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Nichts ist so wie es scheint

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26.04.18 23:55
18 Ab 18 Jahren
Heterosexualität
In Arbeit

Katherine Lancaster hörte einen schrillen Piepton, den sie nicht zuordnen konnte und der ein hämmern in ihrem Kopf verursachte. Alles um sie herum war dunkel und mehr als diesen Ton konnte sie nicht wahrnehmen. Mit aller Macht versuchte sie sich zu bewegen, aber es gelang es ihr nicht. Nichts gelang ihr. Ihr Körper schien ihr nicht zu gehorchen. Panik stieg in ihr auf als ihr der Gedanke kam, dass sie irgendwo gefangen war. Erneut versuchte sie sich zu bewegen, aber es gelang ihr auch diesmal nicht. Das einzige was ihr möglich war, war zu hören und zu riechen. Doch was roch sie? Der Geruch kam ihr bekannt vor, aber sie konnte ihn nicht einordnen. Es roch nach – ja nach was genau roch es? Sie konnte es definitiv nicht zuordnen. Luft hingegen schien sie genug zu bekommen.

Ein leises quietschen war zu hören, gefolgt von einer Stimme. Oder waren es doch zwei? Angestrengt und mit wahnsinnigen Schmerzen im Kopf konzentrierte sie sich auf die Stimme. Ja, es schienen zwei Stimmen zu sein. Zwei männliche Stimmen, die immer näher kamen. Der stechende Schmerz wurde stärker und um sie herum machte sich ein Nebel breit. Ihr Hörsinn schien etwas nach zulassen.

„… Ergebnisse?... lange noch?...“, hörte sie eine der beiden Stimmen sagen.

„… Geduld…“, sagte sie andere männliche Stimme.

Ihre Panik wurde immer größer, denn sie hatte keine Ahnung gehabt wovon die beiden Männer sprachen und wo sich befand. Sie fokussierte sich darauf mehr zu hören, aber es war wieder still in dem Raum. Das piepen entfernte sich als sie ihr Bewusstsein verlor.

Als sie von den stechenden Schmerzen in ihrem Kopf erneut geweckt wurde, spürte sie eine Berührung an ihrer linken Hand. Dieser Geruch von vorhin war wieder präsent und Katherine konnte diesen Geruch immer noch nicht zuordnen. Ihre Kopfschmerzen glichen einem Presslufthammer, der gerade den Asphalt einer Straße bearbeitete.

„… Sorgen… brauche dich... .“, hörte sie die männliche Stimme von vorhin sagen. Es waren Bruchteile eines Satzes. 

Doch diese Stimme kannte sie nicht. Ihr Vater war es nicht und auch nicht ihr Bruder. Wer war dieser Mann? Eine weitere Panikattacke übermannte sie als sie hörte wie der Piepton schneller und konstanter wurde. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und ihr Puls raste, was zur Folge hatte, dass ihre Schmerzen im Kopf nur intensiver wurden. Sanft strich eine Hand über ihren Unterarm.

„Wer bist du? Und warum gehorcht mir meiner Körper nicht?", fragte sie stumm. Denn sie hatte keine Ahnung gehabt, dass man sie nicht hören konnte.

Als ihr niemand antwortete und sie weiterhin nur die Berührung spürte, wurde ihre Angst größer. Niemand sprach mit ihr und außer einer Berührung passierte nichts. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schneller. Die 32 Jährige hatte ein beklemmendes Gefühl, denn so was hatte sie noch nie erlebt.

„… Zur Seite…“, sagte eine männliche Stimme, die sie schon mal gehört hatte.

Sie versuchte ihren Körper zu einer Regung zu überreden. Eine kleine Regung würde ihr reichen. Mit aller Kraft und trotz der extremen Kopfschmerzen gelang es ihr den linken Zeigefinger kurz zu bewegen. Zufrieden und erschöpft von der Anstrengung beruhigte sie sich etwas. Dennoch raste ihr Herz und ihre Panik wurde davon nicht gänzlich abgeschwächt.

„… der Finger…“, sagte der Mann, der vorhin von Sorgen sprach.

Eine Hand umgriff, mit einem festen Druck, ihren Oberarm. Doch sie konnte sich nicht dagegen wehren. Es tat nicht so weh wie ihr Kopf, aber angenehm war was anderes.

„Jetzt streng dich an und versuch es nochmal.“, sprach sie mit sich selbst.

