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Welche Farbe hat ein Spiegel?

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29.12.23 19:58
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Michael sitzt mit seinem Dosenbier in der Badewanne, als Mama anruft, um ihm zu sagen, dass sie ihn gerade nackt in der Ortsmitte am Maibaum stehen sieht. Die leeren Bierdosen tanzen wie kleine Boote in den Wellen, die er beim Aufstehen macht. Überrascht ist er nicht. So wie sich die Sache bisher entwickelt hat, war abzusehen, dass es jeden einmal erwischt.

Er greift nach seinem Handtuch, doch der Geruch von nassem totem Hund schlägt ihm entgegen. Das Handtuch fliegt in die Ecke, die er zur Sammlung seiner dreckigen Wäsche auserkoren hat. Trocken wird man auch von alleine. Michael zieht sich sein Metallica-Shirt und eine Shorts an und ext den letzten Schluck, der noch überraschend groß ist. Hustend steigt er in seine Schlappen, schnappt sich seine Schlüssel und schlurft die drei Stufen aus seiner Wohnung auf die Straße hinunter.

Es ist zehn Uhr und die Ortsmitte ist wie ausgestorben. Der Dönerimbiss und die Eisdiele haben noch zu. Die Kinder, die normalerweise auf dem Kirchplatz rumhängen, sind in der Schule. Und so steht da nur er. Michael hätte etwas zu anziehen für ihn mitbringen sollen. Er zögert und bleibt auf der anderen Straßenseite stehen. Jetzt wo er ihn sieht, findet er nicht den Mut auf ihn zuzugehen. Ein Auto hält an und der Fahrer winkt und gestikuliert Michael, dass er ihn über die Straße lässt. Und da Michael sich ersparen will, zurückzugestikulieren, dass er noch gar nicht über die Straße will, geht er und bedankt sich artig.

Natürlich hat Michael sich darüber Gedanken gemacht, wie es wäre, wenn sein Doppelter auftauchen würde. Aber das war für ihn bisher ein abstraktes Gefühl. Etwas, das seine eigene Vorstellungskraft überstieg. Wie man sich als Kind nicht vorstellen kann, wie es ist, wenn jemand stirbt. Und dann sitzt du auf der Beerdigung vom Vater und die Vorstellungskraft ist gewachsen.

Jetzt steht er direkt vor ihm. Vor sich. Sein Gesicht sieht ein bisschen verschoben aus. Nicht so, wie es jeden Morgen im Spiegel aussieht. Eher so wie auf den Fotos, die in Mamas Wohnung hängen. Michael steht vor einem Fremden. Wie soll er sich verhalten, wie ihn begrüßen? Sein dringendstes Gefühl im Moment war, dass er nicht will, dass ihn das ganze Dorf nackt sieht.

