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Das Seelenfresser-Tagebuch

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07.12.18 21:59
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Liz

 

In der Woche, in der Terry fast durchdrehte, weil sie verzweifelt und schließlich erfolglos versuchte, beim lokalen Radiosender Konzertkarten für eine mittelmäßige Band zu gewinnen, wurde mir klar, was geschehen war. Mein Leben hatte sich irgendwann zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr in die Vorhölle des schlechten Geschmacks und der Peinlichkeiten verwandelt. Das Problem war, dass ich noch nicht tot genug war, um mich damit abzufinden und das war der Grund, warum mich etwas störte. Die ganze Zeit über. Wie ein Stein im Schuh. Es war immer da. Ein Zwicken, das sich zwar unangenehm anfühlte, einen aber nicht davon abhielt, weiter zu laufen. Was war aus meiner Abenteuerlust geworden? War neben den Pflichten und der Verantwortung, dem Alltag und dem Druck der Gesellschaft die Lebenslust verloren gegangen? Hatte das Wissen, das ich mir in den Jahren bis heute mehr oder weniger freiwillig aneignen musste, mein Vertrauen in das Gute, meine Unbefangenheit und meine Träume aufgefressen? Flüchte ich nicht mehr ins Leben, sondern von dort heraus? Was war aus dem weiten Land geworden, nach dem ich mich gesehnt hatte, nachdem die Schule mich als fertigen Menschen ausgespuckt hatte? Die Frustration machte mich träge, die Erfahrung, ängstlich, das Pflichtbewusstsein müde.

In der Woche, als Terry ihre Konzertkarten nicht bekam, erkannte ich, dass wir ohnehin all unsere hochgesteckten Ziele verfehlen werden und selbst wenn nicht, dass ein Ziel auch immer eine Endstation, eine Falle ist. Ich will aber eigentlich nirgendwo ankommen und dann dort auf der Stelle treten. Ich will keine mittelmäßige Konzerte besuchen und das als Highlight meines Lebens betrachten müssen. Ich will nicht die Langeweile herbeisehnen, weil sie zumindest besser ist, als hirntot zu sein.

Also fasste ich einen Entschluss: Ich gab mir eine Woche, um etwas zu tun, auf das ich später wohlwollend und nicht wehmütig zurückblicken würde. Und wenn mir das nicht gelänge, würde ich mir auf der Stelle eine Kugel in den Kopf jagen – oder etwas ähnliches tun.

Das war vor einer Woche.

 

Die Ironie des Schicksals will es, dass man mir, nach allem was passiert ist, die Lizenz für eine eigene Handfeuerwaffe verweigert – in Reagans Amerika, was für eine Schande! – und so befinde ich mich nun hier auf dem Highway, mitten in der Wüste in einem Wagen voller Ethanol. Das immerhin hatten sie mir nicht verweigert.

Da ist es also, das weite Land. Aus der Nähe betrachtet, wirkt es gar nicht so beeindruckend. Ich habe schon immer geahnt, dass Schönheit etwas ist, das man nur aus der Ferne genießen kann. Kommt man näher ran, sieht man den Dreck, die Runzeln, man riecht den Schweiß, und man fühlt die rissige Hornhaut. Alles Lebende ist aus den Nähe betrachtet unperfekt, irgendwie schief und anfällig für Risse und Dellen. Interessanterweise zeigen unbelebte Dinge – wie Steine oder Kristalle – unter dem Mikroskop eine so regelmäßige Struktur, dass man glauben könnte, Gott wäre es bei seiner Schöpfung vor allem um sie gegangen, während das Leben nur eine Art Abfallprodukt seiner Experimente gewesen ist.

Überhaupt: Seltsame Vorstellung. Das mächtigste Wesen, das je existiert hat und existieren wird, ist auch das einsamste. Zu seiner Erbauung beginnt es andere Wesen zu erschaffen, muss dann aber feststellen, dass sie erstens überaus schnell verschleißen und dann verfaulen, zweitens zu dumm sind, um es erkennen und verstehen zu können, geschweige denn ihm intelligente Gesellschaft zu leisten und die drittens nur mit ihm reden, wenn sie irgendwas haben oder sich für irgendwas bedanken wollen, das sie sich selbst erarbeitet haben. Es muss unendlich frustrierend sein, als Gott so dermaßen zu versagen.

Vielleicht fühlt es sich so an, wenn man als Eltern merkt, dass die eigenen Kinder den Erwartungen nicht gerecht werden, die man in sie gesetzt hat und irgendwann kommt dieser Moment unweigerlich. Ich frage mich, ob Eltern über die Frustration bezüglich ihrer unfähigen Kinder vereinsamen und ob sie deswegen Mitleid verdient haben.

Meine Eltern leben immer noch in diesem seltsam weiß getünchten Vorort von Tuscaloosa und vertrieben sich vermutlich die Zeit damit, darüber nachzugrübeln, was sie nur getan hatten, um ihre geliebte Tochter zu vertreiben. Zumindest stelle ich mir das so vor. Es kann natürlich auch sein, dass sie all ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, zu leugnen, dass sie je eine Tochter hatten. Ich zweifle nicht daran, dass ihr Groll so stark werden kann, dass er sogar die Realität verschiebt. Ich frage mich, wie viele von den Nachbarn sich noch an mich erinnern. Ich erinnere mich an keinen von ihnen.

Die Menschen in den Vorstädten sehen alle gleich aus. Ein bisschen klebrig, ein bisschen verwahrlost, ein bisschen mumienhaft, aber viel zu stolz, um sich anmerken zu lassen, dass sie sich auch genauso fühlen. Der Trick ist es, nicht darüber zu sprechen, denn wenn man es nicht sagt, dann denkt man auch nicht mehr daran, dann sieht man es nicht mehr und wenn sich alle an die Abmachung halten, werden die eigenen Unzulänglichkeiten vielleicht auch großzügig übersehen.

Die Hässlichkeit hat Tradition im Süden. Deshalb versucht man sie mit aufgesetztem Stil weiß zu übertünchen. Die Häuser sehen aus wie Residenzen, sind in Wirklichkeit aber in der Leichtbauweise auf die Erde gepflanzt worden, die mit schöner Regelmäßigkeit für Katastrophenbilder in den Nachrichten sorgt, wenn nämlich wieder mal ein Sturm ganze Städte in Bretterberge verwandelt hat. Man sollte doch glauben, dass Leute, die in sturm- und flutgefährdeten Regionen leben, sich irgendwann eine Bauweise aneignen, bei der ihrer Häuser den Naturgewalten standhalten… Aber nein, in Kalifornien vielleicht, aber nicht in Alabama. In Alabama lebt man den Pioniergeist. Alle paar Jahre steht man wieder vor dem Nichts.

Die Traditionen des Südens sind für Außenstehende schwer zu verstehen, denn sie wirken unsympathisch, verkrustet und sturköpfig. Schlechte Verlierer, heißt es. Die Wahrheit ist viel ernüchternder: Die Traditionen des Südens sind Unsympathie und Sturheit. Man ist stolz darauf, dass man gehasst wird. Das zeigt nur, dass die anderen intolerant sind, Heuchler gar. Und nichts hasst man in Alabama mehr als Heuchler: Menschen, die den Frieden predigen und sich für den Krieg rüsten, Menschen, die von Liebe sprechen und Hass sähen. In Alabama schätzt man eine klare Sprache und jeder weiß, dass Dinge wie Frieden und Liebe unerreichbare Utopien sind, mit denen man sich nicht abgibt, wenn man es im Leben zu etwas bringen will.

Es gehe um Werte, höre ich unseren Pastor immer noch sagen, während er den Kuchen meiner Mutter verspeist, der alte Schnorrer. Werte, sagte er, seien das gesammelte Wissen der Menschheit, das aus Erfahrung und gelebter Wirklichkeit gewonnen wurde. Diese Werte sicherten das Überleben unserer Vorfahren und sie würden unseres sichern. Und meine Mutter starrte ihn mit großen, gläubigen Augen an, schenkte Kaffee nach und hoffte einen guten Eindruck zu hinterlassen. Sie verwechselte oft Autorität mit Expertentum.

Ich frage mich, ob der Alte noch lebt, oder ob seine Wampe ihn nicht schließlich doch im Schlaf unter sich zerquetscht hat. Und wenn es so war, trugen meine Mutter und ihr Kuchen – und all die anderen Frauen und deren Kuchen – eine Mitschuld daran? Meine Mutter, eine Mörderin. Interessanter Gedanke. Nicht sehr bequem, aber etwas, worüber es sich lohnt, nachzudenken.

Es gibt nicht viele Dinge, über die es sich lohnt, nachzudenken und ich habe festgestellt, je älter man wird, desto mehr ist man äußeren Einflüssen ausgesetzt, die einem die wenigen Dinge, über die es noch zu denken lohnt, auch noch abspenstig machen.

Nehmen wir diese Straße. Sie führt so schnurgerade nach Osten, dass man keinerlei Sorgen haben muss, nicht eines Tages auf der anderen Seite des Kontinents anzukommen. Man kann sich gar nicht verfahren oder verirren. Es ist unmöglich verloren zu gehen, wenn man es nicht sorgfältig plant. Sie nehmen uns die realen Gefahren und füllen unser Leben mit irrationalen Ängsten. Ich glaube, dass ein Mensch einen gewissen Pegel an Angst benötigt, um zu funktionieren. Angst ist das Schmieröl des Lebens. In einem Leben voller Sicherheiten, dreht der menschliche Geist deshalb irgendwann durch und erfindet Gefahren. So entstehen Phobien und Panikattacken.

Ich beispielsweise habe Angst vor Hunden, auch vor den kleinen, die mir nicht mal bis zum Knöchel reichen. Diese Angst ist ein Resultat meines Lebens in der Stadt, wo Tiere an Leinen geführt werden oder in Käfigen leben. Sie sind nicht gefährlich, so lange sie da sind, wo sie sind, so lange sie unter Kontrolle sind, aber gnade uns Gott, wenn diese Ordnung gestört wird, das Chaos losbricht und Hunde, Tiger und Krokodile frei durch die Straßen der Menschenstadt streifen. Dann ist es schnell vorbei mit der garantierten Sicherheit und wir werden uns wieder bewusst, dass Sicherheit nicht garantiert werden kann und dass in Wirklichkeit alles gefährlich ist und wir unser Leben zu keinem Zeitpunkt in unserer Hand halten.

Jederzeit kann dieses Auto hier unter meinem Arsch explodieren. Jederzeit kann ich vom Blitz getroffen werden. Jederzeit kann ein Tropensturm mein Haus verwüsten. Warum also überhaupt Vorkehrungen treffen? Was geschehen soll, wird geschehen.

Die Angst ist da, aber es ist beruhigend, zu glauben oder zu wissen, dass man ihr nicht entkommen wird, dass der Weg immer geradeaus führt, dass sich irgendwo im Osten die Küste befindet und es dann kein Davonlaufen mehr gibt.

Langweilige Menschen lassen sich darauf ein, sie gehen den geraden Weg, sie lassen sich dorthin treiben, wo der Wind sie hin weht. Sie gehen auf langweilige Konzerte und freuen sich über ein bisschen Glück. Sie genießen die Sicherheit ihres Schicksals und die Phobien, die sie hegen und Pflegen als Zeichen ihrer Individualität.

