davon gekommen, doch ich teilte Amelies Meinung, dass Anne eine feste Hand brauchte, die sie führte. Selbstverständlich spielte dabei auch mein schlechtes Gewissen eine Rolle, weil ich einfach nach England gegangen und sie allein gelassen hatte. Aber ich wollte Anne nicht zumuten, in politische Intrigen hineingezogen zu werden, wie es die Tätigkeit einer Agentin nun einmal mit sich bringt.
Zurück in Frankreich suchte ich sogleich Cousine Amelie auf, die mir mitteilte, dass es Anne gelungen sei, sich gut zu verheiraten. Erleichtert über diese erfreuliche Nachricht, kehrte ich an den französischen Hof zurück, denn ich nahm an, dass Richelieu meine Dienste nach wie vor benötigen würde. Meine Annahme erwies sich als richtig, aber vorerst musste ich nicht mehr auf einen Auslandseinsatz. Stattdessen sollte ich darauf achten, was unsere Adligen miteinander besprachen oder ob sie sich auf andere Art verdächtig verhielten. Diese Aufgabe fiel mir leicht, da ich als Witwe eines englischen Adligen, der mir ein kleines Vermögen hinterließ, wogegen seine Verwandtschaft erfolglos klagte, für manchen adligen Goldgräber eine lohnende Beute darstellte. Doch ich hatte nicht vergessen, wie einige dieser hohen Herren mich früher zu benutzen versucht hatten und rächte mich nun, indem ich meinerseits mit ihnen spielte. Ich hatte einige Liebschaften, die mich vergnügten, aber verstand es meisterhaft, die Affären zu beenden, wenn mir nicht mehr der Sinn danach stand.
Auf diese Weise lernte ich schließlich auch deinen Vater Gilbert de Rochefort kennen, der ebenso wie ich Frankreich treu ergeben war.
Natürlich weiß ich, dass die Leute denken, wir wären lediglich treue Anhänger des Kardinals gewesen - aber glaub mir, mein geliebtes Kind, dass Richelieu Seiner Majestät immer treu ergeben war. Ohne seine Klugheit und seine zahlreichen Spione wäre der König vermutlich sehr früh Opfer eines Attentats geworden, hätte Richelieu das nicht immer rechtzeitig zu verhindern gewusst. Uns Agenten ist die Aufdeckung vieler Verschwörungen gegen das Leben Seiner Majestät zu verdanken - doch mich stimmte die Tatsache immer sehr traurig, dass viele dieser Verschwörungen ausgerechnet von der Königinmutter und dem Bruder Seiner Majestät initiiert worden waren. Sie jedoch kamen immer mit dem Leben davon, die meisten ihrer Mitverschwörer nicht.
Aber kommen wir zurück zu deinem Vater und mir. Gilbert war ein sehr zurückhaltender Mann und wegen seiner distanzierten Art mir gegenüber dachte ich anfangs, er sei nicht an mir interessiert. Allerdings machte ich mir kaum Gedanken über die Männer in meinem Umkreis. Stattdessen bereitete mir meine Schwester wieder Kummer, denn mich erreichte ein beunruhigender Brief Amelies, in dem sie mir mitteilte, dass Anne von ihrem Mann verstoßen worden war und ein Kind erwartete.
Amelie, die bereits vor ein paar Jahren geheiratet hatte und mit ihrem Mann die meiste Zeit auf einem Landgut lebte, hatte meine Schwester aus Mitleid bei sich aufgenommen, nachdem diese verheult in ihrem Stadtdomizil erschien. Sofort suchte ich meine Schwester dort auf und zwang sie dazu, mir unter vier Augen zu erzählen, wie es eigentlich so weit gekommen war.
Anne gestand mir, dass sie vor ihrer Ehe mit einigen ihrer adligen Freunde unterwegs gewesen sei. Sie hatten sie dazu überredet, mit ihnen auf eine Feier zu kommen, verschwiegen ihr jedoch, dass diese in einem Freudenhaus stattfand. Natürlich merkte meine unbedarfte Schwester nicht, an welch einem Ort sie sich befand, während sich ihre so genannten Freunde vermutlich über sie amüsierten. Leider schien sie vom Pech verfolgt, denn die Truppen des Königs stürmten diese verbotene Feier und nahmen unter anderem auch meine Schwester mit, die sie fälschlicherweise für eine Hure hielten. Keiner ihrer adligen Freunde klärte die Gardesoldaten über diesen Irrtum auf; stattdessen sahen sie zu, sich selbst vor den Truppen des Königs in Sicherheit zu bringen. Obwohl Anne jedoch immer wieder beteuerte, unschuldig zu sein, glaubte man ihr nicht. Zur Strafe für ihre angebliche >unerlaubte Hurerei< brannte man ihr auf der linken Schulter das Zeichen der Lilie ein, was bedeutete, dass kein anständiger Mann sich mehr mit ihr einlassen durfte.
Wie es Anne danach dennoch gelang, die Liebe eines anderen Mannes zu gewinnen, weiß ich nicht. Doch sie begegnete einem gewissen Comte de la Fère und verliebte sich in ihn. Er erwiderte ihre Gefühle und nahm sie zur Frau, obwohl sie keinerlei Mitgift besaß. Ihn schien das nicht zu kümmern und so lebten sie eine lange Zeit glücklich miteinander. Aber dann kam der Tag, wo sie während eines Ausfluges mit ihrem Mann vom Pferd fiel und der obere Teil ihres weit ausgeschnittenen Kleides verrutschte, so dass ihr Gemahl das Brandmal der Lilie entdeckte und sie verstieß. Anne versicherte ihm, dass alles ein Missverständnis sei und sie es ihm erklären wolle, doch er hörte sie nicht einmal an, sondern jagte sie aus dem Haus. In ihrer Not wusste Anne sich nicht anders zu helfen als Cousine Amelie aufzusuchen, die sie sogleich bei sich aufnahm und mich davon in Kenntnis setzte.
Meine Schwester tat mir leid, aber sie konnte natürlich nicht zu ihrem Mann zurück, auch wenn sie von ihm ein Kind erwartete. Sie hatte es ihm während des Ausflugs verraten wollen, doch es kam wegen des Unfalls nicht mehr dazu. Die Situation war vertrackt und ich beriet mich mit Amelie, was wir unternehmen sollten, um Anne und das ungeborene Kind unter ihrem Herzen zu schützen. In ihrer Güte bot unsere Cousine an, meine Schwester mit sich aufs Land zu nehmen, wo man sie offiziell als die Witwe >>Anne Lefevre<< vorstellte, die ihr als neue Kammerzofe dienen solle. Ich fand diese Idee gut. Es konnte Anne nicht schaden, einmal zu erleben, wie es sich anfühlte, wenn man für jemanden arbeiten musste. Bisher hatte das Leben sie mit Großzügigkeiten durch unsere Cousine verwöhnt, wodurch vermutlich ihr Leichtsinn und ihr Übermut derart gewachsen waren, dass sie sich erfolgreich in solch eine schwierige Lage gebracht hatte.
Als ich das Haus meiner Cousine verließ, war es bereits dunkel, doch das kümmerte mich nicht, denn ich bin nie ein ängstlicher Mensch gewesen. Auf dem Weg zu meiner Wohnung sprang mir plötzlich in einer kleinen, menschenleeren Gasse ein großer, kräftiger Mann vor die Füße, einen Degen in den Händen und offensichtlich stark angetrunken, wie mir sein alkoholisierter Atem, der mir in die Nase stieg, verriet.
"Halt, du Hure! Ich bin noch nicht fertig mit dir!", schrie er mich an.
"Ihr müsst mich verwechseln, Monsieur, ich kenne Euch nicht!", entgegnete ich in kaltem Ton und versuchte, an ihm vorbeizugehen.
Doch er ließ mich nicht passieren, sondern versperrte mir den Weg, indem er mir seinen Degen auf die Brust setzte und anfing, zu lachen.
"Du bist wirklich unverfroren, Comtesse de la Fère", lallte er. "Zuerst beschmutzt du meine Ehre und dann willst du mich nicht kennen?!"
"Ich kenne Euch auch nicht, Monsieur, und ich bin nicht die Comtesse de la Fère. Also lasst mich in Ruhe!", gab ich zurück, wobei mir inzwischen klar war, dass der betrunkene Kerl, der vor mir stand und mich bedrohte, der Gatte meiner Schwester war und mich mit ihr verwechselte, weil wir uns sehr ähnlich sahen."
"Sehr gut, du siehst wenigstens ein, dass unsere Ehe niemals gültig war!", spottete er.
"Wir waren niemals verheiratet, Monsieur, Ihr verwechselt mich", entgegnete ich und sah ihm direkt in die Augen. Deutlich erkannte ich, dass er momentan nicht im Besitz seiner geistigen Kräfte war. Vermutlich hatte er seine Enttäuschung über Anne mit reichlich Alkohol zu ertränken versucht, leider ohne Erfolg, denn er stand jetzt hier und bedrohte mich mit seinem Degen.
"Oh, wie lieblich klingen Lügen aus diesem süßen Mund", lallte er und ließ den Degen zu meinem Gesicht hochwandern, was mich jetzt doch zu beunruhigen begann. In diesem Augenblick wünschte ich, dass jemand zu meinem Schutz auftauchte und diesen Betrunkenen zur Raison brachte.
Als hätte Gott meine stummen Gebete erhört, erschien Comte de Rochefort in der Gasse, sah, wie ein Trunkenbold mich bedrohte, näherte sich uns rasch, wobei er seinen Degen zog und den Mann meiner Schwester aufforderte: "Lasst diese Dame in Ruhe, Monsieur, sonst sehe ich mich gezwungen, andere Saiten aufzuziehen."
"Ah, wohl einer deiner Verehrer, meine kleine Hure?", wandte sich Comte de la Fére an mich, offensichtlich wenig beeindruckt von einem Mann, der den roten Rock der Kardinalsgarde trug. Dann schnitt er mir unvermittelt mit dem Degen ins Gesicht und zog die Waffe zurück. "Vielleicht kannst du das Schandmal an deiner Schulter verbergen, doch das Zeichen in deinem schönen Antlitz soll allen anständigen Männern als Warnung vor dir dienen, Anne!"
"Was fällt Euch ein, eine unschuldige Dame ohne Grund anzugreifen?!", empörte sich dein Vater. "Ihr seid festgenommen!"
"Ach was! Meinst du etwa, dass mich dein rotes Wams beeindruckt, du Speichellecker? Jedermann weiß doch, dass Ihr keinem anderen als Richelieu ergeben seid! Außerdem geht es niemanden etwas an, wenn ich mit meiner Frau spreche und sie für ihr Vergehen so bestrafe, wie es mir gefällt!"
"Eure Frau?", wunderte sich Gilbert und sah mich an. "Ich dachte, Ihr seid Witwe, Mylady."
"Mylady? Das ist keine Mylady, sondern meine Frau, die Comtesse de la Fère!", erklärte Annes Mann laut.
"Ich kenne keine Comtesse de la Fère - und diese Dame, die Ihr aus Bosheit verletzt habt, ist Mylady Dianne de Winter."
"Nun, meine kleine Hure verliert wirklich keine Zeit, um ihre Identität zu ändern", höhnte Annes Mann. "Mich wundert nur, dass sich Euer Herr und Meister, der Kardinal, mit so einer einlässt. Glaubt er wirklich, sie sei vertrauenswürdig!"
"Mir reicht es jetzt wirklich!", schrie dein Vater ihn an. "Ich fordere sofort Rechenschaft für diese Beleidigung!"
"Mit dem größten Vergnügen!", gab Comte de la Fère zurück und führte einen ersten Dolchstoß gegen deinen Vater aus, den dieser jedoch elegant parierte und seinem Gegner die Waffe aus der Hand schlug. Dann versetzte er ihm mit der Faust unvermittelt einen kräftigen Hieb ins Gesicht, worauf der Mann meiner Schweister wie ein nasser Sack zu Boden fiel und liegen blieb. Danach wandte Gilbert sich mir zu und wollte wissen, wie es mir gut ginge.
Meine Wunde blutete stark und begann zu schmerzen, so dass ich dankbar das Angebot deines Vaters annahm, mich nach Hause zu begleiten. Er war es, der meine Wunde an diesem Abend versorgte, und er war es auch, der mir seine Liebe erklärte, als ich wegen der hässlichen Narbe, die mir der Angriff des Comte de la Fère bescherte, unglücklich war. Ihn störte es nicht und ich fand in deinem Vater meine zweite große Liebe.
Leider erforderte der Dienst an unserem Vaterland, dass wir uns nicht nur unserer Liebesbeziehung widmen konnten, obwohl ich bald guter Hoffnung war. Richelieu bat mich, nach England zurückzukehren, da er befürchtete, Lord Buckingham hege einen ungeheuerlichen Plan... welchen, das unterliegt meiner Verschwiegenheit, denn es ist einfach zu gefährlich, darüber nur ein Wort zu verlieren... und so blieb deinem Vater und mir kaum Zeit, heimlich zu heiraten. Du bist also ganz und gar ein legitimes Kind der Liebe, meine süße Marguerite, und ich war überaus glücklich, dass du so hübsch und gesund zur Welt kamst. Doch leider war uns nicht beschieden, lange zusammen zu sein. Also übertrug ich deinem Vater die ganze Verantwortung für dich und bat auch Cousine Amelie, stets ein Auge auf dich zu haben. Beide jedoch mussten schwören, niemals etwas über die heikle Mission zu verraten, wegen der ich gezwungen war, nach England zurückzukehren.
Ich hoffe so sehr, dass mein Auftrag von Erfolg gekrönt ist und ich bald wieder zu dir und deinem Vater zurückkehren kann. Danach, so versprach mir der Kardinal, würde er mich aus seinen Diensten entlassen, damit ich mich ganz meiner Aufgabe als Ehefrau und Mutter widmen kann. Nichts anderes wünsche.
Mein liebes Kind, möge Gottes Segen für immer auf dir ruhen und meine Liebe dich ewig begleiten.
Deine Mutter
Dianne de Rochefort"
Marguerite starrte ungläubig auf die letzten Zeilen, konnte es noch nicht fassen, dass sie die Tochter von Mylady de Winter war. Zwar wusste sie nicht viel über diese Dame, aber ihr war natürlich bekannt, dass sie in Frankreich nicht den allerbesten Ruf genoss. Kein Wunder, dass Papa immer ein Geheimnis um ihre Mutter gemacht hatte. Dabei musste er sie ebenso geliebt haben, wie sie jetzt Aro oder wie Marcus Madame de Colignon... Apropos. War mit der Erwähnung dieser Cousine Amelie möglicherweise Madame de Colignon gemeint? Und was sollte es überhaupt bedeuten, dass man ihrer Tante den neuen Nachnamen Lefevre gegeben hatte? Sollte am Ende Louise ihre eigene Cousine sein...?
"Mon Dieu, das Leben steckt voller Überraschungen", murmelte Marguerite nachdenklich, während sie auf das Papier starrte.
"In der Tat, meine liebe Nichte, in der Tat", hörte sie die Stimme ihres Onkels und schaute erschrocken auf. Der Baron schien unbemerkt in den Raum getreten zu sein, während sie noch las, und stand jetzt vor ihrer verschlossenen Zimmertür.
"Wie kommt Ihr hierher?", fragte Marguerite, die sofort ein schlechtes Gefühl bei seinem Anblick verspürte. "Ich dachte, Ihr wärt schon längst auf Euer Landgut zurückgekehrt."
"Eigentlich hatte ich das nicht beabsichtigt", antwortete der Baron. "Du formuliertest es lediglich als Vorschlag und ich widersprach nicht."
"Das verstehe ich nicht, Onkel."
"Wenn ich nur im Mindesten geahnt hätte, dass du meine Abwesenheit benutzt, um diesen aalglatten Volturi zu heiraten, wäre ich noch viel früher zurückgekommen!"
"Meine Heirat geht Euch nichts an!", entgegnete Marguerite wütend und erhob sich von ihrem Stuhl. Der Blick ihres Onkels gefiel ihr ganz und gar nicht.
"Ach, sie geht mich nichts an?!", schrie er auf. "Du bist noch minderjährig und brauchst die Erlaubnis deines Vormundes, um zu..."
"Der König hat mir die Erlaubnis erteilt, Aro zu heiraten!", schleuderte sie ihm entgegen.
"Nein! Nein, das lügst du! Das glaube ich nicht!"
"Es ist völlig gleichgültig, was Ihr glaubt, Onkel! Seit einigen Tagen bin ich offiziell Aros Frau und Ihr könnt nichts mehr dagegen tun!"