Außer sich selbst hörte sie keine andere Stimme. Katherine konzentrierte sich darauf erneut ihren Finger zu bewegen. Doch es schien schwerer als gedacht. Mit aller Kraft entschied sie sich ihre Augen zu öffnen. Ihre Augen flackerten als sie diese einen kleinen Spalt breit öffnete. Das grelle Licht blendete sie und sie kniff ihre Augen sofort wieder zusammen.

„Miss Lancaster?“, hörte sie einen Mann sagen und der Griff um ihren Oberarm wurde stärker.

Ihre Atmung wurde schwerer und Katherine öffnete erneut ihre Augen einen Spalt breit. Wieder war da dieses grelle Licht, aber diesmal wollte sie nicht nachgeben. Sie wollte sich endlich orientieren können. Als sie ihre Augen etwas weiter geöffnet hatte, sah sie einen Mann, mit grauen Haaren und einem weißen Kittel, über sich gebeugt. Er lächelte sie freundlich an. Eine Bewegung auf der rechten Seite weckte ihr Interesse. Langsam drehte sie ihren Kopf etwas nach rechts. Da stand ein weiterer Mann. Er war hatte braune Haare und einen Dreitage Bart. Seine blauen Augen fixierten sie. Beide Männer waren ihr fremd.

„Miss Lancaster können Sie mich verstehen?“, sagte der Mann in dem weißen Kittel.

Ihren Mund öffnete sie, aber mehr wie ein krächzendes Geräusch kam nicht heraus. Es machte ihr Angst, dass sie nicht sprechen konnte. Eine weitere Person betrat das Zimmer und sie konnte aus den Augenwinkeln erkennen, dass es eine Frau war. Sie hatte einen Becher in der Hand, aus dem drei lange Stiele herausschauten. Katherine schaute den Mann, in dem weißen Kittel an und versuchte wieder etwas zu sagen, jedoch ohne Erfolg.

„Ich befeuchte Ihre Lippen mit dem Tupfer. Und wenn Sie möchten, können Sie an dem Tupfer etwas lutschen. Das sollte es Ihnen erleichtern etwas zu sagen.“

Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie den Mann an und schloss einmal kurz ihre Augen. Sie hoffte, dass der Mann diese Geste als Bestätigung verstand. Vorsichtig benetzte der Mann ihre Lippen mit der kühlen Flüssigkeit. Es tat ihr gut und sie schaffte es sogar ihre Lippen leicht zu öffnen. Ihr Mund war trocken und als der Mann den Tupfer in ihren Mund führte, war es ein gutes und erfrischendes Gefühl. Die kühle Flüssigkeit schmeckte nach etwas. Es schien nicht nur Wasser zu sein. Sie strengte sich an, um sich an den Geschmack zu erinnern. Zitrone? Ja, es schmeckte nach Zitrone. Nachdem der Mann den Tupfer aus ihrem Mund genommen hatte, bewegte sie ihren Mund und er fühlte sich nicht mehr so trocken an.

„Wo bin ich?“, fragte sie mit einer leisen und rauen Stimme.

„Sie sind im Jackson Memorial Hospital und ich bin Dr. Johnson, ihr behandelnder Arzt.“

Mit einem verwunderten und fragenden Blick schaute sie den Mann an und verstand nicht warum sie in einem Krankenhaus war. Jetzt konnte sie auch den Geruch, den sie vorhin gerochen hatte zuordnen. Es roch nach Desinfektionsmittel. Ihren Blick ließ sie langsam durch das Krankenzimmer schweifen. Links neben ihr war ein großes Fenster mit blauen Vorhängen. An ihrem Fußende konnte sie einen Tisch mit zwei Sesseln erkennen. Auf dem Tisch stand ein großer Strauß Blumen und über dem Blumenstrauß hing ein großer flacher LCD Fernseher. Es kostete sie einiges an Mühe sich zu bewegen und so beschloss sie ihre Erkundungstour erstmal zu beenden.

„Kannst du dich nicht erinnern, Schatz?“, sagte der Mann zu ihrer rechten.

„Nein.“

„Sie hatten einen Unfall, Miss Lancaster.“

Ihre Stirn legte sich in Falten, denn sie konnte sich an keinen Unfall erinnern. Sie konnte sich an nichts erinnern. Der Mann zu ihrer Rechten griff sanft nach ihrer Hand und seufzte. Katherine schaute zu ihm und konnte sich nicht daran erinnern, diesen Mann schon mal gesehen zu haben.

„Unfall?“, fragte sie leise.