Ich aber habe einen Plan, wie ich der Langeweile ein Schnippchen schlage. Die Straße mag vielleicht nur in zwei Richtungen führen, aber das weite Land strebt nach allen Seiten in die Unendlichkeit. Ich muss nur einmal mein Lenkrad herumreißen, eine kleine Handbewegung und ich bin… auf Abwegen.

Weglaufen, verschwinden, sich vom Erdboden verschlucken lassen, sich in Luft auflösen, keine Spuren und keine Leiche hinterlassen, keinen Grabstein bekommen, Gewissheit für niemanden sein.

Ich habe es schon einmal gemacht, aber nicht endgültig genug. Damals bin ich von Tuscaloosa aus nach Westen aufgebrochen, die schnurgerade Straße entlang bis zur Küste und als es nicht mehr weiter ging, blieb ich stehen und änderte meine Strategie. Ich behauptete damals, jemand anderer zu sein und ich war so überzeugend, dass ich es sogar eine Zeit lang selbst glaubte.

Bis Terry eines Tages heulend in meinen Armen lag, weil sie auch die letzte Chance verpasst hatte, auf ihr Konzert zu gehen. Da merkte ich, dass mir das Leben dieser anderen Frau zu langweilig geworden war und ich wieder so werden wollte, wie ich war, bevor ich am Ende der Straße angekommen war.

Vielleicht, Liz, sagte ich mir, bist du jetzt einfach wieder am Anfang einer Straße. Vielleicht schälen wir uns im Laufe unseres Lebens aus unseren Persönlichkeiten heraus wie Schlangen aus ihrer Haut, vielleicht sind alle Menschen im Laufe ihres Lebens mehrere Personen, aber niemand traut es sich, zu sagen, weil es unschicklich sein könnte, oder weil einem die alten Ichs allesamt peinlich sind. Aber wie oft hat man alte Freunde schon sagen hören: „Du hast dich verändert, Mann!“ und das ist meistens ein Vorwurf.

Ich will weg, aber ich will nicht zurück. Ich will bleiben, aber nicht hier, sondern irgendwo anders, als eine andere. Nirgendwo, wo ich gefunden werden kann und als niemand, der erkannt wird. Aber dies ist Amerika und hier gibt es diese magischen Orte, die nach Verwüstung aussehen und Erlösung verheißen. Orte, an denen noch etwas Hoffnung klebt, obwohl sie längst aufgegeben worden sein, weil die Langweiler, die Sicherheitsfanatiker und die Verzweifelten sie verlassen haben.

Geisterstädte, die seit Jahrzehnten stur und standhaft dem Wüstenklima trotzen, stehen für das Amerika, das zum Mythos geworden ist, das ein anderes ist, das anderswo ist, abseits. Eine Geisterstadt für eine Geisterfrau, ein Ort, der aus der Zeit gefallen, dem Tod anheimgefallen ist und ihm dennoch trotzt. Ein in sich verdrehtes Paradoxon

Es gibt eine Stadt draußen in der Wüste, die ihren Niedergang erlebte, als die nahegelegene Eisenbahnlinie demontiert wurde. Damals fiel der Goldpreis ins Bodenlose und die kleinen kalifornischen Goldminen lieferten nur geringe Erträge. Aufstieg und Verfall gingen einher mit vorgeschossenem und verlorenem Vertrauen, Hoffnung und Enttäuschung. Schließlich vernichtete ein Brand einen Großteil der Holzhäuser, darunter die Bank, viele Geschäftshäuser, Bordelle und Saloons und als sich abzeichnete, dass die Bevölkerungszahl nicht wieder steigen, sondern sinken würde, schloss am Ende auch das Postamt. Das war 1942. Die letzten Bewohner verließen die Stadt Anfang der 60er-Jahre. Eine Stadt, die einmal über 10.000 Bewohner gehabt hatte…

Das heiße, trockene Wüstenklima erhält diese Orte, die in der Landschaft liegen wie abgenagte Knochen. Man kann dort nicht leben, aber man kann dort verschwinden. Man stirbt nicht, man wird konserviert in der Geschichte, wird Teil der Ruinen einer anderen Zeit.

Die Straße, die nach Solace führt, ist ein kaum noch zu erkennender Feldweg. Seit Jahrzehnten ist niemand mehr in sie eingebogen, scheint es, aber ich reiße diese Narbe nun wieder auf und der Wagen stottert mit Mühe über die holprige Piste. Keine Sorgen, es ist der letzte Weg, den du je fahren musst…

Es ist ein Ford F-100, der in den frühen 70er-Jahren vielleicht einmal ein Statussymbol für eine aufstrebende Familie gewesen ist. Ich stelle sie mir vor, wie sie sich den Wagen vom Vertrauensvorschuss, den man in sie setzte, gekauft hatte und wie sie ihn wieder verkaufen musste, als ihnen das Vertrauen entzogen wurde, weil irgendwo der Preis für irgendeinen Rohstoff fiel. Ich stelle mir vor, wie der Wagen Jahr um Jahr im Regen und im Matsch des Gebrauchtwagenhofs stehen musste und von unten her zu rosten begann, wie er sich dafür schämte, langsam zur Ruine seiner selbst zu werden, wie viel Kraft es ihn kostete, als ich mich in ihren hineinsetzte und den Motor startete. Er versuchte sicher eine gute Figur zu machen, aber ich kaufte ihn nicht, wegen seiner guten Figur, sondern wegen seines niedrigen Preises und ein bisschen aus Nostalgie, als die sich mein Mitleid oft tarnt.

Manche Leute hätten dem Auto vielleicht einen Namen gegeben, so wie sie ihren Hunden Namen geben. Aber ich neige nicht zu derartigen Sentimentalitäten. Ein Hund kann mit einem Namen ebenso wenig etwas anfangen, wie ein Auto und ist das Benennen nicht gerade ein Akt der Selbsttäuschung durch scheinbare Sicherheit? Wird ein Hund, der einen Namen hat, nicht zur reißenden Bestie, wenn er freigelassen wird? Überfährt ein Auto mit einem Namen, nicht auch Menschen, wenn man es unaufmerksam bedient? Indem wir unseren Werkzeugen eine Persönlichkeit zuschreiben, glauben wir, nicht mehr für sie verantwortlich zu sein. Und wer nicht verantwortlich ist, den trifft keine Schuld und wer nicht schuldig ist, der ist nicht in Gefahr.

Nein, dieser Wagen braucht keinen Namen, er braucht jemanden, der ihm sagt, wo es lang geht. Und das unterscheidet die Dinge von den Menschen.

Die Sonne bewegt sich langsam Richtung Westen und das Licht nimmt diese seltsame Stimmung an, die Photographen so lieben. Irgendwo in der Ferne kann man die Bergketten erahnen, an deren Füßen Solace liegt. Bis dahin: Gestrüpp, Dornen, Steine und zwischendrin mattgrüne Grasbüschel. Weiß der Teufel, woher sie ihr Wasser zum Überleben beziehen…

Ich bin weder durstig, noch hungrig. Ich habe mich dazu entschieden, nie wieder ein Bedürfnis zu haben. Alles ist eine Frage der Willenskraft. Wenn man sich das Rauchen abgewöhnen kann, dann auch das Essen und Trinken.

Und was soll ich auch zu mir nehmen? Ich habe nur Alkohol bei mir und unter dessen Einfluss soll man bekanntlich nicht Autofahren.

Ich bin feige. Ein Tagebuch zu schreiben, ist feige. Briefe zu schreiben, ist feige. Wer nach seinem Tod nicht in der Erinnerung anderer Leute weiterleben kann oder will, der sorgt dafür, dass er es durch seine Selbstdarstellung tut. Wir manipulieren die Erinnerung anderer, indem wir unserer eigenen Perspektive auf uns so viel Raum gewähren. Dabei kennen wir uns selbst am schlechtesten. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich mich selbst erkennen würde, wenn ich mir auf der Straße begegnen würde. Meine Anerkennung gilt all jenen, die gegangen sind, ohne, dass sich jemand an sie erinnert, die irgendwo verscharrt sind, ohne Kreuz, ohne Grabstein, der den Ort markiert, ohne trauernde Witwe, ohne verwahrloste Kinder, ohne verzweifelte Eltern, ohne jemanden, der eine Vermisstenmeldung aufgegeben hat. Das Leben, das keinen Einfluss genommen hat, ist das erstrebenswerteste. Das Leben, das nicht stattgefunden hat, ist das einzig reine, auf diesem gottverdammten Planeten.

Jede Handlung ist Sünde für irgendwen. Jeder Gedanke diskriminiert irgendjemandem. Jedes Wort verletzt. Niemand ist unschuldig in dieser Welt. Niemand ist frei von Lastern, Fehlern oder Aggressionen. Wir sind alle Mörder. Meine Mutter, unser alter Pastor, ich. Aber was ist schon ein Mord? Wenn wir alle Schuldige sind, ist auch ein Mord nur eine gerechte Strafe für irgendein Vergehen. Wenn alles Sünde ist, ist nichts Sünde, ist alles egal.

Ich will nicht in einer nihilistischen Welt leben. Lieber bin ich tot in der Zwischenwelt einer Geisterstadt. Lieber bin ich konserviert in einem Tagebuch, als dass man mir posthum die Absolution erteilt.

Das Blau des Himmels wird mit Fortschreiten des Abends intensiver. Seit Sacramento habe ich keine Wolke mehr gesehen. Die kalifornischen Sommer sind unerbittlich. Seit vier Stunden fahre ich auf Sicht von einer Fata Morgana zur nächsten.

Der Ford hat keine Klimaanlage, nur ein Lüftungssystem. So wird die heiße Innenluft durch heiße Außenluft ausgetauscht. Ich rieche meinen eigenen Schweiß. Meine Kleidung ist klitschnass und klebrig. Aus der Nähe betrachtet, bin ich eine Ausgeburt der Hässlichkeit.

Es ist die Eitelkeit in mir, die sich darüber Gedanken macht, ob ich hässlich bin oder feige, ob jemand dieses Tagebuch finden und lesen wird, ob jemandem mein Verschwinden auffällt. Und wenn man das Tagebuch findet, wird man dann auch meine Leiche finden? Werde ich dann doch noch ein Grab mit einem Kreuz und meinem Namen darauf bekommen? Würde es mich nicht sogar ein wenig beruhigen, wenn das geschähe? Angst macht mir der Gedanke jedenfalls nicht und das ärgert mich ein wenig, weil es mich zu einer Heuchlerin macht.

Man muss sich seine letzte Ruhestätte erarbeiten. Der Grabstein ist das ultimative Statussymbol. Er zeigt an, was die anderen von einem gehalten haben. Bin ich eine Fremde, ein trauriges Schicksal, eine missverstandene Verzweifelte, ein verantwortungsloser Drückeberger, Fahnenflüchtige, Selbstmörderin, schlechtes Vorbild, Opfer widriger Umstände, ein Produkt dieser Gesellschaft, krank, schuldig?

Der Tod sollte eine Inszenierung sein, kein plötzlicher, unerwarteter Schlag. Eine feige und eitle Person wie ich plant ihren Tod mehr als ihr Leben. Ich habe eine Kulisse und ich habe eine Geschichte, ich habe ein Gesicht und ich habe genug Spirituosen für ein Spektakel.

 

Ich habe es so satt, Bücher darüber zu lesen, wie Menschen sich auf eine Selbstfindungsreise begeben und am Ende nichts an ihrem Leben geändert haben, außer dass sie es jetzt „in all seinen Facetten“ akzeptieren. Aber das ist das Merkmal von Odysseen: Man kommt schließlich genau dort an, wo man gestartet ist. Genau genommen sind sie also völlige Zeitverschwendung. Und völlig irrational.

