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500 Jahre und ein Tag

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31.01.24 21:49
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Ich habe all meine Vorfahren, fast alle Freunde und früheren Kollegen, all die Menschen, die mich auf meinem Lebensweg begleitet haben, überlebt und auch die Frau, die ich liebte, ist von mir gegangen. Nun bin ich an dem Punkt angelangt, an dem ich übe, mit dem eigenen Ende umzugehen. Da bin ich entspannt, denn nach diesem langen glücklichen Leben ist es jetzt Zeit zu gehen. Vielleicht stimmt das so nicht! Nein, es stimmt wirklich nicht. Es gibt keine Zeit zu gehen, in einer nicht zu bestimmenden Zukunft werde ich sterben. Wann? Das ist gleichgültig! Ich fühle mich so, als sei ich von unbestimmtem Alter. Fünfhundert Jahre und ein Tag, so fühle ich mich und deshalb ist für mich selbst mein Alter leicht zu bestimmen. Das unbestimmbare Alter kann ich deshalb streichen. Die fünfhundert Jahre sind unwichtig, es können auch hundert oder fünfzig Jahre sein. Wichtig ist der eine Tag, dieser eine Tag, auf den ich neugierig bin. Meine Tage beginnen damit, dass ich neugierig auf den neuen Tag erwache, das ist es, was zählt und was mich antreibt. Was zählen da die bereits vergangenen Jahre? Der Tag ist es, der eine Tag, der gerade vor mir liegt.

Nach fast sechs Jahrzehnten Gemeinsamkeit mit der Frau, die ich geliebt und geachtet habe, betrachte ich diese Zeit als besondere Gnade. Ihr Tod stieß mich in tiefe Verzweiflung, bis ich schließlich erkannte, sie hat mich nicht verlassen. Ich kann sie immer noch erreichen. Sie antwortet, wenn ich sie um Rat bitte. Da sind keine übernatürlichen Kräfte im Einsatz, die vielen gemeinsamen Jahre sind es, die mich wissen lassen, wie ihre Antwort auf meine Fragen lautet.

Zurück zu dem einen Tag! Was scheren mich die vergangenen Jahre? Vorbei ist vorbei und vergangen ist vergangen. Die Vergangenheit besteht eben nur aus Erinnerungen – schönen, schrecklichen, traurigen und hässlichen. Es ist eben Vergangenheit – meine Vergangenheit, sie stirbt an dem Tag, in der gleichen Minute, in der auch ich sterbe. Meine Erinnerungen nehme ich mit ins Grab. Oder nicht? Doch es ist so, wie ich es gerade beschrieben habe. Es sei denn, ich falle auf meinem weiteren Lebensweg einer Demenz anheim, dann stirbt die Erinnerung vor mir. Niemand wünscht sich das, aber es ist trotzdem niemand davor gefeit und so habe auch diese Möglichkeit im Blick.

Bis es aber soweit ist, will ich meinen Tag gestalten. Dinge auf den Weg bringen, ist die schönste Art, die Tage zu gestalten. Da aber ist das Alter eine echte Bremse, genau genommen eine Barriere. Wer Dinge auf den Weg bringen will, braucht Beharrlichkeit und Ausdauer. Eigentlich habe ich beides. Nur will ich meist so viele Dinge auf den Weg bringen, dass dafür meine Lebensspanne auf gar keinen Fall reichen wird. Sich auf die Gegebenheiten des fortschreitenden Alters einzustellen, scheint eine schwere Übung zu sein. Dem einen gelingt das besser, dem anderen fällt es schwerer. Mir fällt es sehr schwer.

Einmal abgesehen davon, ich gestalte gerne Dinge und deshalb braucht es immer diesen einen Tag. Der Tag, an dem ich erwache und neugierig bin. Was kann nicht alles an diesem einen Tag passieren! Es kann mein letzter Tag sein, das weiß ich nicht, aber das weiß schließlich niemand. Nur ist eben im fortgeschrittenen Alter die Wahrscheinlichkeit, dass gerade dieser Tag der letzte sein könnte, höher als in jüngeren Jahren. Es kann ein glücklicher Tag werden, ich könnte mich verlieben, ich könnte üben, mit einem PKW-Anhänger zu rangieren. Ich kann aber auch versuchen, ob ich noch zwanzig Kilometer am Stück wandern kann oder ich vertiefe mich einfach in ein Buch, das ich schon lange einmal lesen wollte. Was also der Tag bringt, ist immer ungewiss und deshalb sehe ich jedem meiner Tage mit Spannung entgegen.