Mit einem Metallica-Shirt um den Unterkörper gewickelt folgt der Doppelte Michael nach hause. Als er die Wohnungstüre aufschließen will, merkt er, das er vergessen hat sie abzuschließen. Er tritt in seine Wohnung ein und fragt sich, ob er den Doppelten hereinbitten soll, oder wie da die Konventionen sind. Aber der ist ihm bereits gefolgt und die beiden stehen im engen Flur. Keiner von beiden weiß so recht, was zu tun ist. Michael biegt in die Küche ein, um sich ein frisches Bier aus dem Kühlschrank zu holen, der bis auf die Bierdosen und eine fast aufgebrauchte Packung Butter leer ist. Auf der Arbeitsplatte liegt eine angebrochene Packung Frischeiwaffeln, die er gezielt durch die Durchreiche auf den Esstisch wirft. Sein Doppelgänger ist in der Küchentür stehengeblieben und beobachtet ihn mit leeren Augen. Michael schaut seinen Frischeiwaffeln hinterher und überlegt für einen kurzen Moment, ob er ihnen durch die Durchreiche hinterher klettern soll. Mama hat schon oft gesagt, dass er aus der Durchreiche einen Durchbruch machen soll, um Küche und Wohnzimmer zu verbinden . Wenn er auf sie gehört hätte, müsste er jetzt nicht seinen Doppelten bitten ihn durchzulassen. Doch das hat er nicht, uns so muss er es jetzt tun. Mimik und Gestik können die noch nicht, wenn sie so frisch sind, aber der Doppelte versteht ihn – immerhin – und folgt ihm ins Wohnzimmer. Als er sich auf den einzig freien Stuhl am Esstisch setzt, lässt er seine Bierdose fröhlich zischen. Der Doppelte stellt sich mit unangenehmem Nicht-Abstand neben Michael woraufhin dieser, einen Stuhl unter dem Tisch hervor zieht und den Stapel Zeitschriften und Werbeheftchen auf den Esstisch wirft, wo er zwischen weiteren Stapeln und Michaels Postablagesystem versinkt. Der Doppelte setzt sich auf den freien Stuhl: aufrechte Haltung, Hände auf den Oberschenkeln abgelegt. Noch sieht seine Fähigkeit, einen Menschen nachzuahmen, gezwungen und unbeholfen aus. Michael sollte ihm einen Namen geben. Als Jugendlicher wollte er immer Wolf heißen und hat eine Zeitlang erfolglos versucht diesen Spitznamen für sich zu etablieren. Jetzt wo er sich vor sich sieht, sieht er ein, dass der Name zu cool für ihn ist. Und für alles, was wie er sein würde.
»Willst du Thomas heißen?«, fragt Michael und erschrickt vom lauten Klang seiner eigenen Stimme. »Ist mein zweiter Vorname.«
Der Doppelte starrt ihn an, ohne Anzeichen, ob er ihn verstanden hat, geschweige denn ob er einverstanden ist. Sprechen können sie anfangs nicht, man ist aber der Meinung, dass sie alles verstehen. Er nimmt sich eine Waffel aus der Plastikpackung und beißt ab, als er den Schlüssel in der Tür hört. Mama. Er hört, wie sie in sein Schlafzimmer geht und den Korb mit der frischen Wäsche abstellt. Sie kommt mit einem Shirt, einer Hose, Unterhose und Socken ins Wohnzimmer. Sie legt sie Thomas auf den Schoß. »Zieh das an.«
»Und du«, sagt sie in Michaels Richtung »stell das Bier weg.«
Er weiß wie immer nicht welche von seinen Müttern es ist. Mama war früh dran. Nicht als noch Panik ausbrach, wenn einer der Doppelten auftauchte, aber doch noch ziemlich am Anfang. Bevor es zur Routine wurde.

»Ich sag dir jetzt Mal was über die.« Mama zeigt auf Thomas, der sich gerade ungeschickt versucht, die Unterhose anzuziehen. Sie sammelt die Hefte und Papiere vom Tisch auf. »Du hast hier ein unbeschriebenes Blatt mit allen Möglichkeiten. Er wird dir folgen, dir zuschauen, dir zuhören. Bei allem was du tust. Nach ein paar Wochen wird er jede deiner Angewohnheiten, deiner Eigenarten und deine komplette Persönlichkeit übernommen haben.« Sie sortiert die Werbung und die alten Zeitschriften auf einem Stapel auf dem Boden und meine Post auf einem ordentlichen Stapel auf dem Esstisch. »Jetzt pass gut auf. Das ist deine Chance, der zu werden, der du immer sein wolltest.«

»Die Doppelte von der Kienle Marie ist am 01. Januar aufgetaucht. Und die zieht im Januar doch immer ihre Neujahrsvorsätze durch.«
Michael schaltet ab, wie immer wenn Mama Dinge über Leute erzählt, die er nicht kennt. Schon wieder öffnet sich die Haustür. Die andere Mama. Sie taucht mit einem Korb in der Küche auf und füllt den Kühlschrank auf. Sie legt Bananen und Orangen auf einen tiefen Teller und stellt ihn neben den Herd. Sie fährt mit dem Finger über die Arbeitsfläche. Sie sollte nichts daran aussetzen zu haben, immerhin hat sie erst die Tage die Wohnung geputzt.

»… na ja aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls war die Marie jeden Morgen joggen, hat sich dann Haferbrei mit Obst gemacht, hat meditiert … du kannst es dir vorstellen.« Inzwischen war der Tisch abgeräumt. Thomas hat es geschafft sich anzuziehen und setzt sich wieder neben Michael an den Esstisch.