"Das möchte ich bezweifeln, mein Kind! Deinem Aro wird es sicher nicht gefallen, eine geschändete kleine Hure als Ehefrau zu behalten", gab ihr Onkel zurück, kam auf sie zu und ergriff sie am Arm.
"Was fällt Euch ein!", fuhr sie ihn an und gab ihm eine Ohrfeige.
Doch Roger lachte nur und zog sie gewaltsam an sich, drückte sie gegen seinen Körper und bedeckte ihr Gesicht mit seinen feuchten Küssen.
"Ihr seid ekelhaft!", schrie sie und versuchte, sich mit kräftigen Hieben ihrer Fäuste, die sie ihm unentwegt versetzte, aus seiner Umklammerung zu befreien.
"Ja, wehr dich nur, kleiner Bastard! Das entfacht meine Leidenschaft für dich nur noch mehr!"
"Ihr müsst den Verstand verloren haben!", schrie sie und wand sich in seinen Armen, drehte ihr Gesicht von ihm weg und begann, gegen seine Beine zu treten, was ihrem Onkel gar nicht gefiel. Er versetzte ihr zwei kräftige Hiebe ins Gesicht, so dass die junge Frau zu taumeln begann. Diese Gelegenheit nutzend, zog er sie mit sich in Richtung ihrer Schlafstatt, schleuderte mit der anderen Hand die weiße Abdeckung herunter und schmiss sie hinein. Dann beugte er sich über sie und höhnte: "Wo ist dein Aro denn jetzt?"
"Das geht Euch nichts an!"
"Warum bist du allein gekommen, Liebes? Das war ein Fehler von dir! Aber dafür ist die Freude für mich umso größer..."
"Was redet Ihr nur für einen Unsinn!", schimpfte sie und versuchte, sich aufzusetzen. Doch Lebrunne stieß sie sofort zurück ins Kissen und lachte.
"Komm, gib Ruhe, Kleine - wir beide könnten es so schön miteinander haben", murmelte er, zog ein Messer aus seinem Wams und begann, von oben ihr Kleid aufzuschneiden.
"Onkel, Ihr versündigt Euch!"
"Das tue ich nicht, denn niemand weiß, ob Comte de Rochefort tatsächlich dein Vater ist... und deine Mutter war bestimmt diese Hure de Winter..."
"Hört auf damit! Ich bin ein verheiratete Frau!"
"Und ich bin ein liebesbedürftiger Mann, der es dir anständig besorgen wird", keuchte er und schnitt das letzte Stück ihres Kleides entzwei. Dann legte er sich mit seinem schweren Körper auf sie, das Messer glitt neben das Kissen und sie spürte die harte Beule zwischen seinen Beinen.
"Nein... nein...", protestierte sie und warf ihren Kopf hin und her, als er begann sie zu küssen. "Ich finde Euch widerlich, hört auf damit! Ihr ekelt mich an..."
Sie spürte, wie er seine Hände zu ihrer Taille hinunterwandern ließ, ohne mit seinem Treiben aufzuhören.
Marguerite begann in ihrer Verzweiflung fieberhaft zu überlegen, was sie gegen den Baron unternehmen könnte, um ihn davon abzuhalten, ihr Gewalt anzutun. Blitzartig kam ihr ein Gedanke, den sie auch gleich in die Tat umsetzte: Ihr Onkel jaulte voller Pein auf, als sie ihm mit ihrem Knie einen kräftigen Tritt in den Unterleib bescherte. Augenblicklich ließ er von ihr ab, sie sprang aus dem Bett und versuchte, die Tür zu erreichen.
"Du verdammte, kleine Hexe!", fluchte Lebrunne, griff nach dem Messer und stellte ihr nach. Bevor Marguerite die Tür erreichen konnte, hatte er sie eingeholt und stach ihr voller Wut in die Brust. Sie schrie auf, starrte ihn fassungslos an und verlor das Gleichgewicht. Fast augenblicklich sank sie zu Boden und blieb reglos liegen...
Lebrunne kam bei diesem Anblick sofort wieder zur Besinnung. Er starrte auf das leblos daliegende Mädchen, dann auf das Messer in seiner Hand, warf es weg und stürzte zur Tür. Besser, er verschwand, bevor man Marguerite entdeckte. Er raste die Treppe hinunter und wollte gerade aus dem Haus verschwinden, da stand der Älteste der Volturi-Brüder vor ihm, packte ihn am Hals und warf ihn mit voller Wucht gegen die Wand.
"Passt auf, dass er nicht entwischt", befahl er den zwei Wächtern, die ihn begleiteten. Dann flog er förmlich die Treppe hoch und eilte in das Gemach seiner Schwägerin, deren Schreie er gerade eben aus diesem Teil des Hauses vernommen hatte. Als er sie reglos am Boden liegen sah, stürzte er zu ihr hin, kniete sich bei ihr nieder und bettete ihren Kopf auf seinem Schoß.
"Marguerite", rief er entsetzt und schlug leicht gegen ihre Wangen. Müde öffnete sie die Augen, erkannte ihn und lächelte.
"Marcus... endlich bist du da!"
"Dieser Kerl wird seine Strafe erhalten, Schwesterchen."
"Ja, das ist gut. Er ist falsch und boshaft... Wo ist Aro? Bitte, ich möchte bei Aro sein..."
"Er ist gerade nicht hier, Liebes", sagte Marcus sanft und hob ihren Oberkörper etwas an, bettete ihren Kopf an seine Brust und streichelte ihr über das Haar. Er spürte, wie langsam alles Leben aus diesem jungen Körper zu weichen begann. Das durfte nicht geschehen! Reichte es denn nicht, dass er die Liebe seines Lebens verloren hatte? Das würde er Aro ersparen, egal, ob sie sich jetzt in Paris oder wo auch immer befanden...
"Sag ihm, dass ich ihn liebe...", hauchte Marguerite in diesem Augenblick und schloss die Augen.
"Du wirst es ihm bald selbst sagen können", flüsterte Marcus ihr ins Ohr, beugte sich zu ihrer Kehle hinunter und biss hinein...
*
Von Sehnsucht getrieben war Aro vor dem Haus angekommen, das seine Brüder und er für ihren Aufenthalt in Paris gemietet hatten. Doch offensichtlich waren alle inzwischen abgereist. Sie konnten allerdings noch nicht weit gekommen sein, sonst hätte er sie unterwegs getroffen.
"Vielleicht holen sie noch Marguerites Gepäck ab", überlegte der schwarzhaarige Vampir und eilte zum Stadtdomizil seiner Frau. Vor dessen Tür stand eine Kutsche und auch der Eingang war geöffnet. Im ersten Moment vermutete er, dass man das Gepäck Marguerites einladen wolle, doch dann nahm er mit seinem feinen Gehör wahr, dass offensichtlich ein Herz immer langsamer schlug. Er hörte die Stimme seiner Frau, die es anscheinend anstrengte zu sprechen.
>> Sag ihm, dass ich ihn liebe...<<
>> Du wirst es ihm bald selbst sagen können.<<
Ein seltsamer Dialog, den sein Bruder mit Marguerite führte. Und warum, um alles in der Welt, schlug ein kräftiges Herz im unteren Stockwerk so schnell?
Aro lief zur Tür und dann nach oben, bemerkte im Vorübergehen, dass zwei ihrer Wächter Baron de Lebrunne gegen seinen Willen festhielten. Doch das interessierte ihn im Augenblick weniger. Er wollte wissen, was mit seiner Frau los war. Die Tür ihres Gemachs stand offen und er sah, dass Marcus sie wie ein schlafendes Kind in seinen Armen hielt, erkannte zwei feine Einstichlöcher, die auf einen Vampirbiss hindeuteten, und wandte sich in vorwurfsvollem Ton an Marcus: "Wie konntest du das tun, Bruder?"
"Beruhige dich, das Gift wirkt bereits erfolgreich in ihr", flüsterte der Angesprochene, winkte ihn zu sich und hielt ihm seinen Arm entgegen. Aro nahm seine Hand und erfuhr, was Marcus vorgefunden hatte, als er zurückkehrte, und warum er gezwungen war, Marguerite bereits jetzt schon zu verwandeln. Allerdings war nicht zu verstehen, weshalb es überhaupt so weit gekommen war, da sein Bruder einen Wächter zum Schutz für Marguerite dagelassen hatte!
"Wie gut, dass du rechtzeitig zur Stelle warst, um ihren Tod zu verhindern, Marcus", sagte Aro und drückte ihm dankbar die Hand. "Doch dieser Vorfall wird noch genauer untersucht werden und für die Betreffenden Konsequenzen haben."
"Wir sollten auf der Stelle nach Volterra zurückkehren", meinte sein Bruder.
"Natürlich, uns bleibt keine andere Wahl", stimmte Aro ihm zu. "Ich werde alles dazu veranlassen, bleib du nur bei Marguerite."
"Bevor wir abreisen, muss man sie anständig bekleiden. Schick mir einige der Damen herauf."
"Ja, das mache ich - und danach kümmere ich mich um Baron de Lebrunne, diesen Abschaum!", knurrte der schwarzhaarige Vampir und ging hinunter. Vom Eingang aus erteilte er mit leiser Stimme Befehle, bevor er sich Roger zuwandte, der ihn voller Angst anblickte, während sein Herz ununterbrochen schnell schlug. Brutal riss er den Arm des Barons an sich, nicht auf dessen Schmerzensschreie achtend, und las, was passiert war... jetzt erfuhr er, dass der von ihm bisher als harmlos eingeschätzte Mann sich offenbar allmählich in Marguerite verliebt und bereits mit dem Gedanken gespielt hatte, sie zu verführen, als seine Frau noch lebte. Dieser Mensch verstrickte sich immer mehr in die fixe Idee, Marguerite nach dem Tode ihrer Tante zu heiraten und mit ihr einen Sohn zu zeugen... das hatte fürwahr stark wahnhafte Züge. Doch es würde ihn nicht vor seiner Rache bewahren.
Aro ließ die Hand des Barons los und starrte ihn mit bösem Blick an, seine Augen begannen sich rot zu verfärben und er zog seine Lippen zurück, um Lebrunne seine kleinen scharfen Eckzähne zu präsentieren, die sich gleich in dessen Fleisch bohren würden.
"Um Himmels Willen, was für ein Wesen seid Ihr?!", entfuhr es Roger entsetzt.
"Ich bin dein schlimmster Alptraum!", antwortete Aro kalt und begann, sich zu ihm hinunterzubeugen. "Du hast versucht, meine Frau mit Gewalt zu nehmen, und wirst jetzt begreifen, dass das der größte Fehler deines Lebens war... ich werde es ganz langsam machen, um dich in den Genuss aller Schmerzen kommen zu lassen, die ein Biss von mir mit sich bringt."
"Es tut mir leid, bitte!", flehte er. "Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist! Es lag nicht in meiner Absicht, dass es so weit kommt. Niemals wollte ich, dass sie stirbt... es tut mir wirklich leid..."
Aro hielt inne und betrachtete Lebrunne nachdenklich.
"Marguerite wird nicht sterben", klärte er ihn auf.
"Dann ist sie also nicht tot?", fragte der Baron hoffnungsvoll.
"Nein, aber...", Aro zog sich zurück, musterte ihn und dann breitete sich ein fieses Grinsen über sein Gesicht aus. Er wandte sich an die beiden Wächter, die Lebrunne festhielten. "Achtet gut darauf, dass diesem Menschen nichts geschieht! Bringt ihn sofort unversehrt nach Volterra und sperrt ihn dort in ein Verließ. Er wird mein Geschenk für die Contessa sein."
"Ich danke Euch, dass Ihr mein Leben verschont", sagte der Baron und schien erleichtert.
"Wer sagt, dass ich das tue?", gab Aro spöttisch zurück. "Doch ich bin der Meinung, dass meine Frau es viel besser verstehen wird, dich zu bestrafen. Ich bin sogar fest davon überzeugt, dass es ihr eine Genugtuung sein wird."
An der Enthüllung eines Geheimnisses ist stets der schuld,
der es jemandem anvertraut hat.
~ Jean de La Bruyère (1645 - 1696) ~
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Marguerite lag mit geschlossenen Augen da und kam nur langsam wieder zu sich... aber es war äußerst unangenehm... überall tat es weh... ihr Körper schien ein einziger Schmerz zu sein, dessen Zentrum sich in ihrer Brust befand... zudem spürte sie ein seltsames, leichtes Brennen in ihrer Kehle und gleichzeitig fröstelte sie innerlich... ganz sicher war sie krank - oder gehörten derartige Begleiterscheinungen dazu, wenn man starb...? Aber möglicherweise war sie ja schon tot...?
Sie erinnerte sich an das Messer, mit dem er auf sie einstach! Als sie ihrem Onkel in die Augen sah, vermeinte sie dort, den Blick eines Wahnsinnigen zu erkennen... warum hatte er ihr das angetan?
Ganz gewiss hatte sie diesen Angriff nicht überlebt und dennoch dachte sie über das Geschehene nach und empfand Schmerzen. Darüber hinaus schien sie auf weichen Daunen zu liegen, spürte eine Decke auf ihrem Körper, die den Leib jedoch nicht zu wärmen vermochten. Was war nur mit ihr los?
Allmählich tauchten nebelhafte Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Da war Marcus, der mit sanfter Stimme zu ihr sprach und ihr Gesicht streichelte... seine liebevoll-väterliche Art beruhigte sie... er erwähnte eine Strafe... ja, er gab ihr zu verstehen, dass ihr Onkel seine Strafe erhalten werde... wenn es doch nur wahr wäre... wenn doch nur Aro dagewesen wäre... ganz sicher hätte er es nicht zugelassen, dass sie allein in das Haus ging... oh, warum war sie nur so dumm gewesen, Marcus' Angebot, einige Bedienstete bei ihr zu lassen, abzulehnen... doch wer hätte ahnen können, dass ihr Onkel ihr heimlich in dem Haus auflauern würde, das er vor wenigen Tagen erst verlassen hatte?
Nie hätte sie gedacht, dass Baron de Lebrunne sich ihr auf unsittliche Weise zu nähern beabsichtigte, da es doch immer den Anschein gehabt hatte, als liebe er seine Frau trotz ihrer Launen. Womöglich hatte er durch ihren Tod den Verstand verloren...?
Es war so widerlich gewesen, als ihr Onkel sie berührte... und wie brutal er sein konnte! Allein wie er ihr mit einem Messer das Kleid in der Mitte zerschnitt und sich dann mit seinem schweren Gewicht auf sie legte... sie hatte geglaubt, unter ihm zu ersticken...
Marguerite schluchzte laut, während sie voller Scham daran dachte, wie entblößt sie sich bei diesem Übergriff gefühlt hatte. Nur ihr Ehemann durfte sie mit nichts anderem als Unterwäsche bekleidet sehen! Was würde Aro jetzt nur von ihr denken? Sie schämte sich so sehr...
Ihr schmaler Körper zitterte, als sie von einem heftigen Weinkrampf erfasst wurde...
Plötzlich spürte sie, wie eine Hand behutsam über ihren Schopf fuhr. Voller Panik riss sie die Augen auf, sich dabei gleichzeitig setzend und erschrocken zurückweichend. Als sie ihren Kopf umdrehte, erkannte sie jedoch Aro, der an ihrem Bett saß und sie mit besorgter Miene ansah. Erleichtert atmete sie auf, dann begann sie erneut, hemmungslos zu schluchzen.
"Nein, nicht weinen, mein Liebling", sagte Aro leise und mit sehr sanfter Stimme. "Es war nicht deine Schuld. Dieser gewissenlose Hund sollte sich schämen, nicht du..."
"Ich hätte niemals allein in das Haus gehen dürfen", murmelte sie, am ganzen Körper zitternd. Ihre Kehle schien immer heißer zu werden und sie spürte, wie es in ihrem Bauch zu brennen begann, obwohl sie immer noch fror. "Was musst du nur von mir denken?"
"Es ist wirklich nicht deine Schuld, mein armer Liebling", versuchte er sie zu beruhigen. "Dein Onkel hat all das heimlich geplant und es hervorragend verstanden, vor jedermann zu verbergen. Wenn sich einer Vorwürfe machen müsste, bin ich es, weil ich ihn falsch eingeschätzt und dich mit Marcus allein in Paris zurückgelassen habe. Es tut mir so unendlich leid, mein Engel."
"Niemand hätte ahnen können, was er vorhat", erwiderte Marguerite mit tränenerstickter Stimme. "Doch ich fühle mich so beschmutzt..."
"Du bist das reinste Wesen, das ich seit langem gesehen habe, und ich liebe dich über alles", sagte Aro voller Zärtlichkeit und breitete seine Arme vor ihr aus. "Komm - komm her zu mir. Du bist das Wertvollste, was ich habe, bitte vergiss das nie."
