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Eine Geschichte in den Geschichten - und ein Rückblick voller Dank

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29.07.22 19:54
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Autorennotiz

Der Text entspringt dem, was unser aller Leben gerade massiv verändert. Auf Grund der Pandemie beschäftigte ich mich nach langer Zeit wieder einmal mit meiner Patientenverfügung. Dieser Text hat nichts mit der Verfügung zu tun, ich habe entschieden, meine Verfügung ist immer noch aktuell. Mein Text beschreibt, was mir nach Ende der Durchsicht in den Sinn kam. Es ist auch keine ausgearbeitete Geschichte, ich habe den Text so niedergeschrieben, wie ich es an diesem Tag empfand. Eingebettet darin, Auszüge aus zwei meiner Geschichten. Dank, den ich beim Rückblick auf mein Leben empfinde, veranlasste mich diese Zeilen zu schreiben.

Das Original dieser Geschichte gibt es hier: erzaehlungen.moosecker-hassels.de/text/text_02_pdf.php?v=oeffentliche_adobe&d=eine_geschichte_in_den_geschichten.pdf

Es gehört wohl dazu, dass man nach einem langen Leben zurück auf den Weg schaut, den man gegangen ist. Da hat sich etwas bei mir geändert und das geschah zuerst unmerklich, aber jetzt ist es nicht mehr zu übersehen – ich schaue oft zurück auf den zurückgelegten Weg. Als ich jünger war, bin ich lieber vorwärts gestürmt und habe nur selten zurückgeschaut. So hatte sich am Ende bei mir eine Frage eingeprägt – ich bin weit gekommen, doch was will ich hier? Heute stelle ich diese Frage nicht mehr, denn ich fühle mich, als sei ich angekommen. Je mehr ich fühle, dass ich angekommen bin, umso dankbarer blicke ich auf den langen Weg zurück, der hinter mir liegt. Die Frage, ob es etwas, wie ein Leben nach dem Tod gibt, stellt sich für mich nicht. Dieses wunderbare Leben gelebt zu haben, reicht mir vollkommen. Wenn es dann einen Schöpfergott geben sollte, so bin ich ihm einfach nur dankbar für dieses Leben, gibt es ihn nicht, danke ich dem Schicksal für dieses Leben.

Die einleitenden Sätze dienen nur der Verdeutlichung, der Gedanken, die mich begleiten. Oft kreisen diese Gedanken um die Personen, die in meinen Erzählungen auftauchen. Ich habe den Eindruck, diese ruhen heute eher in sich selbst, als in frühen Erzählungen. Genau wie ich, sind diese Personen meist fern der Religionen, aus denen sie stammen. Oft zweifeln sie an der Existenz Gottes, aber im Gegensatz zu mir, setzen sie sich durchaus mit Religionen auseinander.

Rachel, aus der Erzählung Jakob liest vor, wird von ihrer Mutter gerügt, weil sie nicht nach den Gesetzen lebt. Auf die Einlassung ihrer Mutter, die Lebensweise ihres Bruders Jaakov, wäre doch leicht zu leben, antwortet Rachel: „Ja, Ima. Aber Jaakov hat eine Einstellung zur Religion, die weitgehend der euren entspricht. Da ist es normal, so zu leben. Ich glaube nicht an Gott und mit Religion habe ich schon einmal gar nichts am Hut. Du weißt, wenn wir bei diesem Thema sind, drehen wir uns im Kreis. Bitte lass mich so leben, wie ich möchte. Ich rede euch nicht rein und ihr mir nicht, dann ist alles gut.“ Damit ist für Rachel das Thema erledigt, sie kommt in der ganzen Erzählung nicht mehr darauf zurück, lässt sich aber ab und zu von ihren Eltern zum Kiddusch einladen.