Wieso wühlt man sich einmal quer durch die historischen Archive der Union, bis man herausgefunden hat, dass irgendein entfernter Urgroßonkel mal ein hohes Tier in der Armee der Konföderation war, wenn man sich danach nicht sein Leben lang schämen will? Wieso geht es immer nur um die Aufarbeitung der eigenen Befindlichkeiten und nicht um die der Wahrheit?

Die schwülstigste Bekenntnislyrik trägt nichts dazu bei, die Welt zu verbessern. Verständnis hilft nicht, etwas zu verändern. Es geht immer nur darum, sich wohl zu fühlen, sich selbst zu bestätigen, selbst keine Schuld zu tragen. Es geht darum, die Vergangenheit ruhen zu lassen, nicht sie tatsächlich zu betrachten, zu sehen wie sie bis heute nachwirkt, unsere Leben und unsere Entscheidungen beeinflusst. Es geht nicht darum zu verstehen, wie wir geworden sind, was wir sind, sondern nur darum, uns zu bestätigen, dass wir alles richtig gemacht haben und gar nicht hätten anders handeln können.

Oh, natürlich sind wir betroffen, aber man kann die Vergangenheit nicht ändern, nicht wahr?

Ich habe es satt, wie Leute sich selbst beweihräuchern, weil sie vermeintlich nicht davor zurückschrecken, auch Unangenehmes zu betrachten. Schwierige Themen sind nichts weiter als Selbstprofilierung. Kontroverse Diskussionen sagen mehr über die Diskutanten als über das eigentliche Thema.

Wenn sie konsequent wären, wenn sie alle wirklich und aufrichtig konsequent wären, würden sie erkennen, dass sie mehr Verheerungen anrichten, als sie Gutes tun. Wir alle sind Schädlinge und wer nur ein bisschen Pflichtgefühl aufweist, der sollte den Weg des Achilleus wählen und unter möglichst idiotischen Umständen das Zeitliche segnen.

Ich sage das nicht, weil ich mich an Stelle irgendeines vergessenen Urgroßonkels schuldig fühle – oder so tue, um ein gutes Gewissen zu beweisen, sondern weil dieser vergessene Urgroßonkel nicht tot ist und wir trotzdem so tun, als wären wir heute klüger als jemals zuvor, als hätten wir aus der Geschichte gelernt und als könnten uns all diese Dinge heute nichts mehr anhaben. Was damals politisch war, ist heute privat. Man arbeitet Familiengeschichten auf, sieht sich aber nicht um in der Gesellschaft, in der man gerade jetzt, in diesem Augenblick lebt. Nichts ist jemals abgeschlossen, nichts ist jemals vorbei. Wenn ich heute auf eine Ameise trete, habe ich damit vielleicht in einer Millionen Jahren die Erde zerstört.

Es wird Zeit für einen Drink. Es wird Zeit, Verantwortung zu übernehmen und nichts mehr zu berühren, keine Weichen mehr zu verstellen, keine Zahnräder mehr in Bewegung zu setzen. Wer unschuldig sein will, der muss aufhören zu atmen.

 

Am Horizont erkenne ich die Ruinen der Siedlung, die einmal Solace – Trost – geheißen hat. Sie heben sich ab als schwarze Schatten ganz knapp über der Horizontlinie. Der Wagen hat gemerkt, dass er hier seinen letzten Kampf ausfechten muss und er hält sich gut. Er ist ein richtiger Achilleus…

Wenn ich mich fest konzentriere, kann ich den Rauch der brennenden Stadt noch riechen. Diese Gegend hier existiert in einer Blase, in der die Zeit langsamer vergeht. Ich höre die verzweifelten Bewohner schreien, als sie auf die Straßen rennen. Es gibt längst keine Feuerwehr mehr. Es wird eine Eimerkette organisiert, aber es gibt zu wenig Wasser. Einige gehen mit Decken gegen Brandnester vor. Die Kinder weinen. So hört und fühlt sich Hilflosigkeit an. Aber keine Sorge, dies ist ein Ort des Trostes.

So zumindest verheißt es das schiefe Holzschild, das mich begrüßt, als ich in die Ruinenstadt hineinfahre. „SOLACE“ und irgendein Scherzkeks hat mit Kreide darunter gekrakelt: „We will eat your soul!“

Sollen Sie, denke ich und halte vor dem ersten Haus der Stadt, einer kleinen, baufälligen Hütte, in der – wie ich mir vorstelle – einst ein unglücklicher Junggeselle lebte, der niemals eine Frau abbekam, weil seine Behausung selbst für ein Leben hier draußen schäbig war.

Er ist vermutlich nicht alt geworden, denke ich, und weil er allein lebte, hat man seine Leiche erst entdeckt, als sie schon durch die Ritzen des Hauses und die Löcher im Dach zu riechen begonnen hatte. Und dann haben sie ihn beerdigt – ohne Grabstein. Genau hier. Hier, wo ich gerade stehe.

Die Abendluft hat die unerträgliche Hitze davon geweht und es kündigt sich eine laue, vielleicht sogar eine kühle, Sommernacht an. Ich nehme mir die erste Flasche Wodka. Der ist sogar im Heimatland des industriell hergestellten Whiskeys billiger als ein stilvolles Getränk, um sich zu Tode zu saufen. Aber was soll’s, Solace, Kalifornien, auf dein Wohl!

Vincent

 

Ich sitze auf der Motorhaube meines Ford, die immer noch warm ist wie eine frische Leiche, und schaue, wie sich die Sterne durch das immer dunkler werdende Blau des Himmel graben.

Ich ertappe mich dabei, das ein oder andere Sternbild zu bestimmen. Irgendwie muss man sich schließlich die Zeit vertreiben. Warum nicht mit Gedanken darüber, wie bedeutungslos und klein dieser Planet doch ist? Sie haben etwas beruhigendes, entlastendes. Dort drüben bei der Wega schert sich nämlich niemand darum, ob hier jemand eine Atombombe auf eine Stadt hat werfen lassen. Denn es ist völlig egal. Wir sind ohnehin einem Gott ausgeliefert, der Steine mehr liebt als Menschen, der ein ganzes Universum voller Geröll geschaffen hat, um sich daran zu erfreuen, wieso sich also grämen? Er taugt als Richter nicht viel. Wir taugen als Richter nicht viel.

Und am Ende ist es völlig egal, woran wir glauben, wir sitzen fest auf einem Klumpen Gestein, der in irrsinniger Geschwindigkeit um einen Feuerball herum schwirrt. In regelmäßigen Abständen wird es hell und dunkel, wobei die Dunkelheit der eigentliche Normalzustand ist in diesem Universum. Und weil ihr das zu desillusionierend oder zu nihilistisch war, erfand die Menschheit um diese paar lächerlichen physikalischen Umstände unzählige Kulte, in deren Namen, sie sich gegenseitig abschlachten. Die Sonne ist auch nur ein Stern – ein ziemlich erbärmlicher sogar. Nur weil wir zufällig ziemlich nah an ihr dran sind, erscheint sie uns wie ein wohlwollendes Gestirn, eine liebende Mutter, die uns mit Wärme und Licht speist. Aber chemische Reaktionen haben, sind oder erzeugen keine Gefühle, egal, was die Poesie einem erzählen will.

Sie funkeln. Sie geben sich alle Mühe, das muss man ihnen lassen. Ein Teppich gespickt mit Edelsteinen. Ich habe die Flasche bereits fast zur Hälfte geleert und auf einen nüchternen Magen kostet es mich meine ganze Selbstbeherrschung, nicht vor Glückseligkeit zu lächeln. Was machen Licht und Dunkelheit nur mit einem? Versteck und Sichtbarkeit, Gefahr und Sicherheit, es kommt immer darauf an, auf welcher Seite man steht.

Ich gestatte mir, mich auf den Rücken zu legen, denn ich spüre, wie mir die Augen zufallen wollen. Ich habe die Kraft der Müdigkeit überschätzt, die mich mit sanfter Gewalt niederdrückt. Schmerzlosigkeit lähmt ebenso sehr wie Schmerzen, denke ich. Fallen ist genauso unabänderlich wie aufschlagen. Ich sinke hinein in diese frische Wüstennacht, die mich in sich aufnimmt, ohne nach meinem Leumund zu fragen. Wie gnädig. Wie vertrauensselig. Wie wohltuend. Die Nacht sollte meine Mutter sein, sollte mich füttern mit dem Licht des Mondes, sollte mir das Lied vom Zirpen der Grillen singen, bis ich unschuldig einschlafe, sorglos einschlafe. Die Nacht sollte meine Göttin sein. Ich könnte sie anbeten, weil ich ihr vertraue, weil ich weiß, welches Gesinde sie anzieht und weil ich dazu gehöre, weil ich mich wohlfühle in den Nischen, den Ecken, den Schatten. Weil ich besser nicht gesehen werde. Weil sie barmherzig ist mit ihren Sündern.

 

Mit einem Zucken meines Armes schleudere ich die Wodka-Flasche zu Boden, wo sie zerschellt und das Gift, das sie enthalten hat, im gierigen Boden versickert. Können Pflanzen betrunken sein? Das frage ich mich, bevor ich aufschrecke, denn natürlich war es nicht mein Arm, der die Flasche herunter gestoßen hat. Es kann nicht mein Arm gewesen sein. Ich habe kein Gefühl in meinem Arm. Ich liege nämlich darauf.

Es ist immer noch stockfinster und einen Augenblick lang glaube ich, zu Hause zu sein – wo immer mein Verstand das in seinem schlafvernebelten Zustand das verortet. Dann fürchte ich, mich nicht bewegen zu können, gefangen und gefesselt zu sein. Schlafparalyse. Das ist ein Traum, fällt mir ein. Aber müsste ich nicht aufwachen, wenn ich das denke?

Ich lausche und nehme zur ersten Mal in meinem Leben wahr, wie trommelfellzerfetzend laut absolute Stille sein kann. Es heißt, sie treibt einen in den Wahnsinn, wie das stunden- und tagelange Starren an eine weiße Wand. Weißes Rauschen in meinem Kopf. Der Wodka rettet meinem Verstand das Leben.

„Du hast dich ja völlig verrenkt“, sagt eine Stimme außerhalb meines Kopfes, „Willst du nicht hinein kommen und etwas trinken? Du musst ja furchtbar durstig sein.“

Damit hat er nicht Unrecht. Ich muss es zugeben, denn das pelzige Gefühl auf meiner Zunge lässt sich nicht leugnen. Ich kriege keinen Ton heraus.

Eine freundliche, warme und ein wenig feuchte Hand hilft mir, von der Motorhaube herunter und gibt mir Halt, während ich in das kleine, trostlose Häuschen geleitet werde. Was für eine Ironie…

Ich frage nicht, zu wem die freundliche Hand gehört. Ich weiß es. Der glücklose, einsame Junggeselle. Es muss so sein. Sein Geist, seine Seele. Vielleicht hat er jetzt endlich seine Chance gewittert. Dieser Ort ist zeitlos, leblos, todeslos. Ich habe Mitleid, ich habe Sympathie, ich habe das Bedürfnis, ihm eine Freundin zu sein, ihm einen Kuchen zu backen, ihn zu füttern und ihn mit großen, gläubigen Augen anzusehen, wenn er mir von der harten Arbeit in den Goldminen erzählt.