"Oh, Aro...", stammelte sie, ließ sich weinend in seine Arme falle, krallte ihre Finger in seinen Rücken und murmelte verzweifelt: "Lass mich nie wieder allein, bitte... lass mich nie wieder allein!"
"Nie mehr", versprach er und drückte sie fest an sich. "Wie sehr zu zitterst, mein liebes Herz..."
"Mir ist so kalt und gleichzeitig brennt ein Feuer in meinem Inneren, das mich schmerzt und zu zerreißen droht", erklärte sie schluchzend.
"Ich weiß genau, was mit dir los ist", gab ihr Mann zurück. "Du brauchst eine kleine Stärkung."
Er griff mit einer Hand nach einem Glas, das mit einer dunkelroten Flüssigkeit gefüllt war, und hielt es ihr vor den Mund.
"Trink das, Liebling, danach wirst du dich besser fühlen."
Sie legte ihre zitternde Hand auf seine, dabei das Glas an ihre Lippen führend und langsam von dem Wein nippend. Er schmeckte seltsam, möglicherweise eine besondere italienische Rebe, die in Frankreich nicht bekannt war, aber sie hatte den Eindruck, dass das Brennen in ihrer Kehle ein wenig nachließ... Sie nahm einen etwas größeren Schluck und spürte, wie die rote Flüssigkeit durch ihren Hals rann... das Brennen ließ noch mehr nach und sie vermeinte, dass auch die innere Kälte zu verschwinden begann. Sie fühlte sich wirklich etwas besser und schenkte Aro einen dankbaren Blick. Er lächelte ihr aufmunternd zu, als sie weitere Schlucke nahm und endlich das Glas geleert hatte.
Die körperlichen Schmerzen und das Feuer in ihrem Bauch waren fast nicht mehr zu spüren und sie schien wieder klarer denken zu können.
"Möchtest du noch ein Glas?", fragte Aro.
"Ja, dieser Wein ist fantastisch! Stammt er aus deiner Heimat?"
"Nun... eigentlich ist dieses besondere Getränk in der ganzen Welt zu finden", antwortete er, während er das Glas auf einem Nachttisch abstellte, der sich neben dem Bett befand, und eine Glocke betätigte, die neben dem Glas stand. Renata erschien und er bat diese: "Bitte, füll das Glas doch noch einmal, meine Liebe. Der Contessa bekommt der rote Saft ausgezeichnet."
Nachdem die hübsche Frau gegangen war, wandte sich Marguerite erneut an ihren Mann: "Du sagst, diesen Wein findet man überall auf der Welt?"
"Oh ja, und es gibt durchaus verschiedene Geschmackssorten und Duftnoten."
"Jedenfalls scheint er der Gesundheit sehr förderlich zu sein."
Aro schüttelte leicht den Kopf und lächelte.
"Eigentlich ist dieser Wein, wie du den roten Saft zu nennen beliebst, nicht für jeden bekömmlich."
"Warum fühle ich mich dann nach seinem Genuss so wohl?"
"Das, liebes Herz, erkläre ich dir, wenn du dich ein wenig von dem Schock erholt hast, den das furchtbare Erlebnis mit deinem Onkel dir zweifellos versetzt hat."
"Ist es denn ein so großes Geheimnis?"
"Sagen mir mal: Nicht jeder darf darum wissen."
Marguerite schaute ihren Mann nachdenklich an. Sie begann sich jenes Briefes ihrer Mutter zu erinnern, die als Agentin für Frankreich auch viele Geheimnisse gehabt haben mochte. Oh ja, die Briefe... wo waren sie?
Während Renate wieder mit einem gefüllten Glas erschien, das sie Aro überreichte, schaute die junge Frau sich erstaunt um. Dies war keinesfalls ihr Gemach in Rochefort, obwohl das Zimmer auch geschmackvoll und elegant eingerichtet war. An einer Wand stand ein wundervoller Toilettentisch aus rotbraunem Holz mit einem großen, goldgerahmten Spiegel, der in der Mitte desselben eingearbeitet war. Sie betrachtete ihn bewundernd. Aro folgte nun ihrem Blick, sah dann wieder zu ihr und fragte: "Gefällt er dir?"
"Oh ja, er ist bezaubernd", gab sie zu und nickte, als sie sich wieder ihm zuwandte.
"Das freut mich, denn er ist ein Geschenk für dich. Schließlich möchte ich, dass sich meine Frau in ihrem neuen Zuhause wohlfühlt."
"In meinem neuen Zuhause?", fragte sie erstaunt.
"Ja, es schien Marcus und mir besser, dich sofort nach Italien zu bringen, nachdem dein Onkel dich mit einem Messer attackiert hatte. Nur bei uns war es möglich, dein Leben zu retten und dafür zu sorgen, dass du wieder genesen würdest", behauptete er und reichte ihr das Glas.
Irritiert nahm sie es entgegen, trank einige Schlucke und spürte voller Erleichterung, dass alle Schmerzen mit einem Mal vergingen.
"Dieser Wein ist ein wahres Wundermittel", lobte sie und schloss für einen Moment die Augen, ehe sie Aro wieder anschaute. "Offenbar bekommt er mir sehr gut."
"Natürlich, mein liebes Herz, denn er ist ja auch für Unseresgleichen unentbehrlich."
"Für Unseresgleichen? Was meinst du damit?"
"Bitte, mein Schatz, du solltest dich wirklich noch eine Weile ausruhen! Der Angriff hat dich sehr erschöpft und es wäre zu viel für dich, gleich alles auf einmal zu erfahren."
Sie nickte. Aro meinte es bestimmt gut und sie sollte seinen Rat besser befolgen.
"Dann befinde ich mich jetzt also in dem Palazzo, den du mit deinen Brüdern bewohnst", fragte sie nach.
"Das ist richtig und ich hoffe, er wird dir ebenso ein Zuhause wie früher Rochefort", erwiderte er lächelnd.
"Ich bin euch wirklich dankbar, dass ihr mein Leben gerettet habt. Aber Louise fragt sich bestimmt, wo wir bleiben. Man sollte sie benachrichtigen, dass ich im Moment nicht nach Rochefort kommen kann."
"Das ist alles längst geschehen. Wir haben einen Boten an Caius gesandt und ihn gebeten, sich um deine Freundin zu kümmern und auf deinem Landsitz nach dem Rechten zu sehen."
"Caius ist also noch in Rochefort?"
"Ja, schließlich hat er doch versprochen, Louise bei ihrer Hochzeit behilflich zu sein."
"Mon Dieu, wie lange war ich krank?"
"Du hast drei Tage durchgeschlafen, was auch dringend nötig war", sagte Aro, verschwieg ihr aber wohlweislich, dass er ihr während ihres Verwandlungsprozesses immer wieder Blut zugeführt hatte. Als Erstes hatte er damit begonnen, als er nach dem Auftrag, Lebrunne in einem Verließ des Palazzo unterzubringen, in das Gemach Marguerites zurückkehrte, sich neben Marcus hinkniete, sich in sein Handgelenk biss und das daraus herausströmende Vampirblut auf ihre Lippen tropfen ließ. Selbstverständlich reagierte Marguerite als Neugeborene instinktiv darauf: In ihrem tranceartigen Zustand zwischen Leben und Tod zog sie sein Handgelenk an ihren Mund und saugte gierig das Blut heraus, bis Marcus ihr schließlich Einhalt gebot. Natürlich erinnerte sie sich jetzt nicht mehr daran, aber es war der wichtigste Schritt, damit sie eine enge Bindung zu ihm bekam, obwohl Marcus ihr eigentlicher Meister und eine Art neuer Vater für sie war. Aber das musste man ihr behutsam erklären, damit sie nicht hysterisch wurde. Die Aufgabe, eine Neugeborene in ihrem Wandlungsprozess zu führen und zu begleiten, war schwierig genug - die meisten Neugeborenen waren unberechenbar, besonders, wenn der Beginn der Verwandlung so plötzlich und planlos erfolgte wie in Marguerites Fall. Ach, er würde Lebrunne am liebsten persönlich den Hals umdrehen, wenn er ihn nicht als besonderen Leckerbissen vorgemerkt hätte. Rache war süß und seine Frau wäre sicherlich besonders entzückt, wenn er ihr auf diese Weise Gelegenheit bot, sich an dem Mann zu rächen, der ihr Gewalt antun wollte und sie schlussendlich ermordet hatte. Denn normalerweise wäre sie längst tot, wenn Marcus nicht rechtzeitig gekommen wäre...
"Woran denkst du gerade, Liebster?", fragte Marguerite.
"Nichts weiter", tat er es ab und wandte sich wieder ihr zu. "Ich habe für dich ein besonderes Geschenk vorgesehen, wenn du dich wieder völlig erholt hast und etwas kräftiger geworden bin."
"Ach, Aro, du musst mir nicht immer Geschenke machen", erwiderte sie und küsste ihn. Dann sah sie ihn liebevoll an und sagte: "Weißt du denn nicht, dass du selbst für mich das größte Geschenk bist?"
"Oh... du wundervoller Engel", murmelte er, wusste augenblicklich, woran sie dachte und umarmte sie. Allerdings zögerte er, noch weiterzugehen, denn trotz Marguerites Sehnsucht, sich mit ihm zu vereinen, spürte er genau, wie tief der Schock durch den Übergriff ihres Onkels in ihr steckte. Im Grunde war sie noch nicht wirklich bereit dazu, ihre Hochzeitsnacht nachzuholen.
"Du musst dich ausruhen, Liebes", murmelte er, ihr über die Wangen streichelnd.
Er erntete einen dankbaren Blick aus ihren Augen, die nun allerdings immer wieder von blau zu einem rötlichen Ton wechselten - normal für eine Neugeborene, die sich mitten im Wandlungsprozess befand.
"Wir holen alles nach, wenn du ein wenig zu Kräften gekommen bist", versprach er und sie nickte, küsste ihn und lehnte dann ihren Kopf an seine Schulter.
"Wie kommt es, dass du mich so gut zu verstehen scheinst?", fragte sie.
"Zwischen uns besteht eine enge Bindung, schließlich lieben wir uns und haben geheiratet", erklärte er. "Oft vermeine ich, in deinen Gedanken wie in einem offenen Buch lesen zu können."
"Ich habe keine Geheimnisse vor dir", bestätigte Marguerite. "Du darfst alles wissen."
"Apropos: Deine Briefe habe ich wieder in das Schmuckkästchen gelegt, welches dir Amelie vererbte. Es befindet sich in dem Nachtschränkchen neben dem Bett und du kannst die Briefe jederzeit lesen, wann immer du willst."
Sie lächelte und schmiegte sich noch enger an ihn, trank dabei die letzten Schlucke aus dem Glas. Aro nahm es ihr aus der Hand, nachdem sie es geleert hatte, und stellte es auf dem Nachttischchen ab.
"Möchtest du noch mehr trinken?", erkundigte er sich.
"Ja, aber nur mit dir zusammen", gab sie neckend zurück und küsste ihn erneut.
Der schwarzhaarige Vampir lachte verhalten, betätigte erneut die Glocke und wieder erschien Renata. Er reichte ihr das leere Glas und sagte: "Bring uns bitte zwei gefüllte Gläser."
"Natürlich, Meister", versprach sie und ging davon.
"Wird sie meine neue Kammerzofe sein?", erkundigte sich Marguerite.
"Wenn du es wünscht, hätte sie sicher nichts dagegen", meinte er.
***
"Immer noch keine Nachricht von Contessa di Volturi?", erkundigte sich Louise, als einer der Diener ins Zimmer trat, um für sie und den Schwager von Comtesse Marguerite etwas Wein zu bringen.
"Leider nein, Mademoiselle", antwortete der Gefragte und stellte die Flasche auf einem kleinen Tisch ab, ehe er sich wieder verzog.
"Warum lässt sie nichts von sich hören?", wandte sich die junge Frau an Caius. "Es ist mehrere Tage her, seit der Bote Eures Bruders Aro Euch mitteilte, dass er in dringenden Angelegenheiten nach Hause gerufen wurde und seine Frau ihn dorthin begleitete. Vermutlich war Conte Marcus auch dabei, nicht wahr?"
"Ich nehme es an", erwiderte Caius in ernstem Ton. "Aber ich denke, dass Ihr Euch unnötige Sorgen um meine Schwägerin macht. Sie wird sich schon noch melden."
"Es entspricht nicht ihrer Art, sich so lange nicht zu melden. Ich verstehe das einfach nicht!"
"Marguerite ist verliebt und wird vermutlich ziemlich viel Zeit mit ihrem Mann verbringen", meinte Caius, der dabei zu Boden sah. Natürlich wusste er, dass seine geliebte Schwester von ihrem Onkel mit einem Messer angegriffen und tödlich verletzt wurde, aber davon durfte kein Mensch hier erfahren. Viel früher als er dachte, war Marguerite zu einem unsterblichen Wesen gemacht worden - und vermutlich litt sie dabei furchtbar. Er wünschte, er könnte ihr irgendwie helfen, doch Aro würde gewiss etwas dagegen haben. Schließlich war er der Gefährte, den sie für sich erwählte und dem es jetzt oblag, sich um sie zu kümmern. Doch warum es überhaupt zu diesem Angriff Lebrunnes auf seine Nichte gekommen war, blieb Caius ein Rätsel.
"Sie wollte doch unbedingt noch einmal nach Rochefort kommen, um mit André einiges zu besprechen", sagte Louise. "Wenn sie also schon nicht selbst kommen kann, hätte sie mir einen Brief geschrieben mit Anweisungen für die Zeit ihrer Abwesenheit und ihrem Verwalter auch."
"Apropos, liebe Freundin: Dieser André ist doch der Mann, den ihr liebt und mit dem ihr insgeheim verlobt seid, nicht wahr?"
"Ja, das entspricht der Wahrheit."
"Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, war des Öfteren von einer Hochzeit die Rede, die Marguerite für Euch ausrichten wollte. Wie steht es damit?"
"Daraus wird vorerst nichts werden. Es gehört sich einfach nicht nach dem Tode einer lieben Nachbarin, mit der Eure Schwägerin lange Jahre befreundet war."
"Das ist doch Unsinn, Louise, Ihr seid weder mit Madame de Colignon verwandt noch befreundet gewesen und müsst demnach keine Rücksicht darauf nahmen, dass sie vor kurzem leider verstorben ist."
"Sie war auch zu mir stets gütig und ich bin ihr unendlich dankbar, dass sie mir sofort eine Stellung als Gesellschafterin anbot, nachdem Baronesse de Lebrunne mich aus den Diensten ihrer Nichte entließ."
"Natürlich verstehe ich, dass Ihr den Tod einer Frau beweint, die Euch gewogen war und alles tat, um Euch zu fördern. Aber ich glaube kaum, dass sie es guthieße, wenn Ihr wegen ihr darauf verzichtet, den Mann zu heiraten, den Ihr liebt - oder haben sich etwa Eure Gefühle für ihn geändert?"
"Selbstverständlich nicht!", gab Louise zurück.
"Also verzichtet Ihr lieber auf eine Ehe mit ihm und gebt Euch stattdessen Eurer Trauer über Eure Nachbarin hin? Wem soll das denn etwas nützen? Der Verstorbenen bestimmt nicht."
"Ich habe nicht gesagt, dass ich auf eine Hochzeit mit André verzichte - mir erscheint nur der jetzige Zeitpunkt sehr unpassend. Außerdem wollte die Contessa gern dabei sein, aber sie ist nicht hier."
"Marguerite hat bestimmt Verständnis, wenn Ihr ohne ihre Anwesenheit heiratet. Schließlich ist sie selbst sehr verliebt und hat im Moment nur Augen für Aro."
"Ja, das ist wahr", stimmte Louise zu und lächelte etwas. "Die beiden sind ein schönes Paar und werden sicherlich eine sehr glückliche Ehe führen."
Caius verzichtete auf einen Kommentar dazu, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass ein so selbstsicheres und stolzes Mädchen wie Marguerite de Rochefort es lange ertragen würde, unter der Fuchtel von Aro zu stehen. Anfangs würde sich sein Meister vielleicht noch nachsichtig verhalten, aber sobald der erste Rausch der Liebe vorbei war, sähe es wohl anders aus...
Der blonde Jüngling stand auf und schenkte sich ein Glas Wein ein.
"Möchtet Ihr auch etwas, Louise?", wandte er sich an die junge Frau.
"Nein, danke - mir reichte das eine Glas."
"Ihr solltet Euch etwas entspannen, meine Liebe. Wie wäre es, wenn ich für Euch etwas auf dem Spinett spiele?"
"Nein, ich werde etwas für Euch spielen, Caius. Vielleicht beruhigt es mich. Die Musik tut uns beiden auf jeden Fall gut."