Was auch geschieht, es geschieht zufällig. Ich glaube weder an Vorsehung noch an einen (göttlichen) Plan, der mein weiteres Leben bestimmt. Der Zufall wird es richten. Ich stoße auf einen bissigen Hund, der mich ins Bein beißt. Abwegig? Das mag sein, ist mir aber leider bereits passiert und das auf offener Straße. Wie oft wird statistisch gesehen ein Mensch im Laufe seines Lebens vom Hund gebissen? Ich weiß es für Berlin (wenn ich richtig gerechnet habe). 0,01 % bei 80 Lebensjahren. So liege ich mit einem Biss kräftig über dem Durchschnitt. Der Zufall kann es auch richten, dass ich mich verliebe. Das ist, wenn ich auf mein Leben zurückblicke, häufiger geschehen als der Hundebiss und dazu kann ich jetzt nur schreiben, das ist gut so.

Am heutigen Tag hat die Sonne den Zenit bereits überschritten. Bisher hat er das erfüllt, was ich erhofft habe, und natürlich lebe ich nicht einfach in den Tag hinein und warte auf das, was da kommt. Ich gestalte gerne, das habe ich bereits geschrieben. Zum Gestalten gehört auch die Hoffnung, dass das eintrifft, das ich zu gestalten versuche. Ich gehe den Tag nicht nur mit Neugier an, ich versuche optimistisch durch das Leben zu gehen und so finde ich jetzt vielleicht doch noch den Dreh zu den 500 Jahren. Ich schreibe es wieder einmal aus – fünfhundert Jahre. Das ist aus menschlicher Sicht eine lange Zeitspanne, aus evolutionärer Sicht eher ein Wimpernschlag, eine Randnote im Lauf der Evolution. Doch wenn ich die fünfhundert Jahre zurückblicke, bestätigt sich vieles, was meinen Hang zum Optimismus stützt. Wenn auch die größte aller Geiseln, der Krieg, nicht überwunden wurde, bevorzuge ich den optimistischen Rückblick. Leibeigenschaft, Folter und Tyrannei wurden in weiten Teilen der Welt (insbesondere in unserem Heimatkontinent Europa) überwunden. Sklaverei ist weltweit zu einer seltenen Erscheinung geworden, um nur einige Beispiele zu nennen.

Ich bin jedoch nicht blind gegenüber dem, was noch zu bemängeln ist. Der Hass scheint auch eine unüberwindbare, die Menschen durch alle Zeiten begleitende, Erscheinung zu sein und wird es vielleicht für immer bleiben. Hass, gepaart mit wirtschaftlichen Interessen oder Großmannssucht, sehe ich als treibende Kraft hinter den Kriegen, die die Geschichte der Menschheit begleiten. Da hat sich nichts im Laufe der Jahrhunderte geändert. Fehlgeleitete Ingenieurskunst hat immer schrecklichere und tödlichere Waffen hervorgebracht. Wann wird das enden? Da sich weder wirtschaftliche Interessen noch Großmannssucht beseitigen lassen, bleibt als einzige Chance, die Ursachen des Hasses zu beseitigen.

Schon lande ich wieder bei meinem Alter. Achtzig Jahre haben nicht gereicht, den Hass zu überwinden; und wäre ich wirklich fünfhundert Jahre alt, hätte auch diese Zeit nicht gereicht. Das muss ich weder erklären noch beweisen, es ist einfach so. Der eine, dieser eine Tag, den ich für so wichtig halte, wird auch nichts daran ändern. In diesem Punkt sah ich lange mein Leben als gescheitert an, da hilft mein Gestaltungswille rein gar nicht. Mit der Frau, die ich liebte, war ich mir in diesem Punkt einig – wir sind gescheitert und das gemeinsam mit unserer ganzen Generation. Aber der Mensch entwickelt sich eben weiter. Heute beurteile ich mich selbst und meine Generation milder. Zwei Frauen, altersmäßig könnte die eine meine Tochter, die andere meine Enkelin sein, widersprachen mir (zu verschiedenen Zeiten und unabhängig voneinander) heftig, als ich meine Thesen zu meinem Scheitern vortrug. Ihre Argumente waren fundiert und wurden überzeugend vorgetragen. Ich gab mich geschlagen und fühle mich seitdem nicht mehr als am Leben gescheitert an.

