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Algoma und der Drache

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24.02.19 17:28
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Niemand konnte ihr helfen. Sie lief um ihr Leben. Das wilde Tier hatte längst ihre Fährte aufgenommen. Hektisch sah sie sich auf der sonnendurchfluteten Lichtung um. Mieden diese Wesen nicht das Sonnenlicht? Ein tiefes Schnarren aus der Ferne veranlasste die junge Frau, weiter zu hetzen.

Sie stolperte auf die Lichtung und sah sich um. Stille, nur das Rauschen der Blätter des dichten Laubwaldes.

Ihr gesamtes Dorf war zerstört worden, nichts war übrig. Es waren die Drachen gewesen, die dunklen Gesellen der Nacht. Mit ihrem Feuer hatten sie ihre Hütten niedergebrannt. Algoma hatte sich aufgemacht, Hilfe zu holen, aber das Untier war hinter ihr her. Es kam der Erzählung nach direkt aus der Hölle. 

Algoma kletterte unter einen dicken Ast eines umgestürzten Baumes. Sie kauerte sich darunter und ließ ihren Blick über die Lichtung schweifen. Nichts. Sie atmete durch.

Algoma war die Tochter des Stammesältesten eines kleinen Küstenvolkes. 

Als die Drachen letzte Nacht angriffen, brach pures Chaos aus. Die meisten konnten in die nahen Wälder fliehen, genau wie sie. Nur mit dem Unterschied, dass sie alleine und ohne Waffen war. Sie hatte ihre Leute aus den Augen verloren. Und jetzt war sie auf sich selbst gestellt. 

Algoma schaute sorgenvoll auf die untergehende Sonne. Wenn die Finsternis herein brach, würde sie nicht überleben. Nicht alleine. Selbst für Kobolde stellte sie momentan eine leichte Beute dar. Sie verschleppten gerne Frauen und ... Algoma verwarf ihre Gedanken. Unvermittelt schob sich über die Sonne ein dunkler Schatten. Ein Drache? Um diese Zeit? Jetzt hatte ihr letztes Stündlein geschlagen. Panisch sah sie sich um. Der schützende Wald war zu weit entfernt. In ihrem Versteck bleiben? Aber Drachen hatten ausgezeichnete Nasen. Sie konnten das Leben riechen. Und tot war sie ja nicht, noch nicht. Algoma konnte den Flügelschlag des Tieres hören. Es kreiste wie ein Aasgeier über den Baumwipfeln an die zweihundert Meter vor ihr. Plötzlich ertönte ein lautes schnarrendes Brüllen, das die gesamte Lichtung erschütterte. Da war es. Das Tier. Das Ungetüm. Riesengroß. Insektengleich. Es schälte sich aus dem Wald, stand im Schatten der Baumriesen auf der Lichtung direkt vor Algoma. Es hatte acht Beine, einen langen schmalen Insektenkörper, Fühler und gefährliche Beißwerkzeuge. Angeblich konnte es selbst einem Riesenpuma den Kopf mit Leichtigkeit abbeißen. Was würde es mit ihr machen? Viele ihrer Ahnen waren bereits Opfer dieser Untiere geworden. Man hat nichts mehr von ihnen gefunden, außer Knochen. Chaira erschauderte. Würden sich diese beiden Ungeheuer streiten, wer den Leckerbissen bekommen würde? Algoma presste die Lippen zusammen und versuchte still zu bleiben. Wäre sie in der Nähe von Wasser, hätte sie eine winzige Chance zu überleben gehabt. Ungeheuer scheuten das Lebenselixier. 

Algoma traute ihren Augen nicht. Was geschah hier? Der Drache, stieß eine Feuerwalze hinunter auf das Insektentier. So etwas hatte die junge Frau noch nie gesehen, auch war ihr von den Ahnen nichts dergleichen überliefert worden. Ein Höllentier bekämpfte ein anderes? Wieso? Drachen fraßen mit Vorliebe Säugetiere, manchmal auch Menschen, aber niemals Insekten mit Panzern. 

Algoma hielt sich die Ohren zu, kroch tiefer unter den Ast. Das insektengleiche Tier gab abscheuliche kratzende Geräusche von sich, bäumte sich auf, versuchte, mit seinen Fangwerkzeugen den Drachen zu fassen. Dieser jedoch wich geschickt aus. Immer wieder spie er Feuer aus seinem riesigen zahnbewehrten Maul. Seine smaragdgrüne Haut schillerte im Licht der untergehenden Sonne. 

Nach Einsetzen der Abenddämmerung war das Spektakel vorüber. Der Drache landete auf der Lichtung und legte die mächtigen Flügel an. 

„Komm raus!“, rief er mit donnernder Stimme.

Wie? Er konnte sprechen? Algoma erstarrte. Drachen konnten nicht reden, das wusste jedes Kind! „Komm Algoma!“, rief er erneut. „Ich hatte heute noch nichts zu fressen und du wärst ein feiner Leckerbissen für mich. Ich weiß, dass du da bist.“

Algoma wollte fliehen, aber sie wusste nicht wohin. Sie schrie, aber es kam kein Geräusch aus ihrem Mund. Der Drache senkte seinen Kopf und –.

 

„Wach auf!“, ertönte eine weibliche Stimme in Algomas Bewusstsein. „Wir haben viel zu tun. Die anderen warten schon.“

Algoma setzte sich schlaftrunken auf. Sie befand sich in der Hütte ihrer Eltern. Ihre Mutter sah sie verärgert an. „Die Ernte kann nicht warten! Du weißt, dass wir dabei zusammenhelfen müssen, wenn wir es vor dem schlechten Wetter schaffen wollen.“

„Ich weiß“, stammelte Algoma und schwang die Beine vom Lager. „Ich hatte einen schlechten Traum von den Höllentieren, Mama.“

„Ich werde deiner Großmutter sagen, dass sie dir nicht mehr diese Geschichten erzählen soll. Von wegen Drachen.“ Die ältere Frau schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Weißt du, sie haben unser Dorf verwüstet und am Ende meines Traumes wollte mich einer fressen. Er konnte sprechen.“

„So ein Unsinn“, lästerte ihre Mutter. „Es gibt keine Drachen, keine Riesenkatzen, keine Waldmonster, keine Höllentiere.“

„Ja, ich weiß“, seufzte Algoma, nahm sich ein Stück einer aufgeschnittenen Mango und biss ab.

Als in der folgenden Nacht ein schwerer Feuersturm über das Dorf hereinbrach, war sich Algoma nicht mehr sicher, ob es nicht doch Drachen gab ...

 

 

Malila stand am Fluss und sah auf das sich kräuselnde Wasser. Heute hatte sie keinen Fisch gefangen. Wovon sollten ihre Kinder leben? Sie ließ sich auf dem Felsen nieder, den alten Holzspeer legte sie neben sich ins Gras. Über eine Stunde hatte sie im Fluss gestanden und hatte versucht, ein Mittagessen für ihre Familie aufzutreiben. Gebratener Lachs – ein wunderbares Essen. Malilas Magen knurrte. 

„Mama!“, rief ein kleines Mädchen und stapfte auf sie zu. 

„Niabi! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst bei deiner Schwester beim Feuer bleiben?“, rief Malila ihrer Tochter zu.

„Mama!“, rief die Kleine noch mal und winkte ihr. Hinter ihr tauchte eine junge Frau zwischen den Büschen auf. Algoma, die Tochter des Stammesältesten. 

Niabi hatte inzwischen ihre Mutter erreicht und umarmte sie. 

„Weißt du nicht, was meine Großmutter gesagt hat?“, fragte Algoma Malila vorwurfsvoll. „Niemand vom Volk darf alleine auf die Jagd gehen. Es ist zu gefährlich. Die Natur ist nicht mehr unser Freund.“

Malila schüttelte ärgerlich den Kopf.