Stattdessen gibt er mir Wasser in einem Kristallglas und mir steigen die Tränen in die Augen bei so viel Gutherzigkeit. Ich trinke und versuche diese seltsame Situation einzuordnen.

„Du bist willkommen“, sagt der junge Mann, den ich jetzt zum ersten Mal ansehe, „Du kannst bleiben, wenn du willst. Du kannst dir ein Haus aussuchen und es um- oder ausbauen, wie du möchtest. Es gibt keine Verbote in Solace.“

„Vielen Dank“, sage ich.

„Mein Name ist Vincent“, stellt er sich vor.

„Mein Name ist Liz“, erwidere ich gehorsam. Er hat etwas vertrautes, dieser Kerl. Etwas warmes, gemütliches, tröstendes, wie eine verloren geglaubte Sache, die man wiederfindet und genauso schaut er mich jetzt an: Wie jemand, der etwas wiedergefunden hat. Glücklich. Als wäre er glücklich, mich zu sehen.

„Hast du das da draußen auf das Schild geschrieben?“, frage ich, „Dass du meine Seele auffressen willst?“

Vincent lacht: „Ach nein. Das war Frank. Er hat einen etwas schrägen Humor.“

„Heißt das, außer dir lebt hier noch jemand anderes?“, frage ich.

„Oh, aber ja doch. Es kommen regelmäßig Leute hier vorbei und bleiben in Solace hängen. Als erstes landen sie immer vor meinem Haus. Wir sind eine richtig lebendige Geisterstadt, wenn du so willst.“

Ich lächele, weil ich glaube, dass er es braucht und weil er es verdient hat: „Du meinst, ich könnte hier leben?“

„Besser als zu sterben, meinst du nicht?“

„Ich bin nicht sicher.“

„Frag dich selbst: Was fühlt sich besser an: Der Wodka oder das Wasser?“

„Im Augenblick das Wasser“, sage ich, aber ich weiß, dass das nur mein Körper ist, der mich betrügen will, der mich überreden will. Zuckerbrot und Peitsche. Schmerz und Erholung.

 

Im Schein der trüben Gaslampe zeigt sich Vincent als schmächtiger, fahler Mann, der nur ein paar Jahre älter als ich zu sein scheint. Sein Haar ist blond wie meines, aber seine Augen sind nicht blau, sondern von einem hellen braun. Sein Haus scheint von innen noch kleiner zu sein als von außen. Es beinhaltet nichts als einen Tisch, zwei Stühle, ein schmales Bett, einen Schrank, der offenbar für Kleidung und Geschirr gleichermaßen genutzt wird und einen Spiegel neben dem Fenster.

Ich stelle mir vor, wie Vincent Hals über Kopf ein altes Leben hinter sich gelassen und nichts als dieses Kristallglas mitgenommen hat, um mit ihm die selbstgewählte, völlige Armut auf sich zu nehmen. Ein nicht ganz aufrichtiger Mönch. Traurige Nostalgie oder nostalgische Traurigkeit?

Vielleicht hat er das Glas auch nur behalten, weil er die Hoffnung auf eine Gelegenheit noch nicht ganz aufgegeben hat. Und vielleicht glaubt er nun, dass ich diese Gelegenheit bin.

Es tut mir leid, dass ich ihn enttäuschen muss. Ich sage: „Ich werde nicht bleiben und du wirst meinen Namen wieder vergessen müssen. Ich bin nicht hier, um gefunden zu werden, wenn du verstehst, was ich meine.“

Vincent nickt wissend, sagt dann aber: „Nein, ich verstehe nicht.“

Es gibt ein paar Regeln dafür, wie man für immer verschwindet.

Erstens: Lass dich nicht auf Sentimentalitäten ein, die dich davon abhalten könnten, aufzubrechen.

Zweitens: Zerstöre alle Fotos von dir, die du finden kannst. Das gleiche gilt für Dokumente, auf denen dein Name auftaucht, Kreditkarten, Sozialversicherungsausweise.

Drittens: Zahle bar.

Viertens: Werde dein Auto los, lass es stehlen oder verschwinden.

Fünftens: Keine Erinnerungsstücke.

Sechstens: Nenne niemandem deinen echten Namen.

Siebtens: Geh an einen Ort, von dem du weißt, dass sich in mindestens hundert Meilen Umkreis niemand befindet, der dich erkennen könnte.

Achtens: Streue das Gerücht, dass du Urlaub machst, eine Auszeit brauchst, eine Zeitlang für dich sein willst.

Neuntens: Bereite dich darauf vor, immer in Bewegung zu sein, flüchten zu müssen, verfolgt zu werden, in Angst zu leben.

„Ich werde nicht warten, bis jemand auf meine Spur angesetzt wird und mich ausfindig macht. Ich werde tot sein, wenn ich gefunden werde“, sage ich.

„Bist du sicher, dass du gesucht wirst?“, fragt Vincent, „Hast du etwas angestellt?“

Ich schweige, ich habe diesem vertrauensseligen Gesicht schon zu viel gesagt.

„Keine Sorge. Wir halten dicht. Die meistens von uns haben was auf dem Kerbholz.“

„Die meisten? Hier leben noch mehr als du und Frank?“

„Keine Sorge, du wirst sie alle kennen lernen.“

„Aber…“

„Es ist nicht nötig bis zum Äußersten zu gehen, Liz. Man muss nur so weit gehen, bis man einen Ort gefunden hat, an dem man akzeptiert wird. Dies ist vielleicht kein Ort der Vergebung, aber einer der Nicht-Verurteilung. Du wirst sehen, du wirst dich bei uns wohl fühlen.“

Durch das blinde, kleine Fensterchen sehe ich, dass das Morgenrot langsam den Horizont einzufärben beginnt. Ich sollte eigentlich gar nicht mehr hier sein.

Wo gehen wir hin, frage ich mich. Und wenn wir dort sind, fragen wir uns dann wo wir herkommen? Was ist wohl die größere Qual: Vergessen oder Nicht-wissen? Oder Nicht-verstehen?

Vincent scheint voll und ganz zu verstehen und das verunsichert mich. Seine Zärtlichkeit ist so wenig bedrohlich, dass ich dahinter einen fiesen Trick vermute. Wie ist er hier her gekommen? Was hat er „auf dem Kerbholz“? Ist er ein Mörder oder ein Vergewaltiger? Hat er eine Bank ausgeraubt oder weiß er zu viel? Versteckt er sich oder lebt er freiwillig hier? Wurde er vertrieben oder ist er von sich aus abgehauen?

Alles Fragen, die ich für mich selbst kaum beantworten kann. Manchmal strandet man einfach, denke ich mir. Man kommt irgendwo an und dann bleibt man dort. Für eine kurze oder längere Zeit. Vincent ist noch jung. Vielleicht wird er eines Tages weiter ziehen und reich und berühmt werden. Alles ist gut, so lange wir uns nicht damit abfinden, irgendwo angekommen zu sein. Solange wir nicht festsitzen.

Dies ist Amerika. Das Land, in dem das Festsitzen keine Option ist.

„Was hältst du von einem Frühstück?“, fragt mich Vincent.

„Nein Danke“, sage ich, aus den Gedanken gerissen. Ich versuche, den Faden wieder aufzunehmen, aber der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee macht es mir unmöglich, an etwas anderes als an Speck mit Spiegeleiern zu denken.

„Du hast gewonnen“, sage ich und schon schiebt Vincent mir einen Teller herüber. Er grinst, als wäre er stolz darauf, endlich einmal jemandem sein gutes Geschirr zeigen zu können.

„Wo hast du die Teller her?“, frage ich. Sie sind aus echtem Porzellan und handbemalt mit blauen Ornamenten.

„Ach…“, weicht Vincent aus.

„Familienerbstücke?“

Ich bin milde enttäuscht, weil er vermutlich gegen Regel fünf verstoßen hat.

„Ach nein“, erwidert Vincent, „In meiner Familie gibt es keine Erbstücke. Es sind einfach nur Teller. Ich fand sie schön, da hab ich sie gekauft. So macht man das doch, oder nicht?“

„Du hast sie gekauft und hier her mitgenommen? Oder hast du sie hier gekauft?“, inzwischen halte ich alles für möglich.

Vincent lächelt geduldig, als wollte er sagen: Falsche Frage, Liz.

Also versuche ich etwas anderes: „Deine Familie?“

„Wie Familien so sind“, sagte er, „Du kennst das sicher. Mit ihr hält man es nicht aus, aber ohne sie fehlt etwas. Der Reibungspunkt, nehme ich an.“

Ich nicke, dem stimme ich zu.

„Ich habe mein ganzes bisheriges Leben eher frei gedreht“, sagt Vincent.

„Und ich hatte das Gefühl, ich bin das blockierende Zahnrad im Familiengetriebe“, erzähle ich und wir beide lachen – weniger bitter, als wir es vielleicht erwartet hätten.

„Also läufst du vor deiner Familie davon?“, fragt Vincent.

„Nein. Das habe ich vor langer Zeit einmal versucht, aber ich weiß nicht, ob es funktioniert hat. Ich hatte nie das Gefühl weit genug weg zu sein und am Ende war ich so weit weg, dass ich nur noch zurück konnte oder hätte stehen bleiben müssen.“

„Suchen sie nach dir?“

„Ich glaube nicht“, sage ich.

„Erzähl mir von deinen Eltern“, fordert Vincent mich auf.

Ich zögere, stopfe meinen Mund mit Speck voll und das triefende Fett verursacht mir Übelkeit.

„Wieso?“, frage ich.

„Ich will wissen, wie es ist.“

„Was?“

„Eltern zu haben.“

Beinahe huste ich den Speck wieder hervor: „Aber jeder Mensch hat Eltern.“

Ich weiß, dass ich lüge. Ich weiß, dass ich mich damit selbst beruhigen will. Ich weiß, dass ich Vincent nicht überzeugen werde, dass er Unrecht hat, was eine solche persönliche Angelegenheit angeht. Ich weiß, dass es dumm ist, jemand anderem seine Empfindungen absprechen zu wollen und ich weiß, dass ich nur Zeit schinde, bevor er mir erzählen wird, was ich ohnehin schon weiß.

„Du meinst, jeder Mensch ist gezeugt und geboren worden. Das hat aber nichts damit zu tun, dass er Eltern hat.“ Seine Stimme klingt ruhig und geduldig. Er hätte einen guten Lehrer abgegeben. Er wäre ein guter Psychologe geworden. Mein ganzes Leben lang habe ich mich gefragt, was wohl aus ihm hätte werden können.

„Ich bin ein Einzelkind“, sage ich trotzig, „Geboren und aufgewachsen in Alabama.“

„Und?“, fragt Vincent, als ich ins Stocken gerate.

„Viel mehr gibt es dazu nicht zu sagen“, behaupte ich, „Alabama. Ländliche Gegend. Feucht-warmes Klima. Alle sind furchtbar christlich und bilden sich was auf ihre amerikanischen Tugenden ein.“

„So?“

„Zusammenhalt, Fleiß, Moral, Tatkraft, Unabhängigkeit… sowas. Es sind halt alles schwammige Begriffe, die alles und nichts bedeuten. So nichtssagend wie Hymnen. Du weißt schon: Positive Stimmung durch positive Phrasen. Wenn wir nur lange genug darüber reden, haben wir es uns vielleicht irgendwann eingeredet und werden dann endlich unseren eigenen Maßstäben gerecht. Magie. Psychologie. Glaubensstärke. Nenn es, wie du willst.“

„Und was ist mit deinen Eltern?“, bohrt Vincent weiter.