So bin ich (fast) überzeugt, ich werde den Tag, diesen einen Tag, von dem ich hoffe, dass es nicht mein letzter sein wird, weiter gestalten. Besser gesagt, ich versuche ihn zu gestalten und werde immer wieder daran scheitern, dass ich zu viele Dinge gleichzeitig gestalten will. 500 Jahre und einen Tag lebe ich nun. Ich bin dem Tode näher als Zeugung und Geburt, aber die eine Gewissheit bleibt, selbst wenn ich heute, in der nächsten Stunde oder morgen sterbe, ich kann den Zeitpunkt nicht vorhersehen. Das gefällt mir und deshalb kann ich meine Tage gestalten, ohne zu wissen, ob meine Pläne Sinn machen oder in diesem Moment bereits Makulatur sind.

500 Jahre und ein Tag, 1999 Jahre und ein Tag, alles fließt ineinander. Die Jahre sind die Vergangenheit, daher ist ihre Anzahl unerheblich. Der Tag ist es, der eine Tag, die eine Sekunde, das ist die Gegenwart. Das ist die Zeitspanne, in der ich gestalten kann. Aus dem Gestalten erwächst die Zukunft und es ist völlig gleichgültig für einen Menschen meiner Altersstufe, wie viel Zukunft noch vor ihm liegt, aber diese Zukunft muss gestaltet werden. Ich schreibe das in dem Wissen, sobald die Zukunft erreicht ist, wird sie zur Vergangenheit. Am Ende vermischen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Für mich geschieht das an dem Tag, in der Stunde, in der Sekunde, in der ich sterbe.

Autorennotiz

Ich veröffentliche diese Gedanken im Wissen, dass die Mehrzahl der Menschen, die die diesen Text lesen, jüngeren Generationen angehört. Vielleicht ist finden jüngere Menschen meine Gedankengänge sonderbar oder sogar abwegig. Ich kann meinen Lesern aber versichern, je älter ein Mensch wird umso mehr wird er von sonderbaren Gedanken begleitet.

Das Original dieser Geschichte gibt es hier: erzaehlungen.moosecker-hassels.de/text/text_02_pdf.php?v=oeffentliche_adobe&d=500_jahre_und_ein_tag.pdf

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Klugscheisser Am 02.10.2024 um 16:17 Uhr
Hallo Bernd,

vielen Dank für deine Gedanken, die, denke ich, alle Menschen über 60 betreffen.

Ich möchte Dir ein Buch empfehlen

lovelybooks.de/autor/Barbara-Bleisch/Mitte-des-Lebens-12718257288-w

Im Mittealter dachten die Menschen, wenn man Thomas Manns Zauberberg Glauben schenkt, die Zeit sei eine Einbildung, eine Sinnestäuschung und es gäbe nur ein unendlich ausgedehntes Jetzt. Dieser Gedanke hat viel für sich.

Wissenschaftler fanden heraus, daß wir eine aktuelle Zeitspanne zwischen drei und sieben Sekunden als Gegenwart empfinden. Alles davor und danach sind bereits Vergangenheit und Zukunft.

Leider nehmen die Wenigsten von uns in der Lebensspanne zwischen Schulabschluss und Renteneinritt die Gelegenheit wahr, zumindest zeitweise, in der Gegenwart zu leben. Heute ändert sich das vermutlich ein wenig (Stichwort Work-Life -Balance) doch fürchte ich, daß auch viele Menschen in ihrer Freizeit nicht in der Gegenwart leben.

Bei uns war es ja mehr eine Work-Work-Balance zwischen Erwerbsarbeit und Hausbau z.B.

Ich denke, kein Mensch kann behaupten, er wäre gescheitert. Hierzu ein Zitat von Virginia Woolf:

„Denke daran, dass Dein eigenartiges Verhalten vielleicht der einzige Grund ist, warum jemand anderes noch lebt.“

Wir wissen nie, was wir am Ende der Kausalitätskette an Gutem verursacht haben. Natürlich müssen wir uns auch dessen bewußt sein, daß wir unbewusst weniger Gutes verursacht haben.