Seitdem der Feuersturm über das Dorf gezogen war und die Einwohner von der Küste in den Wald fliehen mussten, war es wichtig, niemals alleine unterwegs zu sein. Im Wald lauerten Gefahren, wurde gesagt. 

Algoma wurde seit einiger Zeit von schlimmen Albträumen geplagt. Feuerspeiende Drachen und Rieseninsekten tummelten sich darin. Algomas Großmutter glaubte als Einzige ihrer Tochter und warnte eindringlich, dass der Feuersturm nur der Anfang von großer Not sein würde. 

„Wir benötigen etwas zu essen“, erwiderte Malila kühl. „Außerdem hast du selbst behauptet, dass das Wasser die Drachen und Insektentiere abhält. Ich meine ja nur, falls etwas an deinen Träumen wahr sein sollte und du eine Seherin bist.“

Algoma sah der zweifachen Mutter für einen Moment in die dunklen Augen, dann sagte sie tonlos: „Komm bitte mit zurück.“

„Meine Kinder haben Hunger“, seufzte Malila.

„Wir haben Pilze und Beeren gesammelt. Es ist genug zu essen da.“

Ein Knacksen, ein Knarren vom naheliegenden Wald. 

Malila erschauderte, drückte Niabi an sich. Hatte Algoma recht gehabt? 

Ein braunes Etwas trottete auf sie zu. Ein Braunbär. Er schenkte der Gruppe keinerlei Beachtung. Er ging zum Wasser. 

„Kommt jetzt“, zischte Algoma sichtlich erleichtert und deutete Malila und ihrer Tochter mitzukommen.

„Warte“, murmelte Malila, erhob sich und ging auf den Braunbären zu.

„Bist du verrückt?“, flüsterte Algoma entsetzt.

„Nein. Die Bärin kennt mich“, erklärte Malila ruhig. Sachte näherte sie sich dem Tier. Zuvor hatte sie sich den Speer gegriffen und ihre Tochter zu Algoma geschickt. Malila war eine ausgezeichnete Jägerin und wusste stets, was sie tat. So wie ihr gesamtes Volk lebte sie im Einklang mit der Natur, mit den Tieren.

Niabi wusste das. Algoma im Grunde auch. Nur die Albträume hatten ihr Vertrauen in die Natur zutiefst erschüttert. 

Malila kletterte wenige Meter stromabwärts von der Bärin entfernt ins kniehohe Wasser und wartete. Das Tier blieb ruhig und starrte in die Fluten, holte dann plötzlich mit der Riesenpranke aus und versuchte, einen Fisch zu fangen. Malila wusste aus Erfahrung, dass die Bärin teilweise die Fische derart verletzte, dass sie für sie selbst leichte Beute waren und sie sie mit dem Speer aufspießen konnte. Nur Geduld musste sie haben. Abermals knurrte Malilas Magen. Sie hatte heute noch nichts gegessen, außer ein paar Beeren am Weg zum Fluss. 

Doch das Glück war tatsächlich auf Malilas Seite. Sie konnte sich über reiche Beute freuen. Fünf Lachse. Das war eine großartige Ausbeute, dank der Bärin.

„Danke dir“, meinte Malila im Gehen und strich dem Tier übers braune Fell. Die Bärin sah sie kurz mit ihren kleinen Augen an, dann fing sie an, den erbeuteten Fisch zu fressen. 

Malila kehrte zufrieden zu den Wartenden zurück. Die Fische trug sie in einem Weidenkorb am Rücken, den Speer in der Hand. Niabi nahm die freie Hand ihrer Mutter und hüpfte gutgelaunt neben ihr her. Algoma schritt voran.

„Das ist nicht der Weg, den ich gekommen bin“, murmelte Malila verwundert. „Er war dort drüben. Ich habe ihn mir markiert.“ Sie deutete in Richtung Sonnenaufgang.

„Wie bitte?“, fragte Algoma überrascht und sah sich um. Sie befanden sich mitten im Wald, auf unbekanntem Terrain. Wie hatte das geschehen können? War sie so in Gedanken gewesen? Algoma biss sich auf die Lippen.

„Wir müssen zurück zum Fluss“, bemerkte Malila eindringlich.

„Nein“, erklärte Algoma und setzte eilig den Weg durch den Wald fort. Sie wollte nicht zugeben, sich verlaufen zu haben. Malila hatte ohnehin keine hohe Meinung von ihr. Sie galt im Dorf als Träumerin, als Närrin.

„Jetzt warte doch!“, rief Malila ärgerlich und hetzte der jungen Frau nach. Ein kühler Wind fegte zwischen den hohen Baumstämmen hindurch, das dichte Laubdach ließ kaum Sonnenstrahlen durch. Malila fröstelte.

Doch plötzlich wurde der Wald lichter, das Gras höher. Kurze Zeit später stand Malila inmitten einer Lichtung. Sie war wunderschön. Blumen, Vogelgezwitscher, ein umgestürzter Baum in der Mitte, ein Eichkätzchen huschte vor den neugierigen Augen davon. Eine Pause würde allen gut tun.

Niabi hüpfte glücklich umher und summte ein Liedchen, Malila genoss die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und lauschte der Ruhe. Algoma jedoch stand versteinert mit blassem Gesicht neben ihr und starrte auf den umgestürzten Baum. 

„Was ist los, Algoma?“, fragte Malila verwundert. „Du wirkst so verängstigt.“

„Ich –“, stammelte die junge Frau zutiefst erschüttert. „Lass uns bitte von hier verschwinden! Du findest zurück zum Fluss, oder?“ Algomas Stimme bebte bei jedem Wort.

„Ja, wir müssen nur der Sonne folgen.“ Leise Panik schlich sich in Malilas Seele. Sie winkte ihre Tochter zu sich und nahm sie in den Arm. „Wir müssen weiter, Liebes“, flüsterte sie ihr ins Ohr. Niabi nickte.

Algoma wandte sich tonlos um, Malila ging mit klammen Gefühl gemeinsam mit ihrer Tochter voran, bahnte sich einen Weg durchs hohe Gras hinüber zu den Baumriesen. Ihre Finger umklammerten den Holzspeer.

„Schneller!“, rief Algoma nervös.

Malila, angesteckt von der Angst der jungen Frau, packte Niabi fester an der Hand und fing zu laufen an. Nach einigen Minuten tauchte vor ihnen der Fluss auf, das Wasser rauschte in ihren Ohren. Algoma ließ sich auf einen Stein sinken und verschnaufte, genauso wie Niabi. 

„Was ist los mit dir?“, keuchte Malila verärgert. 

„Die Lichtung“, schnaufte Algoma. „Ich habe sie im Traum gesehen.“

In diesem Augenblick erschien ein dunkler Schatten am Himmel und verdeckte für einen Moment die Sonne. Malila konnte nichts erkennen, es ging zu schnell, auch nicht ihre Tochter. Aber Algoma. 

„Der Drache“, stammelte sie. „Seht ihr ihn nicht?“

Malila schaute gen Himmel. Eine Wolke hatte die Sonne verdeckt. „Das ist eine Wolke, Algoma“, erklärte die sechsjährige Niabi altklug und deutete auf das dunkle Gebilde, das vorüber zog. 

„Da war ein Drache“, murmelte Algoma. Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Die Lichtung und der Drache.“

„Wie bitte?“, fragte Malila überrascht. „Dann fehlt ja nur noch das Insekt.“ Die letzten Worte klangen spöttisch. Es war klar, dass Malila der jungen Frau nicht glaubte.