Caius nickte und lehnte sich an den Kaminsims, während Louise zum Instrument ging und ein trauriges Stück zu spielen begann. Es entsprach genau der Stimmung, in der er sich befand. Marguerite hatte Aro geheiratet und gehörte nun endgültig zu seinem Meister und auch Louise hing immer noch an diesem André, für den er selbst sich nicht erwärmen konnte. Der junge Verwalter schien zwar einen anständigen Charakter zu haben und erledigte seine Aufgaben recht gut, so weit er das beurteilen konnte, aber er war doch recht langweilig und etwas schwerfällig. Was fand eine gebildete, kluge Frau wie Louise nur an einem solchen Langweiler?
>Ich werde die Damen wohl nie ganz verstehen< , dachte der blonde Vampir und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Es schmeckte wie Essig für ihn, aber war immer noch besser als gar nichts zu trinken. Außerdem beruhigte der Wein seinen aufsteigenden Blutdurst, der sich durch ein leichtes Brennen in seiner Kehle bemerkbar machte. Doch er konnte nicht einfach verschwinden, um zu jagen, so lange er sich mit Louise unterhielt. Die Ärmste machte sich so große Sorgen um ihre Freundin, dass sie ziemlich nervös war und nicht schlafen konnte. Er musste Aro unbedingt bitten, Marguerite davon zu überzeugen, Louise wenigstens einen kleinen Brief aus Volterra zu schreiben, damit Louise sich beruhigte...
***
Als Marguerite erneut erwachte, dämmerte es bereits, wie ihr ein Blick aus dem mit bunten Bleiverglasungen verzierten Fenster verriet. Vorhin hatte sie gar nicht darauf geachtet, mit wie vielen hübschen Kleinigkeiten der ganze Raum versehen war, in dem sie schlief. Auch das riesige Himmelbett, in dem sie lag, war überaus bequem, an den vier Ecken waren rosafarbene Samtbezüge gebunden und das Laken bestand aus feiner Seide, die sich auf der Haut angenehm anfühlte. Mon Dieu, wann war sie wieder eingeschlafen und wie viel Zeit war vergangen, seit sie mit Aro hier zusammen war?
Voll zärtlicher Gedanken erinnerte sie sich daran, dass sie zusammen ein Glas Wein getrunken und sich gegenseitig mit süßen Koseworten bedacht hatten. Es hatte sie vergessen lassen, was Baron de Lebrunne ihr antat. Aro hatte sie geküsst und umarmt und sie hatte sich in seinen Armen unendlich geborgen gefühlt... sie liebte es, ihren Kopf an seiner Schulter zu betten und seine Hand zu halten... vermutlich war sie schließlich in seinen Armen eingeschlafen und er hatte sie allein gelassen, damit sie sich ausruhen konnte... Er war so rücksichtsvoll.
Aro hatte sogar dafür gesorgt, dass ein Kerzenständer mit mehreren langen Kerzen ihren Raum erhellte. Demnach konnte er noch nicht lange fort sein. Er würde bestimmt bald zurückkehren, um nach ihr zu sehen. Vielleicht schliefen sie endlich wenigstens wieder einmal gemeinsam in einem Bett... doch eigentlich fühlte sie sich jetzt gar nicht mehr schläfrig, sondern vielmehr voller Energie und sehr viel wohler als bei ihrem Erwachen... wann war das eigentlich, als sie wieder zu sich kam und sich in diesem Schlafzimmer wiederfand? Ihr war jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen; es erschien ihr auch unglaublich, dass sie drei ganze Tage ohne Bewusstsein gewesen war. Allerdings sprach die Tatsache, dass ihr Onkel sie bei ihrem Angriff schwer verletzte dafür, dass es stimmte. Es gab keinen Grund für Aro, sie zu belügen.
Ach, Aro... sie sehnte sich nach seiner Berührung und seinen Küssen. Was sollte sie nur machen, bis er wiederkam?
Ihr Blick fiel auf das Nachtschränkchen und sie erinnerte sich, dass das Schmuckkästchen mit den beiden Briefen sich dort drinnen befand. Den Brief ihrer Mutter würde sie wie einen Schatz hüten und ihn sich an einem anderen Tag noch einmal in Ruhe durchlesen. Wenn sie richtig zwischen den Zeilen gelesen hatte, war Louise ihre Cousine... sie waren also tatsächlich miteinander verwandt. Nun verstand sie erst, warum sie beide eine so tiefe Freundschaft verband und sie Louise immer wie eine Schwester empfunden hatte. Ob Papa von der Verwandtschaft zwischen ihnen gewusst hatte?
Marguerite vermutete, dass er eingeweiht gewesen war, schließlich hatte auch er Louise niemals wie eine Angestellte, sondern wie seine zweite Tochter behandelt. Er nahm sie in seinem Hause auf, angeblich als ihre Gesellschafterin, und ließ ihnen beiden die gleiche Erziehung angedeihen. Offenbar fand er, dass es sich so gehörte, denn Louise war immerhin auch die Tochter eines Comte - selbst, wenn ihr Vater so ein ignoranter, hartherziger Mann gewesen war. Wie konnte er nur die Frau, die er liebte, verstoßen? Es war einfach nur grausam!
Doch warum hatte Papa ihr nie ein Wort davon verraten? Sie gab sich selbst gleich die Antwort darauf: Mutter erwähnte in ihrem Brief ausdrücklich, dass es Geheimnisse gab, die man niemandem verraten durfte - zum Schutz für die anderen und sich selbst. Vermutlich durfte niemand erfahren, dass Louise die Tochter des Comte de la Fère war, weil ihr eigener Vater es niemals wissen durfte. Offensichtlich hielt Mutter ihren Schwager für gefährlich, weshalb sie auch dagegen war, dass ihre Schwester Anne zu ihm zurückkehrte. Stand in dem Brief nicht etwas davon, Tante Anne und ihr ungeborenes Kind zu schützen? Doch warum war Louise eine Waise, als Papa sie aus einer Klosterschule zu ihnen nach Rochefort holte? Was war mit Tante Anne geschehen?
Nun, um das herauszufinden, musste sie wohl Aro um Hilfe bitten. Sie hatte ohnehin vorgehabt, ihm alles darüber zu erzählen. Sie selbst war erleichtert, endlich zu wissen, wer ihre Mutter gewesen war... und sie war stolz auf sie, gleich, was andere Menschen von ihr halten mochten.
Jetzt wollte sie noch wissen, welche letzten Grüße ihre liebe Madame de Colignon ihr hinterlassen hatte. Sie holte das Schmuckkästchen aus dem Nachttisch, entnahm daraus den Brief, auf dem >Comtesse Marguerite< stand und las:
"Marguerite, mein liebes Kind,
sei nicht traurig, dass ich nun von euch gegangen bin. Ich glaube fest daran, dass ich in einer besseren Welt meinen Mann und meinen Sohn wiedertreffen werde - der Gedanke war mir stets tröstlich und deshalb möchte ich nicht, dass du oder Louise lange um mich trauert.
Aber dies ist endlich der Zeitpunkt, an dem ich dir so vieles sagen kann, was mir zu meinen Lebzeiten verwehrt war.
Außerdem möchte ich dir versichern, wie leid es mir tut, dass deine liebe Maman viel zu früh von uns gegangen ist. Sie und ihre Schwester Anne waren beide gutherzige Mädchen, doch leider ohne jegliche Mitgift. Deshalb darfst du niemals irgendwelchen Geschichten glauben, die die beiden verunglimpfen, denn diese Behauptungen sind nicht wahr. Und egal, welche Gerüchte über deine Maman in Umlauf sind - die Wahrheit ist, dass sie eine sehr erfolgreiche Agentin im Dienste der Krone war und ihr Leben in der Erfüllung ihrer Pflicht gab, mehr brauchst du nicht zu wissen.
Doch kommen wir zurück zu dir, mein liebes Kind: Sicher hast du zuerst den Brief deiner lieben Maman gelesen, durch den dir gewiss klar wurde, dass Louise Lefevre die Tochter deiner Tante Anne ist. Leider verstarb sie kurz nach der Geburt Louises im Kindbett, so dass die kleine Comtesse de la Fère beide Eltern verloren hatte und allein in der Welt stand. Nachdem du durch den Brief deiner Mutter erfahren hast, welche Begegnung sie mit Annes Ehemann hatte, verstehst du sicher, warum sie und ich es für besser befanden, dass Comte de la Fère niemals erfahren durfte, dass er eine Tochter besitzt.
Die ersten beiden Jahre kümmerte ich mich um Louise, danach gab ich sie zur Obhut und weiteren Erziehung in ein Kloster zu frommen Frauen. Es war der Wunsch deiner Maman und sie hatte mir Geld hinterlassen, damit deine Cousine eine gute Erziehung und Ausbildung erhält. Dein Vater war in alles eingeweiht, war jedoch genau wie ich zur Verschwiegenheit verpflichtet, um Louises Leben nicht zu gefährden. Denn es war dem Comte de la Fère durchaus zuzutrauen, sein eigenes Kind zu töten. Aus diesem Grund bitte ich auch dich, das Geheimnis um Louises Herkunft für dich zu behalten, selbst vor deiner Cousine. Ich weiß, dass ich mich in diesem Punkt auf dich verlassen kann.
Sicher ist dir längst klar, dass ich mit euch beiden verwandt bin, was jedoch nur wenige Eingeweihte wissen. Und es ist für diejenigen, die darum wissen, von höchstem Interesse, dass dieses Geheimnis gewahrt bleibt..."
Marguerite unterbrach an diesem Punkt ihre Lektüre und schüttelte den Kopf. Geheimnisse, immer ging es um Geheimnisse. Ihr ganzes Leben war davon durchzogen. Madame de Colignon war jene Cousine Amelie, die seinerzeit ihrer Mutter und Tante die Ausbildung in einer Klosterschule finanzierte; sie war es, die Mutter bei Hofe einführte, so dass Kardinal Richelieu auf sie aufmerksam wurde... Amelie de Colignon war womöglich auch eine Agentin Frankreichs gewesen, denn sie besaß viele einflussreiche Freunde und Bekannte bei Hof, die Königin selbst sprach nur in höchsten Tönen von ihr, und hatte Madame nicht auch dafür gesorgt, dass sowohl sie als auch Louise zusammen ihr Debüt bei Hofe hatten? Nun, wo sie um die Verbindung zwischen ihnen dreien wusste, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, dass genau dies das Ziel von Madame de Colignon gewesen war. Natürlich hatte Madame sich erhofft, dass auch Louise eine gute Partie machte, selbst wenn niemand wusste, dass sie die leibliche Tochter eines gewissen Comte de la Fère war. Doch ein anscheinend bürgerliches Mädchen ohne Mitgift hatte niemanden der französischen Edelleute besonders interessiert, außer Caius di Volturi, der ihre Freundin... nein, der ihre Cousine wirklich mochte.
Himmel, Louise war ihre Cousine und sie durfte es ihr niemals sagen! Natürlich verstand sie den Grund dafür, aber es tat ihr in der Seele weh, sich gegenüber ihrer Freundin nicht offenbaren zu dürfen. Aber wenn das so war, warum hatte Madame de Colignon es ihr überhaupt verraten?
In der Hoffnung, dass sich ihre mütterliche Freundin dazu näher erklären würde, widmete sich Marguerite erneut dem Brief und las weiter:
"Am liebsten würde ich Louise mein Landgut und mein gesamtes Vermögen hinterlassen, doch ich befürchte, dass meine Verwandten ihr das streitig machen und durch ihre Beziehungen wieder nehmen würden. Daher habe ich beschlossen, deiner Cousine Louise einen Teil meines Vermögens zu vererben, doch den Rest sowie mein Landgut vermache ich dir, Marguerite. Dagegen wird niemand vorgehen wollen, denn ich hoffe bis dahin, dass ich dich erfolgreich bei Hofe eingeführt und du die Gunst einer der Majestäten gewonnen hast. Womöglich ist es dir sogar vergönnt, einen einflussreichen Mann zum Gatten zu gewinnen, wobei ich natürlich sehr hoffe, dass es eine Liebesheirat sein wird und dein Gemahl einen guten Charakter hat.
Da ich um deine enge Freundschaft zu Louise weiß, verlasse ich mich darauf, dass du für ihr Wohlergeben im Leben sorgen wirst, so weit es in deinen Kräften steht. Ich vertraue sie dir an, da es mir unmöglich war, ihr etwas über ihre wahre Herkunft zu offenbaren. All dies geschah zu ihrem Schutz - so wie deine Eltern es für richtig hielten, dir niemals all ihre Geheimnisse zu verraten, um dich zu schützen. Du solltest darauf achten, wem du dich anvertraust, Marguerite, denn nicht alle Menschen meinen es immer gut. Glücklicherweise bist du mit einem scharfen Verstand gesegnet und Louise auch, so dass ihr im Leben gut zurechtkommen werdet.
Lebe wohl, Marguerite, ich wünsche dir und Louise Gottes Segen auf eurem weiteren Lebensweg.
Deine Cousine
Amelie de Colignon"
Marguerite starrte ungläubig auf den letzten Absatz des Briefes! Madame de Colignon oder besser gesagt Cousine Amelie machte sie zu ihrer Haupterbin? Das würde Marie de Roux und ihrem Nachwuchs ganz gewiss nicht gefallen!
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Aro trat ein.
"Ah, du liest gerade einen deiner Briefe", stellte er fest und lächelte. "Demnach scheint es dir wieder recht gut zu gehen. Wie fühlst du dich, mein Herz?"
"Mit mir ist alles in Ordnung", antwortete sie. "Allerdings weiß ich nicht so genau, was ich von dem zu halten habe, was Madame de Colignon mir in diesem letzten Brief mitteilt."
"Ist es etwas Schlimmes?"
"Nein, eher eine Überraschung... sie hat mir den Großteil ihres Vermögens und ihr Landgut vermacht."
"Wie nett von ihr. Nun ja, sie hegte für dich eine sehr große Sympathie, das war mir gleich bei unserem ersten Treffen aufgefallen. Offenbar sah sie in dir so etwas wie eine Tochter."
"Nein, eher wie eine Cousine - und ich vermute, dass sie es als ihre Pflicht ansah, mir etwas zu hinterlassen."
"Ihre Pflicht?", wunderte sich Aro.
"Ja, denn stell dir vor... wir sind miteinander verwandt gewesen."
"Ach...?"
"Ja, glaub es ruhig. Sie hat es gut verstanden, dies vor mir zu verbergen", meinte Marguerite und schüttelte den Kopf. "Weißt du, nach all dem, was ich aus diesen beiden Briefen erfuhr, kommt mir mein Leben beinah unwirklich vor und ich frage mich, wie viel mir meine Eltern und Cousine Amelie noch verschwiegen haben. Denn ich bin davon überzeugt, dass in den beiden Briefen nur ein Bruchteil dessen enthüllt wurde, was sie alle geheim hielten."
"Du scheinst nicht sehr glücklich darüber zu sein, Liebes."
"Nein, nein, das ist es nicht... es ist nur alles so verwirrend...", sagte sie und schaute ihn an. "Es wäre mir lieb, wenn auch du diese Briefe einmal lesen würdest, Aro. Vor meinem Ehemann will ich keine Geheimnisse haben."
"Natürlich tue ich dir gern diesen Gefallen, mein Herz, aber nicht jetzt."
"Warum nicht?"
"Nun, Marcus ist gerade in den Teil des Palazzo gekommen, in dem wir jetzt zusammen leben. Er möchte dich gerne sehen und will wissen, wie es dir geht. Fühlst du dich erholt genug, um ihn zu begrüßen?"
"Aber natürlich!", erwiderte die junge Frau und lächelte. Sie legte die Briefe in das Kästchen zurück und erhob sich aus dem Bett. Aro half ihr in einen eleganten, weißen Morgenmantel hinein und geleitete sie dann aus dem Zimmer...
Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode.
~ Aus: Hamlet,
William Shakespeare (1564 - 1616) ~
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Aro geleitete seine junge Frau in einen gemütlich eingerichteten Raum mit einem großen Kamin, zwei bequemen Sofas und mehreren breiten, gut gepolsterten Stühlen, die mit rotem Samt bezogen waren sowie einem Spinett in einer Ecke, was sie natürlich sehr erfreute.
Marcus, der es sich auf einem der Stühle bequem gemacht hatte, erhob sich bei ihrem Eintritt sofort und musterte sie eindringlich.
"Oh, Marcus!", rief sie erfreut aus, kam auf ihn zu und umarmte ihn. "Ich danke dir dafür, dass du rechtzeitig gekommen bist, um mich zu retten."
