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Bei einem Einkauf stießen wir vor einigen Jahren am Wühltisch mit den Sonderartikeln auf eine ältere traditionell gekleidete Araberin. Sie wollte einen Strampelanzug erstehen, der ihr offensichtlich gut gefiel. Sie hielt den blauen Strampler liebevoll in ihren Händen und dachte wohl daran, wie der Strampelanzug ihrem kleinen Enkel stehen würde. Zwischenzeitlich schaute sie sich die vorbei strömenden Kunden aufmerksam an. Warum blieb zunächst unklar. Als wir uns ihr näherten, berührte sie leicht meinen Arm, ich wandte mich ihr zu. Sie sprach wohl kein Wort Deutsch, breitete das Objekt ihrer Begierde vor uns aus und zeigte auf die Preisschilder. Nachdem wir etwas länger ratlos die lange Reihe der Preisschilder studiert hatten, fanden wir schließlich das Preisschild für die Strampelhosen. Was dort alles sonst noch angepriesen wirkte teilweise kurios – aber „Festlicher BH“ ist mir im Gedächtnis geblieben. Zurück zum Strampelanzug, das Preisschild war rot. Rot ist günstig, weil die Ware im Preis herab gesetzt ist. Da beim besten Willen keine verbale Verständigung möglich war versuchten wir es wiederum mit Zeigen. Der Frau war dadurch noch nicht geholfen, sie versuchte uns etwas zu erklären und fing an, ihre Finger abzuzählen. Nach einigen Versuchen wurde mir es mir klar, unsere Ziffern nennen wir zwar arabische Ziffern, aber die Darstellung der Zahlen in der arabischen Welt, ist mit unserer Schreibweise nicht vergleichbar; sie konnte die Zahlen nicht lesen.
Das Preisschild wies 4,65 Euro aus. Das war zu kompliziert für die Zeichensprache und meine nur rudimentären Kenntnisse der arabischen Sprache waren nach Jahrzehnten des Nichtgebrauchs nicht mehr aus meinem Gedächtnis abzurufen. Ich reckte also die fünf Finger einer Hand hoch, um eine Fünf dazustellen. Ein Lächeln glitt über das Gesicht der Araberin, zum Zeichen des Danks verneigte sie sich vor uns. Wir winkten ihr zum Abschied zu und gingen unseren Besorgungen nach.
Der kleine Vorfall brachte mir ein Erlebnis in Erinnerung, das viele Jahre zurückliegt und das schon lange aus meinem Gedächtnis gelöscht schien. Es muss sich wohl im Jahr 1961 gewesen sein, also mitten in meiner Sturm- und Drangzeit. Das ist sehr lange her, aber jetzt erinnere ich mich wieder genau an dieses Ereignis. Im Nachhinein besehen, es war ein Wimpernschlag, eine Fußnote eines langen Lebens. Ich will der weiteren Geschichte nicht vorgreifen, aber so kurz und unbedeutend der Vorgang auch gewesen sein mag, mein Verhältnis zu Fremden wurde stark davon beeinflusst.
Wir waren drei junge Kollegen und verbrachten fast unsere gesamte Freizeit miteinander. So war es nichts Besonderes, dass wir gemeinsam im Sommerurlaub mit dem Auto an die Côte d’Azur fuhren. Wir planten über Genf, durch die französischen Hochalpen nach Nizza zu fahren. Damals noch eine ziemlich weite Fahrt mit dem Auto, bei der es ab Genf weitgehend über enge und kurvenreiche Alpenstraßen südwärts ging. Die Bergstraßen waren meist einspurig und so kamen wir nur langsam vorwärts. Bei Gegenverkehr gab es immer einige Rangierarbeiten, wenn die Begegnungen nicht gerade bei einer der Ausweichstellen stattfanden. So waren wir, von Genf aus kommend in Frankreich nur bis Annecy gekommen und heilfroh, erst einmal in einem quirligen Kurort angekommen zu sein und so genossen wir das Nachtleben. Beim Einkauf ging es direkt mit den Sprachproblemen los, schließlich sprachen wir drei kein Wort Französisch und beim Auffüllen unseres Proviants hatten wir nach längeren Versuchen in einer Mischung aus Zeichensprache und dem, was wir für Französisch hielten Nudeln, Würfelzucker, Kaffee und Eier erstanden. Uns fehlte Salz. Wir versuchten mit dem Würfelzucken in den Händen das Gegenteil dazustellen. Die Verkäuferin, schon leicht entnervt, reichte uns ein Produkt über die Theke, das ganz ähnlich verpackt war, wie wir es von deutschen Salzverpackungen her gewohnt waren. Erfreut zogen wir ab, stellten aber leider wenig später fest, wir hatten statt Salz Zucker gekauft. Spätesten zu diesem Zeitpunkt wurde uns klar, mit der Verpflegung könnte es schwierig werden.