Algoma fühlte sich furchtbar. Stumm starrte sie in den Fluss. Das Rauschen des Wassers hatte eine beruhigende Wirkung. 

„Mami, ich hab Hunger“, bemerkte Niabi plötzlich. „Können wir endlich nach Hause gehen?“

„Natürlich“, erwiderte Malila mit einem Blick auf Algoma, die noch immer regungslos am Fluss saß. „Es war nur ein Traum. Weißt du Algoma, die Lichtungen sehen doch alle irgendwie gleich aus.“

Algoma wollte etwas erwidern, schüttelte jedoch resignierend den Kopf und stand auf. Mit Malila zu sprechen hatte keinen Sinn. Sie würde ihr niemals glauben, genauso wie all die anderen.

Ja, es war nur ein Traum gewesen. Nur ein Traum. 

 

Am Abend berichtete Algoma ihrer Großmutter von den Vorfällen des vergangenen Tages. „Das war kein Traum, mein Kind. Du hast den Drachen gesehen. Sie kommen zurück“, murmelte die steinalte Frau mit bebender Stimme und strich ihrer Enkelin übers dichte dunkle Haar.

 

Algoma erwachte mit schrecklichen Kopfschmerzen. Sie hatte wieder von dem Drachen geträumt. Diesmal war er nicht alleine gekommen, sondern hat eine Horde von Ungeheuern mitgebracht und sie gewarnt. Algoma setzte sich benommen auf. Sie wollte sofort zu ihrer Großmutter gehen. Sie würde Rat wissen. 

Als sie die Hütte verließ, warteten bereits ihre Eltern auf sie, mit ernsten Gesichtern. Hinter ihnen war das ganze Dorf versammelt.

„Was ist passiert?“, stammelte Algoma in dunkler Vorahnung.

„Es geht um Großmutter“, sagte ihr Vater langsam. Er war ein stattlicher Mann, dessen Entscheidungen stets respektiert wurden. 

„Sie ist tot“, schluchzte Algomas Mutter und fiel ihrer Tochter um den Hals. 

„Was?“, krächzte Algoma ungläubig. Gestern hatte ihre Großmutter noch vollkommen vital ausgesehen.

„Sie ist eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht“, weinte Algomas Mutter, Zaltana. „Sie ist zu unseren Ahnen nach Hause gegangen.“

Algoma nickte kurz, dann hockte sie sich auf den Boden vor die Hütte und ließ ihrem Schmerz seinen Lauf. 

 

An diesem Tag schwiegen die Vögel, der Himmel war trüb und immer wieder regnete es. Das frisch aufgebaute Dorf lag still am Ufer des großen Flusses. Die Menschen waren tief betroffen vom Tod der steinalten Seherin. Sie machten zwar ihr Tagwerk, aber nur um sich abzulenken. So auch Malila. Utina, Algomas Großmutter, war schrullig und seltsam gewesen, aber ein wichtiges wertvolles weises Mitglied ihres Volkes. Arme Algoma, dachte sich Malila und betrachtete die junge Frau mit den geröteten verweinten Augen. Sie war blaß und zitterte, obwohl es warm war. Sollte sie zu ihr gehen? Malila überlegte kurz. Sie hatte Zeit, ihre beiden Töchter waren versorgt. 

„Hallo Algoma“, meinte Malila und setzte sich zu der jungen Frau. Obwohl sie erst zarte neunzehn war, wirkte sie um Jahre gealtert.

„Malila?“, Algoma sah sie kurz an. „Was willst du?“, fragte sie mit leiser Stimme. 

„Einfach nur fragen, ob ich dir helfen kann.“

„Trauern muss man alleine“, schniefte Algoma und verbarg ihr Gesicht in den Händen. 

„Darf ich dir trotzdem Gesellschaft leisten.“ Nach einer kurzen Stille sagte sie vorsichtig: „Du hast heute sicher noch nichts getrunken. Ich kann dir, wenn du willst, einen Sirup bringen.“

„Vielleicht“, erwiderte Algoma nach einer langen Pause. Sie wusste, dass Malila den besten Sirup im Dorf braute. Trotzdem mochte sie diese Frau nicht. Malila war selbstbewusst und stark, aber vor allen Dingen ein anerkanntes Mitglied des Volkes. Nicht so wie sie selbst, oder ihre Großmutter, die für viele hier eine Närrin war. Wieder liefen ihr die Tränen über die Wangen. 

Malila stand wortlos auf und ging zu ihrer Hütte.

 

„Willst du sie wirklich nicht sehen und dich von ihr verabschieden?“, fragte Zaltana ihre Tochter milde. „Heute Abend wird sie am Fluss bestattet. Sie sieht so friedlich aus, Algoma.“

Algoma schüttelte den Kopf. Sie würde es nicht verkraften, ihre Großmutter tot zu sehen. Nein, der Schmerz war zu groß. Zaltana nickte, grüßte Malila, die soeben mit einem Tongefäß Sirup zu Algoma zurückgekehrt war.

„Hier“, meinte Malila in mütterlichem Tone. Algoma nahm das Gefäß entgegen und trank es fast aus. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen und schaute hinunter auf den Fluss. Den Quell des Lebens. 

„Hattest du wieder einen Traum?“, fragte Malila die junge Frau nach einiger Zeit.

Algoma nickte, blickte weiterhin auf das Wasser hinaus. 

„Möchtest du darüber sprechen?“, fragte Malila einfühlsam. „Weißt du, vielleicht hast du wirklich in deinem Traum die Lichtung gesehen.“

„Hm“, war alles, was Algoma in diesem Moment zustande brachte. Die Überraschung über Malilas Worte waren zu groß. 

„Aber ich habe damals wirklich keinen Drachen erblickt“, setzte Malila sachte fort. Sie kannte unzählige Geschichten über die Himmelsbewohner. Überlieferungen aus anderen Zeiten. Aber sie hatte sie immerzu als Unsinn abgetan. 

„Er war da“, bemerkte Algoma bitter und bohrte ihre Zehen in den weißen Sand. Malila schwieg. Ein frischer Wind war aufgekommen. Malila strich sich ihre langen Haare aus dem Gesicht. 

„Letzte Nacht hat er mich gewarnt“, murmelte Algoma nach wie vor mit starrem Blick. „Wir müssen in den Wald zurück. Ein Angriff aus der Hölle steht bevor.“

„Gewarnt?“

Algoma nickte.

„Aber du hast erzählt, dass er dich im Traum fressen wollte. Er gehört zu der Horde der Hölle. Er wird wohl kaum uns vor Unheil bewahren wollen.“ Ihre letzten Worte klangen verächtlich. Nein, sie glaubte Algoma nicht. Es ergab keinen Sinn.

„Ich habe mit Großmutter darüber gesprochen. Der Drache bedeutet in der Sehersprache Gefahr.“

Malila schüttelte den Kopf.

„Erinnerst du dich an den Feuersturm. Davor hatte ich mehrmals den Traum vom sprechenden Drachen.“

„Ja, das stimmt“, pflichtete Malila der jungen Frau bei.

„Seit Kurzem wird der Drache in meinen Träumen von einer Schar von Ungeheuern begleitet. Und er spricht eine Warnung aus. Ich habe nicht auf ihn gehört, es nicht weitererzählt und jetzt ist abermals ein Unheil geschehen.“

„Der Tod deiner Großmutter“, überlegte Malila.

„Genau. Er hat gesagt, wenn sich mein Traum abermals verändert, werden wir alle sterben.“ Algomas letzte Worte trieben Malila einen eiskalten Schauder über den Rücken.