Der Angesprochene warf Aro einen verständnislosen Blick zu, während seine Schwägerin noch ihre Arme um seinen Hals geschlungen hielt. Als sie sich von ihm löste, wandte sich Marcus wieder an sie und fragte: "Hat Aro dir erzählt, dass ich dich gerettet habe?"
"Nein, nicht direkt... er sagte nur, dass ihr mich nach Italien brachtet, um mein Leben zu retten", gab Marguerite zurück. "Aber ich habe mich vorhin daran erinnert, dass du zu mir kamst, nachdem mein Onkel mich verletzt hat. Demnach musst also du mich gerettet haben und dafür danke ich dir."
"Schon gut, ich wäre gern eher da gewesen, dann wäre das vielleicht gar nicht nötig gewesen", erwiderte Marcus und schien ein wenig traurig zu sein.
"Niemand konnte ahnen, was mein Onkel vorhatte. Mach dir keine Vorwürfe."
"Du hast dich also daran erinnert, wie ich dich rettete, kleine Schwester?"
"Ich kann mich daran erinnern, dass du bei mir warst, als ich verletzt am Boden lag und glaubte, sterben zu müssen."
"An mehr kannst du dich also nicht erinnern?", erkundigte sich Marcus.
"Nein, nur daran, dass du ruhig auf mich einsprachst."
"Aro kam später dazu, kannst du dich daran erinnern?"
"Aro war da?", fragte sie überrascht und drehte sich zu ihrem Mann um. Für Marcus war das Antwort genug. Er tauschte mit seinem Bruder erneut einen Blick aus, ehe er sich wieder an seine Schwägerin wandte: "Komm, Marguerite, lass uns gemeinsam auf das Sofa dort setzen. Wir müssen uns unterhalten."
Sie folgte seinem Vorschlag und sah ihn gespannt an, während Aro auf dem anderen Sofa Platz nahm, das ihnen gegenüberstand.
"Ich habe gerade mit deinem Mann gesprochen und konnte ihn davon überzeugen, dass es besser ist, wenn du erfährst, was passiert ist...", begann Marcus behutsam an seine Schwägerin gewandt. "...vor allem musst du verstehen, was mit dir passiert ist. Doch ich versichere dir, dass es keinen Grund für dich gibt, dich deswegen zu ängstigen. Wir werden für dich da sein, um dir zu helfen."
"Wie bitte? Das verstehe ich nicht", meinte Marguerite und sah verwirrt von Marcus zu Aro und wieder zu Marcus. "Was soll denn mit mir passiert sein?"
"Als wir noch in Paris waren und ich mit der Kutsche vor dein Haus fuhr, um dich abzuholen, hörte ich, wie du schriest", fuhr ihr Schwager in ruhigem Ton fort. "Natürlich wollte ich mit meinen Leuten sofort zu dir eilen, um dir zu helfen, doch da öffnete plötzlich Baron de Lebrunne vor uns die Tür und mir war augenblicklich klar, dass er dir etwas angetan haben musste. Also setzten einige meiner Getreuen ihn fest, während ich zu dir kam und dich wie leblos am Boden liegend fand. Zum Glück atmetest du noch und es gelang mir zu verhindern, dass du stirbst..."
"Oh, ich erinnere mich, dass du mit mir gesprochen hast... ich fühlte mich tatsächlich dem Tode sehr nahe und war so froh, dich zu sehen, Marcus. Wie kann ich nur jemals gutmachen, dass du mich gerettet hast?"
"Schon gut, Marguerite, es wäre mir nie möglich gewesen, dich einfach sterben zu lassen! Schließlich habe ich dich sehr liebgewonnen und du bist meine kleine Schwester geworden."
"Was habt ihr mit meinem Onkel gemacht?"
"Es ist in sicherem Gewahrsam", antwortete Aro. "Keine Angst, mein Herz, er wird dir nichts mehr tun. Er kann dir nie wieder etwas tun. Niemand wird das jemals mehr können."
"Du meinst, weil man ihn zum Tode verurteilen wird?", fragte seine Frau.
"Er ist bereits zum Tode verurteilt und harrt nur seiner gerechten Strafe", erwiderte Aro und nickte.
"Obwohl ich dies niemandem wünschen würde, kann ich nicht sagen, dass ich dies bedaure", gab Marguerite zurück und spürte, dass sie wieder den Tränen nahe war. "Es war einfach schrecklich, wie er plötzlich in meinem Zimmer stand und... und... er machte auf mich den Eindruck, vollkommen wahnsinnig geworden zu sein... wie er sich auf mich stürzte und..."
"Du musst nicht weiterreden, Liebes, wir wissen, was er vorhatte", meinte Marcus sanft und strich ihr leicht über den Arm. "Doch so etwas kann nie wieder passieren, Schwesterchen, dafür habe ich gesorgt."
"Du sprichst in Rätseln, lieber Bruder."
"Nun, du warst tatsächlich dem Tode sehr nahe, Marguerite...", murmelte ihr Schwager und schaute sie eindringlich an. "Wir wollten eigentlich damit warten, dich zu einer vollständigen Volturi zu machen, bis du deine Angelegenheiten in Rochefort geregelt hast und mit uns nach Italien gekommen wärst. Doch der Angriff des Barons auf dich und die wenigen Momente, die dich noch vom Tode trennten, zwangen mich dazu, dich bereits in Paris, als ich dich verletzt vorfand, zu verwandeln..."
"Zu verwandeln?", fragte die junge Frau irritiert und starrte ihn verblüfft an. "Marcus, ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst."
"Du bist jetzt ganz und gar eine von uns", beantwortete Aro ihre Frage und sie wandte sich zu ihm um. Er schenkte ihr ein aufmunternde Lächeln und fuhr fort: "Weißt du, Liebes, es gibt Sterbliche und Unsterbliche und wir gehören zu den Letzteren."
Ungläubig starrte sie ihren Mann an, dann wanderten ihre Augen fragend zu Marcus. Dieser nickte und erklärte: "Ja, wir sind alle unsterblich und du gehörst jetzt auch dazu. Ich bin froh, dass deine Verwandlung so gut gelungen ist - angesichts der Umstände war das keineswegs sicher."
"Du behauptest, mich in eine Unsterbliche verwandelt zu haben? Wie kann das möglich sein? Und woher weißt du, dass die Verwandlung gelungen ist? Wie kannst du dir dessen sicher sein?"
"Du sitzt hier mit uns zusammen, hörst aufmerksam zu und stellst Fragen", erwiderte Marcus lächelnd. "Ganz wie das junge Mädchen, das wir kennengelernt haben. Zudem haben deine Wangen wieder eine leicht rosige Farbe, was zweifellos darauf hindeutet, dass du unsere Nahrung gut verträgst."
"Unsere Nahrung? Was soll das bedeuten?", sie wandte sich wieder Aro zu, der breit grinste. "Liebster, worum handelt es sich bei dieser roten Flüssigkeit, die du mir vorhin offeriertest?"
"Er hat dich nicht das erste Mal damit versorgt, liebe Schwester", bemerkte Marcus. "Wie gut, dass wir im Keller einen kleinen Vorrat davon gelagert haben. Aro hat dir immer wieder etwas davon gegeben, damit du dich wieder erholst."
"Aro, WAS hast du mir zu trinken gegeben?!", fragte Marguerite ihren Mann erneut.
"Ach, Schatz, kannst du dir das wirklich nicht denken?", gab er amüsiert zurück. "Hast du denn noch niemals irgendwelche Schauergeschichten über Wesen gehört oder gelesen, die sich hauptsächlich von dem Saft ernähren, der durch die Adern der Menschen fließt?"
"Du sprichst von Blut?!", entfuhr es Marguerite fassungslos.
"So ist es, mein Herz", bestätigte er ihr nickend. "Blut ist das Lebenselixier für Wesen unserer Art."
"Das ist ein Scherz!", entgegnete sie konsterniert und bedachte die beiden Brüder mit einem verärgerten Blick. "Ein äußerst schlechter Scherz, über den ich nicht zu lachen vermag."
"Oh nein, das ist keineswegs ein Scherz!", widersprach Aro ihr sofort und wurde ernst.
"Es ist die Wahrheit", bestätigte Marcus und nickte.
"Nein! Das kann unmöglich sein!", widersprach sie heftig und schüttelte den Kopf. "Ihr wollt mir doch nicht allen Ernstes einreden, dass ihr euch von menschlichem Blut ernährt. Dann wärt ihr ja Vampire!"
"Ja, wir sind Vampire", gab Marcus zu und lächelte wieder. "Genau wie du jetzt auch."
"Unsinn! Unsinn!", rief sie erregt aus und sprang fast vom Sofa, bedachte dabei beide Brüder mit einem ärgerlichen Blick und erklärte: "Daran glaube ich nicht! Und ich bitte euch eindringlich, mit diesem üblen Scherz aufzuhören! Es ist eurer nicht würdig, eine schwache Frau damit derart zu beunruhigen."
"Das war keinesfalls unsere Absicht", sagte Marcus in entschuldigendem Ton. "Wir wollten dich nur darüber aufklären, was mit dir geschehen ist, damit du dich nicht vor dir selbst erschreckst."
"Außerdem bist du keine schwache Frau mehr", ergänzte Aro, der sich ebenfalls erhob und zu seiner Frau trat. "Jedenfalls bist du nicht mehr schwach, seit du dich wieder gestärkt hast. Ganz im Gegenteil: Momentan verfügst du über besonders starke Kräfte und jeder, der dich angreifen würde, hätte verloren. Das ist mit allen neugeborenen Vampiren so, Liebes, aber sorge dich nicht. In etwa einem Jahr normalisiert sich das wieder."
"Bitte, Aro, hör auf, mich mit diesem Vampirunsinn aufzuziehen", erwiderte sie und sah ihn an. "Ich finde das gar nicht lustig."
"Ich versichere dir, dass es die Wahrheit ist, Liebling", antwortete er.
"Also schön, ich sehe schon, dass es euch offensichtlich Vergnügen zu bereiten scheint, mir weismachen zu wollen, ich sei ein Vampir", sagte sie und ließ dabei ihren Blick immer wieder von ihrem Mann zu ihrem Schwager wandern. "Nun, meine Herren, könnt ihr eure Behauptungen auch beweisen?!"
"Kein Problem, Liebes", gab Aro zurück und ergriff lächelnd ihre Hand. "Komm mit, ich werde dir etwas zeigen!"
Er zog sie mit sich und sie folgte ihm widerstandslos. Marcus erhob sich und ging ihnen hinterher...
*
Lebrunne wusste nicht, wie lange er schon in dem kleinen, fensterlosen Raum saß, der lediglich durch eine Fackel an der Wand vor seinem Gitter erhellt wurde. Seine Hand- und Fußgelenke waren mit Ketten versehen, aber sie gaben ihm genügend Bewegungsspielraum, dass er sich zum Gitter seines Gefängnisses bewegen konnte, um die Mahlzeiten, die man ihm brachte, von den Wächtern entgegenzunehmen. Diese unheimlichen, gespenstisch anmutenden Gestalten mit der blassen Haut ließen sich außerdem ab und zu bei ihm blicken und beobachteten ihn schweigend.
Dem Baron war längst klar, dass es sich bei den Volturi-Brüdern und ihrem Anhang keinesfalls um normale Menschen handeln konnte. Allein die Schnelligkeit, mit der die von Aro beauftragten Handlanger ihn an Armen und Beinen fesselten und ihn dann zwischen sich tragend aus dem Haus brachten und wie ein Stück Holz in einen Karren warfen, der plötzlich auftauchte, war bemerkenswert. Nachdem man ihn mit weiteren festen Stricken an den Karren gebunden und seinen Mund mit einem Knebel versehen hatte, bewegten sie sich zunächst in einem normalen Tempo aus Paris hinaus. Doch kaum waren sie außer Sichtweite der Stadtmauern, drückten ihn die beiden von Aro beauftragten Burschen hinunter auf den Boden des Wagens, während der Karren kurz anhielt, sich jedoch wenige Augenblicke später stark beschleunigte und zwar so sehr, dass er das Gefühl hatte, sie würden mit rasender Geschwindigkeit fliegen. Die Sterne über ihm verschwammen und ihm wurde bald so schwindelig, dass er die Augen schließen musste... eine gnädige Ohnmacht erlöste ihn wenig später, so dass er nicht mehr schmerzhaft jedes Ruckeln des Wagens an seinem Körper mitbekam.
Als er schließlich irgendwann erwachte, fand er sich in diesem Verließ wieder, wobei ihm alle Knochen wehtaten. Niemand sprach mit ihm ein Wort und er wartete bislang vergebens auf Aro oder einen seiner Brüder. Schließlich hatte er einen der Wächter gefragt: "Was soll mit mir geschehen?" und zur Antwort bekommen: "Das werden die Meister entscheiden! Sie werden dich aufsuchen, wann es ihnen genehm ist."
"Die Meister?", hatte er verwundert nachgefragt. "Wer sind die Meister?"
Doch darauf gaben ihm seine Wächter keine Antwort. Und es waren immer wieder andere Männer, die auftauchten, und ihn schweigend beobachteten. Das machte ihn schier wahnsinnig! Er wollte endlich wissen, wie es Marguerite ging, aber Aro verstand es fabelhaft, ihn darauf warten zu lassen und damit mürbe zu machen. Er hatte den schmierigen Italiener wirklich sehr unterschätzt. Offenbar war ein ganzes Kader seiner Handlanger mit seinen Brüdern und ihm in Paris eingetroffen, ohne dass ein Mensch etwas davon bemerkt hätte. Die wenigen Frauen und Männer, die man manchmal in ihrer Begleitung sah, wurden als deren Bedienstete wahrgenommen und nicht weiter beachtet.
Wenn er nur im Mindesten geahnt hätte, wie mächtig dieser Aro Volturi war, hätte er es niemals gewagt, Marguerite in ihrem Haus aufzulauern und sie dermaßen zu bedrängen. Aber wer konnte schon der Versuchung, eine junge, atemberaubend schöne Frau ins Bett zu kriegen, widerstehen, wenn es so einfach schien? Er jedenfalls nicht - doch er war dumm genug gewesen, nicht mit dem Widerstand des kleinen Biests zu rechnen; wenn sie sich nicht dermaßen vehement gegen ihn gewehrt hätte, wäre es nie zu dem gekommen, was schließlich geschah und was er niemals beabsichtigt hatte. Doch der vermaledeite, kleine Bastard seines Schwager hatte ihr spitzes Knie so tief in seinen Unterleib gerammt, dass er glaubte, sie hätte ihn kastriert. Die Schmerzen waren unerträglich gewesen und er wollte sie dafür einfach nur bestrafen. Nicht mehr Herr seiner Sinne stieß er ihr mit voller Wucht das Messer in den Leib - und kam sofort wieder zur Besinnung, als sie blutend zu Boden sank und tot zu sein schien. Leider war er nicht schnell genug gewesen, um aus dem Haus zu entkommen. Dieser Marcus und seine Handlanger hinderten ihn an der Flucht und hielten ihn fest. Die beiden Männer waren dermaßen stark, dass es ihm einfach nicht gelang, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien... und dann war schließlich Aro erschienen, der zunächst an ihm vorbei nach oben gerannt war und später zurückkehrte, um sich an ihm zu rächen. Marguerite musste wieder zu sich gekommen und ihm erzählt haben, was sich zugetragen hatte, denn Aro schien über alles genauestens Bescheid zu wissen. Warum er dann plötzlich davon abließ, ihn töten zu wollen, konnte er sich nicht erklären. Ihm war auch schleierhaft, was der gelackte Affe damit sagen wollte, als er den beiden Handlangern erklärte, er solle ein >Geschenk für die Contessa< sein.
Offenbar handelte es sich bei dieser >Contessa< um Marguerite, die jetzt Aros Frau war. Irgendwie hatte ihn das erleichtert, denn wenn es seiner Nichte oblag, zu entscheiden, wie man ihn bestrafte, würde sie sicher nicht seinen Tod wünschen, obwohl er sie quasi überfallen und beinahe geschändet hätte...
Bei dem Gedanken an Marguerite schloss Lebrunne lächelnd die Augen und erinnerte sich zurück an ihren schlanken Leib, den er mit seinen Händen umfangen und gestreichelt hatte. Ihre Haut war überaus zart... und dann die weichen Lippen, die seinem Mund immer wieder zu entkommen versucht hatten. Ach, zu gern hätte er die Kleine einmal beschlafen, es musste eine wahre Wonne sein...
Plötzlich sich nähernde Schritte schreckten Roger aus seinem angenehmen Tagtraum auf. Er blickte hoffnungsvoll auf die Gitterstäbe seines Verließes. Womöglich war dies endlich Aro und er würde erfahren, was mit ihm geschehen sollte. Er hatte sich nicht geirrt, doch dass jener Marguerite mitbrachte, war eine Überraschung.