An nächsten Morgen ging es zeitig weiter, schließlich wollten wir das Mittelmeer irgendwann erreichen. Die Straßen wurden mit der Zeit und je weiter wir in die Hochalpen vordrangen, immer einsamer. Den Col de Galibier überquerten wir noch am Vormittag und danach wurde es ganz, ganz still auf den Straßen. Wir waren bis Mittag eine ganze Zeit gefahren, vorbei an verlassenen Dörfern, einsamen Höfen und tiefen Schluchten. Langsam regte sich Hunger bei uns. Wir hatten alles dabei, einen Benzinkocher, einen Topf, eine Bratpfanne, Nudeln, Eier und Salz (im zweiten Versuch erstanden), was wir nicht hatten – Wasser zum Abkochen der Nudeln. Der Wassersack war leer. Wir suchten also bei der Weiterfahrt nach einer Möglichkeit an Wasser zu kommen. Aber wie bereits beschrieben, die Gegend war sehr, sehr einsam. Nach einiger Zeit sahen wir ein Anwesen links, ziemlich abseits, unterhalb der Straße.
Nach unseren Schwierigkeiten mit der Sprache, fehlte es an Mut in dieser Einsamkeit zum Haus zu gehen, um nach Wasser zu fragen. Was macht man in diesen Fällen? Man sucht nach einem freiwilligen oder guckt einen Mutigen aus, der die Aufgabe übernimmt. Dazu taugt immer der naivste. Ich war beides, naiv und mutig. Ich nahm also den leeren Wassersack und ging etwas zögerlich hinunter zu den Gebäuden. Als ich näher herankam, bemerkte ich, das Anwesen, so verlassen es auch schien, musste bewohnt sein. Ich sah Hühner und Schweine. Hinter den Ställen standen die Kühe auf der Weide. Kein Mensch war zu sehen. Ich schlich etwas verloren zwischen den Gebäuden herum; eins davon meinte ich als Wohnhaus zu identifiziert zu haben. Eingänge gab es mehrere, so ging ich also von Eingang zu Eingang. Immer in der Hoffnung, irgendwer könne mich entdecken, aber nichts geschah.
Schließlich kam ich zu einer Tür, die offen stand. Ein Blick genügte, um den saalgroßen Raum hinter der Tür als Küche zu identifizieren. An der hinteren Wand befand sich ein raumhoher offener Kamin, in dem Gestänge herunter hingen, die ich als Vorrichtungen einstufte, Kochkessel über das Feuer zu hängen. Neben dem Kamin gab es noch einen Holz- und Kohleherd, in diesen waren mehrere Backöfen integriert. Er erinnerte mich stark an den Küchenherd, den damals meine Verwandten in Bayern in ihrer Küche betrieben. Nahe der Tür befand sich ein Spülbecken, das fast eine Breitseite des Raums einnahm und über dem mehrere Wasserhähne angebracht waren. Ich hatte in dieser Einöde eher eine handbetriebene Wasserpumpe erwartet und war einigermaßen beeindruckt. Die Wasserhähne übten eine starke Anziehungskraft auf mich aus, schließlich waren wir hungrig und brauchten Wasser zum Kochen der Nudeln.