Malila schwieg für einen Moment, dann meinte sie: „Sieh mich an, Algoma. Es wird nicht geschehen, verstehst du? Es ist noch immer ein Traum. Dein Traum und Drachen und Höllenwesen gibt es nur in Geschichten, in Märchen.“

„Malila, meine Großmutter ist – war eine Seherin. Sie hat meinen Traum gedeutet und er ist ein Hinweis auf eine uns drohende Gefahr!“, schrie Algoma aufgebracht, sprang auf und lief weg. Malila blieb noch am Fluss vor der Hütte sitzen. Nachdenklich. 

 

„Wo ist Niabi?“ Malila hetzte zwischen den Hütten umher. 

„Hier nicht“, lautete die besorgte Antwort eines älteren Mannes. „Wann hast du sie zuletzt gesehen?“

„Heute Morgen beim Frühstück. Danach ist sie mit ihrer großen Schwester in den Wald jenseits des Flusses gegangen.“ Malila strich sich mit zittrigen Fingern übers Haar. 

„Dann wird Shadi es doch bestimmt wissen, wo ihre kleine Schwester ist“, meinte eine dickliche Frau mit rosigem Gesicht. Sie hatte von Malilas Sorgen gehört. Auch sie war Mutter, bald Großmutter und verstand sie nur zu gut.

„Eben nicht“, stöhnte Malila. „Shadi hat gesagt, dass Niabi früher ins Dorf zurückgekehrt ist. Sie kennt den Weg, verirren ist nicht möglich.“

„Trödeln vielleicht?“

„Nein, das macht sie nicht. Sie hätte beim höchsten Sonnenstand zurück sein müssen.“ Malila deutete auf die Sonne. 

„Mein Kind ist auch weg!“, brüllte plötzlich eine junge Frau. „Sie ist erst vier!“ Sie eilte auf die Gruppe zu, völlig aufgelöst und einem Nervenzusammenbruch nahe. „Ama ist weg. Aus meiner Hütte verschwunden.“

„Mein Enkelsohn ist seit den Morgenstunden aus dem Wald nicht mehr zurückgekehrt“, erklärte eine alte Frau mit harter Stimme. Der Dorfplatz füllte sich. Aufgeregt wurde durcheinander gerufen, geschrien und gesprochen bis der Stammesälteste, Algomas Vater Chitto, dazu kam. 

„Beruhigt euch, meine lieben Freunde!“, bemerkte Chitto mit lauter Stimme. „Wir werden eure Kinder wiederfinden. Heute, noch vor Sonnenuntergang.“

Getuschel. „Dann lasst uns keine Zeit verlieren!“, rief ein junger Mann voll Tatendrang. 

„Die Feldarbeit muss warten! Lasst alles liegen und stehen!“, brüllte ein anderer.

Unvermittelt war ein greller Schrei zu hören. Die Menge erstarrte, alle Augen richteten sich auf jene Person, die soeben aus Leibeskräften geschrien hatte: Algoma.

„Das Unheil!“, stammelte die junge Frau mit glasigem wirren Blick. Ihr Haar verrittet, ihr Gesicht rot und glänzend. Sie taumelte in die Mitte der aufgebrachten Dorfbewohner und fiel auf die Knie. „Das Unheil!“, kreischte sie fiebrig und heiser. 

Malila stürmte auf sie zu. „Weißt du, wo unsere Kinder sind?“

„Mein Traum hat sich wieder verändert. Die Horde aus der Hölle ist da“, flüsterte die junge verwirrte Frau. „Die Lichtung.“

Malila starrte Algoma für einen Augenblick entsetzt an. Sie erinnerte sich gut an dieses freie Landstück mitten im Wald. 

„Sie redet Unsinn!“, bemerkte jemand aus der Menge.

„Algoma, Kind!“ Zaltana setzte sich neben ihre Tochter. „Wovon sprichst du?“

Doch Algoma blieb stumm. Zaltana strich ihrer Tochter zärtlich über den Kopf, doch diese reagierte nicht. Chitto schüttelte den Kopf. „Hört nicht auf meine Tochter. Sie hat Fieber. Sie ist krank.“

Malila biss sich auf die Lippen. Sie hatte kein Recht, sich gegen den Dorfältesten zu stellen, aber es ging hier um ihre kleine Tochter, ihren Sonnenschein. Ihr Blick streifte Shadi, ihre Vierzehnjährige. Sie war bereits zu einer jungen selbstbewussten Frau herangereift. Seitdem ihr Vater von der Jagd nicht mehr zurückgekehrt war, hatte sie an Stärke und Kraft gewonnen. 

Shadi erwiderte den Blick ihrer Mutter und nickte ihr zu. Malila atmete einige Male tief durch. Sie benötigte Mut für ihre nächsten Worte: „Ich werde Niabi suchen gehen, Chitto. Ich weiß ungefähr, wo sie sein könnte. Wer möchte, kann sich mir anschließen.“

„Die Lichtung?“, stammelte eine junge Mutter.

Malila nickte.

„Meine Tochter redet nicht weise, Malila. Klammere dich nicht an diesen Halm. Vielleicht sind die Kinder weiter den Fluss hinunter gegangen und du suchst am falschen Ort.“ Chittos Stimme klang nicht ärgerlich, sondern sorgenvoll.

„Ich glaube Algoma“, erwiderte Malila und sah Chitto in die Augen. Dieser wandte den Blick ab und schüttelte missmutig den Kopf. Den Aussagen seiner Tochter glauben schenken, war verrückt und engstirnig, nein naiv.

Malila eilte gemeinsam mit Shadi ohne ein weiteres Wort in ihre Hütte, und schloss die Türe hinter sich.

„Du bleibst bitte hier“, wies sie ihre Tochter an, während sie sich ihren Speer nahm. 

„Mama, ich werde dich begleiten.“

„Das ist zu gefährlich.“

„Wieso?“

Malila hielt inne und schaute zu Boden. 

„Du glaubst also wirklich an Algomas Geschichte, nicht wahr?“

„Ich will Niabi finden“, erwiderte Malila nach einer kurzen Pause. 

„Ja, ich auch! Du weißt, dass ich eine gute Fährtensucherin bin, Mama. Du brauchst mich.“ 

Es wurde still in der kleinen gedrungenen Hütte, zu still. Malila fühlte sich innerlich zerrissen. Einerseits wollte sie Shadi beschützen, aber andererseits konnte sie jede Hilfe gut gebrauchen.

„Einverstanden, aber du bleibst in meiner Nähe. Ich möchte dich nicht auch im Wald verlieren. Wir wissen nicht, mit wem wir es zutun haben.“

„Du meinst, womit“, erwiderte Shadi.

 

Vor Malilas Hütte hatten sich viele Einwohner des Dorfes versammelt. Bewaffnet mit Speeren, Stöcken und Feldwerkzeugen aller Art. Ihre Gesichter wirkten entschlossen und finster. Keinerlei Angst war zu sehen. 

„Zeig uns den Weg, Malila!“, rief der junge Mann, der es nicht abwarten konnte, in eine Schlacht zu ziehen. 

„Holen wir uns unsere Kinder zurück!“, schrie jemand. 

„Wer bleibt im Dorf, um es zu bewachen?“, brüllte eine dürre Frau mittleren Alters.

„Dafür habe ich gesorgt!“, bemerkte Chitto plötzlich. „Einige meiner besten Krieger bleiben vor Ort.“ Chittos und Malilas Blicke trafen sich erneut. 

„Tu dein Bestes, Malila“, meinte er kurz und nickte.

„Das werde ich“, erklärte die Frau und fühlte, eine Welle von Kraft ihren Körper durchströmen.

 

Es regnete in Strömen, als sie die Lichtung erreichten. Malila erkannte sie sofort an dem umgestürzten Baum in der Mitte. Es war, bis auf das Rauschen des Regens, ruhig. 