„Ruhen Sie sich etwas aus, Miss Lancaster. Wir machen nachher noch ein paar Untersuchungen. Ich lasse Sie mal mit ihren Mann alleine.“

Mit diesen Worten verabschiedete sich der Mann in dem weißen Kittel, der ihr behandelnde Arzt war und ließ sie mit dem anderen Mann – ihren Mann – alleine. Katherine atmete tief durch und musste erstmal die gesagten Worte verarbeiten. Unfall? Mann? Was hatte das nur alles zu bedeuten für Katherine? Bei der Erkenntnis, sich an nichts zu erinnern, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Die kurz darauf über ihre Wangen rannten. Schwerfällig hob sie einen Arm und versuchte sich die Tränen von den Wangen zu wischen. Doch die Tränen flossen weiter und nach wenigen Augenblicken gab sie den Versuch ihre Wangen zu trocknen auf. 

„Was ist passiert? Und wir sind verheiratet?“, fragte sie ihren Mann.

„Du hattest einen Unfall, Darling. Wir wollten heiraten. Wir sind nur verlobt.“, antwortete er ihr.

„Was für einen Unfall?“

„Das erkläre ich dir später.“

Katherine wollte unbedingt wissen, was passiert war, aber ihr Mann schien es für keine gute Idee zu halten. Das ärgerte sie und sie wollte nochmal fragen, aber es war für sie eine große Anstrengung zu sprechen. Im diesem Moment verspürte sie einfach nur noch den Drang dazu alleine gelassen zu werden. Sie wollte ihre Ruhe haben und ihre Augen noch etwas schließen. Doch ihr Drang danach zu erfahren, was passiert war, war größer. Angestrengt dachte sie nach, doch außer einer Leere in ihrem Kopf war da nichts. Sie spürte wie ihr Mann sie berührte und auch wenn es ihr fremd vorkam, so hatte es dennoch etwas von einer gewissen Vertrautheit. Das irritierte sie, denn dieser unbekannte Mann machte ihr etwas Angst. Zudem kam dieses zwiespältige Gefühl, das befremdlich und zugleich vertraut war. Wie war das nur möglich?

„Sag es mir.“, forderte sie ihn auf.

„Ich erkläre dir alles, wenn es dir besser geht, Darling.“

In diesem Moment hätte sie ihn am liebsten geschrien, aber dazu hatte sie keine Kraft. Wie konnte er ihr das nur vorenthalten? Katherine wusste sich nicht anders zu wehren und versuchte sich von seiner Berührung zu befreien. Langsam zog sie ihren rechten Arm zu ihrem Körper und es gelang ihr sich tatsächlich von seiner Berührung zu befreien. Ihr Mann schaute sie fragend an, sagte aber nichts dazu. Mit einem aufgesetzten Lächeln schaute er ihr in die Augen.

„Du solltest dich etwas ausruhen.“, begann er und strich ihr dabei sanft über ihre Wange. „Ich lasse dich etwas schlafen und komme nachher wieder.“

Das war Katherine nur recht. Sie wollte ihn nicht länger in ihrer Nähe haben. Die Dunkelhaarige wollte allein sein. Ihr Mann verabschiedete sich und verließ kurz darauf ihr Zimmer. Krampfhaft versuchte sie sich an irgendetwas zu erinnern. An das Letzte was sie sich erinnern konnte war ein Abend mit ihrem besten Freund und danach kam diese Leere. Nur kurz wollte sie ihre Augen schließen um sich vielleicht doch noch an was zu erinnern. Es überkam sie eine Müdigkeit und Katherine schlief ein.

Katherine hatte den gestrigen Tag damit verbracht Untersuchungen über sich ergehen zu lassen. Die Ärzte wollte herausfinden welche Art von Amnesie sie hatte. So wie es schien handelte es sich um eine kongrade Amnesie. Was bedeutete, dass sie sich an den Unfall nicht erinnern konnte. Die Dunkelhaarige konnte sich aber nicht nur an den Unfall erinnern, sie konnte sich auch an die die Tage davor erinnern. Es deprimierte sie, denn dieses schwarze Loch schien etliches aus ihrem Gehirn verbannt zu haben.

 

Seit fast vierzig Minuten trug die Dunkelhaarige einen inneren Kampf mit sich selbst aus. Sie hatte ihr Handy in der Hand und war sich nur sicher ob sie es einschalten sollte. Die Angst, dort etwas zu entdecken, was passiert sein konnte war zu groß. Aber nur so konnte sie erfahren, was passiert war.