Hannah, aus meiner bisher unveröffentlichten Erzählung Réfugiés, geht mit der Religion differenzierter um. Sie bittet ihren Geliebten, bevor sie ihre Flucht allein fortsetzt, mit ihr die Kathedrale zu besuchen. Es entwickelt sich folgender Dialog:
     „Liebster, an einem meiner letzten Tage in Bayeux gehen wir noch einmal in die Kathedrale. Vielleicht hilft es, damit wir uns eines Tages wiedersehen.“
     „Ich glaube nicht an so etwas, aber es kann ja nicht schaden.“
     „Ich bin auch nicht religiös, aber wen, außer Gott, könnten wir sonst um Hilfe bitten?“
     Hans streichelte Hannah über die Haare. „Du als Jüdin solltest aber in einer Synagoge Gott um Hilfe bitten.“
     „Gibt es denn eine Synagoge in Bayeux?“
     „Nein, aber in Deauville. Möchtest du, dass wir zu dieser Synagoge fahren?“
     „Nein, ich glaube, Gott ist in jedem Gotteshaus anwesend. Ich habe auch nicht vor zu beten, denn das wäre Heuchelei.“
     „Hannah, wir gehen in die Kathedrale und hoffen auf Hilfe. Wir werden uns nach dem Krieg wiedersehen, da bin ich ganz sicher.“
     „Ich hoffe darauf.“

Daraus entwickelt sich die Szene, in der die Beiden in der Kathedrale weilen – Hand in Hand gingen sie zur Kathedrale. Der hohe Innenraum des gotischen Gotteshauses machte Hannah beklommen, trotzdem stand sie still, konzentriert und versuchte, mit Gott zu kommunizieren. Sie glaubte eigentlich nicht an Gott, meinte aber, dass es nicht schaden könne, höhere Mächte um Hilfe zu bitten. All ihre flehenden Bitten, die sie wortlos gegen die gewölbte Decke des Kirchenraums sandte, galten Hans, für sich selbst zu bitten, hielt sie für unwürdig und unangemessen. Hans stand etwas hinter ihr, Religion sagte ihm nichts; und trotzdem, auch er sandte eine flehentliche Bitte gegen das Kirchengewölbe: ,Wenn es dich geben sollte, dann beschütze bitte Hannah.‘ Als Hannah sich umwandte, nahm er sie bei der Hand, sobald sie den Vorraum der Kirche betreten hatten, hielt Hans sie zurück und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Hannah entwickelt sich weiter. Sieben Jahre später betritt sie mit ihrer kleinen Tochter an der Hand eine Kirche, ihre Gedanken sind bei dem Menschen, den sie damals geliebt hat und ihre Tochter Sarah hat eine Frage. Sie zupft deshalb am Rock ihrer Mutter.
     „Was möchtest du, mein Schatz?“
     „Mum, ist das die Synagoge?“
     „Nein, Schatz, das ist eine Kirche. Siehst du das Kreuz und den Altar dort vorn? Da stände in der Synagoge eine Menora und der Thoraschrein.“
     „Aber Mum, wir dürfen doch gar nicht in eine Kirche gehen!“
     „Eine Kirche ist ein Gotteshaus und steht allen Menschen offen, mein Schatz. Warum meinst du, dürfen wir nicht in eine Kirche gehen?“
     „Weil wir Juden sind! Wir haben Gott ermordet!“
     Hannah hatte ein Gefühl, als hätte sie ein schwerer Schlag getroffen, der ihr den Boden unter den Füßen wegzog. Sie holte einige Male tief Luft, um ihre Fassung zu wahren und hockte sich dann vor Sarah hin, damit sie auf Augenhöhe mit ihr war. Mit mühsam ruhiger Stimme fragte sie, „Sarah, mein Schatz, wie kommst du denn auf diese Idee?“
     „James aus meiner Klasse sagt, die Juden wären schlecht, sie hätten Gott ermordet.“
     Hannah war wieder kurz davor, ihre Fassung zu verlieren, antworte aber so ruhig, wie möglich, „mein Schatz, Gott kann man nicht töten. Gott steht für all das, was immer schon war, für all das, was ist und für all das, was noch kommt. Gott ist kein Lebewesen, er existiert nur in unserem Innern, in unseren Gedanken. Jeder Mensch trägt ein eigenes Bild von Gott in sich.“
     „Aber Andrew hat gesagt, alle Juden kämen in die Hölle, weil sie das getan haben. Sind die Juden wirklich so schlecht?“ Plötzlich brach Sarah in Tränen aus.
     Hannah setzte sich auf eine Kirchenbank und nahm Sarah auf ihren Schoss. „Mein Schatz, warum weinst du?“
     „Ich will nicht, dass du in die Hölle kommst. Du bist doch immer zu allen so lieb.“
     Hannah wischte Sarah die Tränen ab und drückte sie dann an sich. „Liebes, was die beiden sagen, ist Unsinn. Wir Juden sind nicht schlechter oder besser, als andere Menschen. Ich habe dir doch gesagt, Gott existiert nur in unseren Gedanken, da man Gedanken nicht ermorden kann, kann auch niemand dafür bestraft werden. So wie Gott kein Lebewesen ist, ist die Hölle kein Ort. Auch die Hölle existiert nur in unseren Gedanken, sie ist eine reine Erfindung von Menschen, die anderen Menschen Angst machen wollen. Es ist so Sarah, Christen und Juden beten zum gleichen Gott. Ha Tanach, also die jüdische Bibel, ist der erste Teil der christlichen Bibel, sie nennen diesen Teil das Alte Testament. Was James und Andrew gesagt haben, ist schon deshalb Quatsch. Du weißt, Granny ist eine fromme Christin. Sie hat uns beide sehr lieb und sie käme nie auf die Idee uns so einen Unsinn nachzusagen.“
     „Aber wir beten doch in verschiedenen Häusern.“
     Hannah legte Sarahs Hände in die ihren, „ja, das stimmt, Schatz, aber das macht doch nichts, Gott kann man in jedem Haus, das für ihn gebaut wurde, um etwas bitten – oder man kann ihm dort danken.“
     „Bittest du um etwas?“
     „Nein, ich möchte mich dafür bedanken, dass dein Papa den Krieg überlebt hat.“
     „Du Mum, ich habe für ihn ein Bild gemalt. Ich möchte, dass du es nach Deutschland mitnimmst.“
     „Das mache ich. Er wird sich bestimmt darüber freuen, mein Schatz.“

