Storys > Romane > Science Fiction > Sollbruchstellen

Sollbruchstellen

64
13.12.23 17:08
16 Ab 16 Jahren
In Arbeit

6 Charaktere

Judith

Eine junge Frau, die die Erwartungen, die die Gesellschaft an sie stellt, nicht erfüllen will und deshalb die Stadt verlässt, um sich draußen in der Wildnis ein Leben aufzubauen.

Janne

Ein junger Mann aus gutem Haus, der mit seiner Familie bricht und Judith davon überzeugt, mit ihm die Stadt zu verlassen.

Luke

Ein Junge, der in einem Netzwerkspiel zum Star aufsteigt. Tians Bruder.

Tian

Lukes Bruder. Besorgt um dessen Wohlergehen, plant er einen Terroranschlag, um das Netzwerk, dem Luke angehört, zu zerstören.

Eliza

Verdeckte Ermittlerin in Tians Organisation.

Lucy

Attentäterin im Auftrag einer landwirtschaftlichen Kooperative.

Dass Judith ihr Leben nicht im Gamma-Sektor des UC-21 verbringen wollte, wurde ihr an dem Tag klar, als man ihre Schulklasse für die nachmittäglichen Aktivitäten in zwei Gruppen aufteilte und sie sich - ohne die Möglichkeit, ein Veto einzulegen - plötzlich zusammen mit vierzehn anderen Mädchen beim Kunstturnen wiederfand. Obwohl bei Schülerin und Trainerin Missmut und Enttäuschung in dieser Sache auf Gegenseitigkeit beruhten, ließen die Lehrerinnen sich nicht erweichen und von da an hieß es jeden Tag balancieren, springen, schwingen – in einem violett glitzernden Dress, der eher an einen Badeanzug erinnerte als an seriöse Sportbekleidung. Nicht, dass Judith Badeanzüge für unseriös hielt, aber in einer Turnhalle kam sie sich darin vollkommen lächerlich vor und weil sie von diesem Tag an ständig mit Situationen konfrontiert wurde, die ihr und in denen sie sich lächerlich vorkam, beschloss sie, dass sie sich in Zukunft diesen Situationen entziehen wollte, indem sie ihnen entfloh. Wenn man nicht gefunden wurde, wenn man nicht da war, konnten sie eine nicht vor sich her über irgendwelche Hindernisse treiben, weil sie glaubten, dass das den Charakter formte.

Hätte Judith ein Defizit im Bezug auf Kraft oder Gleichgewichtsgefühlt gehabt, hätte sie dem Training vielleicht etwas Nützliches abgewinnen können, aber alles, worum es der Trainerin ging, waren Haltung und Grazie. Lieber nicht zu viel riskieren, dafür sicher landen – das ging nicht konform mit Judiths Vorstellung vom Leben.

Das Problem lag vor allem in der Beschaffenheit des Wettbewerbs in dieser Sportart. Man führte das Programm vor und eine Jury gab ihren Senf dazu ab. Konkurrenz ohne Konfrontation. Die Gegnerinnen blieben fremd und fern, während der Sieg mit dem Lächeln stand und fiel, das man den Punktrichtern zuwarf.

Und Judith zeichnete sich nicht gerade durch großes Talent beim Einschmeicheln aus. Sie verstand nicht, wieso sie ihre Leistung nicht einfach selbst bewerten konnte. Glaubte man nicht, dass sie ehrlich zu sich selbst war? Was ging es überhaupt eine Bank voller gelangweilter Ehemaliger an, wie gut oder schlecht sie über einen Schwebebalken laufen konnte? Wozu war das überhaupt gut?

Viel lieber hätte sie einen ehrlichen Sport wie Boxen oder Karate gewählt, aber es gab nun einmal nur zwei Nachmittagsbetreuungsgruppen und kein Mitspracherecht.

Im Alter von vier Jahren* also sagte sich Judith, dass dies das erste und letzte Mal gewesen war, dass man sie so übertölpelt hatte und dass sie, wenn sie erwachsen sein würde, an keinem Ort leben wollte, wo man über ihren Kopf hinweg bestimmte, was gut und richtig für sie war.

Zugegeben, vielleicht war es keine bewusste Entscheidung – sie war ja erst vier Jahre alt – und vielleicht hatte sie noch nicht alle Ursachen für alle Ungerechtigkeiten vollständig verstanden, aber das Gefühl, nicht hineinzupassen, war da. Es war in dem Moment in ihr aufgewabert, als man niemanden in ihrer Klasse nach seinen oder ihren Interessen oder Freundschaften gefragt und stattdessen die Klasse in Jungen und Mädchen aufgeteilt hatte.

Diskussionen unerwünscht. „Hör mal, Judith, wie sollen sich denn die anderen fühlen, wenn du ihnen zu verstehen gibst, dass du sie doof findest? Und was ist mit den Jungen? Meinst du nicht, die haben auch ein Recht darauf, mal unter sich zu sein? Du kannst dich nicht einfach aufdrängen und ich glaube nicht, dass es dir gefallen würde, allein mit fünfzehn Jungen."

Was man ihr nicht sagte, aber dafür Judiths Mutter, war: „Wir halten es für pädagogisch sinnvoll, die Kinder für ein paar Stunden am Tag nach Geschlecht zu trennen. Sie sollen sich frei und ungehemmt entfalten und eine Solidarität untereinander entwickeln. Wenn Judith sich da einfach ausklinkt, zeigt sie im Grunde eine ungesunde Abscheu gegen alles weiblich konnotierte. Sie muss lernen wertzuschätzen."

Was Judith jedoch vor allen Dingen lernte, war abzuschätzen. Wem konnte sie vertrauen, wer machte sich heimlich über sie lustig, wer erwartete was von ihr, wer hatte sie bereits abgeschrieben? Wer ahnte etwas von ihren Plänen? Wer würde sie verraten?

Die meisten Leute verstanden nicht, was Judith meinte, wenn sie sich über zu viele sinnlose Regeln beschwerte. „Das ist die Trotzphase!", sagten sie und lachten, „Bei Judy dauert sie nur etwas länger."

Die meisten Leute versuchten nicht einmal zu verstehen. Sie glaubten, weil sie selbst zufrieden waren, hätte niemand das Recht, sich unbehaglich zu fühlen.

„Kinder brauchen Erziehung, um sich mit der Unbehaglichkeit des Lebens zu arrangieren", sagte ein Geschäftsfreund zu Judiths Vater einmal bei einer Dinnerparty in ihrem Haus, während Judith daneben saß und würdevoll den Rosenkohl auf ihrem Teller zur Seite schob.

„Kinder brauchen jemanden, der zur rechten Zeit unterstützt und zur rechten Zeit unterbindet", erwiderte ihr Vater, „Aber wer schafft es schon, zur rechten Zeit die rechten Worte zu finden?"

Alle lachten, als wäre das ein unglaublich geistreicher Scherz gewesen, der Rosenkohl verschwand unter dem Tisch.

„Mach dir keine Gedanken, wir alle tun nur, was wir können und das ist schon eine ganze Menge, mein Lieber. Ich wünschte, ich hätte meine Kindheit an einem solchen Ort verbringen können. Irgendwann werden die Kleinen schon begreifen, dass ein wenig Dankbarkeit angebracht wäre..."

Der Gamma-Sektor war indes wirklich nicht die schlechteste Wohngegend. Man war sehr stolz auf die Philosophie hinter dem Grundriss der Straßenzüge und Quartiere. Hier lebten die gesellschaftlichen Schichten nicht getrennt voneinander, sondern miteinander, verstanden sich, respektierten sich. Man traf sich in den Parks, die alle gleichermaßen nutzen durften. Es gab gute öffentliche Schulen und Supermärkten, Bars, Kneipten und Cafés mit erschwinglichen Produkten und Dienstleistungen. Die Idee hinter der offenen Architektur ohne Zäune und Mauern war, dem Verbrechen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wenn alles für jeden und jede zugänglich war, gab es keinen Grund für Neid und Missgunst.

Natürlich lebten manche Leute – wie Judiths Eltern – in etwas vornehmeren Häusern mit mehr Platz und vielleicht ein oder zwei Hausangestellten, während andere sich nur die Miete für eine Wohnung in einem der großen Wohnkomplexe leisten konnten, aber es gab nun mal Unterschiede in den Fähigkeiten, der Leistungsbereitschaft und den Biographien der Menschen. Niemand sollte auf die Idee kommen, Leistung zahle sich nicht aus, andererseits sollte auch niemand den Eindruck gewinnen, das Zentrum kümmere sich nicht um alle seine Bewohner.

Dass es ohne Sozialsystem nicht ging, hatte man bereits bei der Planung des Urbanen Zentrums 21 begriffen und war damit den Konkurrenten um eine Nasenspitze voraus.

Der Gamma-Sektor war der zuletzt fertiggestellte Stadtteil und galt als Wohnraum gewordene Vereinigung von sozialem Gewissen und Fortschrittsglaube und so lautete der Wahlspruch von Judiths Schule: „Im Dienste für die Zukunft"

Es lag großer Optimismus in diesem Motto. Die Zukunft – Raum für Träume, Visionen, Möglichkeiten und Hoffnung – war kein unerreichbares, theoretisches Konstrukt und auch kein Schreckensszenario. Stattdessen wählte man folgendes Bild: „Die Zukunft ist ein Ballon und wir alle können ihn mit unseren Impulsen ein Stück weiter aufpusten, bis er uns irgendwann abheben lässt."

Die Schulleiterin, die dieses schiefe Bild bei Judiths Einschulung bemühte, rechnete nicht damit, dass jemand unter ihren Neuzugängen war, der den Ballon zum Platzen bringen konnte...

„Ein Ballon, den man mit Atemluft füllt, kann nicht fliegen", sagte Judith am Abend zu ihrem Vater, als er sie auf den Schoß nahm, um für ein Familienfoto zu posieren – über ihnen ein Banner mit der Aufschrift: „Judys erster Schultag"

„Das nennt man eine Metapher", erklärte der Vater und blickte in die Kamera, die das Hausmädchen in Händen hielt.

Erst anderthalb Jahre später lernte Judith von derselben Schulleiterin, dass „Metapher" nicht „falsches Versprechen" bedeutete.

Das Mädchen habe ein allzu inniges Verhältnis zur gedehnten Wahrheit, stand in Judiths charakterlicher Beurteilung, weil sie den Jungen in ihrer Klasse erzählt hatte, sie besäße ein scharfes Taschenmesser und wüsste es einzusetzen. Die Untersuchung ihres Schulranzens durch die alarmierte Direktorin entlarvte Judith jedoch als Lügnerin.

„Es war doch bloß eine Metapher!", verteidigte sie sich, aber niemand verstand, was sie damit sagen wollte, bis das Missverständnis aufgeklärt wurde.

Lüge, Drohung, Täuschung, Beschönigung... Judith hatte in der Sprache längst ein viel zu unpräzises Werkzeug für die Komplexität des Lebens erkannt.

Sie war ein schweigsames, eigenbrötlerisches Kind, das niemandem – auch nicht der Zukunft – freiwillig einen Dienst leistete. Sie sei unsozial, wenig hilfsbereit, wirke nicht glücklich, sondern meist angespannt und aggressiv, stand in Judiths Zeugnis ein viertel Jahr nach dem Messer-Zwischenfall.

 

* Ein Mars-Jahr dauert 687 Tage, weshalb Judith nach irdischer Zeitrechnung etwa 7,5 Jahre gewesen ist. Der Roman nutzt durchgehend Zeitangaben in Mars-Jahren. Um sie in irdische Jahre umzurechnen, muss sie mit 687 multiplizieren und durch 365 teilen, oder man rechnet grob das doppelte.

 

Im Alter von sechs Jahren verfasste sie einen Aufsatz mit dem Titel „Die Schule der Zukunft", der mit den Worten begann: „Wenn die Zukunft besser sein soll als die Gegenwart, wird es in ihr keine Schulen mehr geben."

Dies löste eine lebhafte Diskussion in der Klasse aus, nachdem Judith ihre These vorgetragen hatte. Ohne Schule könnten Kinder nichts lernen und ohne Bildung würde sich die Gesellschaft zurückentwickeln. Niemand könnte Geld verdienen, niemand wüsste wie man Dinge produzierte. Aber könnte man Bildung nicht anders als in einer Schule organisieren? Könnten nicht die Eltern ihr Wissen weitergeben? Aber was, wenn die Eltern selbst nicht viel wüssten?

„Und was, wenn die Lehrer nicht viel wissen?", fragte Judith zurück und brockte sich zwei Wochen Nachsitzen ein, was ihr zupass kam, da sie so das Nachmittagskunstturnen verpasste.

Sie musste den Aufsatz neu schreiben und nutzte die Gelegenheit, um ihre These zu präzisieren: „Es wird auch in der Zukunft Schulen geben, da wir es nicht wagen, die Gegenwart hinter uns zu lassen. In diesen Schulen lernt man, was man auch heute lernt - zuzüglich der Dinge, die zwischen Jetzt und Dann passiert sein werden. Die Lehrerinnen der Zukunft werden sagen, dass ihre Schüler die glücklichsten und zufriedensten sind und sie dankbar dafür sein sollen, nicht zu unserer Zeit zur Schule gegangen zu sein. Sie werden die Vergangenheit, die unsere Gegenwart ist, als rückständig bezeichnen und ihre Gegenwart, die unsere Zukunft ist, als modern und fortschrittlich. Dabei werden dann die Häuser und das Stadtviertel, sogar unser Schulgebäude, alt und verfallen sein. Es wird neue Viertel geben, die moderner sind und deren Bewohner auf uns herabblicken, wenn wir nicht Schritt gehalten haben. Trotzdem wird die Schule weiterhin wichtig sein, weil es immer noch Menschen geben wird, die nicht genug wissen, um ihren Kindern selber etwas beizubringen."