„Davon hat Algoma gesprochen?“, fragte ein älterer Mann verwundert. „Das ist bloß eine kahle Stelle mitten im Wald. Nichts Aufregendes.“

„Genau. Da gibt es weder Magie noch Monster aus der Hölle.“

„Auch nicht unsere Kinder“, schniefte eine Frau aus der Menge.

 

Ein feines Knistern direkt vor Malila ließ diese aufhorchen. Sie spürte auf ihrer Haut angenehme Wärme, als sie sich dem Geräusch näherte. Es kam – Malila erstarrte. Unterhalb des Baumstammes waren Glutnester deutlich zu erkennen. Kleine Flammen züngelten hervor. Der Regen prasselte auf das Feuer nieder, aber er vermochte es nicht zu löschen, im Gegenteil, die Flammen wurden immer höher. 

„Das ist seltsam“, bemerkte ein älterer Mann mit Sorgenfalten. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“

„Woher kommt das Feuer?“, fragte eine junge Stimme aus dem Hintergrund.

Verwirrt starrten viele Augen auf das Feuer. Gemurmel erfüllte die Lichtung. Niemand schien eine Lösung für das Phänomen zu haben.

„Was ist das?“, stammelte eine dürre Frau und deutete auf eine schemenhafte Gestalt hinter dem mittlerweile brennenden Baum. Sie war schwer zu erkennen, der Rauch nahm den Menschen die Sicht. Aber eines erkannten alle: Sie war riesengroß und mächtig. 

Das halbe Dorf stand wie angewurzelt auf der Lichtung und starrte angstvoll auf den mächtigen Schatten hinter den inzwischen meterhoch züngelnden Flammen. 

Niemand wagte es, sich zu bewegen oder der Erscheinung auf den Grund zu gehen. Es regnete nach wie vor, Blitze zuckten über den tiefgrauen Himmel, ein eisiger Wind fegte über die Köpfe der Menschen hinweg. Das Feuer blieb an Ort und Stelle. Es breitete sich nicht aus, auch vermochte der Wolkenbruch es nicht zu löschen. 

Plötzlich, völlig unvermittelt, ertönte eine Stimme durch das Rauschen des Regens.

„Habt ihr das gehört?“, fragte die dürre Frau die anderen mit sichtbarem Entsetzen.

„Ja“, erwiderte jemand.

„Das war doch ein Donner“, beschwerte sich ein alter Mann.

„Es hat geklungen wie: Eure Kinder“, bebte eine junge Frau. 

Malila fröstelte am ganzen Leib. Sie schaute sich nach Shadi um, die mit weitaufgerissenen Augen neben ihr stand.

Stille und Angst beherrschte für Minuten die Lichtung. Niemand wagte etwas zu sagen, sich zu bewegen doch dann:

„So geht das nicht!“, schrie ein junger Mann unvermittelt. „Nicht mit uns! Wir sind keine Feiglinge, wir sind Krieger!“, rief er hitzig, packte seinen Speer fester, löste sich von der Menge und stapfte durch das hohe Gras rund um den lodernden Baum. 

„Bleib hier, Etu!“, rief ein älterer Mann ihm hinterher. „Wir müssen zusammenbleiben! Alleingänge sind zu gefährlich!“ Doch Etu schien nichts zu hören. Das Donnern, das Rauschen des Regens und das Knistern der Flammen übertönten die Stimme des Alten.

Malila wartete nicht lange. Sie stürmte dem Mann hinterher, bewaffnet. 

„Mama!“, rief Shadi entsetzt. „Das –.“

Die Menge bewegte sich. Chaos entstand. Shadi hetzte ihrer Mutter nach, andere folgten ihrem Beispiel mit wildem Geschrei. Wut und Hass trieben die Menschen an. 

Malila kämpfte sich durch zähen Nebel. „Etu? Wo bist du?“, schrie sie aus Leibeskräften. Doch sie erhielt keine Antwort. Seltsamerweise spürte sie keinen Regen auf ihrer Haut und hörte nicht einmal das Knistern des Feuers, obwohl sie sich sicher war, dass sie in der Nähe des Baumes war.  Wo war das Donnern des Gewitters, das sich direkt über der Lichtung entlud. Wieso roch es so seltsam? Nicht nach Feuer und Wasser. Der Geruch war modrig und – Malila konnte ihn nicht einordnen.

 „Wo sind wir?“, hauchte Shadi. 

Malila erschreckte sich fast zu Tode. „Shadi, wieso bist du mir gefolgt?“ Sie strich ihr liebevoll übers Haar. Antwort brauchte sie keine.

„Ich weiß nicht, wo wir sind, mein Schatz“, wisperte Malila ihrer Tochter ins Ohr. „Aber eines weiß ich mit Gewissheit: Wir befinden uns bestimmt nicht mehr auf der Lichtung.“ Der kalte harte Boden unter ihren Füssen verunsicherte sie. Kein Gras, keine Erde. 

„Wo sind die anderen?“, stammelte Shadi und legte angstvoll ihre Hand auf den Arm ihrer Mutter. 

„Etu!“, rief Malila noch einmal. Abermals blieb es still. Der Nebel schien alles zu verschlucken. „Hallo, wo seid ihr?“ Stille. Nur Shadi war bei ihr, sonst niemand. 

„Ich habe Angst“, murmelte Shadi panisch. Sie drückte sich an ihre Mutter. 

„Alles wird gut, mein Kind“, erwiderte Malila kaum hörbar. Sie war sich nicht sicher, ob sie es selbst glauben konnte. 

 

„Mama!“, rief eine junge Stimme unvermittelt. „Mama!“ 

Niabi?

Shadi packte Malila an der Hand und zog sie durch den Nebel vorwärts. Die Angst war einer unglaublichen Kraft gewichen.

„Da ist Niabi“, keuchte sie. „Dort vorne!“ Doch ihre Mutter konnte nach wir vor nichts sehen. 

Der Nebel lichtete sich allmählich. Malila sah sich ungläubig um. Sie standen inmitten einer Grotte. Aber wo war nun Niabi?

„Sollte es hier nicht finster sein?“, stotterte Shadi neben ihr. 

„Ja, schon.“

Tatsächlich schimmerten die rauen Steinwände in überirdischem Glanz. 

„Wo hast du Niabi gesehen?“, fragte Malila ihre Tochter zunehmend nervös.

„Ich weiß es nicht. Sie ist wieder verschwunden.“

„Mama!“, ertönte abermals Niabis leise Stimme. „Bitte!“, flehte sie. 

„Wo bist du?“, fragte Malila. Ihre Stimme widerhallte in der unterirdischen Höhle. 

„Mama!“

„Wir kommen!“, schrie Malila und begann gemeinsam mit Shadi fieberhaft die Grotte abzusuchen. Meter für Meter. Sie schauten hinter Stalaktiten und Stalagmiten, hetzten durch Höhlengänge und kletterten bis zu einem kleinen unterirdischen See. Shadi blickte im Vorübergehen ins türkisblaue Wasser. „Da ist etwas“, stammelte das Mädchen nach wenigen Sekunden und deutete auf die spiegelglatte Oberfläche des Gewässers.

„Da kann nichts sein. Wir suchen deine Schwester“ erinnerte Malila ihre Tochter verärgert und wollte sie vom Teich wegziehen. 

„Es sieht aus wie ein M–.“

Eine Gestalt hockte am Grund des Sees. Malila konnte die in den Fluten wehenden Haare erkennen. „Das ist nicht Niabi“, murmelte sie zittrig. 

„Sie bewegt sich!“, schrie Shadi plötzlich und klammerte sich an den Arm ihrer Mutter. 