"Schau mal, wen wir hier haben", sagte Aro zu seiner Angetrauten.
"Baron de Lebrunne!", rief sie überrascht aus und starrte Roger ungläubig an. Dann wandte sie sich an ihren Mann: "Was macht er hier?"
"Das, mein Herz, ist mein Geschenk für dich", verriet der schwarzhaarige Mann und grinste sie an.
"Ein Geschenk für mich? Was soll ich mit ihm?"
"Oh, ich bin sicher, dir wird schon etwas einfallen, Liebes."
"Marguerite!", wandte sich Roger hoffnungsvoll an seine Nichte. Diese schaute ihn fassungslos an. Sie wirkte ein wenig verwirrt. Seine Chance, an ihr Mitleid zu appellieren, um aus diesem Gefängnis herauszukommen. "Marguerite, bitte verzeih mir! Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Bitte glaub mir, ich wollte dich niemals verletzen. Es tut mir alles so schrecklich leid."
Sie zog ihre Augenbrauen zusammen und schenkte ihm einen giftigen Blick.
"Als Ihr unerlaubt in mein Gemach eindrangt, um mir Gewalt anzutun, klang das aber ganz anders!", gab sie in heftigem Ton zurück. Dann stutzte sie und betrachtete ihn, als ob er ihr fremd sei.
"Ein interessanter Anblick, nicht wahr?", wandte sich Aro an seine Frau, die ihn daraufhin ansah. "Glaubst du mir jetzt?"
"Ich... ich weiß noch nicht... das alles ist so verwirrend...", murmelte sie. "All die vielen, feinen Äderchen... warum erregt es mich dermaßen...?
"Das gehört zu unserer Natur, mein Liebling, es ist völlig normal."
Lebrunne verstand nicht, worüber sich die beiden unterhielten. Er drehte sich um, ob sich irgendetwas hinter ihm befand, aber da war nichts außer dem Ballen voller Stroh, auf dem er zu schlafen gezwungen war. Es gab nichts, worüber man sich wundern musste, wenn man es sah.
"Marguerite!", sprach Roger erneut seine Nichte an, die ihm einen verachtenden Blick schenkte. "Bitte, es tut mir so leid, was geschehen ist. Das alles ist ein furchtbares Missverständnis."
"Ein Missverständnis?!", fuhr sie ihn zornig an und er schreckte vor ihr zurück, als ihre Pupillen rot aufleuchteten. "Nein! Ihr habt unmissverständlich klar gemacht, dass Ihr mich schänden und damit meinen Ehemann demütigen wolltet!"
"Nein! Nie im Leben!", behauptete er demütig. "Ich habe dich immer heimlich bewundert, wirklich. Du bist so hübsch und unschuldig, viel zu schade für einen Mann wie ihn..."
Lebrunne zeigte mit einem Finger auf Aro, der ihn kalt und ohne eine Miene zu verziehen anstarrte.
"Du hast etwas Besseres verdient, Marguerite", fuhr der Baron an seine Nichte gewandt fort. "Dein sogenannter Ehemann hat ein Herz aus Eis und du kannst niemals glücklich mit ihm werden. Er hätte dich sofort verstoßen, wenn mir mein Vorhaben gelungen wäre, Kind! Dann hätte ich dich zur Frau genommen - und alles wäre in der Familie geblieben."
"Ihr seid noch viel ekelhafter als ich dachte!", erklärte Marguerite und wandte sich ab. "Aro, lass uns gehen! Die Gegenwart dieses Menschen ist mir unerträglich!"
"Man kann sich doch leicht seiner entledigen", sagte ihr Mann mit sanfter Stimme. Sie schaute verwundert zu ihm hoch und er wisperte: "Ich glaube, dass du wieder Durst verspürst. Ist da nicht ein leichtes Brennen in deiner Kehle, mein Schatz?"
Die junge Frau hielt inne und tatsächlich, sie spürte es... zwar kaum bemerkbar, aber da.
"Anfangs ist es bei Neugeborenen oft so, dass sie sehr viel Durst haben", flüsterte Aro. "Und hier, vor dir, ist jemand, der deinen Durst löschen könnte..."
Ungläubig blickte Marguerite zu ihrem Onkel, der sie flehentlich ansah.
"Das ist doch nicht dein Ernst, Aro", wandte sie sich wieder ihrem Mann zu. "Nie könnte ich... nie... und schon gar nicht ihn! Er widert mich an."
"Ich teile deine Empfindungen, was diesen Menschen betrifft", gab der schwarzhaarige Vampir ihr recht, schaute dann zu Lebrunne und grinste ihn an. "Aber dennoch vermag er es, deinen Durst zu löschen, der sich bald wieder mit aller Macht bei dir melden wird."
Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Marcus stand hinter ihr und meinte: "Willst du nicht noch etwas warten, bis es so weit ist, liebe Schwester? Es kann nicht mehr lange dauern, bis deine Kehle brennt. Wenn du gleich deinen Durst löscht, kannst du weitere Schmerzen in deinem Inneren vermeiden."
Marguerite erinnerte sich daran, dass ihr ganzer Leib bei ihrem Erwachen geschmerzt hatte, an das Feuer in ihrem Bauch und das starke Brennen in ihrer Kehle... woher wusste Marcus davon? Es konnte doch nicht sein, dass irgendetwas von dem Unsinn, den er und Aro ihr erzählt hatten, der Wahrheit entsprach... das war einfach unmöglich... und dennoch ließ es sich nicht leugnen, dass das Brennen in ihrem Hals zunahm.
Sie drehte sich wieder um und betrachtete ihren Onkel. In seiner Kehle konnte sie deutlich die Adern unter seiner Haut erkennen, hörte ganz deutlich, wie aufgeregt sein Herz schlug, wie das Blut in seinem Körper rauschte... und sie bemerkte mit einem Mal, dass von dem Baron auch ein besonderer Geruch ausging. Er war zwar herb, aber nichtsdestotrotz sehr verführerisch... der Duft seines Blutes...
Sie trat näher an das Gitter heran, doch ihr Onkel, der ihr gerade noch von seinen heimlichen Plänen, sie zu einer Ehe mit ihm zu zwingen, erzählt hatte, wich zurück. Sie sah die Angst in seinen Augen und hörte, wie rasend sein Herz schlug.
Aro winkte einen der Wächter heran, der das Gitter aufschloss und damit den Weg für Marguerite freimachte, sich Lebrunne zu nähern. Sie dachte nicht nach, sondern näherte sich instinktiv dem Mann ihrer Tante, der immer mehr vor ihr zurückwich.
"Warum habt Ihr denn plötzlich solche Angst vor mir, Onkel?", erkundigte sie sich neugierig. "Was ist mit Euch? Vor wenigen Tagen erst konntet Ihr mir nicht nahe genug sein und nun zieht Ihr Euch zurück? Was ist denn der Anlass dafür?"
"Deine Augen! Es sind deine Augen!", schrie er auf.
"Meine Augen? Was ist mit ihnen?"
"Sie sind rot! So rot! Was hat dieser Aro mit dir gemacht?!"
"Aro hat gar nichts mit mir gemacht!", erklärte Marguerite kalt. "Das, was vor Euch steht, ist ganz allein Euer Werk - und dass Ihr nun hier seid, habt Ihr Euch auch ganz allein zuzuschreiben! Warum seid Ihr nicht auf Euer Landgut zurückgekehrt, wie ich es Euch empfahl?!"
"Ich habe mich in dich verliebt - ich konnte nicht anders!", erklärte der Baron voller Angst.
"Ihr habt ohne Zweifel den Verstand verloren", meinte sie. "Doch das ist keine Entschuldigung für das, was Ihr mir angetan habt!"
"Das war ein Fehler, das ist mir längst klar und ich bereue wirklich zutiefst, dich verletzt zu haben", jammerte Lebrunne und fiel vor ihr auf die Knie. "Bitte, verzeih mir, Marguerite, bitte! Du bist doch nicht wirklich so ein Monster wie dein Aro oder seine Brüder und Handlanger. Bitte, lass mich gehen und ich verschwinde für immer aus deinem Leben, das verspreche ich dir."
"Oh ja, du wirst aus meinem Leben verschwinden", antwortete sie, während ihre roten Augen aufleuchteten. "Doch ich fürchte, es ist nicht ganz so, wie du es dir wünscht..."
Das Brennen in ihrer Kehle war beinah unerträglich und in ihrem Bauch begann es, heiß zu werden. Sie sehnte sich nach Linderung und der Duft des Blutes ihres Onkels war zu verführerisch. Ohne nachzudenken, packte sie ihn und biss in seinen Hals...
*
Nachdem Marguerite ihren Blutdurst gestillt hatte, ließ sie endlich den entseelten Leib ihres Onkels los, der sofort zu Boden sank. Ungläubig starrte sie darauf, dann besah sie fassungslos ihre Hände, an denen kein Blut zu sehen war, blickte erneut auf den toten Leib, drehte sich dann um und rannte aus dem Verließ. Sie lief an Aro, an Marcus und einigen Wächtern vorbei wieder den Weg zurück und fand gleich das Gemach, in dem sie erwacht war. Sie verschloss die Tür hinter sich und ließ sich dann zu Boden sinken.
Es war wahr!
Alles war wahr, was Marcus und Aro ihr gesagt hatten!
Sie war ein Vampir und trank Blut!
Es war unglaublich! Und unmöglich! Sie hatte die Geschichten über Gespenster, Werwölfe und Vampire stets für Schauermärchen gehalten, die man leichtgläubigen Menschen erzählte, um ihnen Angst einzujagen. Dabei existierten zumindest Vampire - wie sie selbst ja soeben erlebt hatte.
Was sie zusätzlich irritierte war die Tatsache, dass es so leicht für sie gewesen war, den Baron, einen sehr kräftigen Mann, mit Leichtigkeit zu packen, an sich zu ziehen und ihn auszusaugen. Und das Schlimmste von allem war, dass ihr sein Blut auch noch geschmeckt hatte. Es war zum Fürchten!
Sie war ein Monster, ein Ungeheuer - genau wie Aro und Marcus und vermutlich auch Caius!
Oh Himmel! Caius war in Rochefort bei Louise, die nichts von alledem ahnte. Wie sollte sie auch? Sie selbst hätte doch niemals geglaubt, dass von den drei Volturi-Brüdern eine Gefahr ausginge. Sie waren immer so kultiviert, wohlerzogen und charmant gewesen.
Louise war ihre beste Freundin! Und sie war überdies auch ihre Cousine! Ihr durfte nichts geschehen!
Sie musste sie beschützen! Wer wusste schon, was Caius mit ihr vorhatte.
Seinerzeit versprach er zwar, Louise dabei zu helfen, ihren André zu heiraten, aber konnte man ihm trauen? Ihre Freundin selbst gestand ihr immer wieder ihren Zweifel daran, da Caius ihr mehr als Sympathie entgegenbrachte. Am Ende würde er aus Louise womöglich ebensolch ein Wesen machen wie sie es geworden war. Nein, das durfte nicht geschehen! Niemals!
Sie erhob sich, entschlossen, umgehend nach Rochefort zurückzukehren, auch wenn sie noch nicht wusste, wie sie dies bewerkstelligen sollte. Neugierig sah sie sich im Zimmer um und konnte seltsamerweise alles gut erkennen, obwohl es draußen mittlerweile dunkel war und das Licht der Kerzen den Raum nicht sehr erhellte. Sie erkannte eine Tür gegenüber und ging darauf zu. Als sie sie öffnete, erkannte sie, dass dies ein begehbarer Kleiderschrank war, in dem sich nicht nur ihre eigenen Sachen befanden, sondern noch viel mehr wunderhübsche Kleider und Schuhe. Einen Moment lang war sie überwältigt von der Großzügigkeit, mit der Aro sie beschenkte. Offensichtlich liebte er sie wirklich, obwohl er ein Monster war. Und Marcus schien es aufrichtig zu bedauern, gezwungen gewesen zu sein, sie zu verwandeln... sie waren beide sehr bemüht darum gewesen, ihr die Wahrheit auf möglichst schonende Art beizubringen... vielleicht waren sie doch nicht so schlimm...?
Marguerite war jedoch verwirrt und voller Zweifel. Einerseits liebte sie Aro und er schien ihre Gefühle tatsächlich zu erwidern, andererseits hatten seine Brüder und er alle Welt über ihre wahre Natur großartig zu täuschen vermocht. Natürlich war es von Anfang an Aros Absicht gewesen, sie zu seinesgleichen zu machen - sie konnte es nicht länger vor sich selbst leugnen. Er war nicht ehrlich zu ihr gewesen, sonst hätte sie sich niemals auf ihn eingelassen...
Doch jetzt galt es, Louise zu retten!
"Marguerite!", hörte sie Aros Stimme. Er klopfte leise an die Tür. "Marguerite, ist alles in Ordnung?"
Warum stellte er diese unsinnige Frage? Ihm musste doch klar sein, dass nicht alles in Ordnung war. Sie hatte eben ihren eigenen Onkel umgebracht und es genossen! Er war zwar ein widerlicher Mensch gewesen, aber hatte er deshalb solch einen Tod verdient? Und was, wenn er tatsächlich den Verstand verloren hatte? Doch sie musste innerlich einräumen, dass sie selbst es dem Baron nicht geglaubt hatte. Nein, offensichtlich plante er schon länger, sie zu seiner Frau zu machen - notfalls mit Gewalt! Wäre er nicht gewesen, wäre sie nicht zu seiner Mörderin geworden und auch nicht so schnell zum Vampir!
"Marguerite, du musst dich nicht schämen!", rief Aro, der anscheinend vor ihrer Tür stand, aber ihr immerhin so viel Respekt erwies, nicht einfach hereinzukommen. Erneut ertappte sie sich bei dem Gedanken, sich stark zu ihm hingezogen zu fühlen. Sein Verhalten entsprach tatsächlich dem eines echten Gentilhomme und sie liebte ihn auch... Mon Dieu! Wie konnte sie ihn denn immer noch lieben nach alledem?
Marguerite begann zu weinen, verwirrt über die verschiedenen Gefühle, die auf sie einströmten.
"Liebes, er hat den Tod verdient", hörte sie erneut die Stimme ihres Mannes durch die Tür. "Du brauchst dich wirklich nicht zu schämen. Deine Reaktion war völlig normal. Bitte, beruhige dich."
"Aro, lass mich allein - bitte!", antwortete sie ihm laut und mit tränenerstickter Stimme. "Bitte, ich möchte allein sein - bitte!"
"Gut, Liebes, ich verstehe", gab er zurück, wobei seine Stimme sowohl zärtlich als auch nachsichtig klang. "Natürlich braucht es eine gewisse Zeit, bis du dich daran gewöhnt hast, eine Unsterbliche zu sein. Aber mach dir keine Sorgen, mein Schatz, wir werden dir alle dabei helfen. Ruh dich ein bisschen aus. Gute Nacht!"
"Gute Nacht, Aro", sagte sie und war erleichtert, als sie hörte, wie er davonging. Sie wartete noch einen Augenblick, dann zog sie den Bademantel und das Nachthemd aus und begann, sich zum ersten Mal in ihrem Leben allein anzukleiden, nachdem sie sich etwas ausgesucht hatte. Dann band sie ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, hüllte sich in einen schwarzen Umhang ein und zog die Kapuze über ihr Gesicht. Wenn sie sich recht erinnerte, verfügten Vampire über besondere Kräfte und konnten fliegen. Nun, sie würde ja gleich sehen, ob dies der Wahrheit entsprach.
Marguerite ging zu dem verzierten, bunten Fenster, öffnete es und schaute hinaus. Es ging tief nach unten hinab, aber offenbar wurde dieser Weg wenig benutzt. Sie stieg aus dem Fenster und ließ sich fallen... sie schwebte wie auf Wolken hinunter und landete sanft auf ihren Füßen. Es war fantastisch! Wenn sie jetzt noch wüsste, in welcher Richtung es nach Frankreich ging... doch das konnte sie sicherlich erfragen, erstmal musste sie weg von hier. Sie begann zu laufen und merkte erstaunt, dass sie sich sehr schnell bewegte. Die Bäume am Wegesrand schienen förmlich an ihr vorbeizufliegen.
Die Geschichten über Vampire waren also alle wahr. Doch sie sollte besser darauf achten, dass kein Mensch sie sah. Die Volturi-Brüder konnten sich bestimmt nur deshalb so lange erfolgreich verborgen gehalten haben, weil sie das Geheimnis um die tatsächliche Existenz über Vampire, die unter Menschen lebten, bewahrt hatten. Und so schlimm es schien, war auch das völlig vernünftig...