Den Satz „Die Schule der Zukunft wird jedoch nicht versagen, sondern das Versagen ihrer Schüler weiterhin ihnen selbst anlasten." strich Judith durch. Stattdessen zog sie folgendes Fazit: „Die Schule der Zukunft ist nicht die Schule unserer Träume, sondern ein Kompromiss zwischen Misstrauen und Möglichkeit, sowie eine Wette auf die Entwicklung erwünschter Eigenschaften unter Inkaufnahme schlechter Einflüsse."

Sie bekam eine Fünf und ihre Eltern eine Mitteilung, dass Judiths Versetzung gefährdet sei.

Dass sie den Gamma-Sektor eines Tages verlassen würde, diese Idee vom Bruch, war der Fixpunkt in Judiths kindlichen Phantasien. Sie kreisten um das Mantra „etwas anderes als das hier" wie Satelliten um einen unbekannten Planeten, scannten die Oberfläche nach Möglichkeiten, nach Wegen, nach Zielen, nach Vorbildern, aber alles, was Judith fand, waren antiquierte Abenteuerromane, die nicht nur in einer anderen Zeit, sondern auch in einer anderen Welt spielten.

Ihre Großeltern waren auf der Erde geboren worden und als Kinder auf den Mars gekommen, sprachen aber nur selten davon. „Das ist vorbei. Warum soll man über etwas reden, das man endgültig hinter sich gelassen hat? Man kann nichts mehr von der Erde lernen", sagten sie und wechselten das Thema, Judiths Frustration einfach übergehend.

Die einzigen Menschen, die sie kannte, deren Lebensleistung es war, ihren Geburtsort verlassen zu haben, hielten diese Geschichte nicht mehr für relevant.

„Ihr sollt nicht darüber nachdenken, fortgehen zu müssen", sagten sie, „Wir sind hergekommen, damit ihr einen Ort habt, an dem ihr bleiben könnt, an dem für euch gesorgt ist, der noch nicht vollständig ausgebeutet ist."

Pioniere sprachen nicht gerne über die harten Zeiten am Anfang ihrer Reise, sie schwelgten lieber in ihren Erfolgen, dem Augenblick, in dem sie sesshaft wurden und ihr Leben langweilig.

Als Judiths Großeltern zum Mars übergesiedelt waren, war das Terraforming noch nicht abgeschlossen gewesen und die Urbanen Zentren hatte man unter riesigen Glaskuppeln errichten müssen. Wer von einem Zentrum zum nächsten übersiedeln wollte, musste eine beschwerliche Reise durch ein zunächst eher schlecht ausgebautes und fehleranfälliges Tunnelsystem über sich ergehen lassen.

Heute waren die Tunnelbahnen Geschichte, aber ein vernünftiges Straßennetz oder gar Flugverbindungen zwischen den Zentren und den außerhalb gelegenen Versorgungsgebieten gab es immer noch nicht. Die meisten Waren kamen entweder über Schienen oder ein Kanalsystem, das sternförmig vom Umland dem Zentrum zufloss. Wegen des steigenden Bedarfs an Nahrungsmitteln und Rohstoffen in den wachsenden Städten, kamen die Versorgungslinien immer häufiger an ihre Belastungsgrenzen, weswegen Reisende das Nachsehen hatten.

Güter hatten immer Vorrang auf ihren Wegen. Produktion, Einfuhr, Ausfuhr und Verteilung liefen voll automatisiert, kurzfristige Umdisponierung für spontanen Personenverkehr war nicht vorgesehen.

Aber es hatten auch die wenigsten Menschen das Bedürfnis, ihr UC zu verlassen. Die Zentren funktionierten autark. Jedes unterhielt seine eigenen Versorgungszonen und Handelsbeziehungen, sowie Diplomatie konnte man auch via Videoschalte pflegen.

Urlaubsreisen zur Erholung führten die Menschen nicht hinaus aus ihrem Zentrum, sondern im Fall des UC-21 in einen von zwei Freizeitsektoren, die je nach Geschmack Ruhe oder Aktivität in ansprechender Atmosphäre anboten.

Judith erinnerte sich an Wochenenden in verschiedenen Vergnügungsparks, deren Themenkomplexe von „Western" über „Piraten" bis hin zu „Forschungsreisen in unbekannte Welten" alles abdeckten, von dem Judiths Eltern glaubten, dass es ihre Tochter interessierte. Am Ende lief es aber immer darauf hinaus, sich in eine Vorrichtung schnallen und im Kreis herumwirbeln zu lassen. Judith verließ die Parks frustrierter, als sie sie betreten hatte.

In ihren Büchern bestanden die Abenteuer nicht darin, Sicherheitsgurte anzulegen und für normierten Spaß zu bezahlen. Nur wer sonst nichts erlebte, brauchte derartige Abwechslung, die eigentlich keine war, denn die armen Schweine, die hier die Hebel zogen und Knöpfe drückten, empfanden diesen vermeintlichen Nervenkitzen täglich acht Stunden lang bis zur Erschöpfung durch Langeweile.

„Etwas anderes als das hier" – präziser konnte Judith es nicht ausdrücken, als ihre verzweifelten Eltern sie fragten, was sie wollte. Keine Zuckerwatte, kein Popcorn, kein Eis, keinen Kinobesuch und keine Geburtstagsparty mit Hüpfburg.

Die Alternativen zur gelenkten Freizeitgestaltung waren jedoch spärlich. Zwar stand jedem erdenklichen Bedürfnis im UC ein Angebot gegenüber, aber egal, ob ihre Eltern mit Judith einen simulierten Waldspaziergang im virtuellen Raum unternahmen, sie eine sehr realistisch gestaltete Felswand hinauf klettern ließen oder ihr in einem Wellenband Surfstunden finanzierten, immer blickte Judith sie am Ende mit unendlich enttäuschten Augen an.

„Sie ist mit nichts zufrieden", sagten sie zueinander, als ihnen die Geduld ausging. Sie hatten ihre Tochter zum Reiten, zum Skifahren, auf eine Go-Kart-Rennbahn und in ein Ferienlager zum Zelten geschickt, immer wollte sie „etwas anderes", ohne begründen zu können, was ihr diesmal nicht gefallen hatte.

Sie bekam Klavierstunden bei einem Privatlehrer und zum Geburtstag die neuste Spielekonsole auf dem Markt. Freude empfand sie aber nur beim Improvisieren, nicht, wenn sie den vorgegebenen Spielplänen folgte.

Eine Zeitlang spielte sie in einer Jazzband an ihrer Schule, um für einen Nachmittag dem Kunstturnen zu entgehen, aber bei Auftritten vor Publikum, litt Judith unter zu großem Lampenfieber und wurde durch einen weniger kapriziösen Pianisten ersetzt.

Es gab immer irgendwo ein „Aber". Ihr ganzes Leben bestand nur aus „Ja-abers" und das nervte. Ständig musste Judith sich rechtfertigen, ständig eckte sie an. Das kostete Zeit und Kraft. Schließlich glaubte sie selbst daran, dass mit ihr etwas nicht stimmte.

„Sie kann sich für nichts begeistern", sagte ihre Mutter zu einem Psychologen und für einen kurzen Augenblick fragten sich alle Beteiligten, wer sich hier eigentlich therapieren lassen wollte.

„Mich überzeugt das alles einfach nicht", sagte Judith, als der freundliche Herr im Strickpulli sie durchdringend und ernst ansah.

Dann fragte er Judiths Mutter, ob sie einer Religion anhing und das pubertierende Mädchen vielleicht einfach gegen die Glaubensvorstellungen der Eltern rebellierte.

Lustig, dachte Judith, wie das alles vor dem inneren Auge vorbeizieht. Es war nicht so, wie die Leute sagten, nicht wie ein Film. Eher wie ein Traum. Man war beteiligt, aber nicht handlungsfähig.

Sie kauerte hinter einem Felsvorsprung und hatte zu lange nicht geschlafen, um den Schwindel abschütteln zu können. In ihrer linken Schulter hatte eine Pfeilspitze gesteckt, die sie– sie wusste nicht, wie sie es bewerkstelligt hatte - in einem Akt völliger Schmerzverachtung mit ihrem Jagdmesser heraus gehebelt hatte. Sie hatte die Verletzung desinfiziert und verbunden. Sie würde heilen, aber im Augenblick konnte sie das Handicap wirklich nicht gebrauchen.

Sie überlegte, ob sie einen Fluch ausstoßen oder die Kräfte dafür lieber sparen sollte. Man würde sie finden, das stand fest. Dann würde sie kämpfen und verlieren. Hier in dieser muffigen Grotte würde sie draufgehen. Die Ratten und Füchse würden ihr Blut auflecken, aber vielleicht würde sich einer der Banditen ihrer sterblichen Überreste erbarmen und sie bestatten, wenn er ihre Leiche gefleddert hätte.

Der linke Arm war unbrauchbar, deshalb umklammerte Judith mit der rechten Faust ihr Messer so fest sie konnte. Sie würde nicht ohne es in der Hand sterben.

Zeit, meinen Frieden zu machen, dachte sie. Ein enttäuschendes Leben, alles in allem. Aber eins, das ohne falsche Illusionen geführt wurde.

Judith hatte immer gewusst, worauf sie sich einließ. Wenn sie ehrlich war, hatte es Zeiten gegeben, da hatte sie sich eine Situation wie diese herbeigesehnt. Vollkommen sinnlos, hier zu sterben. Vollkommen sinnlos, hier zu leben.

Ach, was soll's, sagte sie sich und spuckte aus. „Janne, du verdammter Idiot!"

Sie flüsterte es nur, aber es verschaffte Judith für einen Moment Linderung.

 

 

Janne. Ein Typ, wie in Marmor gemeißelt. Kein bisschen flexibel, völlig immun gegen die Verlockungen der Ambivalenz und unbelastet vom Vorwurf der Verschwendung und Irrationalitäten wie Freude oder Überschwang.

Kennen gelernt hatte Judith ihn ausgerechnet in einer Bar. Wenn sie so darüber nachdachte, kam er ihr nun fast schicksalshaft vor. Sie saß da und saugte am Strohhalm eines Furchtcocktails und er betrat den Raum, um die Toilette zu benutzen. Anstandshalber bestellte er hinterher ein Glas Wasser. Er komme gerade von Training, entschuldigte er sich bei Judith, die ob seines Körpergeruchs die Nase rümpfte.

Hätte Judith es dabei belassen, wäre vielleicht alles anders gekommen. Sie hätte endlich – wie ihre Mutter es formulierte – zur Ruhe gefunden, hätte ihr Leben in Ordnung gebracht, eine Anstellung gefunden, sich zufrieden gegeben mit einem normalen Leben. Vielleicht hätte sie sich abends in Bars darüber beschwert, dass sie sich vorkäme wie ein Zahnrad, das im Getriebe nicht weiter auffiel, solange es lief, aber sofort abserviert und ausgetauscht werden konnte, wenn es zu verschleißen drohte. Vielleicht hätte sie irgendeinen Trottel geheiratet, weil man das so machte und Kinder bekommen, weil sich das nicht vermeiden ließ, wenn man den Weg der bürgerlichen Ehe einmal eingeschlagen hatte.

Judith hatte immer schon lebendige Visionen von der möglichen Zukunft gehabt, fiel ihr auf. Vielleicht hatte sie damals in der Bar bemerkt, dass sie sich gerade an einem Scheidepunkt ihres Lebens befand. Wenn sie jetzt nicht den Mund aufmachte, würde sie es nie tun, also fragte sie den sonderbaren Typen, solange der an seinem Wasser nippte, was für einen Sport er denn trainiere.

„Parcours", sagte dieser.

Irgendwas hatte Janne an sich, erinnerte sich Judith, das sie im ersten Augenblick bemerken ließ, dass er derjenige sein würde, der sie hier rausholen konnte. Es lag an einer Art, die andere vielleicht als Nonchalance missdeutet hätten, Judith aber als unterdrückte Verbissenheit erkannte. Vom ersten Augenblick an durchschaute Judith diesen sonderbaren jungen Mann, der so viel Wert darauf legte, die Distanz zu wahren, dem seine Anonymität wichtiger war als Anerkennung. Dem es unangenehm war, hier zu sein, angeschaut, angesprochen, angelächelt zu werden.

Judith war nicht so dumm, zu glauben, eine verwandte Seele gefunden zu haben. Nichts lag ihr ferner als Romantik. Janne war in jeder Hinsicht völlig anders als sie. Seine Augen hatten etwas Berechnendes, Abschätzendes. Er betrachtete die Welt als eine Ansammlung zu überwindender Hindernisse. Judith indes betrachtete die Hindernisse, die sie umgaben und hielt sie für die Welt.

„Als Kind habe ich geturnt", erzählte Judith und so wie Janne versuchte, Lässigkeit zu spielen, gab sie Begeisterung vor.

„Nicht dabei geblieben?"

„Ich empfand die Übungen zu sehr durchchoreographiert und mich selbst irgendwann als Zirkuspferd."

„Genau das richtige für eine Stadt, die eine einzige Manege sein will", sagte Janne.

„Wie meinst du das?"

Judith bekam keine Antwort, sondern die kalte Schulter. Aber sie konnte ihn nicht abhauen und im Nebel der Nacht aufgehen lassen. Also bezahlte sie schnell ihre Rechnung und folgte Janne in angemessenem Abstand.