„Das ist das Wasser. Es schlägt Wellen.“ Malila war wie versteinert, als sie erkannte, woher die Wellen kamen. Das Wesen am Grund des winzigen Sees schwamm auf sie zu! 

„Weg!“, wollte Malila schreien, aber ihre Stimme versagte. Auch ihr gesamter Körper schien augenblicklich wie gelähmt. 

Ein Kopf tauchte vor den beiden Frauen aus den Fluten auf. 

„Was wollt ihr hier?“, fragte das Wesen mit krächzender Stimme. Seine grünen Haare hingen formlos von seinem ovalen Kopf hinunter. Die Augen funkelten wie Edelsteine. Rubine. Seine Haut war schuppig und sein Maul war mit spitzen strahlendweißen Zähnen gespickt. 

Shadi fröstelte bei dem Anblick des Seebewohners, auch Malila hatte mit Panik zu kämpfen. 

„Ich suche meine Tochter Niabi“, stotterte die Frau. Wo war ihr Speer? Hatte sie ihn verloren? „Sie ist hier. Wir haben ihre Stimme gehört“, erklärte sie.

„Malila und Shadi“, murmelte das Wesen. „Algoma hat euch zu uns geführt. Die Kinder.“

Shadis und Malilas Blicke trafen sich. Keiner der beiden schien das Männchen zu verstehen. 

„Mama!“, rief eine Mädchenstimme erneut. „Mama! Ich bin hier!“

Malila wandte sich um. Hinter ihr stand leibhaftig ihre kleine Tochter quietschlebendig und sah sie mit ihren wunderschönen dunklen Augen an.

„Niabi!“, rief Malila erleichtert. Freudentränen liefen über ihre Wangen, als sie endlich ihre Tochter wieder in die Arme schließen konnte. Shadi kauerte sich zu den beiden auf den Boden. Das Wasserwesen verschwand.

In diesem Augenblick zog Nebel auf und verschlang die Umgebung. Malila hielt Niabi und Shadi in ihren Armen, als würde sie sie nie mehr loslassen.

Im nächsten Moment befanden sich die drei wieder inmitten strömenden Regens auf der Lichtung. 

„Verdammt“, rief Etu. „Wo ward ihr?“

„Niabi?“, schrie er einen Augenblick später. Es dauerte bloß wenige Sekunden, bis sich die Nachricht, dass Niabi wieder aufgetaucht war, herumgesprochen hatte. 

„Wo habt ihr sie gefunden?“, fragte einer der Dorfältesten aufgebracht. 

„In einer Grotte“, erwiderte Shadi stockend  und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie saß bei ihrer Mutter auf der Lichtung. Naibi hatte ihre Arme um Malilas Hals geschlungen und heulte herzzerreißend.

„Wie bitte?“, fragte die dürre Frau. „Hier gibt es keine Grotten.“

„Wir waren in einer unterirdischen Höhle mit einem kleinen See. Ein Wesen hat mit uns gesprochen und –.“

„Bist du auch schon so wahnsinnig wie Algoma?“, fragte Etu verächtlich. Shadi schwärmte für diesen jungen Mann, obwohl er einige Jahre älter war als sie selbst. Doch nun stieg ihr Zornesröte in die Wangen.

„Ich sage die Wahrheit, Etu. Es war kein Traum. Hast du den Nebel nicht gesehen?“

„Welchen Nebel? Ich bin um den brennenden Baum herumgegangen und da war nichts. Gar nichts. Auch kein Nebel. Malila und du, ihr seid mir gefolgt und plötzlich ward ihr verschwunden.“

Shadi erschauderte. Wo waren sie gewesen? Sie schaute hilfesuchend zu ihrer Mutter, doch diese wusste auch keine Antwort. 

 

„Seht mal, der Baum“, rief eine junge Frau. Es wurde augenblicklich still, alle Blicke richteten sich auf die Stelle, wo die abgestorbene Platane noch vor Kurzem gewesen war. Sie war verschwunden. Stattdessen klaffte ein riesiges tiefes Loch im Erdboden. 

„Was ist das?“, stammelte Etu, hockte sich vor den dunklen Schlund und schaute hinein. „Scheint tief zu sein.“

„Das Tor zur Hölle“, keuchte Waya entsetzt. 

Seltsame Geräusche drangen aus dem Inneren des mächtigen Loches heraus.

„Hört ihr? Algoma hat Recht. Die Ungeheuer kommen. Das Ende naht!“, rief der Alte. „Kommt, lasst uns ins Dorf zurückkehren und einen Schamanen aufsuchen. Wir haben es mit bösen Mächten zu tun.“

Dichter Nebel waberte aus der Grube hervor. „Seht ihr!“, rief Waya und schaute von einem zum anderen.

„Nein, das ist kein Geisterwerk“, bemerkte Niabi plötzlich. Sie drängte sich zwischen den aufgeregten Menschen hindurch. „Hört ihr denn nicht, die Stimmen meiner Freunde?“ Sie hob die Hand und bat um Ruhe.

„Die verschwundenen Kinder?“, fragte Bly angespannt. Sie musste immer ganz vorne dabei sein. 

„Ja“, meinte Niabi.

„Du hast noch nicht über die Ereignisse gesprochen“, stellte eine Frau fest. „Willst du uns nichts erzählen?“ Ihre Stimme klang vorwurfsvoll.

Niabi schluckte, dann begann sie langsam zu sprechen:  „Wir waren im Wald, sind einer Rauchsäule gefolgt und kamen auf diese Lichtung. Ein Drache ist dagesessen.“

„Ein was?“, schrien alle durcheinander. 

„Ein Drache. Er war nett und freundlich.“

„Tisch uns keine Lügen auf!“, schrie Etu Niabi an und  zog sich einen bitterbösen Blick von Malila zu.

„Entschuldige, sprich bitte weiter“, gab Etu klein bei.

„Er hat uns zu einer Höhle geführt, uns seine Schätze gezeigt. Unterirdische Grotten. Er hat uns nahegelegt bei ihm zu bleiben.“

„Wie bitte?“ Jetzt war es ihre Mutter, die überrascht war und ihre Worte nicht glauben konnte.

„Gezwungen hat er euch, oder?“, rief Waya zornig.

Niabi nickte leicht.

„Wieso? Was bezweckt er?“ Bly sah Niabi tief in die Augen, sodass diese wegsehen musste.

„Er möchte, dass Algoma zu ihm kommt.“

Ein Raunen ging durch die Menge.

„Wieso hat er dich gehen lassen?“, fragte jemand.

„Damit ich euch davon erzähle.“

„Warum Algoma?“, fragte Malila laut.

„Sie ist wie ihre Großmutter eine Seherin. Nur sie kann uns retten.“

„Soll das etwa heißen, unsere Kinder wurden entführt, damit ein Drache Algoma habhaft wird?“, wunderte sich Etu.

„Ja, um uns vor Unheil zu bewahren.“ Niabi blickte in die Runde. Der Nebel umhüllte ihre Beine und breitete sich weiter aus.

„Niemals!“, schrie Waya. „Wir werden nicht eine von uns einem Höllentier ausliefern!“

„Er ist nicht böse. Er kümmert sich gut um uns und auch Kanja ist sehr nett.“

„Kanja?“, fragte Etu. 

„Ja, das Wasserwesen unten in der Grotte.“

„Dieses abscheuliche Ding?“, fragte Shadi angeekelt. „Der soll freundlich sein?“

„Moment mal!“, rief Etu unvermittelt auf. „Wovor müssen wir gerettet werden?“

„Vor den Monstern der Unterwelt. Sie vernichten alles, was ihnen in die Quere kommt. Und sie nähern sich unserem Dorf. Begleitet werden sie von Blutdrachen. Sie sind größer und gefährlicher als –.“

„Siehst du, Drachen!“, rief der Alte. „Wie kannst du einem von ihnen vertrauen?“

„Es gibt keine Drachen“, erklärte Shadi leise.