Mit einem Mal wusste sie plötzlich, in welche Richtung sie laufen musste, um nach Frankreich zu gelangen. Die Bewegung strengte sie nicht einmal an, sondern tat ihr gut. Während sie lief, hatte sie das Gefühl, wieder klarer denken zu können. Und angesichts der Tatsache, dass sie jetzt eine Volturi war, hoffte sie sehr, bis zum Morgen in Rochefort angekommen zu sein und Caius davon zu überzeugen, Louise in Ruhe zu lassen...
Vertrauen ist eine Stille im Chaos.
~ Andrea Gerlach ~
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Dank ihrer neuen geschärften Sinne konnte Marguerite sich rechtzeitig verstecken, wenn ihr etwas Verdächtiges zu Ohren kam. Aber es waren nur kleine Wildtiere, die ihr auf ihrer nächtlichen Reise begegneten, und sie rannten ihr schnell aus dem Weg. Beinahe flog sie dahin und wunderte sich, als sie bald einen ihr recht gut bekannten See erkannte, der zum Forst von Rochefort gehörte. Oft hatte sie dort mit ihrem Vater, Louise und manchmal auch Madame de Colignon im Sommer einen Ausflug gemacht. Sie hielt inne und besah sich diesen Ort erneut, der im Dunkel der Nacht völlig anders wirkte. Außerdem war der See zugefroren, da es sehr kalt zu sein schien. Wie merkwürdig, dass sie von der äußeren Kälte gar nichts gespürt hatte. Aber sie war ja ein Vampir, also kein lebendiger Mensch mehr, sondern jemand, der eigentlich tot sein müsste, es aber nicht war.
Nachdem ihr erneut bewusst wurde, was für ein Wesen sie jetzt war, ließ sie sich auf einem dicken Baumstamm nieder und starrte traurig auf den zugefrorenen See. Sie dachte daran, dass sie eigentlich kein Blut hatte trinken wollen und dennoch nicht über genügend Selbstbeherrschung verfügt hatte, um ihren Onkel zu verschonen. Außerdem hatte Aro ihr gesagt, dass sie eine so genannte Neugeborene war, die in der ersten Zeit sehr viel Blutdurst haben würde... ein ganzes Jahr würde das so sein, bis es sich >normalisierte< - doch was war für einen Vampir >normal< ?
Sie hoffte sehr, dass sie dann nur ganz wenig Blut brauchte... aber jetzt war sie gefährlich!
Dabei wollte sie weder für Louise noch für ihre Bediensteten in Rochefort eine Gefahr sein - sie beabsichtigte nicht, einem von ihnen etwas zu tun! Doch würde sie so viel Selbstbeherrschung aufbringen, sich zurückzuhalten?
Marguerite vertraute sich selbst nicht genug. Aber sie musste unbedingt zurück zu ihrem Landsitz, um mit Caius zu sprechen. Das war wirklich ein Dilemma, über das sie nicht nachgedacht hatte, als sie einfach aus dem Palazzo der Volturi floh. Was sollte sie jetzt nur machen?
Plötzlich wurde sie durch das leise Knacken von Ästen aufgeschreckt. Etwas näherte sich ihr und es schien keine guten Absichten zu haben. Sie erhob sich vom Baumstamm und schaute sich um. Das Geräusch war von der gegenüberliegenden Seite des See's gekommen. Sie fokussierte ihren Blick darauf und erkannte zwei leuchtende Augen. Das Wesen, das sich ihr näherte, knurrte leise. Es handelte sich um einen Wolf. Möglicherweise war er sehr hungrig und hatte sie als Beute im Visier.
Marguerite spürte einen kurzen Moment lang Angst, dann fiel ihr ein, dass Aro behauptet hatte, sie verfügte über sehr viel Kraft und wäre quasi unbesiegbar. Hoffentlich hatte er damit nicht übertrieben.
Der Wolf blieb einen Moment lang am gegenüberliegenden Ufer des See's stehen und beäugte sie, dann wagte er sich aufs Eis und kam immer näher. Marguerite erwartete ihn gespannt, ohne sich zu rühren. Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Offensichtlich gefiel dies dem Wolf nicht, denn er knurrte nun sehr viel lauter, setzte zum Sprung auf sie an und stieß sich ab... Marguerite sah ihn wie in Zeitlupe auf sich zufliegen, doch bevor er sie erreichte, holte sie mit einem Bein aus und kickte ihn zurück auf das Eis. Jaulend landete der Wolf auf dem Rücken, erhob sich von seinen Füßen, schüttelte sich und knurrte sie erneut an.
"Was denn, hast du noch nicht genug, Ysengrimus?", fragte Marguerite spöttisch. [1]
Der Wolf erhob sich wieder auf seine Füße, stellte sich mit gesträubtem Nacken hin und knurrte laut und bedrohlich.
"Na, dann komm her!", forderte sie ihn auf. "Du kannst gerne noch mehr Tritte von mir bekommen!"
"Marguerite!", klang plötzlich hinter ihr eine ihr wohlbekannte Stimme. Doch sie hatte keine Zeit, sich Caius zu widmen, da gerade der Wolf mit einem großen Satz erneut auf sie zusprang. Ein weiterer Tritt beförderte das Tier gegen einen Baum, wo es reglos liegen blieb. Offenbar war es schwer verletzt, denn es blutete. Aber was war das? Mit einem Mal verwandelte sich der Wolf in einen Menschen...
"Ha! Genau wie ich dachte!", sagte Caius und trat neben sie. "Herzlichen Glückwunsch, Schwesterchen, du hast gerade eines der Kinder des Mondes [2] zur Strecke gebracht."
"Kinder des Mondes?", fragte sie erstaunt und sah ihn an.
"Werwölfe", erklärte er und zeigte auf den bewusstlosen Mann am Baum. "Hinter dem da war ich gerade her. - Aber sag mal, was machst du hier eigentlich?"
Ohne auf die letzte Frage einzugehen, hakte sie nach: "Werwölfe? Du meinst, es handelt sich um Menschen, die sich in Wölfe verwandeln?"
"Ja, immer bei Vollmond, aber..."
Marguerite stürzte zu dem verletzten Menschen, der immer noch lebte, und biss ihn, um ihren Blutdurst zu stillen. Caius schaute überrascht und fassungslos zu, mit welcher Selbstverständlichkeit sie das tat. Im Inneren gratulierte er Aro und Marcus, wie gut sie Marguerite offensichtlich ihre neue Natur nahe gebracht und vermutlich auch mit ihr trainiert hatten.
Endlich ließ seine Schwägerin von dem Werwolf ab und wandte sich wieder ihm zu. Sie wischte sich mit einem Finger über beide Mundwinkel und fragte: "Ist noch etwas zu sehen?"
"Nein, keine Spur", gab Caius zurück, setzte sich auf den Baumstamm und lud sie mit einer Handgeste dazu ein, neben ihm Platz zu nehmen. Nachdem sie dieser Aufforderung gefolgt war, erkundigte er sich: "Warum seid ihr hergekommen? Ich glaube kaum, dass du schon so weit bist, um dich in der Nähe von Menschen zu beherrschen. Und wo sind eigentlich Aro und Marcus?"
"Vermutlich in Italien", erklärte Marguerite. "Ich bin allein hier!"
"Allein?", echote er überrascht. "Wie ist das möglich? Ich nahm an, Aro lässt dich rund um die Uhr bewachen, damit dir nichts geschieht."
"Es ist mir gelungen, eine Möglichkeit zu finden, den Palazzo zu verlassen, ohne dass er es bemerkt", antwortete sie. "Ich wollte unbedingt mit dir sprechen."
Caius' Erstaunen wurde immer größer.
"Warum, Marguerite? Du hast keinen Grund, dir Sorgen um Rochefort oder Louise zu machen. Ich achte gut auf alles und beschütze deine Freundin."
"Tust du das wirklich?", fragte sie misstrauisch. "Immerhin bist du ein Vampir und potenziell gefährlich."
"Nein, bin ich nicht", widersprach er und schüttelte den Kopf. "Glaub nicht alles, was Aro und Marcus dir über mich erzählen. Ich bin sehr gut in der Lage, meinen Blutdurst unter Kontrolle zu halten."
"Was denn? Tatsächlich?"
"Aber ja! Hast du etwa angenommen, ich käme auf die Idee, deine Freundin zu beißen?"
"Genau so etwas habe ich befürchtet."
"Das würde ich niemals tun! Schließlich habe ich versprochen, gut auf sie zu achten."
"Kann man dem Versprechen eines Vampirs vertrauen, Caius?"
"Was bringt dich zu der Annahme, wir seien nicht vertrauenswürdig, Schwesterchen?"
"Immerhin habt ihr uns alle getäuscht", erklärte Marguerite. "Aro wollte mich von Anfang an in ein Wesen seiner Art verwandeln, dabei habe ich ihm völlig vertraut."
Caius schluckte. In Volterra musste irgendetwas vorgefallen sein, was die Beziehung zwischen ihr und seinem Meister in Frage stellte. Er spürte, dass sie unglücklich und verwirrt war. Aber sie könnte sehr großen Ärger mit Aro bekommen, wenn dieser bemerkte, dass sie einfach verschwunden war. Und auch, wenn es ihm gegen den Strich ging, musste er ihr gut zureden, zurückzukehren. Es war viel zu gefährlich für eine Neugeborene, sich ohne einen Meister so nahe einer menschlichen Behausung aufzuhalten. Er bezweifelte sehr, dass sie schon in der Lage war, sich selbst zu beherrschen.
"Du kannst Aro auch vollkommen vertrauen", sagte Caius in ruhigem Ton zu ihr. "Er liebt dich wirklich und würde alles tun, damit du glücklich bist. Natürlich wollte er dich verwandeln, weil er immer mit dir zusammensein will. Auf diese Weise bist du unsterblich und bleibst für immer jung. Vermutlich nahm er an, dass du nichts dagegen hättest. Die meisten Menschen hätten nichts dagegen."
"Und was ist mit diesen Lügen? Ihr schient sehr kultivierte Männer von Stand zu sein!"
"Wir sind äußerst kultiviert, Schwesterchen, beruhige dich! Aber die Menschen würden uns nicht in ihrer Nähe dulden, wenn sie wüssten, WAS wir sind. Vermutlich hättest du dich auch vor uns gefürchtet, oder?"
"Ich glaube schon... ihr tötet Menschen, indem ihr deren Blut trinkt."
"Das ist nun einmal unsere Natur, Marguerite. Sie drängt uns dazu, wie du eben selbst erlebt hast, als du den Werwolf aussaugtest. War bestimmt nicht das erste Mal, dass du das tatest. Jedenfalls sah es nicht so aus."
"Ja, das stimmt! Aber ich finde es schrecklich, das zu tun", gab sie zu und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Caius ließ sie sich ausweinen, bis sie sich beruhigt hatte. Endlich wandte sie sich wieder ihm zu und fragte: "Du sagtest, dass du deinen Blutdurst kontrollieren kannst. Wie machst du das?"
"Es ist eine Übungssache", erklärte der blonde Vampir. "Du wirst es auch können, wenn du über das erste Jahr hinweg bist. Am Anfang ist es immer am Schlimmsten."
"Und wie... wie bist du verwandelt worden? Wer hat dir das angetan, Caius?"
"Aro hat mich verwandelt und ich bin ihm dankbar dafür."
"Dankbar?"
"Dein Mann hat mich aus einem elenden Leben gerettet und mich als seinen Bruder angenommen. Dank ihm kann niemand mehr mich zum Spielball seiner Launen oder Lüste machen. Stattdessen bin nun ich es, der Macht hat. Das ist ein sehr gutes Gefühl. Findest du nicht auch?"
"Ich weiß nicht! Habe ich denn Macht?!"
"Na hör mal! Was ist mit dem Werwolf, den du gerade mit Leichtigkeit erledigt hast? Normalerweise hat ein Mensch keine Chance gegen solch ein Wesen - und diese Viecher haben kein Mitleid mit ihren Opfern. Bei Vampiren findet man das hingegen schon, ebenso wie Gefühle von Liebe und Zuneigung. Aro liebt dich wirklich, Marguerite, glaube mir! Sonst wärst du schon lange tot, anstatt als Unsterbliche hier neben mir zu sitzen."
"Aber ich finde es schrecklich, Menschen zu töten und Blut zu saugen!"
"Was ist in Volterra vorgefallen? Du bist doch nicht ohne Grund einfach fortgelaufen."
"Ich wollte Marcus und Aro nicht glauben, dass ich ein Vampir bin - und dann hat Aro mich zu meinem Onkel in ein Verließ geführt."
Caius zog überrascht die Brauen hoch.
"Der Baron war auch in Volterra?"
"Ja, und Aro bezeichnete ihn als Geschenk für mich... nun ja, ich habe schließlich meinen Durst an ihm gestillt, obwohl ich es nicht wollte - dieser Mann ekelte mich eigentlich an!"
"Aber sein Blut hat dich nicht angeekelt", stellte Caius nüchtern fest. "Allerdings wundere ich mich darüber, dass Aro deinen Onkel mit nach Italien nahm. War er nicht längst aus Paris abgereist, um seine Frau zu beerdigen?"
"Ja, aber er kehrte zurück... heimlich", erwiderte Marguerite und erzählte ihm dann, was vorgefallen war. Caius war entsetzt und angewidert, während ihn gleichzeitig tiefes Mitgefühl mit seiner neuen Schwester erfasste, die immer wieder zwischendurch weinte. Oh ja, er konnte Aro gut verstehen, dass er seiner Frau die Genugtuung verschafft hatte, sich zu rächen. Doch offensichtlich war sie immer noch viel zu durcheinander, um das richtig würdigen zu können. Das musste der Grund dafür sein, warum sie heimlich aus Volterra geflüchtet war.
"Mach dir keine Vorwürfe, Marguerite", sagte er, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte. "Lebrunne bekam das, was er verdiente. Aro meinte es nur gut, als er ihn dir überließ. Verstehst du das denn nicht?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Bist du deswegen weggelaufen, Schwesterchen?"
"Nein, eigentlich nicht", gab sie zu und schaute ihn an. "Eigentlich bin ich hier, um dich zu bitten, Louise und all die anderen Menschen in Rochefort in Ruhe zu lassen."
Caius lächelte und schüttelte den Kopf. Dann ergriff er ihre Hand und küsste sie.
"Äußerst liebenswert von dir, teure Schwester", meinte er. "Du hängst sehr an deiner Freundin, nicht wahr? Und ich kann es gut verstehen. Louise ist eine sehr loyale, kluge Frau und ich wünschte, sie würde sich nicht an solch einen Langweiler wie diesen Andrè wegwerfen. Aber offenbar lieben sich die beiden und ich werde ihrem Glück nicht im Wege stehen."
"Wirklich nicht? Versprichst du es?"
"Ich habe schon lange versprochen, Louise zu ihrem Glück zu verhelfen, erinnerst du dich? Und ich breche meine Versprechen nie! - Du hättest dir also den weiten Weg von Volterra hierher sparen können. Ich hatte nie vor, irgendeinem Menschen in Rochefort etwas anzutun - schon gar nicht Louise, die ich über alles schätze."
Marguerite musterte ihn eindringlich.
"Du scheinst es wirklich aufrichtig zu meinen", murmelte sie nach einer Weile nachdenklich und wirkte erleichtert.
"Ja, das tue ich! Warum sollte ich dich anlügen? Du bist die Frau meines Meisters, meine neue Schwester und...", er wies mit seinem Kinn in Richtung des toten Mannes am Baum. "...eine echte Volturi. Wirklich beeindruckend für eine Neugeborene, dieses Viech mit zwei gezielten Tritten zu erledigen."
"Was tun wir jetzt mit ihm?", erkundigte sie sich. "Wir können ihn doch nicht dort liegen lassen!"
"Darum kümmere ich mich schon", erwiderte Caius. "Aber du solltest schleunigst zu Aro zurückkehren. Wenn er bemerkt, das du weg bist, gerät er aus Angst um dich in Panik."
"Glaubst du wirklich?!"
"Ja, geh zurück! Du liebst ihn doch immer noch, oder?"
"Das ist wahr! Ich liebe ihn, obwohl er ein Monster ist... so wie ich..."
"Wir sind keine Monster, wir sind nur anders", korrigierte Caius sie. "Bitte, versuche doch, deine Natur zu akzeptieren und sei ein bisschen nachsichtiger mit dir und mit uns. Bitte! Viele Menschen sind nicht besser als wir, sondern manchmal sogar schlimmer. Denk mal über diese Worte nach und beobachte, Schwesterchen. Das wird dir helfen, glaube mir."