 

Meine Eltern. Zwei Menschen, die sich so perfekt ergänzten, dass sie gemeinsam die Pforte zur Hölle hätten öffnen können, wenn sie nicht so verflucht gläubig gewesen wären. Was ich meine, ist, dass sie sich gegenseitig ihre Schwächen ausglichen, weshalb niemand sie jemals hätte aufhalten können. Wenn ich an sie denke, dann als unüberwindbare Giganten, unbesiegbare Übermenschen, Leute, die sich nicht aufhalten ließen, die sich eine Richtung auswählten und dann drauflos rannten und Hindernisse lieber überwanden als sie zu umgehen. Ich kam gegen sie nicht an. Sie waren eine Mauer, eine Wand, ein Monument, eine feste Größe der Physik.

In ihrem Familienleben gab es keine Misstöne. Wer den Takt verlor, wurde wieder auf Linie gebracht. Alles musste laufen, alles musste funktionieren. Und ich funktionierte. Wie ein gut erzogener Hund, der keine Leine mehr benötigt, sondern auf Pfeifkommandos hört. Bei Fuß, Liz! Und ich stand stramm mit geputzten Schuhen und polierten Jackenknöpfen.

Vorzeigbar, nannten sie das, was ich sein sollte. Alles musste „vorzeigbar“ sein. Das Haus, der Garten, die Tochter, die Garderobe, das Küchengeschirr. Das Auftreten als Spiegel der Seele. Kein Fleck auf den Küchenboden bedeutete, auch keinen Fleck auf der Seele zu haben.

Aber es gab Flecken und vermutlich lösten sie ihren metaphorischen Waschzwang aus. Wie bei jeder Familie, die ich bisher habe kennen lernen dürfen, lag auch in unserem Keller eine Leiche. Besser gesagt, sie lag nicht da und das war das Problem, das sie wegzuignorieren versuchten.

Meine Mutter heiratete sehr jung. Aber anscheinend nicht jung genug. Als Teenager wurde sie schwanger. Als man es ihr ansehen konnte, durfte sie das Haus nicht mehr verlassen. Sie bekam das Kind, ihre Eltern schafften es unbemerkt aus dem Haus, gaben es zur Adoption frei und niemand redetet je wieder von dem Vorfall.

Dass ich einen Halbbruder habe, weiß ich von meiner Tante, der Schwester meines Vaters, die meine Mutter nicht leiden kann. Sie sagte es mir, um mein Leben zu zerstören und damit das Glück meiner Eltern, anders kann ich es mir nicht erklären. In meiner Erinnerung sehe ich sie vor mir als alte Hexe, die allein durch die Wahrheit – und nicht durch Zauberei – die Welt in Unordnung bringt. Wieder ein Beispiel dafür, wie magisch Worte sein können…

Jedenfalls verbrachte ich einen Großteil des Restes meines Lebens damit, mich zu fragen, wo mein Bruder wohl ist, wie es ihm geht, ob er weiß, dass es mich gibt und wie es wohl ist, weggegeben zu werden. Ich weiß es bis heute nicht. Ich bin vielleicht weggelaufen, aber nie verstoßen worden. Ich habe es immer geschafft, als erste die Reißleine zu ziehen. Aber er konnte das nicht. Er war doch viel zu klein. Erst ein paar Tage alt. Er wusste gar nicht, was mit ihm geschah. Er konnte vielleicht schreien, aber ein solcher Protest bleibt meist ungehört und unbeantwortet.

Wie ist es, in einem Heim zu leben oder bei Pflegeeltern, die einen nur aufnehmen, weil sie Geld dafür bekommen. Sie bekommen alle einen Knacks, die Pflegekinder, heißt es. Irgendwas in ihrem Gehirn wächst nicht richtig zusammen. Sie werden ihr Leben lang Probleme mit Beziehungen haben. Sie lernen nie, jemandem zu vertrauen. Sie sind allein. Immer allein. Ohne Kontakt. Isoliert von der Außenwelt.

Wie würde sich ein solches Kind entwickeln? Würde es stumm bleiben, weil es taub gehalten wird? Ich stellte mir die schrecklichsten Misshandlungen vor. Ein hilfloser Mensch, für den niemand Partei ergreift, der beim kleinesten Problem, das er verursacht, abgeschoben wird. Was für ein Glück, wenn er niemals lernt, auszudrücken, was er erlebt hat! Was für ein Glück, wenn er niemals herausfindet, dass nicht normal ist, was er erleben muss.

Und dann war da ich, behütet und so sehr geliebt, wie ich vorzeigbar war. Gefördert, ausgestattet, vorbereitet, an Ansprüchen gewachsen und durch Reibung stark geworden. Im Diesseits geschliffen, tausendmal zurechtgestutzt, hingebogen, wohlwollend kritisiert und anspornend gelobt. Immer ein Ziel vor Augen. Immer mutig, immer frohen Herzens.

Ich empfand Neid auf mich selbst. Wie mussten andere mich da erst sehen. Kein Wunder, dass ich nie gut gelitten war. Ich war unausstehlich. Vorzeigbar, weil man hinter der Fassade den Hohlraum verstecken konnte, der die Form eines kleinen, ungeliebten Bruder hatte. In meiner Phantasie wuchs der kleine Kerl nicht heran. Er blieb sein Leben lang ein hilfloses Kleinkind, weil jeder an dem Punkt hängen bleibt, an dem er sein erstes Trauma erlebt.

Ich dachte mir Namen für ihn aus. Er hatte zumindest einen verdient, oder? Die Leute gaben schließlich sogar ihren Hunden Namen, manchen sogar ihren Autos. Philipp empfand ich als passend. Oder George. Oder Carl. Irgendetwas bedeutsames, das ausdrückte, dass der Kleine Potenzial gehabt hätte, wenn man ihn nicht so früh in seinem Leben weggeworfen hätte.

Ich stellte mir vor, wie er mit mir spielte, wie er mich ärgerte, wie er mich in den Haaren zog und wie ich ihn mit Matsch bewarf. Später hätte er sich als mein Beschützer aufspielen können und ich hätte ihn gewähren lassen. Er hätte mir bei den Hausaufgaben geholfen und ich hätte ihn ausgelacht, wenn er seine erste Freundin mit nach Hause gebracht hätte. Er hätte mein Abschlussballkleid furchtbar gefunden und ich seine Begeisterung für Football. Trotzdem wäre ich zu jedem seiner Spiele gegangen, denn er wäre natürlich der Star der Schulmannschaft gewesen.

Alles eine Frage der Möglichkeiten, alles eine Frage der Chancen.

„Weißt du“, sagte meine Tante, sie hatte die Angewohnheit, immer auf die Knie zu gehen, um mit mir in Augenhöhe zu reden, „Du musst immer dankbar sein. Denk nur an deinen Bruder, dem geht es sicher nicht so gut wie dir.“

Kinder unter sieben Jahren verstehen keinen Sarkasmus und kennen den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht. Also war ich dankbar. Ich war fromm. Ich betete. Ich lobte Gott. Ich fühlte es in meinem Herzen. Die Scham darüber, dass es mir so hervorragend ging. Ich war auserwählt. Ich war ein Glückskind, eine von Gott geliebte Kreatur. Und ich musste dem gerecht werden. Ich musste mich erkenntlich zeigen, musste fromm und dankbar sein, musste gefallen und vorzeigbar bleiben.

Und doch… War da nicht ein Funkte Enttäuschung in den Worten meine Tante. Wenn sie mich dazu anhalten musste, dankbar zu sein, bedeutete das nicht, dass ich versagt hatte, dass ich zu gierig war, dass ich zu selbstverständlich meinen Platz beansprucht hatte? Hätte ich nicht demütiger sein müssen? War nicht jeder Ratschlag ein versteckter Tadel?

So säte meine Tante den Samen der Schuld in mir.

 

„Ich glaube, es ist nicht wichtig, was mit meinen Eltern ist“, sage ich zu Vincent, „Was haben ihre Verfehlungen schon mit meinen zu tun? Ich kann es nicht leiden, wenn Menschen ihre Fehler damit erklären, dass andere gemein zu ihnen gewesen sind, dass jemand sie provoziert hat. Damit behaupten sie ja, dass sie nicht ihr eigener Herr wären und das ist eine Beleidigung für einen jeden von uns. Es ist völlig egal, was mit meinen Eltern ist. Sie müssen mit ihren eigenen Problemen klarkommen, so wie ich für meine Schulden gerade stehen muss. Uns kann niemand helfen, Vincent. Wir leben in einer Blase und darin sind wir ganz allein. Aber jeder kann uns sehen und jeder kann über uns urteilen. Wir können höchstens filtern, was wir an uns heranlassen wollen und was abprallt. Die Schwierigkeit im Leben besteht darin, dass wir ehrlich zu uns selbst sein müssen. Denn es prallt längst nicht alles ab, von dem wir uns wünschen, es vergessen zu können. Meine Eltern sind das kleinste Problem in meiner Geschichte. Mein Leben wäre nicht anders verlaufen, ohne sie.“

„Das ist eine Lüge“, behauptet Vincent und ich vermute, dass er es an meinen Augen abliest, „Dieser Blick ist so starr wie der eines Krokodils. Wo starrst du hin, Liz? Ist etwas hinter mir oder traust du dich nicht, mich anzusehen?“

„Ich habe an jemanden gedacht“, sage ich.

„Jemanden, der dir wichtig ist?“

„Nein“, sage ich, „Wenn Leute anfangen, einem wichtig zu werden, kann man sie irgendwann nicht mehr verlassen und dann hängt man fest.“

„Ist es nicht schön, einen Halt zu haben, etwas oder jemanden, auf den man sich verlassen kann?“

„Man kann sich auf nichts und niemanden verlassen. Man sollte seine Zeit nicht mit Vertrauen verschwenden, nur um die Enttäuschung hinauszuzögern.“

„Wie verbittert du bist“, sagt Vincent hat damit ein Wort erwischt, auf das ich allergisch reagiere.

„Verbittert?“, spucke ich aus, „Nennst du auch deine zynischen Freunde, die Graffitis auf Stadtschilder schreiben, „verbittert“? Oder ist das nur, weil ich eine Frau bin, die gefälligst süß und gesellig sein soll? Du solltest dir mal zuhören! Du lebst in einer Bruchbude in der Wüste und willst mir etwas darüber erzählen, wie viel besser das Leben in der Gesellschaft einer liebenden Familie und eines großen Freundeskreises ist.“

„Ich will dir lediglich anraten, nicht meine Fehler zu wiederholen, Liz.“

„Und woher soll ich wissen, welche Fehler das gewesen sein sollen? Ich kenne dich seit kaum einer Stunde!“

„Du sagst, dein Leben wäre nicht anders verlaufen unter anderen Voraussetzungen“, wiederholt Vincent meine idiotische Aussage, „Würde das nicht bedeuten, dass keine deiner Entscheidungen wirklich etwas bedeutet? Sie hätten keine Vergangenheit, keine Begründung und keine Zukunft, denn natürlich würdest dann auch du nichts und niemanden beeinflussen. Das wünschst du dir vielleicht, aber so einfach ist die Welt dann doch nicht gestickt. Und du weißt es, Liz. Du weißt es. Die Frage ist nur, ob du deswegen Groll, Scham, Neid oder Wehmut empfindest.“

„Gleichgültigkeit“, sage ich.