In einer Stadt, in der für alles gesorgt war und es einen Ort für jede Aktivität gab, wirkten sportliche Betätigung auf der Straße ohne teure Geräte und ohne Eintrittsgeld zahlen zu müssen, sowie die Zweckentfremdung der öffentlichen Architektur wie ein subversiver Akt.

Janne, der sich unbeobachtet fühlte, sprang über Blumenkübel und Parkbänke, hievte sich mit einem Klimmzug auf das Podest einer Treppe hinauf, nur um sich dann auf der anderen Seite wieder fallen zu lassen und sich im Privatgarten eines Einfamilienhauses wiederzufinden.

Judith rannte die Treppe hinauf und versuchte den Sprung nachzuahmen, stellte aber fest, dass sie nicht einfach nur nach unten, sondern auch noch gut drei Meter weit über einen gusseisernen Zaun springen musste, um im Garten zu landen, von wo Janne bereits weiter in die Dunkelheit gerannt war.

Es kostete sie Überwindung, aber sie wagte das Manöver und landete auf den Knien in einer matschigen Pfütze. Von irgendwoher bellte ein Hund, der sein Territorium verletzt sah.

Judith rannte los, bis sie auf der andern Seite des Gartens wieder auf einen gut zwei Meter hohen gusseisernen Zaun stieß. Es kostete sie eine Weile, bis sie die Lösung fand. In der hinteren Ecke befand sich ein Komposthaufen, Judith stieg hinauf, sank wieder bis zu den Knien ein, zog ein Bein aus der stinkenden Masse, fand Halt auf einem Holzbrett, das den Haufen in Form halten sollte, stieg hinauf, sprang, bekam eine der Spitzen des Zauns zu fassen, zog das rechte Bein nach und hinüber. Dann ließ sie sich fallen. Eine Zaunspitze hatte ihr das linke Hosenbein zerrissen. Sie spürte einen diffusen Schmerz und Befriedigung. Für einen Moment musste Judith lachen, doch dann bemerkte sie, dass ihre Erleichterung voreilig gewesen war.

Der Hund bellte erneut und es dauerte nicht lange, da realisierte Judith, dass der massive Zaun vermutlich dem Schutz der Nachbarn von dem Tier diente.

„Den Baum hoch!", rief ihr eine Stimme zu, der Judith in blindem Vertrauen zu einer massiven Kastanie folgte.

Als sie nach einem Ast greifen wollte, bekam sie eine Hand zu fassen und wurde nach oben in die wurmstichigen Überreste eines Baumhauses gezogen.

„Sei vorsichtig, es wackelt ganz schön."

„Wo sind wir?", fragte Judith.

„In der Bredouille", sagte Janne, „Was sollte das? Wieso läufst du mir nach?"

„Wohnst du hier?"

„Beantworte meine Frage: Wieso verfolgst du mich?"

„Ich wollte sehen, ob ich es schaffe."

„Was schaffen? Unbemerkt Hausfriedensbruch begehen? Was glaubst du, passiert, wenn die nach dem Hund sehen kommen?"

„Du bist hierherein gerannt", sagte Judith, „Ich dachte, du weißt, was du tust."

„Weiß ich auch, du bist diejenige, die sich blindlings auf unbekanntes Terrain begibt."

„Was ist der Plan?", Judith wollte sich nicht weiter anhören, wie leichtsinnig sie gewesen war.

Janne war kein Mensch, der auf Fehlern anderer Leute herumritt und wurde sofort wieder sachlich: „Das hier ist eine geplante Reihenhausanlage. Jeder Garten grenzt zu drei Seiten an je einen weiteren Garten. Wenn wir es über die hintere Grundstücksgrenze schaffen, gelangen wir in den Hof eines Hauses der Parallelstraße. Die Besonderheit an genau diesem Haus ist, dass es eine Tiefgarage statt eines Kellers hat und das Tor immer offen steht. Man kann einfach durch laufen und gelangt so auf die Straße."

In diesem Moment schaltete jemand das Licht auf der Terrasse an. Der Hund bellte in erhöhter Frequenz, nicht wissend, ob er sein Herrchen begrüßen oder weiter die Eindringlinge einschüchtern sollte.

„Und weil es eine Plansiedlung ist, sind die Zäune hier überall gleich, hab ich Recht?", fragte Judith.

„Ist alles im Preis inbegriffen."

„Wie..."

Während Janne „Los doch" zischte, sprang er vom Baum und rannte zum hinteren Ende des Gartens. Der Hund hatte sich indes entscheiden, in die andere Richtung zum Haus zu laufen, wo er kläffend seine Bezugsperson erwartete.

Judith folgte Janne ohne nachzudenken, hetzte zum Zaun und beobachtete, wie ihr neuer Bekannter, sich am metallenen Zaun hinauf zog, sich mit den Füßen an den senkrechten Stangen Halt verschaffte, um sich dann herüber zu wuchten.

„Wie?", fragte Judith erneut, als sie vor dem Zaun stand und Jannes Silhouette auf der anderen Seite anstarrte. Wenn er jetzt abhaut, dachte sie, habe ich mich getäuscht.

Aber er blieb und flüsterte: „Betrachte es wie eine Leiter – nur um 90 Grad gedreht."

Judith nahm Anlauf, sprang und versuchte, sich mit den Füßen am Gitter festzuklemmen, während sie sich mit den Armen nach oben zog.

„Jetzt den rechten Fuß nach oben", sagte Janne.

Judith versuchte es, rutschte jedoch ab und fiel ins Gras.

„Noch mal! Schnell!"

Diesmal versuchte sie, den Bewegungsablauf schneller und fließender zu vollführen. Sie sah zwar aus wie ein verzweifelter Käfer in einem Spinnennetz, doch es gelang ihr, sich über die Spitzen des Zauns zu hieven. Für einen eleganten Sprung reichte jedoch ihre Kraft nicht mehr aus und so ließ sie sich einfach neben Janne fallen, der ihr die Hand reichte, um ihr aufzuhelfen.

„Mein Name ist Janne", sagte er.

„Judith. Danke für die Hilfe. Es war dumm von mir."

Das Hundegebell kam wieder näher und mit ihm eine Gestalt, die in Hausschuhen über den Rasen schlurfte.

„Los weg hier!", bedeutete Janne und Judith folgte ihm hinüber, wo sich angeblich das Tor zur Freiheit befinden sollte.

Janne behielt Recht. Das Garagentor stand offen wie der Eingang zu einem Tunnel. Das zugehörige Auto stand im Hof, wo der Besitzer offensichtlich am Nachmittag daran herum geschraubt hatte.

„Wohnst du hier?", fragte Judith noch einmal.

„Nein."

„Und warum kennst du dich hier so gut aus? Das ist doch fast schon die Oberstadt."

Es war natürlich nicht verboten, die Viertel der wohlhabenderen Einwohnern zu betreten, aber eigentlich gab es dazu keinen Grund, wenn man nicht hier lebte. Nichts machte die endlosen Straßen mit ihren gleichförmigen Reihenhäusern für Passanten interessant – wenn diese nicht gerade die Absicht hatten, in eines der äußerlich durchaus bescheidenen Anwesen einzubrechen.

„Mars-Daily", sagte Janne. „Bevor man eine Route plant, schaut man sie sich genau an."

Mars-Daily nannte sich das Satellitennetz, das seine Runden unermüdlich um den Planeten zog. Es wurde zunächst als Navigationssystem installiert, warb aber inzwischen damit, alle zwölf Stunden mindestens ein Foto von jedem Quadratmeter der Marsoberfläche zu schießen. Auf der Webseite des Unternehmens ließen sich die Bilder der letzten vierzehn Tage kostenlos durchblättern, alle früheren konnte man gegen Gebühr einsehen.

Es war ein offenes Geheimnis, dass die Seite sowohl von Kriminellen, als auch von der Polizei zur Recherche genutzt wurde und ein geflügeltes Wort besagte, Mars-Daily habe dafür gesorgt, dass mehr Verbrechen aufgeklärt als begangen wurden.

 

In ihrer Höhle kauernd fragte sich Judith, ob die Satelliten gerade über ihr schwebten und womöglich ihre Verfolger fotografierten, oder ob sie sie abgelichtet hatten, wie sie hier hinein geflüchtet war. Völlig egal. Niemand schaute sich die Bilder von hier draußen an. Niemand würde kommen und sie bergen. Ihr ausgeweideter Körper würde bis in alle Ewigkeit hier liegen und verwesen.

An unserem ersten Abend hielt ich Janne für einen Einbrecher, dachte Judith zurück. Er hätte einer sein können, wenn er sich mehr für materielle Dinge interessiert hätte. Aber alles, was ihn interessierte, war, einen Weg durch unwegsames Gelände zu finden.

Später, als Judith Janne besser kannte, erfuhr sie, dass er gelogen hatte. Seine Eltern lebten in der Oberstadt und er war dort als privilegierter Sohn mit Aussicht auf ein sorgloses Leben aufgewachsen. Er hätte die besten Chancen gehabt, eine gut bezahlten, aber sinnlose Position in der Stadtverwaltung zu bekleiden. So bedankte sich das UC bei den Gründerfamilien.

Jannes Vorfahren gehörten zu den ersten Siedlern, mehrere Generationen verbrachten ihr ganzes Leben unter der Kuppel in einer Wüstenlandschaft und halfen dabei, das Terraforming zu organisieren.

Heute war Jannes Mutter eine Art Wildhüterin der sich an das UC-21 anschließenden Steppenlandschaft. Dabei verließ sie nur selten ihr Büro. Andere verbrachten auf ihr Geheiß hin Tiere in die Wildnis, auf dass sich das ökologische Gleichgewicht stabilisierte. Das ganze System stand und fiel mit den Insekten. Sie bestäubten die Pflanzen, die die Sauerstoffversorgung gewährleisten sollten. Damit sie aber nicht zur Plage wurden, brauchte man Insektenfresser, die wiederum wurden von Prädatoren in Schach gehalten. Ihre Tage verbrachte Jannes Mutter damit, auf Bildschirmen die Funksignalen markierter Dachse und Eulen zu verfolgen.

Jannes Vater kontrollierte, ob die Haushalte die ihnen zugeteilte Menge an Trinkwasser nicht überschritten, was ebenfalls nur noch einen Posten der ehrenwerten Tradition halber darstellte, denn längst gab es genug Trinkwasser, um es für private Schwimmbecken und tägliche Autowäschen verschwenden zu können.

„Sie sind lebende Fossilien, eigentlich sind sie schon tot. Jedenfalls würde es keinen Unterschied machen, wenn sie es wären", kommentierte Janne einmal und sie sprachen nie wieder von seiner Familie.

Stattdessen brachte Janne Judith bei, wie man sprang, fiel, sich abrollte, hangelte und rannte, ohne zu schnell zu ermüden.

Sie beide träumten davon, das UC zu verlassen. Judith hielt es zunächst nur für eine Phantasie, die sie den Alltag ertragen ließ, Jannes Pläne aber waren konkreter.

„Wir gründen eine Farm", sagte er immer wieder, „Gemüse, Reis, Kartoffeln."

Judith wollte gerne daran glauben, ahnte jedoch, dass es so einfach nicht sein würde. Ein Großteil der Landwirtschaft funktionierte automatisiert direkt vor den Toren der Stadt. Die Wildnis, in der Janne siedeln wollte, war weitestgehend unerschlossen und eine Gegend, in der Gesetze nicht viel bedeuteten. Kriminelle zogen sich hierher zurück, wenn sie es schafften, aus den Zentren zu fliehen.

Das Land, das – wenn man in Marszeitaltern dachte - gerade erst das Terraforming hinter sich hatte, aus jungen Wäldern, Steppen und Gesteinswüsten bestand, würde urbar gemacht werden müssen. Kein Mensch wusste, ob es überhaupt fruchtbar gemacht werden konnte. Wege waren nicht vorhanden. Wohin sollten sie ihre Produkte verkaufen und wie? Wie baute man überhaupt ein Haus, geschweige denn einen Hof? Woher sollten sie Werkzeug und Maschinen beziehen? Und Saatgut?

 

 

Männer, dachte Judith in ihrem Versteck, locken dich herauf aufs Eis und wenn du dann einbrichst, hauen sie ab. Sie klingen, egal, was sie sagen, selbstsicher, als wüssten sie alles von Leben, während man selbst sich von Zweifeln gehemmt sieht. Und so passiert es, dass man selbst anfängt, die eigene und die generelle Weiblichkeit als Schwäche und Hindernis zu begreifen. Man vertraut einem Windhund, weil man sich selbst nicht vertrauen kann. Oder soll. Oder will.

Wie konnte sie nur so dämlich sein? Wie viele Geschichten hatte sie gehört, in denen Mädchen und Frauen im Stich gelassen wurden, nachdem sie sich auf einen Typen eingelassen hatten, der ihnen die Sterne vom Himmel versprochen hatte! Und jetzt hockte sie hier. Allein. In Todesgefahr und ohne die geringste Ahnung, wie sie diese Situation überleben konnte.

Es war ihr vor allen Dingen peinlich, weil es ausgerechnet ihr passiert war. Sie hielt sich für tough und unabhängig. Sie hatte keine Angst vor den Widrigkeiten des Lebens außerhalb des UC gehabt. Sie wussten beide, wie man sich durch unbekanntes Terrain bewegte. In der Nähe des Wassers bleiben, auf Fährten von wilden Tieren achten, den Vogelflug im Auge behalten und die Sterne. Sie wussten Bescheid über essbare Pflanzen, den Fischfang und wie man Fallen für Kaninchen stellte. Bewaffnet waren sie mit Messern und je einem Gewehr für die Jagd und zur Verteidigung.