"Also schön, dann laufe ich mal zurück. Schließlich habe ich das erreicht, weshalb ich gekommen bin, und ich vertraue dir seltsamerweise."
"Es wäre auch besser, wenn Aro niemals etwas von deinem Ausflug erfährt", ermahnte Caius sie. "Lass es uns unser Geheimnis sein!"
"Einverstanden."
"Ach, da wäre noch etwas, worum ich dich bitten möchte, Marguerite."
"Ja?"
"Bitte, schreib doch bald einen Brief an Louise. Sie macht sich große Sorgen um dich."
"Ich werde es tun, gleich wenn ich zu Hause bin...", sie stockte, nachdem sie die Worte >zu Hause< ausgesprochen und dabei an ihr Gemach im Palazzo der Volturi gedacht hatte. Außerdem begann sie, sich nach Aro zu sehnen. Es fühlte sich beinah so an wie vor ihrer Verwandlung.
"Pass gut auf, dass dich kein Mensch sieht", meinte Caius.
"Das ist doch selbstverständlich", gab sie zurück, umarmte ihn und machte sich dann auf den Weg zurück nach Volterra...
*
Mit einem leisen Gefühl von Bedauern schaute Caius ihr nach, bis sie seinen Blicken entschwunden war. Dann seufzte er tief auf. Natürlich wusste er, dass sie beide keine Geheimnisse vor Aro haben konnten. Spätestens wenn jener Marguerite wieder berührte, wusste er, dass sie heimlich den Palazzo verlassen hatte. Eigentlich bewundernswert - und er hoffte, sein Meister würde dies auch erkennen. Ebenso hoffte Caius, dass Aro den Vorschlag der Geheimhaltung verstand: Es wäre besser, wenn er seine Frau nicht auf diesen nächtlichen Ausflug ansprach. Ihre Beziehung hing an einem seidenen Faden und es lag jetzt an Aro, ob er Marguerites Vertrauen zurückgewinnen konnte.
Welche eine Ironie des Schicksals! Am Tage der Hochzeit noch hatte er sich gewünscht, dass sie seinen Meister am Altar stehen ließ - und jetzt schickte er sie zu ihm zurück, um ihre Ehe zu retten! Aber er tat dies nur um Marguerites Willen. Sie liebte Aro noch und deshalb bestand eine reelle Chance, die Beziehung der beiden zu retten. Caius war sich auch sicher, dass sein Meister alles dafür tun würde, da er Marguerite ebenso liebte.
Oh, das Schicksal trieb einen üblen Scherz mit ihm! Warum wurde ausgerechnet er damit konfrontiert, die Frau, die er immer noch liebte, zu ihrem Mann zurückzuschicken?!
Ärgerlich erhob Caius sich von dem Baumstamm und warf einen zornigen Blick auf den toten Wolfsmann. Es war weit nach Mitternacht gewesen, als Louise endlich müde genug war, um zu Bett zu gehen. Doch er musste sich noch etwa eine Stunde lang gedulden, ehe im Schloss alle schliefen, bevor er sich auf die Jagd machen konnte. Im weiteren Umkreis von Rochefort gab es kleinere Städte, in denen die meisten Einwohner bereits schliefen. Dennoch konnte er bald diesen Menschen ausmachen, der heimlich sein Haus verließ, um allein in den Wald zu gehen. Caius war dies seltsam vorgekommen, aber seine Neugier trieb ihn dazu, dem Mann zu folgen. Jener ging eine Weile, ehe er zu einer vom Mondlicht erhellten Lichtung kam. Rasch hatte sich der Kerl seiner Kleidung entledigt, streckte seinen Körper dem Mondlicht entgegen und verwandelte sich augenblicklich in einen Wolf.
Offenbar wusste dieser Mann mit seiner Verwandlung umzugehen, denn seine Handlungen wirkten wohldurchdacht und nach einem bestimmten Ritual festgelegt. Er beherrschte also seine Verwandlung und wusste, dass er damit anderen Menschen gefährlich werden konnte, was ihn jedoch nicht zu kümmern schien.
Der Werwolf jaulte nach seiner Verwandlung den Mond an, ehe er in den Wald lief. Caius folgte ihm, da es galt, einen der natürlichen Feinde von Vampiren so rasch wie möglich unschädlich zu machen.
Der Wolfsmensch war jedoch sehr schnell und konnte ihn für eine kurze Zeit abhängen. Wirklich ein Pech für diesen, dann ausgerechnet auf eine neugeborene Vampirin zu treffen, die ihm zum Verhängnis wurde. Caius konnte nur noch erstaunt beobachten, mit welcher Zielsicherheit Marguerite den Werwolf erledigte, und bewunderte sie dafür. Wenn das erste Jahr vorbei war und sie ihren Blutdurst beherrschte, wäre sie eine echte Geheimwaffe. Hoffentlich erkannte auch Aro dies.
Nun jedoch galt es, sich des toten Kerls zu entledigen. Caius bezweifelte zwar, dass man ihn schnell entdeckte, aber sicher war sicher. Sein Blick glitt von dem Werwolf auf den zugefrorenen See. Er grinste, trat ans Ufer und schlug mit der Faust ein paar Male kräftig gegen die Eisdecke, bis sie zerbarst und ein großes Loch freigab. Rasch holte er den toten Mann und warf ihn dort hinein. Es war so kalt, dass der See in wenigen Minuten wieder diese Stelle bedeckte. Auf diese Weise würde man den Wermenschen vermutlich erst im Frühjahr entdecken und glauben, er sei im Winter in den See gefallen und ertrunken...
Caius schaute gedankenverloren zu, wie der See wieder gefror und die dichte Eisschicht den Wolfsmann allmählich unsichtbar machte. Dabei fragte er sich, ob es in dieser Gegend vielleicht noch mehr seinesgleichen gab. Nach den Legenden über diese spezielle Spezies vermehrten sie sich, wenn eines ihrer Opfer ihren Angriff überlebte - damit wurde der Fluch ohne jede Absicht weitergegeben. Grund genug für ihn, hierzubleiben. Er würde einige der Wachen beauftragen, sich unauffällig umzuhören oder in der Nacht umzuschauen. Niemals würde er dulden, dass Louise und die anderen Menschen, die sich auf Rochefort befanden, durch Werwölfe in Gefahr gerieten. Schließlich hatte er Marguerite sein Wort gegeben...
*
Marguerite war genauso schnell wieder in ihr Zimmer im Palazzo zurückgekehrt wie sie von dort entkommen war und es hatte den Anschein, als ob niemand ihre Abwesenheit bemerkt hätte. Sie schloss das Fenster und ging rasch in den begehbaren Kleiderschrank, um sich des Mantels und der Stiefel zu entledigen. Auch das Kleid zog sie aus und ließ es auf einem in dem Schrank befindlichen Stuhl liegen, bevor sie in ihr Gemach zurückkehrte, zum Toilettentisch ging, auf dem sich eine Karaffe mit Wasser und eine Schüssel sowie Seife befanden, um sich zu waschen.
Trotz der Begegnung mit einem echten Werwolf, den sie bezwungen hatte, fühlte sie sich gut, was vermutlich daran lag, dass sie sich vom Blut des Wolfsmannes ernährt hatte. Sie empfand dabei nicht den Hauch eines schlechten Gewissens, denn solche Wesen waren nicht Herren ihrer Selbst und töteten instinktiv jedes Lebewesen, das ihnen über den Weg lief. Jetzt stellte der Wolfsmann jedoch keine Gefahr mehr für die nähere Umgebung in Rochefort dar. Mon Dieu, kaum war sie selbst zu einem Wesen geworden, an das sie früher nicht geglaubt hatte, schon wurde sie mit einem anderen Monster konfrontiert. Wer wusste, welche Begegnung ihr als nächstes bevorstand. Trotz allem fand sie es interessant und war neugierig darauf.
Während sie sich wusch, ließ sie sich das Gespräch mit Caius nochmals durch den Kopf gehen. Dabei fiel ihr jetzt erst auf, dass er behauptet hatte, hinter dem Werwolf her gewesen zu sein. Demnach musste er versucht haben, die Leute in Rochefort vor diesem Wesen zu beschützen. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er tatsächlich vertrauenswürdig war.
Es war wirklich ein großes Glück, dass sie Caius dadurch im Wald begegnet war, was ihr die Weiterreise auf ihren Familienstammsitz ersparte. Das Gespräch mit ihm hatte sie beruhigt, denn seltsamerweise glaubte sie ihm. Und er hatte gesagt, dass Aro sie tatsächlich liebte... möglicherweise hatte ihr Angetrauter ihr doch nichts vorgemacht und seine Liebesschwüre waren ehrlich gemeint... und sie liebte ihn doch auch noch...
>Vermutlich habe ich Aro mit meinem Misstrauen Unrecht getan< , dachte sie und spürte, wie sie sich nach ihm zu sehnen begann und sich bei ihm entschuldigen wollte. Allerdings war es jetzt tiefe Nacht und sie wollte ihn nicht stören. Vielleicht wäre es auch besser, wenn sie sich ein wenig ausruhte.
Nachdem Marguerite sich gewaschen hatte, schloss sie ihre Zimmertür wieder auf, denn jetzt hatte sie nichts mehr dagegen, wenn ihr Mann zu ihr kommen würde. Dann legte sie sich mit ihrer Unterwäsche in ihr Bett zurück und zog die Decke über ihren Leib, in Gedanken bei Aro verweilend. Sie wurde allmählich müde und schlummerte schließlich ein...
***
Marguerite schlief lange und Aro, der sie kurz in ihrem Zimmer aufgesucht hatte, ließ sie schlafen. Sein Liebling hatte gestern zum ersten Mal bewusst getötet, was sie offensichtlich sehr erschreckt hatte. Sie würde ihre Zeit brauchen, um ihre neue Natur zu akzeptieren, das war bei manchen Neugeborenen immer so, während es andere gab, die damit von Anfang an gut zurechtkamen. Bedachte man, wie ungeplant Marguerites Verwandlung vonstatten ging, war ihr Erschrecken kaum verwunderlich. Eigentlich hatte er vorher mit ihr sprechen und sie darauf vorbereiten wollen, aber wegen Lebrunnes unverschämtem Übergriff war es bedauerlicherweise anders gekommen.
Aro küsste seine schlafende Frau auf die Stirn, wunderte sich kurz darüber, warum sie ihr Nachthemd nicht mehr trug, und deckte behutsam ihren halb entblößten Leib zu, bevor er den Raum verließ.
Er zog sich in das Wohnzimmer zurück, setzte sich auf ein Sofa am Kamin und las ein Buch.
Im Laufe des Vormittags erschien Marguerite bei ihm, noch im Morgenmantel und mit offenen Haaren. Sie setzte sich zu ihm, umarmte und küsste ihn. Er spürte wieder ihre Liebe zu ihm, was ihn sehr erfreute.
"Tut mir leid, dass ich dir misstraut habe, Liebster", flüsterte sie leise in sein Ohr.
"Schon gut, es war alles ein bisschen viel für dich, mein Engel", gab er leise zurück und umarmte sie. Dann sah er es plötzlich... sie zog sich an, sie sprang aus dem Fenster ihres Gemachs und lief davon... mitten in der Nacht... und dann sah er, wie sie mit einem Wolf kämpfte... das Gespräch mit Caius... Cielo! Sie war verwirrt und misstrauisch... armer Liebling... aber sie liebte ihn immer noch, sie sagte es... sie war traurig, weil sie nicht wusste, ob seine Liebe zu ihr vorgespielt war... und Caius versicherte ihr, dass er sie wirklich liebte... dann dieser merkwürdige Hinweis, dass Marguerite ihr Fortlaufen vor ihm geheimhalten sollte... war der Junge verrückt geworden? Er wusste doch, dass dies unmöglich war...
Aro schaute Marguerite liebevoll an und strich ihr über das Gesicht. Sie weinte ein bisschen, er küsste ihre Tränen fort.
"Es ist alles gut, mein Liebling", versicherte er ihr. Jetzt verstand er, was Caius mit diesem Vorschlag, ihr Treffen geheimzuhalten, gemeint hatte. Er würde Marguerite niemals darauf ansprechen. Der Schock und die Verwirrung sowie die Angst um Louise hatten sie dazu getrieben, heimlich ihr Gemach zu verlassen und nach Frankreich zu laufen. Wie gut, dass sie darauf geachtet hatte, von keinem Menschen bemerkt zu werden. Der Wolfsmann zählte nicht, er war ein natürlicher Feind und seine Frau hatte ihn schnell erledigt. Sie war einfach bewundernswert, auch, dass sie die Gelegenheit genutzt hatte, sich von dem Werwolf zu ernähren und ihn damit endgültig zu beseitigen. Oh ja, sie würde sich ganz sicher daran gewöhnen, ein Vampir zu sein. Sie war eine echte Volturi geworden!
"Du machst das alles sehr gut, mein Schatz", sagte er zu ihr und küsste sie auf die Stirn. "Ich liebe dich über alles, Marguerite."
"Ach, Aro", schluchzte sie und fiel ihm wieder um den Hals. "Aro, all das ist so verwirrend. Wird es irgendwann besser werden?"
"Aber ja, natürlich. Wie alles im Leben braucht es seine Zeit, sich an etwas Neues zu gewöhnen", antwortete er lächelnd.
"Werde ich Louise jemals wiedersehen?", fragte sie zweifelnd.
"Ganz bestimmt, wenn du es wünscht", erwiderte er und nickte. "Innerhalb eines Jahres, da bin ich sicher, wirst du deinen Blutdurst beherrschen können. Doch bis dahin solltest du immer in meiner Nähe oder in derjenigen von Marcus bleiben."
"Aro, ich habe dir doch erzählt, dass Madame de Colignon mich zu ihrer Haupterbin gemacht hat", begann sie und sah ihn bittend an.
"Ja, und? Hast du etwas dagegen?"
"Nein, das nicht, aber... jemand muss diese Angelegenheit mit Monsieur Cayot erledigen. Ich bin sicher, er hat die nötigen Papier von Madame de Colignon. Man sollte damit nicht zu lange warten, sonst könnte womöglich ihre Familie Ärger machen."
"Du willst also, dass ich es für dich erledige, Liebes?"
"Ja, du bist doch mein Ehemann und Monsieur Cayot kennt dich. Da ich nicht persönlich bei ihm erscheinen kann, wäre ich dir sehr dankbar, wenn du dich darum kümmern würdest."
"In Ordnung, Marguerite, dann überleg dir, was du mit dem Erbe anfangen willst."
"Würdest du auch einen Brief an Louise mitnehmen und ihr diesen persönlichen übergeben?"
"Selbstverständlich, wenn du es wünscht."
Sie umarmte ihn fest und fühlte sich in seinen Armen wieder wohl. Ja, das war der Mann, den sie liebte und den sie geheiratet hatte. Er war keineswegs ein Monster, sondern rücksichtvoll und zärtlich. Sie liebte ihn so sehr und würde sich... nun ja, sie würde es lernen, mit ihrem neuen Zustand zurechtzukommen. Sie könnte ja an ihrer Selbstbeherrschung arbeiten so wie sie es auch gelernt hatte, sich bei anderen Sachen zurückzunehmen. Je eher sie ihren Blutdurst unter Kontrolle bekam, desto besser.
"Du wirst alles erreichen, was du dir vornimmst, mein Schatz", sagte Aro und lächelte ihr aufmunternd an. "Du bist eine sehr starke Persönlichkeit und ich bin stolz auf dich."
Er spürte, wie sehr diese Worte dazu beitrugen, sie zu beruhigen und ihre Bindung an ihn zu festigen.
Sehr zufrieden damit, dass seine Frau allmählich begann, ihre Natur zu akzeptieren, beschloss er dennoch, alle möglichen Fluchtwege mit Wachposten zu besetzen. Niemals mehr sollte es ihr möglich sein, ohne sein Wissen diesen Palazzo zu verlassen...
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~ ENDE von Teil I ~
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[1] Ysengrimus = dieser Fabelname für den Wolf entstammt einem Tierepos aus dem 12. Jahrhundert. Daraus ist vermutlich der spätere Fabelname "Isegrimm" entstanden. Siehe hierzu auch: de.wikipedia.org/wiki/Ysengrimus
[2] Kinder des Mondes = "Werwölfe" laut den Romanen von S. Meyer (Achtung, nicht zu verwechseln mit den Gestaltwandlern der Quileute!). Hab die Bezeichnung einfach nach S. M. übernommen! Nach ihrer Definition handelt es sich dabei um die natürlichen Feinde der Vampire.
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~~~~~~ to be continue ~~~~~
Teil II folgt in Kürze
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Kapitel: | 60 | |
Sätze: | 3.145 | |
Wörter: | 51.584 | |
Zeichen: | 306.919 |
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