„Niemand empfindet Gleichgültigkeit“, meint Vincent, „Gleichgültigkeit ist ein Nicht-empfinden und du siehst mir nicht aus, wie eine Nicht-Empfinderin.“

„Na schön, dann Wut“, sage ich.

„Wut auf wen?“

„Wut ganz allgemein. Gegen alles und jeden.“

„Also ist es eher Verwirrung, ein Beißreflex?“

„Es ist zumindest nicht deine Angelegenheit. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Ich bin niemandem etwas schuldig.“

„An wen hast du gedacht?“, fragt Vincent.

„An niemand bestimmten“, sage ich und versuche das Thema zu wechseln: „Was ist mit dir, wie bist du hier her gekommen?“

„Menschen wie ich landen unweigerlich an Orten wie diesen“, sagt Vincent, „Wir können nichts dagegen tun. So wie ungetaufte Kinder im Limbus landen. Endstation.“

„Du glaubst also, keine Entscheidungsfreiheit gehabt zu haben? Machst du es dir da nicht auch ein wenig einfach?“, frage ich.

„Es gibt immer Opfer und Bereiter der Umstände“, sagt Vincent.

Ich verziehe das Gesicht zu einem gequälten Grinsen, aber er kommt mir zuvor: „Die Unschärfe ist, was das Leben so unvorhersehbar macht. Anders würden wir es gar nicht aushalten.“

Ich warte.

Vincent seufzt: „Entweder das hier oder die Gosse. Zumindest diese Wahl hat man.“

„Das hier, die Gosse, das Gefängnis oder den Tod“, erwidere ich.

Vincent lächelt milde: „Wie privilegiert du bist. Gleich vier Möglichkeiten.“

 

Ich stehe vom Tisch auf, öffne die Tür und trete nach draußen, wo ein schummriger Sonnenaufgang mich daran erinnert, dass ich unter Zeitdruck stehe. Ich sollte eigentlich nicht mehr zurechnungsfähig sein. Das Frühstück hat mich weit zurück geworfen in meiner Planung.

Ich schwanke zu meinem Wagen, kicke dabei die erste Wodka-Flasche lustlos aus dem Weg und suche auf dem Beifahrersitz nach der zweiten Flasche. Ich öffne sie und nehme einen Schluck. Wenn man sich dran gewöhnt hat, kann man das Zeug trinken wie Wasser. Einer unserer Nachbarn hatte es so weit gebracht und ich muss sagen, ich zolle ihm dafür einen gewissen Respekt. Natürlich ist er eines Tages den Alkoholikertod gestorben. Innerlich verblutet, weil in seinem Hals irgendeine Arterie mürbe geworden war. Kein schöner Anblick. Kein schöner Morgen.

Ich setze mich wieder auf die Motorhaube und beobachte, wie die letzten Sterne im langsam herauf kriechenden Licht ertrinken. Jeden Morgen die selbe Tragödie.

Plötzlich habe ich Lust auf Musik. Sie vertreibt das unangenehme Gefühl, das die Stille hinterlässt. Ich springe herunter und stelle das Autoradio an. Kein Empfang. Nichts. Nirgendwo. Auf keiner Frequenz. Weißes Rauschen.

Ich erinnere mich an ein Lied, das ich hin und wieder auf den Collegeradio-Sendern der Westküste gehört habe. Man konnte den Text kaum verstehen, weil der Sänger furchtbar nuschelte. Aber ich komme aus den Südstaaten, meine Ohren sind Elend gewohnt. So weit ich es verstehen konnte, handelte der Song von einem Typen, der mitten in der Nacht in Anzug und Krawatte hinaus in seinen Garten ging, um dort die Hecken zu schneiden.

Warum in Anzug und Krawatte? Um den Pflanzen respektvoll zu begegnen vielleicht.

Warum mitten in der Nacht? Weil er glaubte, dass es den Pflanzen weniger Schmerzen bereitete, wenn er sie stutzte, während sie schliefen?

Warum Gärtnern? Weil es etwas Beruhigendes hat? Als ich noch an der Küste lebte, hegten alle Leute, die ich dort kannte, eine gewisse Sehnsucht nach dem ruhigen Landleben. Nicht so sehr nach den verbohrten Landbewohnern, aber nach der Einfachheit des Lebens, das diese führen. Und mit Einfachheit meinten sie Überzeugung. Die Überzeugung, die durch Traditionen genährt wird, die Sicherheit, dass das was man tut, das Richtige ist, weil schließlich auch schon die Urgroßeltern gut mit dieser Methode und jener Ideologie gefahren waren.

In gewisser Hinsicht ist es vielleicht doch die Sehnsucht nach Verbohrtheit…

Jedenfalls pflegten sie alle mit peinlicher Akribie die Blumenkübel auf ihren Balkonen und an ihren Fensterbänken. Um die Stadt etwas bunter zu gestalten, sagten sie, aber in Wirklichkeit ging es darum, der Sinnlosigkeit ihres Daseins etwas entgegenzusetzen, etwas Lebendiges, etwas Unschuldiges. Eine Blume, gegen den Dreck der Gesellschaft. Und wenn sie bei Nacht abgekämpft und erschöpft nach Hause kamen, enttäuscht von ihrem Leben und dem Glück das sie im Stich ließ, rochen sie an einer Blüte, die sie gezüchtet hatten und redeten sich ein, dass an ihren Händen doch nicht nur Pech klebte, sondern dass sie trotz allem immer noch in der Lage waren, etwas zu erschaffen, dass Gott ihnen seine Schöpfung anvertraut hatte.

Ich kann gar nicht zählen, wie viele Topfpflanzen ich im Laufe meines Lebens geschenkt bekommen und beim Eingehen beobachtet habe. Auf euch, ihr verfaulten Blumen! Und auf euch, ihr heuchelnden Stadtratten, mit eurer aufgesetzten Progressivität!

 

„Na, hast du dich abreagiert?“, fragt Vincent, als er nach draußen kommt.

„Ich muss mich nicht abreagieren“, sage ich, „Ich habe es überhaupt satt, zu reagieren.“

„An wen hast du vorhin gedacht?“, fragt er.

„An niemanden.“

„Jemanden aus deiner Familie? Jemanden, den du vermisst?“

„Nein und nein. An einen Jungen namens Jeremy, den ich mal gekannt habe.“

„Ein Freund von dir?“

„Oh, ganz sicher nicht“, ich muss lachen, damit ich nicht in Tränen ausbreche. Der Alkohol macht mich sentimental, aber das werde ich aushalten müssen.

„Dann jemand, der dir übel mitgespielt hat?“, fragt Vincent.

Ich sage nichts. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, ohne dass ich in einem schlechten Licht dastehe: „Jeremy war zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„So? Und wo und wann soll das gewesen sein?“

„Er stand mir sozusagen im Weg“, sage ich.

Vincent legt einen Arm um mich, obwohl ich stinke wie ein Iltis. Aber es ist ihm egal. Er meint es wirklich ernst. Ein Ort, der Trost spenden soll. Für alle, die vom Leben gebeutelt wurden. Eigentlich sollte Jeremy hier sein und nicht ich.

Billy

 

Das Problem ist, dass ich mir selbst mehr leid tue, als mir Jeremy leid tut. Ich gebe ihm die Schuld dafür, dass ich mich schuldig fühle.

„Ein bisschen hast du mich an ihn erinnert“, sage ich, „Ich weiß nicht, wo Jeremy jetzt ist, aber er könnte an einem Ort wie diesem sein.“

„Freiwillig oder unfreiwillig?“

„Ich glaube nicht, dass man diese Wörter noch definieren kann“, sage ich.

„Glaubst du denn, er wäre hier glücklich?“

„Wer wäre hier schon glücklich? Entschuldige, wenn dich das beleidigt.“

„Lass das“, sagt Vincent, „Bitte um Entschuldigung, wenn du es wirklich so meinst, nicht wenn du damit nur Streit vermeiden willst!“

Ich nicke, um einen Streit zu vermeiden.

„Komm mit, ich will dich jemandem vorstellen“, sagt Vincent und zerrt mich von meinem Wagen.

„Ich glaube nicht, dass das notwendig sein wird“, erwidere ich, „Ich weiß nicht, ob ich hier bleiben will. Eigentlich bin ich schon viel zu lange hier. Ich sollte schon längst weg sein.“

Ich halte ihm die Flasche unter die Nase und mit einem geschickten Griff entwindet er sie meiner Hand und entleert den Inhalt vor meine Füße.

„He!“, rufe ich entsetzt.

„Ich habe gesagt, du sollst mitkommen! Und zwar auf deinen eigenen zwei Beinen!“

Also folge ich ihm und trotte zu einer der weniger verfallenen Hausruinen entlang der Straße, an deren Anfang Vincents Hütte steht.

„Billy wird dir gefallen. Aber sag ihm nicht, dass du Alkohol dabei hast. Es tut ihm nicht gut zu wissen, dass Alkohol in der Nähe ist, wenn du weißt, was ich meine.“

„Schon gut.“

Er appelliert an meine gute Erziehung und ich frage mich, was von meinem Verhalten auf Erziehung und was auf gesunden Menschenverstand zurückzuführen ist. Würde ich einem trockenen Alkoholiker ein Bier unter die Nase halten? Sicher nicht. Obwohl es mir nicht schaden würde. Aber es gehört sich einfach nicht, jemand anderen ins Unglück zu stürzen. Wenn man selbst nichts davon hat…

„Was?“, fragt Vincent.

„Nichts“, sage ich schnell.

„Ich gehe ihn jeden Morgen besuchen, weil er nur noch schlecht aus dem Haus kommt. Er freut sich immer über ein bisschen Gesellschaft. Wir kümmern uns hier alle umeinander und um Billy muss man sich besonders kümmern.“

„Aha“, sage ich.

„Er hat es nicht leicht gehabt. Als er hier ankam, war er schon halbtot. Wir wissen nicht, wie viel Zeit er noch hat, aber wir tun unser Bestes. Er hat kein schönes Leben gehabt, weißt du. Es gibt diese Menschen, die einfach durch’s Raster fallen, weil sie nirgendwo dazu gehören. Aber jetzt gehört er zu uns.“ Es hört sich an wie eine Drohung, als Vincent „Und du bald auch!“ hinzufügt.

„Ich weiß nicht, ob ich die Richtige bin, um Billy Gesellschaft zu leisten“, sage ich.

„Ach Blödsinn! Du bist perfekt! Du bist der lebende Beweis dafür, dass man auch willentlich und wissentlich verloren gehen und es mit Würde und Überzeugung zustande bringen kann, vor die Hunde zu gehen.“

„Na, herzlichen Dank!“, sage ich.

„Gern geschehen.“

 

Vincent kann die Tür von Billys Haus einfach öffnen. Sie ist nicht abgeschlossen. Jeder hätte hinein gehen und den armen Kerl ausrauben können, wo er doch angeblich so krank und hilflos sein soll.

Das Haus hat nur einen bewohnbaren Raum, scheint es. Dieser ist klein, eng, dunkel und zugestellt mit Krempel. Auf dem Boden liegt eine Matratze und darauf eine verkrüppelte, fast mumifizierte Gestalt. Ich weiß, dass sie nicht tot ist, denn die zittert, wie ein Katzenjunges, das zu lange von seiner Mutter getrennt war und nun langsam aber sicher zu Grunde gehen muss.

„Guten Morgen“, sagt Billy.