 

Katherine holte tief Luft und schaltete letztendlich doch ihr Handy an. Aber schon stand sie vor dem nächsten Hindernis. Die PIN Nummer. Ihren Kopf legte sie in den Nacken und dachte angestrengt nach. Das Handy hatte sie immer noch in der Handy und nach wenigen Minuten hab sie die erste vierstellige Nummer ein. Doch ohne Erfolg. Die angegebene PIN Nummer war falsch. Zwei Versuche hatte sie noch. Einen Versuch konnte sie noch wagen, ehe sie die Super PIN benötigen würde. Wieder folgten Sekunden des Nachdenkens. Als Katherine eine zweite vierstellige Nummer einfiel, gab sie diese ein. Aber auch diese Nummer war falsch.

 

Die Dunkelhaarige legte genervt ihr Handy auf den Nachttisch und legte sich wieder mit dem Kopf auf ihrem Kopfkissen. In ihrem Zimmer herrschte eine Stille, wo man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Doch diese Stille hielt nicht lange an. Es klopfte an der Zimmertür und kurz darauf steckte ein Mann ihren Kopf durch einen Spalt. Es war ihr Mann.

 

„Hey Darling.“, begrüßte er sie und betrat das Zimmer.

 

„Hey.“

 

Colin schloss die Tür hinter sich bevor er zu ihrem Bett ging. Colin schien etwas unsicher zu sein. Ihre Augen ruhten auf seinem Gesicht und als er ihr Bett erreicht hatte, machte es auf den Katherine den Anschein als wollte er sie küssen. Er stand an ihrem Bett und setzte sich auf das Bett.

 

„Wie geht es dir heute?“

 

„Ganz gut soweit.“

 

Die Anspannung konnte man deutlich in dem Raum spüren. Katherine setzte sich etwas aufrechter in ihrem Bett und musterte den Mann auf ihrem Bett. Er schien sie gut zu kennen, doch sie hatte keine Ahnung gehabt wer er war, geschweige denn wie ihre Beziehung vor dem Unfall war. Apropos Unfall, er war ihr immer noch eine Antwort schuldig.

 

„Haben die Ärzte heute noch Untersuchungen gemacht?“, erkundigte er sich.

 

„Bis auf ein EKG, wurde nichts gemacht.“, begann sie und knibbelte an ihrem Oberbett rum. „Erzählst du mir jetzt was passiert ist?“

 

Colin seufzte und ließ seinen Blick auf den Boden schweifen.

 

„Kate, du bist noch nicht soweit. Wir sollten mit den Ärzten reden und abwarten was Sie dazu meinen. Findest Du nicht auch?“

 

Das war für die 32 Jährige keine akzeptable Antwort. Immer noch fixierte sie ihn mit ihren Augen.

 

„Ich will es wissen! Ich will wissen was passiert ist und vor allem wann es passiert ist.“

 

Colin schaute seine Verlobte kurz in die Augen und schaute dann mit einem schmerzerfühlten Blick zum Fenster hinaus. Für Katherine verging eine gefühlte Ewigkeit bis sie seine Stimme hörte.

 

„Es ist vor ein paar Monaten passiert und niemand wusste, ob du es überleben wirst. Das reicht erstmal für den Anfang.“ Noch immer schaute er aus dem Fenster, denn er konnte es nicht ertragen ihr dabei in die Augen zu schauen.

 

Katherine fiel die Kinnlade runter. Vor ein paar Monaten? Wie lange lag sie im Koma? Hatte sie so schwere Verletzungen gehabt? Wie kann das sein? War es ein Autounfall? Katherine seufzte. Sie griff nach der Fernbedienung für ihr Bett und richtete das Kopfteil auf. Das Kopfteil stand fast senkrecht als sie die Fernbedienung wieder weg legte und ihre Beine anwinkelte. Ihre Arme umschlungen ihre Beine und ihr Kinn ruhte auf ihren Knien. Es schossen ihr immer mehr Fragen durch den Kopf, doch sie glaubte nicht, dass ihr Mann – oder Verlobter – ihr antworten geben würde.

 

„Kennst du vielleicht meine PIN Nummer?“

 

Colin wendete seinen Blick von dem Fenster ab und schaute Katherine mit einer gerunzelten Stirn an. Diesen Gedankensprung konnte er nicht ganz folgen.

 

„Nein, die kenne ich nicht.“, antwortete er wahrheitsgemäß.

 

Mehr als ein Nicken konnte Katherine sich nicht abringen. Jedoch glaubte sie ihm das nicht so ganz. Es lag, aus ihrer Sicht, der Verdacht nahe, dass er ihr die PIN Nummer nicht nennen wollte. Katherine schaute auf das Fußende und dachte nach. Warum versuchte man sie zu schützen? War es überhaupt ein Schutz von Colin? Oder was war es?