„Sie waren es, die unser Dorf damals dem Erdboden gleich gemacht haben, nicht wahr?“, fragte Malila ihre Tochter.

Niabi nickte.

Es wurde auf der Lichtung still. Niemand wollte etwas sagen bis:

„Was geschieht mit Algoma?“, wollte eine dickliche Frau wissen. 

„Na, sie wird sterben, was sonst. Ein Menschenopfer für Höllentiere“, schrie Waya aufgebracht.

„Nein, wird sie nicht!“, weinte Niabi. Das Verhör machte ihr Angst, besonders der Alte. „Algoma wird gebraucht, um zwischen den Wesen des Himmels und der Unterwelt zu vermitteln. Sie ist eine Seherin und –.“

„Freunde, der Nebel, er verschwindet wieder!“, murmelte Bly. 

„Und das Loch schließt sich“, stammelte Etu. Er traute seinen Augen nicht. 

„Wenn Algoma diese Lichtung betritt, wird sie einen Zugang finden.“ Naibi seufzte leise und nahm ihre Mutter an der Hand. „Mami, ich will nach Hause.“

„Ist gut, mein Schatz“, murmelte Malila, nahm auch Shadi an der Hand und zog beide vom Loch weg. Langsam und ohne auf die anderen zu achten, kehrte sie mit ihren Töchtern zum Dorf zurück. 

„Das werde ich nicht zulassen“, bemerkte Chitto bitter, als Malila ihm noch am Abend des gleichen Tages von den Ereignissen erzählte. Waya hatte es sich nicht nehmen lassen, mitzukommen. 

„Sie ist unsere einzige Hoffnung“, murmelte Malila und dachte dabei an die verschwundenen Kinder. 

„Meine Tochter ist verrückt und krank, aber sie ist mein Kind und ich werde sie keinen Gefahren aussetzen!“

„Du bist unser Häuptling, Chitto!“, erklärte Malila verzweifelt. „Niabi lügt nicht. Algoma wird nichts geschehen.“

„Unsinn!“ Chitto schüttelte den Kopf. 

„Wenn sich Algoma erholt hat, wird sie zur Lichtung gehen“, bemerkte eine feste klare Stimme unvermittelt.

„Wie bitte?“, fragte Chitto, fuhr herum und sah sich seiner Frau Zaltana gegenüber. Sie hatte die Hände in die Hüften gestützt und schaute ihrem Mann direkt in die Augen. „Sie ist einverstanden und hat die Reife, ob du es willst oder nicht.“

„Aber –.“

„Schatz, es ist ihre Entscheidung.“ Zaltana nickte Malila zu, ignorierte jedoch Waya, der sofort seufzte und sich abwandte. Leise erklärte er: „Das ist ein großer Fehler. Das Höllentier möchte, dass Algoma kommt. Er wird sie bei lebendigem Leibe fressen.“

„Gehst du jetzt bitte?“, fragte Zaltana höflich aber eindringlich. 

„Ich werde mich auch auf den Heimweg machen“, meinte Malila. Waya sah jedoch von einem zum anderen, schüttelte den Kopf und verließ letztendlich die Hütte.

„Malila!“, rief Chitto der Frau nach, als diese zur Tür ging. „Warte! Meine Frau möchte mit dir sprechen!“

Malila kehrte in die Hütte zurück. 

„Begleite bitte unsere Tochter“, erklärte Zaltana mit Tränen in den Augen. 

Malila nickte.

 

„Er ruft mich!“, stöhnte Algoma mitten in der Nacht. Ihre Mutter rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen bei Algoma im Zimmer Wache zu halten. Ihre Tochter hatte bereits seit zwei Tagen zeitweise Fieber und sprach wirres Zeug. 

„Wohin willst du?“, fragte Zaltana, als Algoma mit starrem Blick aufstand und zur Zimmertüre ging. 

„Er ruft mich“, wiederholte Algoma leise.

„Wer? Der Drache?“, fragte ihre Mutter nervös.

Algoma reagierte nicht auf sie. Wie unter Hypnose drängte sie sich an ihrer Mutter vorbei und verließ das Zimmer.

„Algoma!“ Zaltana hetzte ihrer Tochter nach. 

Es war Chitto, der Algoma am Arm festhielt. „Wohin willst du um diese Zeit?“

„Er ruft mich. Ich muss gehen“, weinte Algoma. 

„Lass sie“, bemerkte ihre Mutter mit banger Stimme und legte ihre Hand auf den Arm ihres Mannes. „Hol bitte Malila. Sie soll ihr folgen.“

Chitto sah Zaltana für einen Moment in die Augen, dann nickte er.

 

Algoma fühlte sich wie in Trance. Ihre Beine bewegten sich ohne ihr Zutun vorwärts. Ihr Kopf war wie leergefegt. Sie spürte eine Leichtigkeit, keine Angst als sie das Dorf in Richtung Fluss verließ. 

Als sie die Lichtung betrat, war sie noch immer ruhig. 

„Ich habe dich erwartet“, schnurrte ein riesenhafter smaragdgrüner Drache und sah sie mit seinen Reptilienaugen an. Just in diesem Augenblick erwachte Algoma aus ihrer Lethargie und geriet bei dem Anblick des Riesentieres in Panik. Es war bloß wenige Meter von ihr entfernt, sie konnte seinen warmen Atem spüren. Algomas schlimmster Albtraum schien real geworden zu sein!

Algoma suchte verzweifelt nach einem Versteck. Doch der abgestorbene Baum auf der Lichtung existierte nicht mehr, stattdessen klaffte ein tiefes finsteres Loch, das im Schimmer des Mondlichtes gespenstisch wirkte. 

„Algoma!“, rief plötzlich eine Stimme hinter ihr. 

„Oh Malila. Die tapfere Kriegerin“, bemerkte der Drache zufrieden. „Wo ist deine Tochter?“

„Zuhause“, erwiderte Malila, stellte sich vor Algoma und starrte dem Untier direkt in die Reptilienaugen. 

„Algoma wird alleine in den Berg gehen müssen“, bemerkte der Drache mit tiefer Stimme. „Du kannst sie nicht begleiten.“

Algoma war starr vor Angst. Sie klammerte sich an Malila. 

„Sie haben sich alle unten versammelt, Algoma. Die Kinder werden ihrer Wege ziehen dürfen, wenn du der Höllenarmee endlich Einhalt gebietest.“

 

„Wie soll ich das machen?“, fragte Algoma nach einer Weile zaghaft mit bebender Stimme.

„Du hast etwas, was keiner von deinem Stamm hat“, erklärte das Monster friedlich. „Du hast es von deiner Großmutter vor langer Zeit bekommen.“

Algoma starrte auf den Anhänger, den sie an einer Edelsteinkette um ihren Hals trug. Er stellte einen Drachen dar, den Drachen! Wie konnte sie das übersehen? Ein smaragdgrüner schimmernder Drachenkopf, aus klitzekleinen Steinen kunstvoll gelegt, mit gelben Augen. Das Amulette ihrer Großmutter! 

„Wenn die Blutdrachen es sehen, werden sie euch in Ruhe lassen und mich auch. Dann ist alles gut und dein Dorf steht weiterhin unter meinem Schutz.“

„Drache, was redest du da?“, rief Malila und stieß ihren Speer in den Boden vor dem mächtigen Tier.