Und „Guten Morgen“, erwidert Vincent. Plötzlich wirkt er verantwortungsvoll und vertrauenswürdig. Billy dagegen ist das erbärmlichste Häufchen Mensch, das ich je zu Gesicht bekommen habe.

Es überkommt mich. Der Alkohol und die stickige Luft, dieser Anblick und der Gestank. Ich stürze nach draußen und übergebe mich.

Drinnen spricht Vincent ganz ruhig mit seinem Freund. Er stellt mich vor: „Das ist Liz. Sie ist neu. Ich führe sie herum. Sie ist gekommen, um dir Hallo zu sagen.“

„Frag sie, ob sie vielleicht etwas zu trinken will“, höre ich eine röchelnde Stimme. Das war zu viel für das Frühstück in meinem Magen.

„Ich hätte gerne etwas Wasser“, sage ich höflich, als ich wieder hineinkommen kann. Ich reiße mich zusammen im Angesicht dieses armen Mannes. Er hat es verdient, dass man ihm ein gutes Beispiel ist. Er hat es verdient, dass man ein gutes Bild abgibt, obwohl sich vor meinem inneren Auge alles dreht.

Vincent holt das Wasser. Ich trinke es und es schmeckt faulig, aber ich würge es herunter.

„Willst du dich nicht setzen?“, fragt mich Billy.

Ich sehe mich um. Es gibt weder Stuhl, noch Sessel oder Couch in dieser Rumpelkammer. Also setze ich mich auf den Boden. Vincent gesellt sich hinzu.

„Erzähl mir etwas von dir?“, bittet Billy.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, sage ich.

 

Jeremy war ein ruhiger Junge. Ich sage „Junge“, weil ich ihn mir nie als Mann habe vorstellen können. Er muss Mitte 20 gewesen sein oder noch älter, aber für mich war er ein zu groß geratenes Kind. Jedenfalls kein richtiger Mann und ein Anlass für mich, darüber nachzudenken, was in meiner Vorstellung denn eigentlich ein Mann sein sollte.

Wie seltsam es ist, über vergangene Angelegenheiten nachzudenken, obwohl sie längst abgeschlossen sind. So fühlt es sich wahrscheinlich an, wenn die Rolling Stones ihre ersten Platten wieder hören. Alles wirkt unendlich weit weg, wie aus einer anderen Welt und die Protagonisten sind andere – nicht man selbst. Vielleicht kann man sich kaum noch entsinnen. Manche Details hielt man für so unnötig, dass man sie vergessen hat. Was würde man heute dafür geben, sich erinnern zu können? Wir gehen viel zu schludrig um mit unserem Erleben. Selbst wenn wir es aufschreiben, wenn wir Fotos machen oder Filme drehen, so reicht es uns, die Dinge abzuspeichern, verarbeitet sind sie deswegen noch lange nicht.

Wenn man zum Beispiel 25 ist und plötzlich und unerwartet stirbt ein enger Freund. Man trauert, aber dann geht das eigene Leben weiter und irgendwann ist man 65 Jahre und ein völlig anderer Mensch als 40 Jahre zuvor. Wie erinnert man da an die alten Geschichten? Peinlich berührt oder wehmütig? Fragt man sich, in welche Richtung sich die Freundschaft entwickelt hätte und was für ein Leben der Freund gehabt haben können? Oder blickt man zurück auf einen festgefrorenen Moment, dem man entwachsen ist und der einem fremd geworden ist wie der verlorene Freund. Kann Trauer verkrusten?

Wir gehen weiter, machen neue Alben, schreiben neue Gedichte über neue Erlebnisse, drehen neue Filme, träumen neue Träume und vergessen, dass der Mann, der damals mitten in der Nacht in Anzug und Krawatte gegärtnert hat, heute vielleicht in der Gosse liegt, verrückt geworden, verlassen und in den Dreck geworfen. All die kleinen Schnipsel, die wir wahrnehmen, gehören zu ihren eigenen großen Geschichten und auch wenn wir sie abgelegt haben, endeten sie für andere vielleicht niemals. Oder sie enden, während unsere einfach weiter geht. Leben verlaufen nicht parallel. Sie nähern sich an, kreuzen sich und laufen dann wieder auseinander und irgendwann enden sie.

Für mich hat Jeremys Geschichte geendet, ohne dass es für mich schmerzhaft gewesen ist. Wie er sich dabei gefühlt hat, interessierte mich nicht. Ich war grausam. Aber ich legte es ab, heftete es ein und hörte auf, darüber nachzudenken.

Er war zur falschen Zeit am falschen Ort und ich hatte furchtbare Angst, meinen Job zu verlieren, weil ich mich selbst als überflüssig empfand. Eine faule Entschuldigung, nichts weiter. Was ist schon eine Entschuldigung? Kann man uns je der Schuld entheben? Wer kann es? Wer sollte es? Das Opfer? Ein unabhängiges Gericht? Man sich selbst?

Jeremy war gut. Gescheit, witzig, kompetent, kreativ. Er hatte gute Ideen. Er war sympathisch. Er brachte die Kollegen zum Lachen und schaffte es Konflikten aus dem Weg zu gehen. Er war beliebt und man sagte ihm eine glänzende Karriere voraus.

Ich dagegen hatte Probleme. Meine Auffassungsgabe war nicht so schnell, mein Humor zu sperrig, mein Auftreten zu hölzern. Ich war blass und wenig charismatisch. Ich hatte Angst, den ich vergeblich als Respekt zu verkaufen versuchte. Das waren die ersten Wochen meines ersten Anstellungsverhältnisses in einer großen Anwaltskanzlei. Und ich fürchtete, meine Karriere würde nur von kurzer Dauer sein, war doch Jeremy drauf und dran mich in allen Belangen zu überflügeln.

Er hat mir nie etwas getan, außer dass er meine Existenz bedrohte. Und das musste er tun, weil es die Geschäftsordnung verlangte. Es gab keine Koexistenz der Charaktere. Es gab nur das Überleben des Stärkeren. Mein einziger Vorteil bestand darin, dass ich die Regeln dieses Spiels verstanden hatte, während er drauf und dran war, zu gewinnen, ohne zu wissen warum. Er hatte Glück und ich wollte mein Leben nicht von seinem Glück abhängig machen.

Ich folgte ihm, um ihn kennen zu lernen, um ihn auf eine Weise kennen zu lernen, wie er sich mir nie offenbart hätte. Ich wollte seine peinlichsten Geheimnisse erfahren. Ich wollte wissen, mit wem er verkehrte, wo er sich in seiner Freizeit herumtrieb, welche Beziehungen er pflegte, welchen Hobbies er nachging.

Und ich wurde fündig. Ich wurde belohnt für meine Hartnäckigkeit, für meine Kaltschnäuzigkeit und für meinen unbedingten Willen, der aus der Verzweiflung geboren wurde. Wie weit man zu gehen bereit ist, wenn man eigentlich nur bleiben will, wo man ist… in einem gemütlichen Job, unscheinbar, aber wenigstens nicht pervers!

„Wussten Sie eigentlich, in welchen Etablissements Mr. Adams sich herumtreibt? Was sagen Sie dazu? Könnte das nicht dem Ansehen unserer Kanzlei schaden, wenn es heraus käme? Meinen Sie nicht, dass sowas ganz und gar unangemessen ist?“

In etwas so habe ich mich ausgedrückt. Natürlich bin ich nicht stolz darauf. Natürlich wusste ich, dass es falsch war. Aber…

Oh, lassen wir das. Keine Rechtfertigungen dafür. Ich habe es getan wider besseres Wissen, wider mein Gewissen, wider jeder Faser Menschlichkeit, die ich besitzen sollte.

„Stellt euch nur vor, Jeremy verkehrt in diesen schmuddeligen Lokalen. Würde mich nicht wundern, wenn er sich dort etwas eingefangen hat.“

Ich könnte zu meiner Verteidigung vorbringen, dass meine Eltern… Aber ich tue es nicht. Ich habe diese Worte ausgesprochen und ich kann sie nicht mehr zurücknehmen. In einer idealen Welt wäre mir danach die Zunge abgefault. Oder am besten schon vorher.

Gott hat den Virus gemacht, um die Sündhaften zu bestrafen.

„Könnt ihr euch das vorstellen? Jeremy mit einem Mann? Also ich habe gesehen, wie er einen aufgegabelt hat und dann…“

Ja, was hatte ich eigentlich gesehen? Und wie war es dazu gekommen, dass ich es gesehen habe? Niemand fragte danach. Sie waren alle zu sehr mit den Bilder in ihren Köpfen beschäftigt.

„Stellen Sie sich nur vor, was passiert, wenn er diese Seuche hier einschleppt!“

Ich wusste, dass ich ihn damit drankriegen würde, denn der Personalchef war Republikaner und mit Republikanern und ihren irrationalen Ängsten kannte ich mich aus. Und man muss dazu sagen, dass die Panik damals insbesondere in Kalifornien enorm war. Es gab ja noch nicht einmal einen wissenschaftlichen Namen dafür - außer „The 4H Disease“, was ausdrücken sollte, dass vor allem Haitianer, Homosexuelle, Hämophile und Heroinsüchtige daran erkrankten. Aber wie und woher, wusste niemand. Jedes Händeschütteln mit einem Verdächtigen konnte also potenziell tödlich sein. Besser also, man vermied den Kontakt.

Und damit besiegelte ich Jeremys Schicksal und seine Karriere. Ein Geheimnis, das keines mehr ist, ist eine Bürde, ist ein Urteil.

Mag sein, dass es Hipster-Gruppen und Avantgardisten gibt, die Homosexualität als etwas Normales oder gar Cooles betrachten, aber das gilt nicht für die Geschäftswelt. Wenn du hier nicht bis zur Selbstzerfleischung angepasst bist, wirst du von den Kollegen zerfleischt.

Es fängt an mit einem Kichern hinter vorgehaltener Hand, aber es wächst, es beflügelt die Phantasie und es weckt Ängste. Männer, die sich nicht mehr zur Toilette trauen. Vorgesetzte, die bei persönlichen Gesprächen die Türen offen lassen. Frauen, die gespielte Beleidigung zur Schau tragen, bis aus dem Witz irgendwann erst Gleichgültigkeit, dann Desinteresse und schließlich echte Abneigung wird. Feiern und Besprechungen, zu denen man nicht mehr eingeladen wird, Memos und Informationen, die ganz zufällig den Weg ins persönliche Postfach nicht mehr finden. Fehler, die plötzlich auffallen und ausgewalzt werden. Kunden, vor denen man deswegen bloßgestellt wird. Spitze Bemerkungen, abschätzige Blicke. Kollegen, die plötzlich verstummen, wenn man den Raum betritt.

Wer hoch steigt, wird tief fallen. Ich glaubte wirklich, Jeremy hätte all das verdient, weil er es gewagt hatte, besser zu sein als ich. Ich war skrupellos.

Ich weiß, es klingt abgedroschen, aber was mich an der Sache am meisten wurmt, ist, dass ich, obwohl ich alle Jeremys Geheimnisse kannte, von ihm selbst fast nichts wusste und bis heute nichts weiß.

 

Es ist leicht, Menschen zu verletzen, die man nicht kennt, denn nachdem man sie verletzt hat, wird man sie auch nicht mehr kennen lernen und sie verlassen ganz schnell beinahe unbemerkt wieder die eigene Wahrnehmungssphäre. Der bissige Hund findet keine Freunde, aber er wird auch selbst nicht verletzt.