 

Während Katherine in ihren Gedanken versunken war, näherte sich Colins Hand ihrer. Sanft strich er ihr über mit seinem Zeigefinger über ihren Handrücken und Katherine zuckte in diesem Moment leicht zusammen. Damit hatte die Dunkelhaarige nicht gerechnet. Und wieder war da dieses befremdliche und doch vertraute Gefühl. Ihr Körper versteifte sich und ihre Atmung wurde unruhiger.

 

„Was ist los? Rede mit mir.“, forderte er sie leise auf.

 

„Was los ist? Keiner will mir was sagen. Ich habe keine Ahnung was passiert ist und warum man mich…“, sie seufzte und schaute Colin an. „… warum man mir nichts sagt.“

 

„Ich sage dir noch nichts, weil ich denke, dass…“ Colin brach seinen Satz ab und atmete tief durch. „… es zu viel für dich ist. Du bist gerade erst aus dem Koma erwacht und dein Gedächtnis ist weg. Gib dir Zeit, Kate. Gemeinsam schaffen wir das. Okay?“

 

Zeit!? Wieviel Zeit sollte noch ins Land gehen, ehe man ihr endlich sagte was passiert war? Sie wollte nicht noch Tage oder gar Monate damit verbringen, dass ihre Erinnerung wieder kam. Sie wollte es jetzt wissen. Katherine schaute auf ihre Hand, die von Colin berührt wurde. Sollte sie die Hand wegziehen oder sollte sie es ihm weiter gewähren? Der innerliche Zwiespalt wurde immer größer und die Dunkelhaarige wusste nicht wie sie reagieren sollte.

 

„Wir wollten heiraten? Wann?“, fragte sie.

 

„Am 10. Juni.“

 

Katherine nickte und presste ihre Lippen aufeinander. Sie hatte keine Ahnung welches Datum sie aktuell hatten. In ihrem Zimmer hang kein Kalender und da sie bisher auch kein funktionierendes Handy hatte, wusste sie nicht, ob der 10. Juni schon vorbei war oder noch kommen würde. Sicherlich hätte sie es auch durch die Nachrichten erfahren können, aber bisher hatte sie noch nicht den Drang verspürt den Fernseher einzuschalten. Sie hatte andere Sorgen als sich um die Sorgen anderer, die in der Welt passieren, zu kümmern.

 

„Heute ist der 26. Mai. Wir wollten in knapp zwei Wochen heiraten. Doch als der Unfall passierte habe ich alles abgesagt.“

 

Colin schien gemerkt zu haben, dass sie sich fragte welches Datum heute war. Katherine wunderte sich und es kam ihr der Gedanke, dass es auch so zwischen ihnen war bevor der Unfall passierte. Mal wieder nickte sie ihm zu. Die Dunkelhaarige spürte wie sich ein Kloß im ihrem Hals bildete und ihr die Luft zum atmen nahm. In zwei Wochen wäre sie mit Colin verheiratet gewesen. In zwei Wochen hätte sie diesem Mann das Ja Wort geben und ihm geschworen, in guten und schlechten Zeiten für ihn dazu sein. Auch wenn die Hochzeit abgesagt wurde, so war er nun in ihrem schlechten Zeiten für sie da. Das musste doch bedeuten, dass er sie liebte. Sollte sie ihr befremdliches Gefühl beiseite schieben und ihm blind Vertrauen?

 

„Du warst die ganze Zeit an meiner Seite?“

 

„Ja. Man drohte mir sogar, dass das Sicherheitspersonal mich aus dem Krankenhaus schmeißt, wenn ich mich nicht an die Besuchszeiten halte.“

 

Auf Katherines Lippen konnte man ein sanftes Lächeln erkennen. Es tat ihr gut das hören. Colin schien sie aufrichtig zu lieben. Unwillkürlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Kathrine empfand es als schrecklich ihm nicht die Liebe geben zu können, die sie vor dem Unfall ihm gegeben hat.

 

„Es tut mir Leid.“

 

Bei diesen Worten bahnten sich die Tränen ihren Weg über ihre Wangen. Als Colin ihre Tränen sah, rutschte er näher zu ihr und nahm sie in den Arm. Sie streckte ihre Beine aus und umarmte ihn. Ihren Kopf an seine Schulter gelehnt weinte sie hemmungslos. In diesem Moment fühlte sie sich geborgen und wünschte sich, sie könnte ihm mehr als eine Entschuldigung geben. Der Wille ihn zu lieben, schlummerte irgendwo ihn ihr drin.