Die Munition, die Judith mit sich herumgeschleppt hatte, besaßen nun andere, wie auch ihre Vorräte. Ihr Maultier – einem Reiterhof für snobistische Teenager abgekauft - hatten sie schon erschossen, um das Fleisch aufzuteilen, oder weil es ihnen Spaß machte zu töten.

Die Flinte taugte nur noch als ungelenker Prügel. Judith hatte sie schon in eine Ecke geworfen, bevor ihr klar geworden war, dass diese Höhle keinen zweiten Ausgang aufwies.

Mit einem Messer zu einer Schießerei, dachte sie, wie in den besserwisserischsten Sinnsprüchen.

Noch so eine Sache, die ihr an Janne im Nachhinein missfiel. Er hatte immer eine Weisheit auf Lager. Nie konnte er eingestehen, dass er mal nicht weiterwusste. In seiner Welt gab es keine Probleme, nur Chancen.

So unbeleckt von der Ideologie des UC war er also auch nicht, erkannte Judith.

Die ersten Menschen, die auf den Mars kamen, um dort zu siedeln, waren keine Glücksritter oder Pioniere im eigentlichen Sinne, sondern Angestellte, die im Auftrag von Firmen Städte aufbauen sollten. Ihr Antrieb war nicht der Drang nach Freiheit, sondern Konkurrenzdruck. Der Planet war ein Spielfeld und musste aufgeteilt werden, die Zentren mussten wachsen. Und Zentren wuchsen nicht, wenn man zauderte.

Das ist unsere Kultur, dachte Judith. Wir vom Mars streben danach, den anderen zuvorzukommen, deshalb haben wir uns das Nachdenken abtrainiert. Spontaneität als Tugend, Skrupel als Hemmnis.

Ursprünglich war es diese Mentalität, vor der Judith und Janne flüchten wollten. Jetzt bemerkte Judith, dass sie ihr sogar noch in ihrer Rebellion auf den Leim gegangen waren.

Aber durch Passivität war noch keine Revolution gestartet worden. Faulheit hatte noch nie ein System gestürzt. Mit Bequemlichkeit hatte man sich noch nie an etwas gerächt. Die Widersprüchlichkeit war die Perversion. Man konnte nur verlieren.

Jede Energie ließ sich in Profit umsetzen, Lähmung aber schadete ihm nicht. Man erzählte den Kindern Märchen von Tatkraft und Risikobereitschaft, die sich auszahlten, von Grenzen, die es zu überschreiten galt und Gewinnen, die man sich erkämpfen musste. Innerhalb dieser Ideologie war der Antagonist immer der Verlierer und niemand schätzte einen Schwächling. Die Regeln wurden von den Siegern immer wieder neu verhandelt. Das war das dynamische System der Gesellschaft. Glorreiche Niederlagen waren nicht vorgesehen. Eine geradezu obszöne Idee.

Draußen tauchte die Dämmerung die Landschaft in tiefrotes Licht. Es war viel Staub in der Luft, viel Bewegung über dieser Ödnis. Wer hier lebte, gab sich nicht mit glorreichen Niederlagen zufrieden, sondern warf viel grundlegendere Fragen auf. Zum Beispiel die, nach dem Nutzen von Menschlichkeit in einer Umgebung, in der nur das gefährlichste Raubtier überlebt.

Dies waren die Überreste eines Mars', auf dem ein signifikanter Männerüberschuss und ein kategorisches Abtreibungsverbot herrschten. Die erfolglosen Nachfahren geringqualifizierter Hilfsarbeiter. Aufgewachsen in Heimen und Kinderhäusern, die in direkter Nachbarschaft zu Bordellen und Nachtclubs entstanden. Erwünscht und willkommen geheißen als Material zur Verwertbarmachung des Planeten, ausgestoßen bei der Diagnose psychosozialer Auffälligkeiten.

Judith hatte Geschichten über Clans draußen in der Steppe und in den Bergen gehört. Männer, die davon lebten, Farmen und Transportzüge zu plündern, Mörder denen man nachsagte, dass sie, wenn sie nicht gerade einander nachstellten, Jagd auf Sicherheitspersonal und Verwalter in den Außenbezirken der Zentren machten und auch vor Kannibalismus nicht zurückschreckten.

Diese Typen hier machten jedoch weniger den Eindruck blutrünstiger Jäger. Eher schienen sie die Gejagten zu sein, die von anderen Gruppen weit nach draußen in die Wildnis verdrängt worden waren. Sie wirkten umso ausgehungerter, umso bestialischer. Sprachen sie überhaupt noch eine menschliche Sprache? Gingen sie aufrecht?

Der Eindruck täuschte. Sie wussten sehr genau, wie man mit Schusswaffen umging. Nachdem sie Judith' Munition erbeutet hatten, hatten sie Pfeil und Bogen beiseite gelegt. Ab und an feuerten sie ein Gewehr ab und mit jedem Knall zuckte Judith zusammen, denn sie gewann den Eindruck, dass sie näher kamen.

Sie lauschte in die Stille zwischen den Schüssen hinein und hörte zunächst nichts als den Wind, der über die Felsen strich. Die Schatten übernahmen langsam die Szenerie und Judith begann zu frösteln. Wie gerne hätte sie ein Feuer entzündet, aber daran war nicht zu denken. Ihr Magen knurrte und sie unterdrückte Durst und Schwindel.

Die Schmerzen in der Schulter kehrten zurück, als sie immer verzweifelter gegen die Müdigkeit ankämpfen musste. Verkrampfte Muskeln, steife Gelenke. Wie lange kauerte sie hier schon? Zwei Stunden? Fünf? Ein Leben lang?

Sie spürte, wie die Männer draußen sie belauerten, wie sie sich zwangen, keine Geräusche zu verursachen, sich nicht zu bewegen. Sie konnte ihre Ungeduld wahrnehmen, ihren Blutdurst. Oder waren es Judiths eigene Empfindungen, die in ihr widerhallten?

Dann hörte sie plötzlich Schritte und je näher sie kamen, umso mehr von ihrer Hoffnung ließ Judith fahren. Sie hatte sich dieses absehbare Ende nicht gerade herbeigesehnt, aber jetzt hinterließ die sich lösende Anspannung doch eine gewisse Genugtuung. Oder zumindest das Trugbild von Genugtuung: Adrenalin in ihrem Blutkreislauf.

Jemand bewegte sich vor ihrem Unterschlupf hin und her. Wie ein Raubtier, das nicht recht wusste, ob es einen Angriff wagen oder sich die Energie sparen sollte, weil seine Beute ihm ohnehin früher oder später vor die Lefzen rennen würde. Er machte sich nicht die Mühe zu schleichen. Der körnige Staub knirschte unter seinen Sohlen, als gehörte ihm der ganze Planet. Selbstgefällig fand Judith dieses Herumtigern, überheblich, arrogant.

Heiße Wut stieg in ihr auf. So einer sollte sie nicht bekommen, ohne dass er nicht selber ein paar Federn lassen musste. Das Messer in der Faust machte sie sich bereit zum Sprung und als der anmaßende Fuß die Schwelle zu ihrem Versteck überschritt, verschwendete Judith keinen Herzschlag an einen Zweifel, sondern rammte die Klinge direkt ins sehnige Fleisch des Mannes, der es für eine gute Idee gehalten hatte, ihr nachzustellen.

Noch bevor er zu Boden ging, stieß er einen Fluch aus, der klang wie das Zischen einer Schlange und Judith wusste, dass sie einen furchtbaren Fehler begangen hatte.

Das Messer hatte Fuß und Schuh vollständig durchbohrt und sich mit dem Auftreffen auf dem Steinboden zu einem kleinen Widerhaken verbogen. Janne hyperventilierte, als er auf demselben Boden saß und versuchte, den Fremdkörper loszuwerden.

„Es tut mir leid!", beteuerte Judith, aber das nutzte nun auch nichts mehr. Weder machte Janne ihr Vorwürfe, noch nahm er ihre Entschuldigung an. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, den Blutverlust einzudämmen. Socke und Innenfutter seines Schuhs hatten sich schon vollgesogen. Kontinuierlich tropfte das schmierige, dickflüssige Blut in den Staub und als Janne das Messer mit einem beherzten Ruck entfernte, folgte ein Schwall, der ihn schwindeln ließ.

Judith hatte sofort eine Schere und Verbandsmaterial parat. Vorsichtig zog sie Janne den Schuh aus, schnitt ihm mit chirurgischer Präzision den Socken vom Fuß und kümmerte sich dann um die Desinfektion. Schweigend, schnell, effizient. Sie hatten es geübt. Sie waren vorbereitet. Dann reichte sie Janne Nadel und Faden, bevor sie sich abwenden und einem Würgereiz nachgeben musste.

„Es ist zu dunkel", sagte Janne ruhig und Judith riss sich zusammen. In Jannes Rucksack, in dem sie auch das Erste Hilfe-Material gefunden hatte, fand sie auch eine Kerze und Streichhölzer.

„Ich wusste nicht, dass du es bist", sagte sie, sich von Janne abwendend, der sich nun selbst versorgte.

„Du hast dir deine Sachen abluchsen lassen", erwiderte Janne trocken, „Das Maultier, den Proviant, die Munition. Alles."

„Sie haben mich angeschossen, was hätte ich tun sollen? Ich hab es mir nicht abluchsen lassen, ich habe es zurückgelassen, nachdem ich den Pfeil rausgeschnitten habe und bin gerannt", gab Judith zurück und ärgerte sich sogleich wieder. Jetzt drehte er es wieder so, als hätte sie versagt. Dabei hatte er sie verlassen. Er hatte sie in diese Situation hinein laufen lassen. Er hatte ihr das Maultier und den größten Teil der Vorräte überlassen – wissend, dass sie dadurch zu einem attraktiven Ziel für Wegelagerer werden würde.

„Keine Sorge, morgen können wir einen Großteil davon wieder einsammeln", sagte Janne.

Judith schwieg. Sie wollte, dass er es aussprach, ohne dass sie danach fragen musste.

„Sie sind tot."

Stille.

„Ich habe sie erschossen."

Judith starrte an Janne vorbei in die Dunkelheit.

„Einen nach dem anderen."

„Sie haben das Maultier geschlachtet", Judith Stimme brach. Was Verzweiflung hätte sein sollen, manifestierte sich in ihr als Wut. Zu keinem zivilisierteren Gefühl fähig, zwang Judith sich ruhig zu bleiben. Sie zitterte, aber das konnte Janne nicht wahrnehmen.

„Zwölf Stück. Aus dem Hinterhalt. Die meisten unbewaffnet. Die anderen unerfahren."

Aber nicht ungefährlich, dachte Judith. Es nutzte nichts, sich selbst oder gegenseitig ein schlechtes Gewissen einzureden. Man konnte die Wunden, die man geschlagen hatte, nicht ungeschehen machen, nur warten, bis sie verheilten oder Gras über den Gräbern wuchs.

 

 

Bald war die Nacht hereingebrochen und Janne und Judith schwiegen sich an, wie sie es früher immer getan hatten. Damals hatte Judith es als angenehm empfunden, sich mit jemandem ohne Worte zu verstehen, jetzt hatte sie das Gefühl, mit einem Ungeheuer allein in der Dunkelheit zu sein. Das Unbehagen, das der Entfremdung innewohnte, hielt sie beide wach und es quälte sie das Gefühl, zurückgeworfen zu sein in ein Kapitel ihres Lebens, das sie abgeschlossen haben wollten.

„Ich habe dich im Traum gesehen", sagte Janne schließlich.

„War es ein guter?", fragte Judith.

„Ich bin nicht sicher", erwiderte er, „Wir saßen zusammen in einem Zelt draußen in der Ebene und harrten aus, während um uns herum die Welt unterging."

„Das war kein Traum. Das war letzte Woche", sagte Judith kühl. Ihr stand nicht der Sinn nach schneller Versöhnung und wenn sie länger darüber nachdachte, hatte sie vielleicht überhaupt kein Interesse mehr an Jannes Freundschaft.

Bis vorhin war sie lediglich enttäuscht von ihm gewesen, jetzt ekelte sie sich. Nicht vor ihm direkt, sondern vor sich selbst, weil sie ihm nicht so schnell vergeben konnte, weil sie mit dem Gedanken spielte, ihn verletzt zurückzulassen, wie er sie fortgeschickt hatte. Da war etwas Böses in ihr, von dem man versuchte hatte, es zu verleugnen, in der Hoffnung, dass es sich niemals bahnbrechen würde. Da war etwas Gehässiges, Hässliches, das man mit Erziehung und Liebe zu überdecken versucht hatte, das aber nur gewartet hatte, bis Judith allein und schwach war.

Janne stellte sich schlafend. Judith merkte es an seiner Atemfrequenz. War er etwa eingeschnappt? Sicher hatte er sich ihr Widersehen anders vorgestellt, hatte sich ihrer Dankbarkeit versichert geglaubt.

In Wirklichkeit ging er ihr auf die Nerven. Janne und seine aufgesetzte Spiritualität. Traumdeutung, Energien, Bestimmung. Er glaubte nicht wirklich daran, aber wenn ihm solche Geschichten einen Nutzen bringen konnten, erzählte er sie, als hielte er sie für universelle Wahrheiten, denen man sich nicht entgegenstellen konnte.

Dass sie beide nicht füreinander bestimmt waren, hatte er Judith mehr als deutlich gemacht, als sie gerade begonnen hatte, daran zu glauben, dass es mit ihnen vielleicht etwas werden konnte.

So lief das immer zwischen ihnen: Janne arbeitete sich so lange an Judiths Zweifeln ab, bis er sie durchbrach, nur um sie dann als seine eigenen gegen Judiths neuen Enthusiasmus ins Feld zu führen.