„Meine Kräfte schwinden, die Meute ist zu stark, Malila. Ich hatte keine andere Wahl, als in Algomas Träumen zu erscheinen und eure Kinder in die Grotte zu locken, damit Algoma endlich zu mir kommt und dem Spuk ein Ende setzt.“

„Versprich, dass du die Wahrheit sagst!“, schrie Malila mit schneidender Stimme. 

Das Amulett um Algomas Hals begann zu leuchten. „Sieh mal, Malila!“, stotterte Algoma und deutete auf den kunstvollen Drachenkopf. 

„Reicht dir das, Malila?“, fragte der Drache plötzlich ungeduldig. „Algoma, du musst jetzt gehen, sonst beginnen sie, die Jüngsten deines Volkes zu verspeisen. Zeig ihnen das Amulette.“ Der Drache schloss die Augen und senkte seinen riesigen Kopf. Er atmete schwer, Blut lief aus seinen Nüstern. 

„Beeile dich“, flüsterte Malila. Algoma starrte jedoch wie versteinert auf den Drachen. 

„Geh schon, ich bleibe bei ihm“, zischte Malila und deutete auf das klaffende Loch in der Wiese. 

Algoma schluckte schwer, nickte, wandte sich ab und kletterte in die Ungewissheit. Es war stockdunkel. Zögerlich schritt sie durch die Finsternis voran. Sie ertastete raue Felswände, stolperte über Steine. Das verblassende Licht des Amuletts um ihren Hals, war der einzige Lichtschimmer auf ihren Weg in die Grotte. Was hatte sie nochmal zu tun? Das Amulett herzeigen? Das war alles?

„Da ist sie!“, rief eine hohe grelle Stimme. Nein, es war nicht die eines Kindes. Sie hörte sich irgendwie seltsam an. Algoma spähte hinter einen Felsen hervor ins schimmernde Licht der Grotte und erstarrte. Was waren das für Wesen? 

„Komm nur, Algoma“, kreischte die hohe Stimme erneut. Ein spinnenartiges Tier, riesengroß starkste auf sie zu. Es war das Untier aus ihrem Traum. Eindeutig! Algoma verschlug es den Atem, panisch starrte sie dem Wesen in die Facettenaugen. Das Amulett auf ihrer Brust fing hell zu leuchten an und es wurde warm. Nicht nur das: Ein Schein umgab es. Das Spinnentier wich zurück. 

„Du trägst es wirklich“, erklärte ein Lindwurm überrascht. „Das ist nicht möglich.“ 

Algoma richtete sich hinter dem Felsen auf, betrachtete die Höllentiere. Der Talisman schien ihr Kraft zu geben, machte sie mutig und tapfer. 

Es war eine grausige kunterbunte Ansammlung von Untieren, Monstern aus der Unterwelt. Etwas abseits befanden sich die Kinder ihres Volkes. Bei ihnen stand ein kleines Wesen, schuppig. Es schien so, als stünden die Kinder unter seinem Schutz. Ein blauer kühler Lichtschein ging von dem Wasserwesen aus und umspannte die Kindergruppe. Die Höllentiere hielten einen Respektabstand.

„Ich möchte, dass ihr mein Volk in Frieden lässt“, rief Algoma mit ungewohnt lauter fester Stimme. 

„Kehrt zurück in die Unterwelt, wo ihr hingehört!“, mischte sich Kanja, das Wasserwesen mit melodischer Stimme ein. 

Das Amulett strahlte noch heller. Algoma hielt es hoch, über ihren Kopf. Ein Raunen ging durch die Menge. Die Monster wandten ihre Blicke ab. 

Algoma schritt näher an die Untiere heran. Die Drachen, Lindwürmer, Basilisken, Riesenspinnentiere, Skorpione, Chimären, Greife und Harpyien wichen zurück. Plötzlich bebte die Erde. Gestein bröckelte. 

„Ins Wasser!“, kreischte Kanja und scheuchte die Kinder weg in Richtung unterirdischem Teich. 

„Algoma, komm!“, rief das Wasserwesen und winkte ihr. „Es ist vorüber! Sie müssen zurückkehren.“

Algoma dachte nicht lange nach. Sie lief um ihr Leben. Hetzte zwischen den hinabstürzenden Felsbrocken auf den kleinen See zu. In der Grotte wurde es glühend heiß, der Boden zitterte. Die Erdbebenstöße wurden stärker. Ein Ächzen ging durch die Felswände. Algoma stürzte sich ins Wasser und tauchte unter. 

 

Sie erwachte inmitten der Kinderschar auf der Lichtung unter dem abgestorbenen Baum.

„Algoma?“, fragte ein Mädchen leise und legte ihre Hand auf die Wange der jungen Frau.

Algoma setzte sich auf, schaute sich um, berührte den Baum mit den Händen. „Der Baum“, stammelte sie. „Wo ist das Loch in der Erde?“

„Es ist weg“, meinte ein Bub. „Aber er ist da.“ Er deutete auf eine riesige Gestalt am Waldrand. Der Drache!

Algomas Augen strahlten. Sie stand auf, legte ihre Hand auf das Amulett und ging zu dem schuppigen Tier. 

„Algoma“, meinte der Drache, als er sie sah. Er senkte seinen mächtigen Kopf und schaute sie an. Algoma streckte die Hand aus und legte sie auf seine Schnauze. „Wie heißt du?“, fragte sie ihn.

„Er ist Abraxas“, ertönte eine vertraute Stimme. 

„Malila“, freute sich Algoma und umarmte die Frau herzlich. „Du hast es geschafft“, erklärte Malila. „Sie sind weg und unser Drache hier hat die Herrschaft wieder übernommen. Er beschützt uns.“

„Wo ist das Wasserwesen?“, fragte Algoma und sah sich um. Die Kinder spielten auf der Wiese, sie waren guter Dinge und fröhlich. Keine Spur von den schlimmen Ereignissen in ihren Gesichtern. 

„Er ist in den Fluss zurückgekehrt, zu seinesgleichen“, erklärte Abraxas. „Ganz in eurer Nähe, wo der Fluss eine Biegung macht und er tiefer ist.“

„Dort werde ich ihn besuchen!“, rief ein kleines Mädchen begeistert. 

„Ja, das kannst du“, bemerkte der Drache und er zwinkerte dem Kind mit seinem gelben Reptilienauge zu. 

„Danke Abraxas“, sagte Algoma mit Tränen in den Augen und umarmte das Tier. „Du hast uns gerettet.“

„Nein, du warst es“, erklärte der Drache. „Kehre in dein Dorf zurück und erzähle ihnen, dass der Schrecken der Unterwelt vorüber ist.“

Algoma nickte, schloss die Finger fest um das Amulett ihrer Großmutter. Es war ein mächtiger Gegenstand und er würde noch ihren Ururenkeln Schutz bieten, Schutz vor der Höllenarmee aus der Unterwelt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Yuki Am 15.09.2019 um 12:03 Uhr
Was für eine schöne Geschichte, zuerst dachte ich an Drachen zähmen leichtgemacht, doch dann zum Schluss an Inuyasha mit den ganzen bösen Wesen in der Grotte.
War sehr interessant zulesen auch wenn ich zwei drei Anmerkungen habe.
Die erste war, das mir persönlich eine Sichtliche Trennung zwischen Algona und Mililas Geschichte gefehlt hat.
Das zweite war, das ich zweimal lesen musste, das der Drache in Algonas Traum vor der Sonne flog und das riesige Spinnen/Gottesanbeter Vieh aus dem Wald kam. Das war etwas komisch geschrieben.
Und ich frage mich wer Chaira ist? Sie wurde im Traum erwähnt und danach nie wieder. Ist das vielleicht ein Schreibfehler?
Egal, weiter so.
Gruß Yuki
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Kathi71s Profilbild Kathi71

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