Ich stand unschlüssig herum, denn die Küche betreten, nein, das ging wirklich nicht. Also verlegte ich mich aufs Rufen. In der Meinung, der Ausdruck sei international, rief ich also mehrmals „Hallo“. Zunächst ohne Erfolg. Also versuchte ich es lauter. Meine Rufe erzeugten ein Echo in der Küche. So ging das eine ganze Zeit. Als ich fast schon bereit war unverrichteter Dinge zu gehen, betrat durch eine Tür in einer dämmrigen Ecke eine ältere Frau die Küche. Sie war etwas korpulent und mit einer Kittelschürze bekleidet. Misstrauisch wurde ich beäugt.
Ich hielt meinen Wassersack hoch, nahm meine „Sprachkenntnisse“ zusammen und brachte etwas heraus, das wie „Bonjour, Madame“ klang. Soweit klappte die Verständigung, die Antwort war ebenfalls, wenn auch etwas genervt, ein „Bonjour“. Weiter kam ich auf Anhieb aber nicht, da mein hochgehaltener Wassersack bei der Frau nur ein Schulterzucken auslöste. Sie wusste offensichtlich nicht, wozu das Gummiteil, das einer überdimensionierten Wärmflasche glich, taugen könnte.
Ich hatte mich vorher im Wörterbuch schlau gemacht, das französische Wort für Wasser „eau“, kannte ich also. Nur, es haperte mit der Aussprache. „Ö, ö“, die Frau zuckte mit den Schultern. Neuer Versuch – ich brachte etwas, das wie „e-a-u“ klang, über die Lippen. Sie schaute mich hilflos an und fragte, so reimte ich es mir später zusammen, „étranger! Anglaise?“ Ich schüttelte den Kopf und sagte „no“. Auf ihrem Gesicht erschien ein Anzeichen des Verstehens. „Allemand?“, fragte sie. Das verstand ich. Ich nickte und fasste neuen Mut, hielt wieder meinen Wassersack vor mich und zeigte in Richtung Wasserhähne. Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, „eau?“. Ich brachte nur ein Lächeln des Verstehens heraus und nickte dazu. Sie winkte mich auffordern zu sich heran und ging mit mir zu dem Spülbecken. Ich war am Ziel meiner Wünsche.
Die Frau, die zuvor eher den Eindruck gemacht hatte, durch mein Erscheinen gestört worden zu sein, schien jetzt eher erfreut über die Unterbrechung ihres Alltagstrotts zu sein. Sie nannte nacheinander verschiedene Ortsnamen. Als sie bei Nice angelangt war, brachte ich ein Yes heraus, sie war zufrieden mit meiner Antwort.
Nachdem ich meinen Wassersack gefüllt hatte, begleitet sie mich in Richtung Straße, bis wir das Tor des Gehöfts erreicht hatten. Sie erzählte mir auf der ganzen Strecke etwas und schaute mich dabei überaus freundlich an. Am Tor angelangt reichte sie mir die Hand und sagte, „au revoir!“. Auch mir kam so etwas Ähnliches wie „au revoir“ über die Lippen.
Oft habe ich mich damals gefragt, was die Frau mir auf dem Weg zum Tor erzählt haben könnte. Es bleibt auf immer ihr Geheimnis. Die Jahre vergingen und das Erlebnis selbst verschwand in den Tiefen des Gedächtnisses. Geblieben ist eine Lebenseinstellung, dem Fremden ohne Vorurteil zu begegnen. So schwierig das auch sein mag. Es klappt nicht immer, denn auch ich bin ein Mensch, der seine Vorurteile pflegt.
Vor einigen Jahren sagte ein Freund zu mir, „Vorurteil übersetzte ich mit – urteilen vor Wissen.“ Diese Aussage gebe ich unkommentiert ohne Bewertung weiter. Jeder möge den Wahrheitsgehalt selbst prüfen.
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Silly • Am 18.06.2021 um 0:26 Uhr | |||
Lieber Bernd. Wunderbar!!! Großartig geschrieben. Ich habe jedes Wort verschlungen.... und deine Botschaft dahinter ist sehr aussagekräftig. Unglaublich schön... Ich bin mit deinen Worten mit auf Reisen gegangen. Vielen Dank dafür. Liebe Grüße, Silly :)) |
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