 

„Sch… du musst dich nicht entschuldigen, Darling. Wir schaffen das zusammen. Vertrau mir.“, sprach Colin gegen ihr Haar und küsste ihren Kopf.

 

Katherine weinte eine ganze Zeit in seinen Armen und wollte ihn nicht los lassen. Colin ließ ihr die Zeit, die Kate brauchte und strich ihr sanft über den Rücken. Eine halbe Stunde verging ehe sich Katherine aus seiner Umarmung löste. Mit roten und verweinten Augen schaute sie ihn an, als sein Handy klingelte. Colin reagierte nicht und schien das klingeln zu ignorieren.

 

„Geh ruhig dran.“

 

Colin zögerte kurz ehe in seine Hosentasche griff um sein Handy heraus zu holen.

 

„Brady.“, meldete er sich und stand auf. „Ich bin bei Kate… ja… ich komme nachher… keine Ahnung… bis später.“

 

Nachdem er das Telefonat beendet hatte setzte er sich wieder zu ihr auf das Bett. Kate hatte sich ein Taschentuch aus ihrem Nachttisch geholt und putzt sich die Nase. Colin wischte ihr die nassen Stellen auf ihrer linken Wange mit dem Daumen weg und lächelte sie sanft an.

 

„Darling, die Arbeit ruft. Brauchst du noch etwas? Soll ich dir heute Abend was mitbringen?“

 

„Geh ruhig. Ich brauche nichts, außer meine verlorenen Erinnerungen.“

 

„Ich komme nachher wieder, aber die Erinnerungen kann ich dir nicht mitbringen. Mach dir nicht zu viele Gedanken. Bis heute Abend, Kleines.“

 

Colin näherte sich ihr und küsste sie auf die Stirn. Als Katherine erahnte was Colin vor hatte, schloss sie ihre Augen. Es war ein vertrautes Gefühl und für einen Bruchteil einer Sekunde genoss sie diese Geste. Colin stand auf und ging zur Tür. Bevor er das Zimmer verließ schaute er sie nochmal an.

 

„Bis heute Abend.“, sagte sie ihm und schaute ihm zu, wie er ihr Zimmer verließ.

IEs war später Nachmittag als Katherine sich in ihrem Bett aufrichtete und ihre Beine aus dem Bett schwang. Mit ihren Händen stützte sie sich auf das Bett ab. Vorsichtig setzte sie ein Bein nach dem anderen auf den Fußboden. Ihren Körper richtete sie auf und stützte sich mit den Händen noch am Bett ab. Wenige Augenblicke später stand sie auf ihren Beinen, zwar etwas wackelig, aber sie stand. Die Dunkelhaarige setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Als sie am Fußende des Bettes war hielt sie sich am Bettgestell fest. Für den Anfang war das wohl nicht schlecht. Bis zum Tisch wollte sie kommen. Es war nur noch ein kleines Stück und das könnte sie schaffen.

Als sie das Bett los ließ und zwei kleine Schritte ging, merkte Katherine wie ihre Beine nach gaben und sie zusammen sackte. Der kleine Aufprall tat weh und sofort schossen Tränen in ihre Augen. Sie hielt ihre Hände vor ihrem Gesicht und weinte. Nichts klappte – keine Erinnerungen und nicht in der Lage zu gehen. Während sie auf Fußboden saß merkte Katherine nicht, dass jemand ihr Zimmer betrat.

„Kleines!“, rief eine männliche Stimme.

Bei dem Wort zuckte sie zusammen und auch wenn sie das Wort schon gehört hatte, so passte die Stimme nicht zu ihrem Verlobten. Mit roten Augen und einen verschwommen Blick schaute sie zu der Person auf, die gerade ihr Zimmer betreten hatte. Ihr bester Freund Josh kniete sich neben ihr und nahm sie in den Arm als er sah, dass sie weinte.

„Komm, ich bringe dich wieder ins Bett.“

Ohne ein Wort ließ sich Katherine von ihm helfen. Er griff um ihre Taille und half ihr auf die Beine. Katherine legte einen Arm um seinen Nacken und war froh gewesen, dass Josh ihr half.

„Wir setzen jetzt langsam einen Fuß vor den anderen. Okay?“

„Ja.“

Erst bewegte sie den rechten Fuß einen Schritt nach vorne und dann folgte der linke. Es dauerte etwas bis Katherine sich mit der freien Hand auf der Matratze abstützen konnte. Erschöpft und gefrustet setzte sie sich auf das Bett. Josh setzte sich zu ihr auf das Bett und beobachtete seine beste Freundin.