Zu Anfang gefiel Judith der Gedanke, die Stadt zu verlassen, nicht. Der Impuls kam nicht von ihr und die Ironie bestand darin, dass sie, hätte sie ohne Jannes Einfluss Entscheidungen über ihr Leben treffen müssen, sich niemals dafür entschieden hätte, sich zu befreien. So nannte es Janne und Judith konnte den Punkt nicht von der Hand weisen. Das Urbane Zentrum war ein Gefängnis. Die Annehmlichkeiten, die es bot, waren Beruhigungsmittel für die Bevölkerung. Der durchgetaktete Alltag verursachte auf Dauer Hirnschäden. Das stimmte alles mit Judiths Wahrnehmung überein und je öfter Janne ihr das Grauen eines bürgerlichen Lebens ausmalte, umso mehr erodierte ihr Widerstand gegen Jannes Pläne.

Befreiung, hieße Entbehrung, das leugnete er nicht, aber sie bedeute auch Autonomie, Selbstbestimmung, Entfaltung, eine Rückkehr zur menschlichen Natur. „Wir haben diesen Planeten nicht bewohnbar gemacht, um hier in höherem Tempo zu degenerieren, als unsere Verwandten auf der Erde. Unsere Vorfahren sind auf den Mars gekommen, weil sie frei sein, nicht weil sie wie die Stallhasen zusammengepfercht leben wollten. Sie haben ihre Heimat verlassen, weil die Freiheit ihnen wichtiger war als der Luxus. Im Grunde genommen folgen wir den ältesten, marsianischen Tugenden und dem, was den Menschen vom Tier unterscheidet: der Hoffnung auf eine bessere Zukunft."

Und dennoch schlief sie gerne in einem Federbett, trank gerne warmen Kakao und genoss einen guten Film im Kino. Es wäre gelogen, zu sagen, es hätte sie keine Überwindung gekostet, ja zu sagen. Und dennoch hatte sie es getan und es war ihre eigene Schuld. Wer nicht in der Lage war, sich seine Schuld einzugestehen, degradierte sich selbst zum unmündigen Kind. Janne hatte Judith nicht verführt, er hatte ihr seine Vision vorgetragen und sie damit überzeugt. Er hatte sie nicht gezwungen, sie nicht unter Druck gesetzte. Stattdessen hatte er einen Nerv getroffen, den Judith davor selbst nicht anzurühren gewagt hatte.

Es nutzte nichts, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Vergossene Milch brachte man nicht zurück in die Kanne, getroffene Entscheidungen konnte man nicht rückgängig machen. Sie waren losgezogen und ihr Enthusiasmus war ungetrübt an jenen ersten Tagen.

Unter freiem Himmel schlief es sich fast so gut wie in einem Federbett und statt Kakao gab es frischen Kräutertee, der auch nicht schlecht war. Filme brauchte man ohnehin nicht, wenn man selbst ein Abenteuer zu bestehen hatte und die eigene Zukunft gestalten konnte.

Der profane Alltag setzte ein, als es zu stürmen begann und sie für fünf Tage im roten Staub festsaßen, als Judith sich den Knöchel verstauchte und Janne sich an unreifen Beeren den Magen verdarb. Als sie wieder einen Tag verloren, weil Judith sich mit Menstruationskrämpfen plagte, waren sie kurz davor, ihren Stolz herunterzuschlucken und umzukehren.

Doch es wurde besser. Man gewöhnte sich daran, tote Kaninchen zu häuten und zu improvisieren, wenn wieder irgendwas von der Ausrüstung den Geist aufgab. Die Unannehmlichkeiten nervten zwar, die körperliche Anstrengungen wurde nur allzu oft mit Unbequemlichkeit entlohnt und sie scheiterten tausend Mal, bis scheinbar einfache Dinge endlich gelangen.

„Wir haben ja Zeit", vertröstete Janne Judith, wenn diese kurz davor stand, die Nerven zu verlieren und er hatte Recht. Sie hatten Zeit, die konnten sie sich einfach nehmen. So viel sie brauchten. So viel, wie nötig war, um zu überleben. Der Weg, die Arbeit, die Jagd waren nun ihr Leben, nicht nur Vehikel, die ihnen ein Leben ermöglichten. Abends Fallen aufzustellen und morgens abzugehen war keine abstrakte Tätigkeit, kein Job, sondern brachte einen konkreten Nutzen und klar ersichtlichen Erfolg oder Misserfolg. Sie erlebten Freude und Frust zum ersten Mal seit frühester Kindheit wieder als pure Gefühle, die in einem direkten Zusammenhang standen zu ihrer wirklichen, körperlichen und geistigen Verfassung.

Freiheit war wie eine chronische Krankheit. Es ging auf und ab. Euphorie wechselte mit Enttäuschung wechselte mit Verzweiflung wechselte mit Akzeptanz. Schmerz und Verschleiß zu fühlen erinnerte sie daran, dass sie wahrhaftig lebten. Das dumpfe, in Watte gepackte Leben in der Stadt indes war der Tod. Da waren sie sich einig. Und suizidal waren sie nicht.

Sie schleppten sich weiter, sie folgten den schnurgeraden Wasserwegen, den Transport- und Versorgungskanälen, denn so, das hatten sie gelesen, bewegte man sich am sichersten durch die Wildnis.

Nach einigen Wochen waren sie ein eingespieltes Team. Die Handgriffe saßen, das Wissen über die sie umgebende Natur, ihre Gefahren und ihren Nutzen hatte sich gefestigt. Sie stritten sich weniger. Insgesamt redeten sie weniger miteinander. Sie mussten es nicht, glaubte Judith, weil sie sich ohne Worte verstanden und die Phase der Resignation hinter sich gelassen hatten.

Wenn sie erst einen Ort gefunden haben würden, an dem sie ihre Farm aufbauen konnten, so dachte sie, würden Janne und sie nach einem von ihnen selbst noch zu entwerfenden Ritual heiraten.

Judith gefiel es, nüchtern und deshalb überheblich mit diesem Gedanken zu spielen. Sie hatte sich nie dem großen, alles überlagernden Traum ergeben, einen Mann zu finden und zu heiraten. Wenn es nicht passiert wäre, hätte sie dennoch zufrieden leben können, aber jetzt passierte es einfach so. Sie hatte im Vergleich zu ihren ehemaligen Klassenkameradinnen so viel Energie gespart, indem sie das Schicksal einfach auf sich hatte zukommen lassen. Energie, die sie jetzt nutzen konnte, um ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.

Verheiratet zu sein und es niemanden wissen zu lassen, der Ehe vollständig ihre Bedeutung nehmen, weil man selbst bestimmte, was sie war und was nicht. Eine neue Kultur aufbauen. Dem Leben einen echten Sinn geben, indem man sich von allen Traditionen lossagte. Das, überlegte sich Judith, ist das Maximum, das man aus seinem Leben machen konnte.

Vielleicht würden andere Menschen ihnen nachfolgen. Vielleicht konnten sie eine kleine freie Gemeinschaft gründen. Sie würden nach ihren eigenen Regeln leben und unabhängig sein von Uhrwerken, dem Warenkreislauf und dem Unterhaltungsterror. Sie würden sich selbst versorgen und nur Überschüsse verkaufen. Alles, was sie brauchten, würden sie draußen in den Bergen und der Steppe finden. Sie würden nur nehmen, was auch wieder nachwuchs und nur soviel, wie sie tatsächlich benötigten.

In ein paar Jahren würden sie Kinder haben, die niemals zur Schule würden gehen müssen, die ihren Neigungen nachgehen durften, die gesunde Luft atmen und selbsterzeugte Nahrung essen würden, die keine Freizeitzentren brauchen, weil die Natur ihr Spielplatz war, die schlafen durften, wenn sie müde waren und aufstehen konnten, wann sie wollten.

 

 

„Du bist...", sagte Janne plötzlich in die Stille der nächtlichen Finsternis hinein. Judith erschrak, herausgerissen aus ihren Gedanken, wie ein auf frischer Tat ertappter Einbrecher.

„Du bist völlig anders als meine Mutter."

„Gut zu wissen", erwiderte Judith und drehte sich zur Seite, um Janne nicht ihr pochendes Herz zuzuwenden.

Nein, kein ertappter Einbrecher, dachte sie, ein ertappter Ausbrecher. Er hatte sie just in dem Moment erwischt, als sie daran dachte, ihn und ihre Phantasien zurückzulassen.

„Das hat mich eingeschüchtert", sagte Janne, als wäre das eine Entschuldigung.

„Zurecht, nehme ich an."

Janne ließ ein schlaffes Lachen hören. „Scheint so. Ich bin es gewohnt, nicht gebraucht zu werden, verstehst du?"

„Nein", sagte Judith angesäuert, „Soll das heißen, im Gegensatz zu deiner Mutter, brauche ich dich? Also jetzt doch? Ist das dieses Pflichtgefühl?"

Janne seufzte. Er hatte mit dem falschen Ton angefangen. Wie immer merkte er es erst, wenn es schon zu spät war. Pflichtgefühl, das hatte er Judith vorgeworfen, gehöre zu den Tugenden, die sie vernachlässige.

„Und du erzählst mir etwas von Pflichtgefühl!", hatte Judith ihn zurecht angeschrien, als er sie verlassen wollte.

„Du verstehst das falsch", sagte Janne und wusste doch nicht, wie er es erklären sollte.

„Ich verstehe, sehr gut", sagte Judith, „Du brauchst das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen. Entweder als derjenige, um den sich gekümmert wird oder als derjenige, der sich um andere kümmert. Eingeschüchtert bist du dann, wenn du einfach nur ein paar Erwartungen erfüllen sollst, ohne dich als Held oder Opfer aufspielen zu können. Du erträgst es nicht, gleichberechtigt zu sein, weil du davon lebst, dass die Gedanken anderer Menschen um dich kreisen. Deshalb bist du gegangen und deshalb bist du wieder gekommen. Du wolltest, dass ich einsehe, dass ich dich brauche, obwohl ich dir nie gesagt habe, dass es nicht so ist. Das hier ist eine von diesen gefühligen Egonummern, die wir hier wirklich nicht gebrauchen können."

„Du bist manchmal wirklich nicht hilfreich", sagte Janne.

„Ja. Vielleicht wärst du ohne mich besser dran."

„So habe ich das nicht gemeint!"

„Ach nein? Nein, natürlich nicht, denn du brauchst mich ja als Reflexionsfläche. Ganz schön öde hier draußen, wenn niemand dir sagt, wie toll du bist, oder?"

„Schon gut, du hast jedes Recht darauf, sauer auf mich zu sein."

„Allerdings!", sagte Judith und rollte sich in ihrem Schlafsack so klein zusammen, dass ihre Muskeln bald zu verkrampfen begannen. Keine Fläche für einen Gegenangriff, keine weiche Stelle mehr an ihrem Körper.

„Es war ein Fehler, dass wir uns getrennt haben", sagte Janne, „Und es war meine Schuld."

„Du sagst das so, als gäbe es irgendeinen Zweifel daran. Du hast zu mir gesagt... es klingelt mir immer noch in den Ohren... „Judith, du brauchst meine Hilfe nicht mehr. Du kommst alleine zurecht, Judith. Ich weiß nicht, ob es noch sinnvoll ist..." Sinnvoll, Janne. Weiß du, was das bedeutet? Wenn du etwas „sinnlos" nennst, für das wir alles andere aufgegeben haben?"

„So habe ich das nicht gemeint" wiederholte Janne.

„So? Wie denn dann? Erklär es mir! Wie hast du es gemeint, als du gesagt hast: „Es ist nicht mehr nötig, ein Team zu sein"? Was war dein Plan? Wolltest du durch die Gegend ziehen und nach Leuten suchen, denen du helfen kannst, damit du dir von denen deine Portion Bewunderung abholen kannst? Wolltest du nach einer Partnerin suchen, die dir unterlegen bleibt, damit du sie für immer mit deiner Fürsorge beglücken kannst? Im Austausch für was? Bedingungslose Dankbarkeit und dem Gefühl der Überlegenheit? Was ist Notwendigkeit in deinen Augen, Janne? Seinen Platz zu kennen und danach zu handeln? Erträgst du das Chaos nicht? Vielleicht war es dann ein Fehler von dir, hier rauszukommen."

„Meine Mutter, Judith."

„Deine Mutter", spie Judith aus, „hat einen Soziopathen aufgezogen. Ich dachte, ich kenne dich, aber als du gegangen bist, zweifelte ich an meiner Menschenkenntnis. Jetzt weiß ich, wer du bist, Janne, jetzt kannst du mich nicht mehr enttäuschen, verletzen, überraschen oder besänftigen. Ich werde dir nicht mehr folgen. Wenn wir zusammenbleiben wollen, dann wirst du neben mir gehen. Nicht vor mir, nicht hinter mir."

„So soll es sein", sagte Janne.

„Und glaub ja nicht, dass ich dich für einen schlechten Menschen halte, dass du dich jetzt in Schuld und Scham suhlen und um Vergebung betteln kannst, die du gar nicht willst."

„Wofür hältst du mich dann?"

„Für ein Kind, das nicht weiß, wie es mit sich selbst umgehen soll."

„Ich habe es nie gelernt", sagte Janne, „Aber ich habe etwas erkannt. Pflichterfüllung darf nicht Unterwerfung bedeuten. Die Abwesenheit von Hierarchien hier draußen hat mich überfordert. In der Stadt, zu Hause, in der Schule, auf der Universität waren die Ränge immer klar definiert, wer das Sagen hatte, wer die Expertise besaß, wer Anleitung brauchte. Ich wollte es mit dir nicht ausfechten, das ist es. Nicht, weil ich Angst davor hatte, womöglich zu verlieren, sondern weil ich wusste, dass du überhaupt keinen Machkampf hättest austragen wollen und das hat mir Angst gemacht. Unklare Verhältnisse, Judith, habe ich immer als Stress erlebt."