Aber nur, weil wir es nicht geschafft haben, die schlechte Welt aus den Angeln zu heben und eine Gute stattdessen einzusetzen, wie wir es in unserer Jugend vorhatten und davon überzeugt waren, daß wir es sein werden, die das schaffen, heißt es nicht, daß wir gescheitert sind.

Dir Alles Gute und Gruß nach Düsseldorf
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BerndMoosecker (Autor)Am 02.10.2024 um 21:49 Uhr
Hallo,
danke für Deinen besonders ausführlichen Kommentar zu meinen Gedanken über das Leben.

Immerhin ist Dein Kommentar so vielschichtig, dass ich mich gezwungen sah, meine eigene Geschichte noch einmal zu lesen.

Nein, behaupten, ich sei gescheitert, würde ich nicht. Aber es gibt eben das Gefühl, ich sei gescheitert. Gescheitert deshalb, weil ich bei dem, was ich mir seit der Jugend erhoffe, keinen Fortschritt sehe. Du siehst aber, einige Gespräche mit jüngeren Generationen können einen anderen Blick auf sich selbst bringen.

Deinen Buchtipp habe ich dankend zur Kenntnis genommen und er wird meine Bücherwunschliste verlängern. Ein Mensch, der soviel unterwegs ist, wie ich, hat leider zu selten Zeit zu lesen. Zum Schreiben leider auch, aber das funktioniert gut auf längeren Bahnreisen.

Vielleicht betrachte ich meine Lebensleistung zu kritisch. Vielleicht habe ich nur den Eindruck, ich hätte mich zu oft verrannt. Damit stehe ich mit Sicherheit nicht allein auf der Welt. Andere denken vielleicht weniger über sich selbst nach. All das weiß ich nicht, kann es nicht wissen und wahrscheinlich will ich es auch nicht wissen.

Gruß Bernd
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Schriftstellerin Am 17.02.2024 um 15:07 Uhr
Hallo Bernd,
Deine letzten Text sind alle etwas melancholisch. Ich kann Dich aber verstehen. Seit dem Verlust Deiner Partnerin bist Du allein, und das nicht gewöhnt. Wie es auch aus dem Text oben hervorgeht, macht uns allen die zunehmende Kriegsgefahr Sorge. Horrende Summen werden in die Rüstung gesteckt. Das Geld wird an anderen Stellen nötiger gebraucht.
Gestern wieder eine Hiobsbotschaft. Nawalny könnte ja fast Dein Enkel sein. Warum bloß ist er zurückgegangen? Er wusste doch was auf ihn zukommt. Er hätte vom Ausland aus, die Opposition anführen können. Da wäre er wichtiger gewesen. Ein zweiter großer Kriegsherd neben der Ukraine ist der Gazastreifen. Auch hier zeichnet sich keine Lösung ab.
Der Winter ist wohl abgeschafft worden. Wenn ich da an die Winter meiner Kindheit denke, mit Schneeburgenbauen, Eiszapfen an den Dächern und Schlitterbahnen.
Gruß aus Berlin - Ostkreuz von Schriftstellerin
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BerndMoosecker (Autor)Am 17.02.2024 um 21:05 Uhr
Hallo Schriftstellerin,
danke für Deinen ausführlichen und interessanten Kommentar.
Mein Texte mögen melancholisch sein, aber ich bin ein durchaus optimistischer Mensch. Es muss eben gelebt werden und ich tue das gerne.
Was mit Nawalny passiert ist ist das, was ich eine Katastrophe nenne. Warum ist er zurück gegangen? Vielleicht aus Überzeugung, weil er nicht bereit war sich dem Unrecht zu beugen. Wir brauchen Menschen mit diesem Mut, dürfen uns aber nicht hinter ihnen verstecken.
Gruß aus Düsseldorf
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Zeichen: 8.693

Kurzbeschreibung

In meinem Alter spielen das Lebensende und der bisher zurückgelegte Lebensweg eine überragende Rolle. Ich versuche mich davon abzulenken, indem ich neugierig in die Zukunft blicke und versuche meine Tage zu gestalten. Dinge auf den Weg bringen, nenne ich das.