Katherine rutsche mit dem Po etwas weiter zur Bettmitte und legte sich dann hin. Auch wenn es nur wenige Schritte waren, so hatte sie das Gefühl gehabt einen Marathon gelaufen zu sein. Natürlich entging es ihr nicht, dass Josh sie beobachtete.

„Ich fühl mich als wäre ich 140 Jahre alt.“

„Ich wusste gar nicht, dass du so schnell gealtert bist. Aber für das Alter hast du dich gut gehalten.“

Katherine lachte und freute sich darüber, endlich ein vertrautes Gesicht zu sehen. Es war schön jemanden bei sich zu haben, an den sie sich erinnern konnte. Josh lächelte sie an und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Die Freundschaft der Beiden war rein platonisch gewesen auch wenn das niemand glauben wollte. Doch seit mehr als neun Jahren waren sie nun unzertrennlich gewesen. Katherine war immer für ihren besten Freund da gewesen, genauso wie Josh immer für seine beste Freundin da war.

„Danke für das Kompliment.“

„Was für eine Begrüßung. Was hast du eigentlich außerhalb deines Bettes gemacht?“, fragte er mit einem strengen Unterton.

„Ich wollte an den Blumen riechen.“, lächelte sie ihn an.

„Warum glaube ich dir das nicht?“

„Gute Frage. Vielleicht weil du mich kennst?“

„Ja, das tue ich zu gut. Also was hast du außerhalb deines Bettes gemacht?“

„Ich wollte einfach nur etwas gehen. Ich musste was tun um auf andere Gedanken zu kommen.“

Katherines Gedanken drehten sich immer noch um ihren Gedächtnisverlust, den Unfall und über ihre Beziehung zu Colin. Weder die Ärzte noch Colin wollten ihr sagen was passiert war. Ihre Ärzte wollten, dass sie sich psychologisch behandeln lässt, damit sie alles verarbeiten könnte. Doch einer psychologischen Behandlung hatte sie nicht zugestimmt. Es war schließlich nur ein Unfall gewesen.

„Erzähl schon was los ist, Kleines.“

„Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich weiß nicht was passiert ist. Was das für ein Unfall war und ich kann…“ Katherine begann zu schluchzen. “… ich kann mich nicht an Colin erinnern. Josh, sag mir was passiert ist.“

Doch anstatt ihr zu antworten nahm er sie in den Arm als ihr ein paar Tränen über die Wange rannten. Katherine griff um seinen Oberkörper und vergrub ihr Gesicht in der Kuhle an seinem Hals. Ihr Körper bebte und Josh schien das sehr mitzunehmen. Unentwegt strich er ihr sanft über ihren Rücken. Seine beste Freundin hatte er so noch nicht erlebt und gesehen.

„Du hast ihn sehr geliebt, zumindest hast du mir das gesagt. Aber du warst dir nicht sicher, ob eure Liebe jemals Bestand hat. Lass dir eins von mir sagen, er war seit, er von deinem Unfall erfahren hat, immer an deiner Seite. Fast vierundzwanzig Stunden war er hier im Krankenhaus, wenn er nicht arbeiten musste.“

Aufmerksam hatte Katherine ihren besten Freund zugehört und stellte zu ihrem bedauern fest, dass er wohl die einzige Person war, die ihr sagen konnte, was sie für Colin empfunden hat. Sie löste sich aus seiner Umarmung und schaute ihn verheult an.

„Was für ein Unfall war das?“

Josh schüttelte seine Kopf und versuchte sie anzulächeln. Auch er schien ihr nichts von dem Unfall erzählen zu wollen. Innerlich explodierte sie, weil anscheinend jeder wusste was passiert war, außer ihr natürlich. Die Dunkelhaarige lehnte sich mit ihrem Rücken gegen ihr Kopfkissen und musterte ihren besten Freund.

„Warum sagt mir keiner was? Warum meint jeder er wüsste was für mich gut sei? Warum Josh?“

Katherine verstand es nicht und schaute zum Fenster hinaus. Es war ein schöner Tag, die Sonne schien und es war keine einzige Wolke am Himmel zu sehen. Hatte sie wirklich so viel Glück gehabt, dass sie noch am Leben war? Wollte man ihr deshalb nichts sagen, weil es so schrecklich war?

„Hör zu, Kleines. Ich weiß, dass ich dich nicht davon abhalten kann irgendwann den Bericht zu lesen, aber bis dahin solltest du an deine Gesundheit denken.“

Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Josh hatte sie auf eine gute Idee gebracht. Sie kniff ihre Augen zusammen und schaute Josh an.