„Wieso bist du dann nicht zu Hause geblieben?"

„Weil klare Verhältnisse mir wie Lügen vorkamen."

„Und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mich irgendwas von dem, was du hier als Entschuldigung vorträgst, nicht anekelt."

„Ich weiß, ich weiß", sagte Janne, „Der Punkt, um den es geht, ist, dass mir etwas Essenzielles fehlt und das habe ich erst begriffen, als wir uns getrennt haben. Da wurde mir bewusst, dass es nicht darum geht, eine Rolle einzunehmen und deren Pflichten zu erfüllen, sondern darum, seine eigene Rolle zu schreiben und zu entwickeln. Der Mensch ist kein Stück Stein, den man zurecht meißelt, sondern ein Stück Ton, das man formt und Stück für Stück aufbaut und das zerbricht, wenn man zu unvorsichtig damit ist. Du hast dir nie eine Ecke wegmeißeln lassen, Judith, und deshalb bist du anders als die meisten Leute, die ich kenne. Meine Mutter wollte nicht, dass ich erwachsen werde. Sie kaufte mir Kinderkleidung, bis ich acht war und aus allen Sweatshirts mit Raketen- und Dinosauriermotiv herausgewachsen war. Ich durfte nicht bei Freunden übernachten, weshalb ich keine hatte. Ich trug den selben blöden Cäsarenschnitt, bis ich mir mit neun die Haare abrasierte. Meine Mutter verbot mir koffeinhaltige Getränke, Kaugummis und natürlich Alkohol. Bis ich die Schule verließ, gab sie mir Fibersaft für Kinder, wenn ich krank war. Ich durfte nur bestimmte Fernsehsender sehen und nur Musik hören, die meine Eltern vorher genehmigten. Ich hatte kein Fahrrad, durfte nicht allein mit der S-Bahn fahren und war so praktisch immer zu Hause. Meine Eltern hatten Angst davor, Opfer von Kriminellen zu werden, deshalb war unser ganzes Grundstück und das Haus kameraüberwacht. Selbst wenn sie in ihren Büros saßen, konnten meine Eltern mich den ganzen Tag über zu Hause beobachten. Unsere Hausangestellten hatten Anweisung, mein Zimmer zu durchsuchen, damit ich keine verbotenen Dinge hineinschmuggelte. Sie misstrauten mir, weil sie wussten, dass das, was sie taten falsch war. Und ich wusste auch, dass es falsch war. Wieso also machten wir dennoch immer weiter damit, uns einzuschränken und zu überwachen, uns zu täuschen und zu verdächtigen? Weil wir nicht mehr anders konnten. Wir hatten verlernt, unbeobachtet zu sein und unsererseits die Augen zu schließen. Alles hatte einen doppelten Boden. Jedes Wort war ein Code, jede Geste Diplomatie. Wenn man nicht aufpasste, verriet man sich oder es entging einem etwas. Man lernt, damit umzugehen, indem man sich Routinen antrainiert und niemals abweicht. Pflichtgefühl ist nicht das Gengenteil von Wahrhaftigkeit und Unmittelbarkeit, nur ihre Kompensation. Ich wollte mich von dir trennen, weil deine Unmittelbarkeit meine antrainierte Gewohnheiten mehr überfordert hat, als ich mir selbst eingestehen konnte."

„Mir kommen die Tränen", sagte Judith, „Falls du es nicht bemerkt hast, das hier ist keine Therapiewanderung. Die Typen da draußen versuchen dich umzubringen, wenn sie dich für eine leichte Beute halten."

„Soweit ich das beurteilen kann, bist du derzeit das gefährlichste Wesen in dieser Gegend."

„Sagt der Mann, der ohne mit der Wimper zu zucken zwölf Männer erschossen hat."

„Sagt die Frau, die mit einem funktionsfähigen Arm den Mann, der zwölf Männer erschossen hat, mit einem Jagdmesser zur Strecke gebracht hat."

Sie schwiegen wieder, aber einschlafen konnten sie beide immer noch nicht.

In Judiths Magengrube braute sich eine Übelkeit zusammen, die nichts mit verdorbenem Essen zu tun hatte. Es wäre leichter ihn zurückzulassen. Was schuldete sie ihm? Er hatte sie in diese Situation gebracht. Dass er sie gerettet hatte, war nur eine Wiedergutmachung, das Mindeste. Womöglich würden sie jetzt erst recht zu Zielscheiben für die umherziehenden Räuberbanden werden, wenn diese erfuhren, was Janne ihren Kumpanen angetan hatte. In dem Fall war er mit seiner Verletzung eher ein Klotz am Bein als eine Hilfe. Sie würde ihn den ganzen Weg stützen müssen und die Vorräte würden nur halb so lange ausreichen. Was, wenn seine Wunde sich entzünden würde? Oder ihre?

Was würde geschehen, wenn sie aufstand und sich herausschlich? Janne würde es bemerken oder auch nicht. Er konnte ihr nicht folgen. Er würde hier liegen bleiben, vielleicht auf dem Boden herumkriechen. Vielleicht schaffte er es bis nach draußen. Und dann? Er konnte versuchen, sich eine Krücke zu bauen, wenn er geeignete Materialien dafür fand. Sein Fuß könnte heilen und er würde gesund werden. Dann würde er sie suchen und zur Rede stellen. Es konnte nächste Woche passieren oder in zwei Jahren oder nie.

Was ist er für mich, fragte sich Judith, und fand keine Antwort. „Verlobter" klang wie eine Ausrede, ein Wort, mit dem man jede Diskussion, jede tiefere Analyse abwürgen wollte. „Freundschaft" bedeutete nichts, wenn man jeden inkludierte, der einen nicht gerade umbringen oder ausrauben wollte. „Bekanntschaft", das sagte man, wenn man nicht nichts sagen wollte. Eine Last, die mal ein nützlicher Idiot war? Eine Enttäuschung? Eine Lüge? Ein Möglichkeit? Eine Prüfung?

Und wenn der Fuß nicht heilte? Judith würde damit leben müssen, einen Menschen umgebracht zu haben, der nicht die Absicht gehabt hatte, sie anzugreifen. Nannte man so etwas einen Mord? Oder Tötung im Affekt?

Janne würde Fieber bekommen und viel Wasser benötigen, das er sich alleine nicht holen konnte. Spätestens nach vier Tagen hier drin würde er sterben, kalkulierte Judith. Er wird große Schmerzen haben, vielleicht noch mehr Blut verlieren. Das lockt vielleicht Raubtiere an. In jedem Fall aber Fliegen. In der Wunde werden Maden heranwachsen, noch bevor Janne das Bewusstsein verlieren wird. Es wird nach Eiter und Fäulnis stinken, der Fuß wird schwarz werden und schließlich den ganzen Körper vergiften.

Janne, wie er vor Schmerz schreit, wie er wimmert, wie er den Verstand verliert, im Delirium spricht, konnte Judith sich nicht vorstellen und wollte es auch nicht. Kein Mensch hatte so etwas verdient.

Also rührte sie sich nicht vom Fleck. Früher dachte man, was den Menschen vom Tier unterschied, was den Kern der Zivilisation ausmachte, war, dass man sich um Kranke kümmerte und sie pflegte, auch wenn es keine Aussicht mehr darauf gab, dass sie jemals aufhörten, eine Bürde zu sein. Heute wusste man, dass es auch Tiere gab, die ein solches Verhalten an den Tag legten und hinter diese wollte Judith nicht zurückfallen, egal wie tief der Groll war, den sie in ihrem Herzen hegte.

Den Rest der Nacht verbrachte sie damit, mit den Zähnen zu knirschen und Jannes Stöhnen zu ignorieren. Es ging also schon los.

Am nächsten Morgen beschwerte er sich jedoch nicht, sondern sah selbst nach seiner Wunde, versorgte sie mit einer desinfizierenden Lösung, wechselte den Verband und bat Judith, ihm Wasser zu bringen, damit er die blutgetränkte alte Binde auswaschen konnte.

„Hast du Fieber?", fragte sie.

„Nein, es geht mir gut. Ich darf den Fuß nur nicht zu stark bewegen, damit die Klammerpflaster nicht reißen."

„Du hast es zusammengeklebt?"

„Ich konnte mich nicht überwinden, es zu nähen. Es wird auch so heilen. Siehst du, es blutet schon nicht mehr."

Judith antwortete nicht, sondern wandte sich ab. Die Wunde mochte vielleicht nicht mehr bluten, dafür war der Fuß heiß, rot und angeschwollen.

„Er wird schon wieder. Es pocht ganz schön, das heißt, er ist noch nicht abgestorben."

„Wie auch immer", murmelte Judith und schlurfte nach draußen, wo die aufgehende Sonne alles in ein bedrohlich schummriges Licht tauchte. Es hing wieder viel Staub in der Luft und Judith band sich eine Tuch vors Gesicht. Sandstürme waren keine Seltenheit, die Vegetation hatte sich noch nicht so fest etabliert, dass sie die Erosion zum Erliegen brachte. Es würde noch ein paar Jahre dauern, bis sich die „roten Wellen", die über die Ebenen rollten und hin und wieder auch die urbanen Zenten trafen, legen würden. Diese Staubverwehung hier war nichts besonderes.

Judith blickte auf die felsige Landschaft, in der jene Schlucht eingebettet lag, in die sie sich zu flüchten versucht hatte, nachdem sie auf ihre Verfolger aufmerksam geworden war. Das Maultier war ihr treu hinterher gelaufen, als sie einen Pfad hinunter gesucht hatte und musste diese Vertrauensseligkeit schließlich mit dem Leben bezahlen.

Sie war von dort oben gekommen und hatte nach Wasser gesucht. Hier unten hatte sie einen Fluss oder zumindest einen Creek vermutet, aber nichts weiter gefunden als Felsen und die Überreste vertrockneter Sträucher.

Ganz Unrecht hatte sie indes nicht gehabt. Die Felsformationen, die Schluchten und Canyons waren vor Äonen von Jahren vom Wasser geformt worden und wurden nun nach und nach vom Wind abgetragen. Der größte Teil des Wassers auf dem Mars befand sich unter der Oberfläche und längst nicht alle Vorkommen waren erschlossen. Er war möglich, in der scheinbar trockensten Gegend, einen Meter tief zu graben und auf Feuchtigkeit zu stoßen.

Da in Judiths Höhle die Luft ganz leicht feucht gewesen war, nahm sie an, dass das Wasser sich einen Weg durch die Ritzen und Spalten der Felsen gebahnt hatte und nun unten im Gestein saß. Wahrscheinlich könnte man es mit schwerem Gerät ans Tageslicht befördern, man könnte einen Brunnen bohren und die ganze Gegend in fruchtbares Land verwandeln. Aber das schwerste Gerät, das sie bei sich hatte, war ein Klappspaten. Also suchte sie nach Flaschen oder einem Kanister.

Die Umgebung zeichnete sich durch eine Vielzahl an Felsvorsprüngen, Nischen und anderen Versteckmöglichkeiten aus. Judith kletterte den schmalen Trampelpfad hinauf, den sie am Vortag hinab gestiegen war und hielt die Augen offen. Längst hatte der Sand alle Spuren verwischt, aber hier irgendwo musste sich das Massaker abgespielt haben.

Man überlebte in der Wildnis nicht, wenn man nicht bereit war, Leichen zu fleddern. Verstreut über die ganze Formation fand Judith die Überreste eines Schlachtfelds. Getrocknete Blutlachen, Knochensplitter. Die leblosen Körper von zwölf Männern fanden ihre letzte Ruhestätte unter einem Schleier roten Staubs. Sie hatten versucht, Judith einzukreisen und sich keine Gedanken um ihre Rückendeckung gemacht. Janne hatte einem nach dem anderen einfach von hinten in den Kopf schießen können. Feige und abscheulich.

Zwölf Leben gegen meins, dachte Judith, was für eine Misskalkulation!

Weiter oben fand sie den ausgeweideten Kadaver ihres Maultiers und in Fetzen die Satteltaschen, deren Inhalt sich die Wegelagerer unter den Nagel gerissen hatten. Kein Wasser, kein Proviant, keine Munition.

Vielleicht hatte jemand die Dinge in ein Lager fortgebracht. In dem Fall musste Judith vorsichtig sein, denn dann würde noch mindestens ein Mitglied der Bande frei herumlaufen.

Judith richtete sich erschöpft und resigniert auf und Betrachtete die Szenerie unter ihr. Ein junger Kerl, lag etwa fünf Meter von ihr entfernt im Staub, als würde er schlafen. Er trug Judiths Strickmütze, die ihre Großmutter ihr gekauft hatte, als sie in eine Skianlage gefahren waren. Sie hatte sie aus Sentimentalität mitgenommen und jetzt klebte das Blut eines Fremden daran.

Obwohl sie fest entschlossen gewesen war, den Männern ihre Waffen und Wertsachen abzunehmen, kostete es Judith nun doch Überwindung zu dem Jungen herüber zu steigen und seine Taschen zu untersuchen.

Ein Messer, eine vorsintflutliche Pistole, ein paar Kugeln und eine Packung Kaugummi. Sie zog ihm außerdem die relativ neuen Stiefel aus. Vielleicht passten sie Janne, falls sein Fuß wieder in Ordnung kam. Mantel, Hose und Hemd ließ sie ihm. Die Kleidung stank und war viel zu abgewetzt, um sie wiederzuverwenden.