»Der alten Marie ist Ende Januar die Motivation ausgegangen, aber die neue war in ihrer Persönlichkeit schon gefestigt. Jetzt sind die Maries die einzigen Doppelten, die wir kennen, die sich kaum noch ähnlich sehen.« Die andere Mama kommt aus der Küche ins Wohnzimmermacht und macht eine übertriebene Mundbewegung für »fett«, ohne einen Ton zu sagen.
»Und ehrlich gesagt sind wir nicht böse, wenn nur die neue zum Hauskreis kommt, weil die alte mal wieder malad ist«, schließt Mama und schaut bedeutungsvoll in Michaels Richtung. Erst jetzt bemerkt sie, dass Thomas und Michael nebeneinander sitzen. Fragend blickt sie vom Einem zum Anderen, wie verwirrt, welcher der beiden leer dreinblickenden Männern das Original ist.

Die andere Mama springt ein: »Stell’ das Bier weg, zieh’ dir was an und reiß’ dich zusammen. Nur für ein paar Wochen. Überleg’ dir, wer du schon immer sein wolltest.« Sie tätschelt Thomas auf die Schulter, der unter seiner ersten menschlichen Berührung zusammenzuckt.

»Wir ziehen uns zurück. Überleg’s dir gut. Macht uns stolz.«
Mit einem Rauschen verschwinden die beiden aus der Wohnung und lassen Michael und Thomas in einer Wolke von Weichspülerduft und Rosenwasser zurück. Michael steht auf und öffnet die Balkontür. Thomas weiß nicht, ob er auch aufstehen soll. Michael lässt sich auf die Couch fallen und schaltet den Fernseher ein. Er zieht sich ein frisches T-Shirt aus dem halbvollen Wäschekorb, der auf dem Couchtisch steht und vergeblich darauf wartet, in den Schrank verräumt zu werden. Thomas beobachtet ihn und zögert. Während die X-Box hochfährt holt sich Michael sein angebrochenes Bier vom Esstisch. »Mach’s dir gemütlich, wenn du magst.«

Michael schließt die Wohnungstür auf. Kid Kapichi röhrt ihm in voller Lautstärke entgegen. Er wirft seinen Rucksack in den Flur und bringt ein in Alufolie gewickeltes Paket in die Küche, wo er es zwischen Stapeln von dreckigem Geschirr und leeren Pizzakartons hinlegt. Der Kühlschrank ist bis auf eine einzige Dose leer. Spezi. Besser als nichts. Während er den ersten Schluck nimmt, lehnt er sich mit seinem ganzen Körper an die Kühlschranktür, um sie wieder zu schließen. Dann steckt er seinen Kopf durch die Durchreiche. »War das das letzte?«, ruft er über die Musik hinweg.
Thomas, der auf dem Sofa liegt und eine leere Bierdose auf dem Bauch balanciert, hört ihn nicht. Michael schlurft ins Wohnzimmer und lässt sich neben ihn aufs Sofa fallen.
»Mama hat uns Kuchen vor die Tür gelegt.«
»Marmor?« Thomas lässt die Dose auf seinem Bauch tanzen, indem er die Luft anhält und ruckartig wieder ausatmet.
»Ich glaube ja.«
»Yeah.«
»Yeah.«

 

Autorennotiz

Dieses Mal habe ich zwei Buchstaben kombiniert um eine etwas längere Kurzgeschichte zu schreiben. Diese Woche also N&L: Neue Lebensformen. Ich freue mich über Feedback.

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Simons Profilbild
Simon Am 29.12.2023 um 8:30 Uhr
Gut geschrieben was ich las - der Titel der Geschichte ist spannend und toll ( insich eine gute Frage ). :O)
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sthurbels Profilbild
sthurbel (Autor)Am 29.12.2023 um 20:36 Uhr
Danke :)
(Storyhub lässt mich nicht auf Kommentare antworten ... )
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Simon Am 29.12.2023 um 22:08 Uhr
Bitte. Nicht so schlimm.

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Sätze: 123
Wörter: 1.653
Zeichen: 9.492

Kurzbeschreibung

So wie sich die Sache bisher entwickelt hat, war abzusehen, dass es jeden einmal erwischt.