„Danke für den Tipp. Aber ich kann nur gesund werden, wenn ich weiß was passiert ist. Josh, an das letzte woran ich mich erinnere ist, dass wir Beide bei mir waren und eine DVD geschaut haben, danach herrscht nur noch eine Leere in meinem Kopf.“

„Danach hast du keine Erinnerung mehr?“

Katherine schüttelte den Kopf.

„Kate… das ist… Gott… das ist eine halbe Ewigkeit her.“, sprach er mehr mit sich selbst.

„Wie lange genau? Bitte sag es mir.“

„Bist du dir sicher? Ganz sicher?“

„Ja. Ich muss es wissen, Josh. Ich muss wissen von welcher Zeitspanne… also wie viel meines Lebens ausgelöscht wurde.“

„Also schön. Es sind fast 12 Monate.“

Katherine schaute schockiert ihren besten Freund an. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte an vielleicht vier oder fünf Monate gedacht. Aber zwölf Monate? Das war ein ganzes Jahr. In diesem Jahr schien viel passiert zu sein. Sie hatte sich verlobt und vor Monaten einen Unfall gehabt. Ihr Blick war leer und sie versank in ihren Gedanken.

„Houston an Kate. Hörst du mich?“

Als Katherine die Worte ihres bestes Freundes hörte schüttelte sie ihren Kopf und starrte ihn an.

„Alles in Ordnung mit dir?“, erkundigte er sich.

„Ja… ich glaube schon. Ein Jahr ist eine lange Zeit.“

Katherine dachte intensiv darüber nach, ob in ihre Kopf nicht doch noch ein kleiner Fetzen der Erinnerung war. Doch da war nichts – rein gar nichts. Ihr Kopf fing wieder an zu schmerzen und sie fasste sich mit der Hand an ihre Schläfe.

„Wirklich alles in Ordnung mit dir?“

„Ich bekomm wieder Kopfschmerzen, aber sonst ist alles in Ordnung. Ach übrigens. Kennst du vielleicht meine PIN Nummer?“

Verwirrt, über ihre Gedankengänge, schaute Josh sie wortlos an.

„Ich kann bei dir zuhause nachschauen… Moment versuch es mal mit 6739.“

„Danke.“

„Du solltest dich etwas ausruhen, Kleines.“

Josh beugte sich zu ihr vor, gab ihr einen Kuss auf ihre Stirn und strich ihr über den Oberarm. Dann stand er auf und verließ ihr Zimmer.

Als Josh ihr Zimmer verlassen hatte, wollte sie ihr Handy anmachen. Aber ihre Kopfschmerzen waren so extrem, dass sie sich dazu entschlossen hatte die Augen etwas zu zumachen um sich auszuruhen. Das Handy würde ihr nicht weglaufen.

Mitten in der Nacht schreckte Katherine hoch. Sie brauchte einen Augenblick ehe sie sich orientiert hatte. Der Mond erhellte ihr Krankenzimmer als sie mit leicht zusammen gekniffenen Augen auf die Uhr an der Wand schaute. Es war 3:41 Uhr.

Immer noch hatte sie Kopfschmerzen, aber die ließen sich aushalten. Sie griff nach ihrem Handy, dass in der Schublade ihres Nachttisches lag und schaltete es ein. Was hatte Josh gesagt? 6739?

Als das Handy sie aufforderte die PIN einzugeben, versuchte sie es einfach. Die PIN war richtig und Katherine durchstöberte ihr Handy. Es gab etliche Nachrichten, die über ein Jahr her waren und es waren auch neuere dabei. Es schien um ihren Club zu gehen, zumindest bei den meisten. Die letzten Nachrichten hatte sie vor ungefähr drei Monaten erhalten. Danach ging nicht eine Nachricht mehr ein.

„Dann liegt der Unfall also ca. drei Monate zurück.“, sprach sie mit sich selbst.

Aber auf den ersten Blick waren keine Nachrichten dabei, die etwas mit dem Unfall zutun hatten. Doch ohne zu wissen was genau passierte, konnte sie das nicht mit Sicherheit sagen. Deprimiert, weil sie sich mehr davon versprochen hatte, legte sie ihr Handy wieder in die Schublade und legte sich auf die Seite. Sie schaute auf den hellen Mond, der fast voll war und konnte es nicht verstehen, warum selbst in ihrem Handy nichts zu finden war, was ihr half sich an irgendetwas zu erinnern. Über diese Gedanken schlief sie wieder ein.

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Was passiert, wenn man sich plötzlich an nichts mehr erinnert? Was passiert, wenn man seine Erinnerungen wieder erlangt und nichts mehr so ist wie man geglaubt hat?

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