Judith durchsuchte noch drei weitere Leichen, ohne sich daran zu gewöhnen. Der Ekel überkam sie endgültig bei der vierten, die mit dem Gesicht nach oben dalag und sie mit entsetzten Augen anstarrte. Der Mann wirkte kein bisschen tot, sondern auf eine verstörende Weise geisteskrank.

Warum tue ich das?, frage sie sich, ohne Maultier und mit einem verletzten Fuß müssen wir sowieso das meiste hier lassen. Schließlich fand sie einen ihrer eigenen Wasserkanister an einer abgebrannten Feuerstelle. Er war noch zur Hälfte gefüllt. Daneben lagen ihre Kaffeekanne und ein Service aus verbeulten Aluminiumbechern. Ein Kränzchen auf meine Kosten, dachte Judith bitter, das habt ihr davon.

Sie nahm den Kanister und stieg wieder hinab zu Janne, hielt es aber in seiner Nähe nicht aus. Obwohl Judith noch nie weiter entfernt von der Zivilisation gewesen war, fühlte sie sich plötzlich gefangen zwischen der Verantwortung für einen Verletzten und der Verantwortung für zwölf Tote. Sie wusste nicht, was schlimmer war: Zu wissen, etwas nicht mehr rückgängig machen zu können oder jetzt nicht versagen zu dürfen. Sie bildete sich ein, in den leeren Augen der Toten spiegelte sich genau wie in Jannes vergossenem Blut ihre Schuld, die sie verfolgte, der sie nicht würde entkommen konnte – egal ob sie versuchen würde, davon zu laufen, einzuschlafen oder sich abzulenken.

Judith wollte keinen Schritt mehr gehen, aber auch nicht hier bleiben an diesem Nichtort ohne Namen. Ein seltsamer Schwebezustand zwischen Existenz und Mysterium. Kein Name, keine Geschichte, nur ein Gerücht.

Plötzlich fiel Judith etwas ein. Sie rannte erneut den Anstieg hinauf zum zerfetzten Leib ihres Maultieres. Ein Schwarm von Fliegen hüllte den Kadaver ein und wirbelte auf, als Judith sich näherte. Sie schlug um sich, vertrieb damit aber weder die Insekten noch ihren Ekel. In den Fetzen der Satteltasche fand sie versteckt unter der Bodenpappe eine zusammengefaltete Landkarte, welche das UC-21 und die Umgebung abbildetet. Nur für den Fall, dass sie irgendwann doch wieder umkehren wollte, hatte sie das Ding eingesteckt, ohne dass Janne davon wusste. Vielleicht war der Canyon noch darauf verzeichnet. Judith war besessen davon, den Namen dieser Felsformation zu erfahren.

Sie faltete die Karte, die eigentlich ein Poster aus ihrem Jugendzimmer war, auseinander, breitete sie auf dem Boden aus und beugte sich darüber. Die Fliegen ließen sich auf ihren Haaren nieder, fühlten sich offenbar von ihrem Schweißgeruch genauso angezogen wie vom angetrockneten Blut des Tieres.

Wie lange, bis der Kadaver Geier oder wilde Hunde anziehen würde?

Enttäuscht stellte Judith fest, dass die Karte nur bis zu den Außenbezirken des UC reichte. Diese hatten sie und Janne bereits vor Wochen hinter sich gelassen. Es handelte sich um riesige Agrarflächen, Viehzuchtanlagen und Verarbeitungsbetriebe, die weitestgehend automatisiert Waren zur Versorgung der Stadt produzierten. Zwei Tage lang waren Judith und Janne durch Kohlfelder gewandert, bevor sie an den Rand eines Ozeans aus goldgelbem Weizen gelangten. Sie beobachteten die Ernteroboter bei der Maisernte und die Schiffe, die die Erträge ins UC transportierten. Die Wasserstraßen dienten außerdem zur Bewässerung der Felder und zur Versorgung des Viehs.

Erst jetzt wurde Judith bewusst, dass das Wasser, das in diesen Kanälen floss, vermutlich aus dieser Gegend hier stammte, aus dem Umland des Umlands. Der Canyon ist einst ein Fluss gewesen, oder nicht? Vielleicht war es noch gar nicht so lange her, wie Judith ursprünglich gedacht hatte.

Auf Mars-Daily hatten Janne und Judith nach sicheren Routen, nach Wasser, Quellen, Oasen gesucht, aber bereits nach kurzer Zeit festgestellt, dass die Fotographien der Landschaft außerhalb der Städte, die ihnen das Satellitennetzwerk anbot, nicht so verlässlich oder aktuell waren, wie sie ihnen verkauft wurden. Fast so, als gäbe es hier etwas zu verbergen, hatte Judith gemutmaßt. Aber Janne meinte lediglich, dass es sich um jahreszeitliche Schwankungen handelte, immerhin hatten sie ihre Reise im Sommer geplant und waren nun im Winter unterwegs.

In der Schule erzählten sie ihnen keine Details darüber, was außerhalb der Zentren vor sich ging oder wie man das Land dort ausgebeutet hatte. Sie hatten lediglich die vage Idee in ihre Köpfe gepflanzt, dass es Regionen und Klimazonen gab, in denen das Terraforming noch nicht sehr weit fortgeschritten war. Aber das war eine Lüge. Über hundert Jahre lang, hatten sie den Planeten bewalden lassen, damit sich genug Sauerstoff in der Atmosphäre anreicherte. Lange bevor die ersten Menschen unter Kuppeldächern dauerhaft siedelten, war der Mars grün gewesen. Sie hatten das Land erst urbar gemacht, um es dann wieder auszutrocknen. Sie hatten Wälder gepflanzt, um sie nach nur ein paar Dekaden wieder der Desertifikation preiszugeben. Die Städte wuchsen zu schnell, wurden zu groß.

Die Menschen waren nicht auf den Mars gekommen, um mit ihm zu leben, sie hatten den Planeten nicht in ein Paradies verwandelt, sondern in eine Fabrik. Es könnte genug für alle da sein, hatte Judith immer wieder gedacht, als sie durch die weiten trockenen Steppenlandschaften gewandert war. Es gab genug Platz, genug Boden, sogar genug Wasser, wenn man sich sparsam verhielt. Aber sie ließen alles verkommen, ließen alles zu Staub zerfallen, was sie gerade erst aufgebaut hatten. Je weiter hinaus sie kamen, desto deutlicher wurde es.

Würden sie nicht das ganze Wasser an einen Ort zusammenlaufen lassen, könnten sie größere Flächen bewirtschaften, könnten sie weitere Siedlungen aufbauen, könnten sie aufhören, sich Sorgen bezüglich der Überbevölkerung in ihren Zentren zu machen.

„Zwölf Tote", sagte Judith zu sich selbst und den Fliegen, „Ich gebe ihm den Namen Zwölf-Männer-Grab."

Dann drehte sie die Landkarte um, irgendwo in der Satteltasche fand sie einen alten Kugelschreiber – Dinge an denen die Banditen kein Interesse hatten – und sie begann, den Canyon zu kartographieren.

Sie markierte die Stellen, an denen die Leichen der Männer darauf warteten, von den Larven der dicken Fleischfliegen aufgefressen zu werden. Sie würde sie nicht beerdigen. Das wäre Energieverschwendung und sie mussten mit ihren Lebensmittelvorräten jetzt sparsam sein.

Als die Sonne hoch am Himmel stand, faltete sie ihr Werk zusammen, steckte es in eine Tasche ihres Mantels und stieg hinab zu Janne. Er saß vor dem Höhleneingang und beobachtete Judith offenbar schon seit einer Weile.

„Was hast du da oben gemacht?", fragte er.

Und Judith würgte ein paar Mal. Der Gestank des Kadavers saß nun in ihren Haaren wie die Fliegen.

„Wir gehen zurück", sagte sie.

„Was? Nein! Judith, wir können jetzt nicht zurück gehen! Was willst du dort?"

„Gegenfrage: Was willst du hier? Sieh dich doch mal um! Die ganze Gegend ist völlig ausgetrocknet und es wird nicht besser. Das UC zieht das ganze Wasser an sich. Wir können vielleicht einen Brunnen graben, aber in spätestens zwei Jahren wird er versiegt sein. Wir können nicht auf gut Glück weiterziehen. Nicht mit deinem Fuß und nicht ohne Perspektive."

„Aber Judith, es ist Winter, es ist Trockenzeit. Natürlich sieht jetzt alles hier sehr karg aus, aber das ändert sich, wenn im Frühjahr der Regen kommt. Das hier ist ein Flusstal."

„Ein ausgetrocknetes Flusstal, ein trockengelegtes Flusstal. Wir gehen zurück, Janne. Hier kann man sich nichts aufbauen. Gute 300 Tage Dürre, gefolgt von 300 Tagen weiß der Teufel wie heftigem Regen und Schmelzwasserfluten - wie soll man hier überleben? Kein Wasser, kein Humus, kein Material, nichts – außer Banditen, die uns und sich vermutlich gegenseitig überfallen, um zu überleben. Hier kannst du noch nicht einmal Kaninchen fangen. Wie und mit wem willst du handelt treiben? Was willst du handeln?"

„Wir dürften nicht mehr weit entfernt sein vom UC-17 oder zumindest dessen Außenposten. Dort können wir den Rest der Trockenzeit verbringen. Wenn es anfängt zu regnen, ziehen wir wieder hinaus, planen etwas besser, stecken uns ein Stück Land ab und haben dann Zeit, um zwei oder drei Ernten einzufahren und uns einen Vorrat anzulegen", sagte Janne.

„Hast du überhaupt ein Gespür für Entfernungen, oder sind das alles Vermutungen? Und glaubst du in 17 ist das Leben anders als in 21? Dann hätten wir auch einfach ein Visum beantragen und mit dem Zug dorthin fahren können. Wir gehen zurück, sage ich dir und sobald wir zu einer Verladestation am Kanal kommen, nehmen wir ein Transportschiff. Ich habe es satt zu laufen, Janne!"

 

 

Janne war nicht in einer Position, sich durchzusetzen. Judith – ihre Verletzung ignorierend - schulterte die Satteltasche gefüllt mit ihrem Proviant, der Munition und dem Erste-Hilfe-Kasten, ging dann unter dem Schmerz kurz in die Knie, bevor sie sich wieder fing. Es musste gehen, sie hatte keine Wahl. Den letzten Wasserkanister schnallte sie außen an der Tasche fest. Alles andere – Kleidung, Werkzeuge, Kochgeschirr – ließ sie zurück. Janne trug sein Gewehr auf dem Rücken und stützte sich auf ein grob zurecht geschnitztes Stück Holz, das die Banditen vermutlich als Prügel verwendet hatten. Es taugte nicht zur Krücke, aber bis sie etwas Besseres fanden, musste Janne damit Vorlieb nehmen.

Sie verließen den Canyon, stiegen den schmalen Pfad hinan, der sie noch vor wenigen Stunden hinab geführt hatte, bis sie die Hochebene erreichten, von wo sie gekommen waren.

Das hier ist keine Steppe mehr, dachte Judith plötzlich, das ist sterbendes Land. Das ist kein Ökosystem, kein Lebensraum. Das ist ein gescheiterter Versuch.

Was hatte man ihr nicht alles beigebracht über die Kreisläufe der Natur, darüber, wie Systeme sich einpendelten, wenn man nur die richtigen Impulse gab! Hier hatte sich nichts eingependelt. Der Mars entwickelte sich zurück. Keine Wüste, die sich in einer sich selbst verstärkenden Dynamik zu einer blühenden Landschaft wandelte, sondern etwas sehr Fragiles, auf das niemand aufgepasst hatte und das nun in Scherben vor ihnen lag.

„Wie haben sie hier überlebt?", fragte Judith, „Diese Männer. Wo kamen sie her? Wer waren sie? Wie sind sie hierher gekommen? Was wollten sie hier?"

Janne war nicht in der Stimmung für Konversation. Er hatte Schmerzen und war sauer auf Judith. Das Laufen strengte ihn an und er verspürte nicht das Bedürfnis, die Geschehnisse des gestrigen Tages Revue passieren zu lassen. Zwölf Männer – das ging auch an Janne nicht spurlos vorbei.

Also sprach Judith aus, was er nicht konnte: „Vielleicht waren sie wie wir. Haben es in der Stadt nicht mehr ausgehalten und sind fortgezogen. Nur gefunden haben sie nichts. Haben gespürt, dass sie mit dem Land hier langsam untergehen. Vom langen Winter an ihre Grenzen gebracht. Sie müssen verzweifelt gewesen sein. Vielleicht warten irgendwo ihre Frauen und Kinder auf sie."

„Diese Brüder haben die Stadt in ihrem ganzen Leben noch nie von innen gesehen. An ihnen ist nichts Romantisches", knurrte Janne.

Von den Ausgestoßenen hatte Judith natürlich gehört, aber sie eher für eine Art Fabelwesen gehalten. Vergessene Arbeiter, flüchtige Verbrecher und deren Nachfahren. Dass es diese Menschen gegeben hatte, stellte niemand in Frage, aber man ging davon aus, dass sich diese irreguläre Population inzwischen bis zur Irrelevanz dezimiert hatte.

Sie waren zur Fiktion verkommen. Man schrieb Geschichten über sie, machte sie zu raubeinigen Protagonisten in unangepassten Kinofilmen, die für ein jugendliches Publikum nicht freigegeben waren, für die aber dennoch aggressiv geworben wurde. Der Ausgestoßene konnte als Antiheld, Bösewicht, tragisches Opfer oder Sinnbild einer verrotteten Gesellschaft dargestellt werden. Vor allem, weil man nie einen echten zu Gesicht bekommen hatte, beflügelten sie die Phantasie der Menschen, die nicht recht wussten, ob sie diese Leute fürchten oder bewundern sollten.