Alle Personen, die in meinen Erzählungen auftauchen, haben irgendetwas mit mir oder mit Menschen zu tun, denen ich in den vielen Jahren meines Lebens begegnet bin – selbst wenn es sich um Verbrecher handelt. Ich habe schließlich nur mein Leben und die Beobachtung anderer Leben, woraus ich eine Geschichte spinnen kann. Meine Einstellung zu Gott und Religionen, ist nicht die, die die Menschen in meinen Erzählungen haben. Meiner Einstellung am nächsten kommt noch Hannah mit ihrer Erklärung, dass Gott für all das steht, was war, was ist und was noch kommt. Für mich ist Gott in einer ähnlichen Position, er steht für all das, was wir Menschen nicht ergründen können.

Was bei mir am Ende bleibt, ist die Aussage vom Anfang dieser Schrift, danke für dieses Leben.

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Silly Am 05.05.2020 um 16:16 Uhr
Eigentlich fehlen mir die Worte... Es ist wirklich wunderbar geschrieben. Ich nehme eine Botschaft aus diesen Zeilen für mich mit und danke herzlich dafür...
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Silly Am 05.05.2020 um 20:35 Uhr
@BerndMoosecker Das ist sehr bedauerlich. Die aktuellen Umstände schnüren die Kontaktaufnahme zu unseren Lieben wirklich erheblich zu. Vielleicht besteht ja die Möglichkeit für ihre Tochter, es Ihnen via Internet zukommen zu lassen.
Und was den Kommentar von mir zu ihrer Geschichte betrifft: Er ist durchaus berechtigt.

Gruß Silly
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BerndMoosecker (Autor)Am 05.05.2020 um 19:45 Uhr
Hallo Silly,

der Kommentar freut mich, denn ich selbst habe den Text in einem Seniorenforum für das ich tätig bin, als wirr beschrieben.

Der Text aus der Erzählung Réfugiés wird hoffentlich Gnade vor den Augen meiner Tochter finden, denn diese hat das große "Werk" korrigiert. Das Ergebnis kenne ich noch nicht, Corona verhindert den Versand der vielen Seiten. In dem ländlichen Bezirk Frankreichs, in dem sie lebt, sind im weiten Umkreis alle Poststellen geschlossen. Außerdem herrscht ein strenges Ausgangsverbot. Ich muss mich also in Geduld üben.

Gruß Bernd
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Sätze: 93
Wörter: 1.474
Zeichen: 8.282

Kurzbeschreibung

Im fortgeschrittenen Alter schaut man zurück auf sein Leben, auch ich tue das. Ab und zu vermischen sich meine Erinnerungen mit dem, was die Protagonisten meiner Geschichten tun und denken.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Philosophie auch in den Genres Religion, Nachdenkliches gelistet.

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