Die Faszination für die Ausgestoßenen und ihr selbstorgansiertes Leben draußen in der unerschlossenen Wildnis war es schließlich auch gewesen, die Judith an Jannes Vision vom Ausstieg glauben ließ. Jetzt war diese Begeisterung so tot wie die zwölf Männer im Canyon.

„Wenn du „nichts Romantisches" sagst, meinst du damit „nichts Menschliches"?", fragte Judith nach einer Weile.

„Was?"

„Fühlst du dich besser bei den Gedanken, dass sie ein bisschen weniger von allem waren, als wir zu sein glauben?"

„Ich fühle mich bei keinem Gedanken besser", sagte Janne, „Vielleicht bin ich ein weniger analytischer Mensch als du, Judith, aber mir ging es vor allem darum, zu verhindern, dass diese Typen dir bei lebendigem Leib die Haut abziehen oder sowas. Verzieh mir, wenn ich unter diesen Umständen nicht jedes meiner Worte auf die Goldwaage lege und nicht für jede mir fremde kulturelle Praktik Verständnis und Respekt aufbringe. Alles, was ich ausdrücken wollte, war, dass es mir schwer fällt, Mitgefühl für Leute zu entwickeln, die vor Mord nicht zurückschrecken."

„Wie fühlt es sich an?", fragte Judith.

„Einen Menschen zu töten? Banal", sagte Janne.

„Da hast du einmal etwas zu Ende gebracht!", murmelte Judith, aber in der bleiernen Stille der Wüste konnte Janne sie verstehen.

„Bist du neidisch?", fragte er weniger entsetzt als gereizt.

„Ich bin überrascht, das ist alles."

„Du bereust, dass du mir das Messer nicht durch den Hals getrieben hast, was?"

„Was ich bereue, geht nur mich was an", sagte Judith.

„Dann sollest du dich vielleicht auch ein wenig damit zurückhalten, mich über meine Befindlichkeiten auszufragen!"

„Entschuldige, ich bin etwas überspannt."

Janne erwiderte nichts und Judith beließ es dabei, obwohl sie einen ganzen Wortschwall auf Lager gehabt hätte, den sie ihm um die Ohren hätte schlagen wollen.

Janne hatte nur Parcours gelernt, um sich in einer Welt aus Mauern und Zäunen bewegen zu können, ohne sie einreißen zu können. Andererseits hatte er auch nie großes Interesse gezeigt, etwas Neues aufzubauen. Ihm ging es immer nur darum, geschmeidig zu bleiben, nicht berührt zu werden und nichts jemals endgültig entscheiden oder durchziehen zu müssen. Er war kein Rebell, sondern jemand, der für seine eigene Bequemlichkeit kämpfte. Rückzug in die persönlichen Interessen, statt Aufbruch in einen neuen Lebensabschnitt.

Es musste scheitern, dachte Judith. Gut reden konnte er, aber praktisch veranlagt war Janne nicht. Dass er sich überschätzte, hätte sie früher bemerkten müssen, aber sie hatte die Begeisterung einfach genossen, die er in ihr entfacht hatte.

Und er, das wurde ihr jetzt klar, hatte sich von der Aufmerksamkeit mitreißen lassen, die sie ihm zuteil hatte werden lassen.

Es nutzte alles nichts. Davon, die Schuld hin und her zu schieben, wurde ihre Situation nicht besser.

Sie kamen zu langsam voran. Janne erschöpfte zusehends, obwohl er sich nicht beschwerte. Er hinkte stärker und schließlich blieb er stehen und sagte, er müsse Staub aus seinem Schuh entfernen. Als er den Schuh aber schließlich auszog, schaffte er es nicht mehr, ihn anzuziehen. Sein Fuß hatte sich entzündet, war angeschwollen und die Wunden nässten durch Verband und Socke.

„Wir rasten hier", entschied Judith, „Es beginnt schon zu dämmern und ich habe Hunger."

Sie hatten weder ein Zelt, noch fanden sie genügend Holz für ein Lagerfeuer. Sie teilten sich etwas Dörrfleisch, legten sich auf die Erde und starrten in den sich verdunkelnden Himmel. Mit der Nacht kam die Kälte und mit der Kälte die Reue.

Janne mochte diese Erfahrung, das Darben, die Schmerzen und die Unsicherheit den Zwängen der Zivilisation vorziehen, Judiths Zweifel hingegen übertönten nun deutlich ihre Hoffnungen.

„Das ist, weil du feige bist", sagte Janne tonlos. Er meinte es nicht vorwurfsvoll, sondern trug es vor wie einen neutralen wissenschaftlichen Fakt. „Du schaffst es nicht, dich mit Haut und Haaren einer Sache zu verschreiben. Du kannst dich nie einer Partei voll und ganz anschließen, weil du Angst hast, dich schmutzig zu machen, wenn du dich einmal taktisch und nicht moralisch positionieren musst."

„Was redest du da?"

„Du bist vielleicht neugierig, aber nicht engagiert. Das hängt oft zusammen. Menschen interessieren sich für die Dinge, zu denen sie sich eigentlich nicht durchringen können. Das ist kein Vorwurf, es ist nur..."

„Enttäuschung? Frustration? Delirium? Glaubst du wirklich, hier draußen kann man etwas aufbauen? Was, verdammt noch mal? Ich will darüber nicht mehr sprechen, Janne. Wir können entweder zurück gehen, oder hier sterben. Hier leben, können wir nicht."

Judith war sauer. Er warf ihr vor, nicht risikofreudig genug zu sein. Lächerlich. Nur weil sie differenzieren konnte, weil sie wusste, dass man Prioritäten setzen musste, weil Richtig und Falsch keine eindeutigen Kategorien waren. Und ihre Priorität war es nun mal, zu überleben. Vielleicht war es Janne egal, ob er starb oder er zog das Sterben dem Leben in der Stadt vor, aber Judith wollte leben und war bereit, dafür Opfer zu bringen. Wenn er das Feigheit nannte, dann war sie feige, aber sie nannte es vernünftig. Sie nannte es erwachsen. Sie nannte es ausgewogen.

Gerade Janne mit seinem Ungestüm brauchte jemanden wie sie an seiner Seite, jemanden, die ihn daran erinnerte, dass es nichts gab, das nicht auch kritisiert werden musste, dass jede Idee negative Aspekte aufwies, auf die man achten musste, damit diese eine nicht am Ende auffraßen.

Jetzt unterstellte er ihr Schwierigkeiten im Treffen von Entscheidungen und Finden von Positionen. Dabei war sie es, die einen Schlussstrich unter diese Aktion gesetzt hatte. Ohne Judith würde Janne für den Rest seines kurzen Lebens durch staubige Landschaften streifen und nach Wasserstellen Ausschau halten. Er würde umherirren ohne Plan und Ziel. Er würde ganz sicher einer von jenen werden, die er noch am Nachmittag als Ausgestoßene herabsetzt hatte.

„Es muss ja nicht die Stadt sein", sagte Janne mit einem Mal, als Judith schon halb eingeschlafen war, „Eine Hütte am Rande des Agrargürtels. Wir stecken uns dort ein Stück Land ab. Wasser gibt es genug."

„Glaubst du wirklich, dort gibt es noch einen Quadratzentimeter Boden, der nicht längst bewirtschaftet wird?", gab Judith zurück, „Glaubst du, die geben uns einfach ein Feld für eine jämmerliche, kleine Farm ab? Selbst, wenn wir Geld hätten, um dafür zu bezahlen, würden sie uns dort nicht haben wollen. Du hast es damals selbst gesagt: Die Industriebetriebe sind nicht darauf ausgelegt, Rücksicht auf menschliche Befindlichkeiten zu nehmen. Denk nur an die Mengen an Pestiziden, die auf den Feldern verteilt werden und in deren Mitte wir leben müssten! Das ist kein Lebensraum, Janne und das weißt du! Noch dazu brauchst du ärztliche Hilfe."

„Es heilt schon."

„Gar nichts heilt!" rief Judith, „Es ist entzündet und du entwickelst ein Fieber. Wenn wir nicht so schnell wie möglich an eine Transportstation kommen, werden wir den Fuß abschneiden müssen!"

„Jetzt werd doch nicht gleich hysterisch! So lange ich laufen kann, müssen wir uns nicht beeilen."

„Unser Wasser geht zur Neige", erinnerte Judith.

„Wir folgen dem Flussbett. So habe ich dich ja überhaupt erst gefunden. Wir müssen nur die Augen aufhalten und an der richtigen Stelle graben."

„Und wo ist die richtige Stelle?"

„Da, wo es grüne Pflanzen gibt."

„Ich habe seit Tagen keinen grünen Grashalm mehr gesehen", sagte Judith, „Der Fluss ist ausgetrocknet und versickertes Wasser kann man nicht trinken."

„Du vergisst, dass unsere Freunde von gestern, es geschafft haben, hier zu überleben. Es muss also Quellen geben und Nahrung."

„Aber wir können sie nicht mehr fragen, wo wir das alles finden und wir haben keine Zeit, danach zu suchen, Janne. Ich glaube, du redest schon im Fieber. Fast glaube ich, du willst, dass wir uns verirren."

„Ich weiß, wo wir sind", sagte Janne, „ würdet du nur eine Sekunde mal auf andere Leute als dich selbst vertrauen, würdest du mir zuhören. Ich habe nach dir gesucht und ich habe dich gefunden, weil ich dem Verlauf des Canyon gefolgt bin. Ich wusste, dass du nach Wasser suchen würdest, dass du dich entlang eines Flusses bewegen würdest. Weiter in dieser Richtung gib es eine Wasserstelle im Flusstal. Dort steigt Grundwasser auf oder es sind die Reste aus der Regenzeit. So genau konnte ich es nicht sehen. Jedenfalls gelangt man an der Stelle vom Plateau nicht nach unten. Die Wände sind zu steil. Wir müssen an einer geeigneten Stelle runter steigen und durch das Flusstal gehen."

Judith dachte nach und schöpfte Hoffnung. „Stimmt das?"

„Natürlich stimmt es. Und ich bin sicher, es gibt noch mehr solche Stellen, wo man Wasser finden kann. Wenn man da unten nur tief genug gräbt, stößt man auf Wasser."

„Und dennoch wächst hier nichts", sagte Judith.

„Hier oben ist es zu trocken und das da unten ist immer noch ein Flussbett. Im Sommer steht der ganze Graben unter Wasser, glaub mir. Das Schmelzwasser aus den Bergen speist ihn."

Und es fließt direkt in die Reservoirs und den Agrargürtel des UC, dachte Judith.

„Das Flussbett ist voller Geröll", sagte sie, „Es wird sehr anstrengend, da durch zu laufen."

„Lass das meine Sorge sein!", erwiderte Janne.

„Warum hast du das nicht gleich gesagt, als wir das Lager verlassen haben?"

„Du warst sauer auf mich und bist vorausgestürmt, ich hatte Angst, dir nicht folgen zu können und hättest du mir überhaupt geglaubt? Außerdem hast du Recht, es ist anstrengender, durch das Flussbett zu laufen. Hier oben kommen wir erst einmal schneller voran, wir dürfen nur die richtige Stelle nicht verpassen, an der wir hinunter steigen müssen."

„Kennst du die richtige Stelle?", fragte Judith.

„Naja", gab Janne zu, „ein bisschen Glück brauchen wir. Ich habe keine Karte, auf der „der letzte Abstieg vor dem Wasserloch" eingezeichnet ist, wenn du das meinst. Ich schätze, wir müssen noch einen Tag gehen, dann sollten wir uns nach einer geeigneten Stelle umsehen."

„Also schön. Lass es uns so machen. Wenn das die einzige Möglichkeit ist, unsere Wasservorräte aufzufüllen... Wenn wir sparsam sind, schaffen wir es vielleicht bis zu den äußeren Maisfeldern."

 

 

Autorennotiz

Dies ist eine Rohfassung.
Gerne könnt ihr mir nach dem Lesen alle Plotlöcher um die Ohren hauen.

"Casablanca - Alternatives Ende" ist eine Kurzgeschichte, die im selben "Universum" spielt. Lediglich sind Tian und Eliza in "Casablanca" ein wenig gealtert.

Ich versuche mich an einem Genre-Mix. Natürlich ist das Setting Science Fiction, der Plot aber enthält Western- und Noir-Elemente.

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

Autor

suedeheads Profilbild suedehead

Bewertung

Eine Bewertung

Statistik

Kapitel: 8
Sätze: 877
Wörter: 15.034
Zeichen: 90.863

Kurzbeschreibung

Um das Jahr 2235 hat die Menschheit ihren Lebensraum im Sonnensystem erweitert und den Mars besiedelt. Obwohl die perfekt geplanten Metropolen den Bewohnern alles bieten, was sie sie zum Leben brauchen, gibt es Menschen, die sich der Ordnung nicht fügen wollen. Sie verlassen die Urbanen Zentren, um neue Städte zu gründen, vor dem Gesetz oder den Ansprüchen an sie zu flüchten oder einfach um ihr Glück zu versuchen. Sollbruchstellen - die Schwachstellen der Gesellschaft: Menschliches Versagen, Terrorismus, Wettbewerb und Kooperation Vier Geschichten in einer: Judith und Janne brechen auf, um ein Leben in der Wildnis abseits aller Konventionen zu führen. Luke steigt in einem perfiden Online-Spiel zum Star auf. Tian gründet unfreiwillig eine