Es wäre müßig, mich immerzu mit der Frage abzuquälen, wo Jeremy heute ist und was er macht. Es ist auch völlig irrelevant, denn zumindest damals wäre sein Leben ohne mich bestimmt besser und angenehmer verlaufen und allein das ist wichtig für die Bewertung meiner Tat und meines Charakters. Ich bin eine Bürde für ihn gewesen, ein Fluch, eine Folter vielleicht und das hatte der zarte, feinfühlige Junge nicht verdient.

Ich blicke zu Billy herunter, der, obwohl ich auf dem Boden sitze, immer noch weit unter mir liegt. Die einzige Bewegung, zu der er fähig scheint, ist dieses unkontrollierte Zittern, das zumindest anzeigt, dass er noch nicht tot ist. Ist es das, was passiert, wenn Menschen fallen gelassen werden? Enden sie so?

„Was ist mit ihm?", frage ich Vincent.

„Er hat zu lange mit den falschen Substanzen herumexperimentiert", sagt Vincent knapp, „Er ist auf Entzug."

„Und wenn das mich nicht umbringt, dann diese verfluchte Krankheit!", keucht Billy und zeigt ein zahnloses Grinsen, als hätte er einen Witz gemacht.

Ich weiche zurück. Krankheit? Ist er etwa ansteckend? Aber ich besinne mich eines Besseren und überwinde den Reflex. Was macht es schon, wenn ich mich anstecke. Ich werde ohnehin nicht mehr lange genug leben, um zu erfahren, wie und ob die Krankheit ausbricht, falls ich sie mir einfange. Ja, Billy sollte optimistisch sein. Er ist zumindest nicht derjenige, der hier als erster stirbt.

„Möchtest du etwas essen?", fragt Vincent Billy, aber dieser winkt ab.

„Gib lieber der jungen Frau etwas. Mir scheint, sie hat sich allem entledigt, was sie in letzter Zeit zu sich genommen hat."

Aber auch ich winke dankend ab. Mir ist immer noch flau im Magen und ich fühle mich unendlich müde uns schwach. Ich glaube nicht, dass mein Körper es noch auf die Reihe bekommt, etwas zu verdauen. Er will einfach nur seine Ruhe haben.

„Als ich hier her kam, ging es mir wie dir", erzählt Billy, „Ich dachte, das hier sei ein guter Platz zum Sterben."

Ich hinterfrage nicht, wie er darauf kommt. Er muss es mir angesehen haben. Sterbende erkennen Sterbende, so wie Schwangere andere Schwangere erkennen.

„Ich dachte, ich müsste mich nur ausreichend vergiften und dann hätte dieses ganze Elend hier ein Ende. Aber sieh mich jetzt an! Vincent lässt mich einfach nicht gehen! Er schleppt mich von Tag zu Tag. Inzwischen zögert er das Unvermeidliche so lange hinaus, dass ich fast glaube, dass es nicht mehr unvermeidlich ist."

„Du wirst sehen, Billy, eines Tages wirst du wieder ganz gesund", sagt Vincent aufmunternd „Und dann wirst du über deine makabren Sprüche lachen."

„Ach, das kann ich auch jetzt schon. Wem nichts mehr als Galgenhumor bleibt, der lacht über fast alles ehrlich und aufrichtig. Aber ich kann dich gut verstehen, junge Dame. Es gibt Menschen, die ertragen nicht, was die Welt ihnen zustoßen lässt. Du kennst sicher dieses Sprichwort, das besagt, dass Gott uns nur das zumuten, was wir auch überstehen können. Du und ich, wir beide sind so stark, dass er uns sogar den Tod zumutet. Wir sollten stolz darauf sein. Die Menschheit haben wir nicht überlebt, aber Gottes Wille umgesetzt."

 

„Haben wir das? Werden wir das?", frage ich, „Was ist Gottes Wille?"

„Dass wir gut zueinander sind", sagt Billy, „Und uns nicht gegenseitig das Leben schwer machen. Ich höre auf Vincent das Leben schwer zu machen und du hörst auf, dir selbst das Leben schwer zu machen. Hört sich für mich an, wie ein sinnvoller Lebensentwurf."

Ich glaube, er redet im Delirium. Oder ich rede im Delirium.

„Ich möchte nicht nach dem Willen eines Gottes handeln", sage ich.

„Meinst du, du hast eine Wahl?", fragt Billy.

„Ich schätze schon. Ich kann mich entscheiden, ob ich Gutes oder Böses tue. Ich habe wenig Einfluss auf das, was daraus entsteht, ob das, was ich gut gemeint habe, am Ende auch Gutes bewirkt, aber ich habe die Wahl zwischen einer guten Absicht und einer schlechten."

„Du hast die Wahl zwischen Gottes Willen und dem des Teufels."

„Ich glaube weder an den einen, noch an den anderen", sage ich trotzig.

„Ob etwas existiert oder nicht, ist nicht an den Glauben gebunden", meint Billy, „Die Frage ist, wer hat den Weg geebnet, dem du folgst?"

„Aber was ist mit der Schuld?", frage ich, „Wer trägt sie? Der, der den Weg ebnet, oder der, der ihn geht?"

„Derjenige, der die Schuld für sich annimmt, nehme ich an", sagt Billy, „der muss sie tragen."

„Das heißt, ich könnte sie auch zurückweisen?"

„Tun das Leute nicht ständig? Auf andere verweisen, oder auf die Umstände? Drehen sie nicht ständig Opfer- und Täterschaft um, damit sie nur ja unbehelligt aus ihren Prozessen entlassen werden? Ist die Wahrheit nicht ohnehin unscharf?"

„Nach dieser Theorie wäre es dumm, Reue zu empfinden", sage ich.

„Ist es das nicht? Leben wir nicht in einer Welt, in der Reue mit Zeitverschwendung gleichgesetzt wird? Und Zeit, meine Liebe, ist Geld. Was ist schon Schuld?", fragt Billy, „Und was ist Strafe? Es werden so viele Menschen bestraft, die nichts Schlimmes getan haben. Wer kann da dieses Konzept noch ernst nehmen. Du musst dich von dem Gedanken verabschieden, es gäbe so etwas wie Gerechtigkeit. Schlimmer noch, dem Gedanken, Gerechtigkeit könnte hergestellt werden. Sieh mich an, ich habe zu viel gewollt, da wurde mir alles genommen. Zynisch, nicht wahr?"

„Ich mag keine Passivkonstruktionen", sage ich, „Sie lässt den Urheber einer Begebenheit im Unklaren. Es ist nicht mal eine geschickte Formulierung. Es ist plump. Wer hat dir alles genommen? Und wo ist es jetzt? Wer hat es jetzt?"

„Was? Mein Leben und meine Gesundheit?", fragte Billy und zeigt mir wieder sein Zahnfleischgrinsen, „Niemand hat es. Es ist verpufft. Niemand hielt es je in der Hand und sagte, „Jetzt zerquetsche ich alles, was ihm lieb und teuer ist!" So funktioniert die Welt nicht. Meinst du nicht, es ist ein wenig eingebildet, zu glauben, das Unglück anderer voll und ganz alleine zu verantworten? Du bist nicht Jesus und selbst der hat es ein wenig übertrieben mit seiner Vergebung der Sünden. Das ist zu einfach, Schätzchen, und es ist zu schwer für einen einzelnen Menschen."

„Das ist nett von dir", stammele ich hervor, aber ich kann ihm nicht glauben.

Aber Billy ist sehr feinfühlig, er merkt sofort, dass es mir unangenehm ist, wenn er versucht, mich zu trösten. Deshalb fügt er hinzu: „Manchmal sind wir alle Opfer unserer Triebe. Sie sind nichts Anderes als Süchte. Wir fürchten uns vor dem Verlust von Annehmlichkeiten, davor allein in der Kälte zu sein. Die Angst lässt uns Dinge tun, die wir eigentlich nicht wollen. Manche von uns glauben, dass sie rational handeln und deshalb besonders gut oder besonders böse sind, aber das stimmt nicht. Wir alle handeln aus Angst vor Verlust und aus Gier nach Sicherheit und Wohlbefinden. Niemand ist nur gut oder nur schlecht, Mädchen, und keine Handlung ist nur selbstlos oder nur selbstsüchtig. Niedertracht hat eine Vorgeschichte, die man nicht ignorieren darf. Urteile nicht vorschnell über dich. Halte dich nicht für mehr als für einen Menschen. Akzeptiere deine Fehler und geh weiter. Manchmal muss man Dinge zurück lassen. Manchmal muss man Geschichten vergessen. Aufzuhören, weil man sich davor fürchtet, besser werden oder etwas gutmachen zu müssen, ist feige. Sieh mich an. Und diesmal wirklich. Glaubst du, ich habe im Leben alles richtig gemacht? Glaubst du, ich habe im Leben alles falsch gemacht? Glaubst du, ich hätte nichts anders machen können? Und glaubst du, dass ich mit meinem heutigen Wissen nichts anders machen würde? Ich bin kein Vorbild. Aber wer ist das schon? Jeder hat sein Päckchen zu tragen, aber wenn du hin und wieder etwas davon abwirfst, wird dich dafür niemand verurteilen, so lange du nur menschlich bleibst. Was manche Leute als Stärke missdeuten, ist in Wirklichkeit die Unfähigkeit, vor sich selbst zuzugeben, dass sie selbst nicht wissen, wo es lang geht, oder dass sie Annahmen als gegeben voraussetzen, die noch zu diskutieren sind. Sie versuchen mit Arroganz ihre Angst zu überspielen und sammeln so - ganz Nebenbei - eine Gefolgschaft, die darauf hereinfällt, die ihre eigenen Sorgen, Ängste und Nöte glauben, abwälzen zu können. Und ab diesem Punkt wird es schwierig. Wie soll man das Übel, das durch eine solche Dynamik unweigerlich entsteht, be- und verurteilen? Kommt es darauf an, dass die Unfähigkeit auf Nicht-erkennen oder Nicht-erkennen-wollen beruht? Wissentlicher Selbstbetrug gegen unwissentlichen Selbstbetrug. Kann man Opfer seiner eigenen Engstirnigkeit werden?"

Vincent schweigt und ich schlucke. Der Morgen bringt nun nicht nur das Licht, sondern auch die Hitze zurück. Das Zimmer hat sich unnatürlich schnell aufgeheizt und ich habe das Gefühl, dass kaum noch Sauerstoff hier drin ist. Mir wird schon wieder übel und ich stürze erneut nach draußen. Dort falle ich vorn über auf den steinigen Boden und schlage mir das Knie ab. Ich schluchze hemmungslos. Nicht, weil etwas von mir abgefallen ist, sondern weil etwas von dem ich geglaubt habe, dass es da ist, etwas, an dem ich mich festgehalten habe, etwas von dem ich geglaubt habe, das es mich definiert, nie da war. Es war mehr als Schuld, die mich belastet hat, es war die Überzeugung meiner Niedertracht gewesen, die mich aufrecht erhalten hat. Bis jetzt. Jetzt bin ich mir unsicher darüber, was ich bin. Erleichtert? Verwirrt.

Ich bin süchtig nach Sicherheit und es ist mir dabei egal, ob es die Sicherheit eines friedlichen Umfeldes oder die Sicherheit meiner Boshaftigkeit ist. Ich brauche diese Wahrheiten, um zu wissen, was ich tun muss, wohin ich gehen muss. Ich brauche nicht Trost oder Psychologie, ich brauche etwas, das ich wissen kann, etwas, das nicht wegdiskutiert wird von einem halbvermoderten Heroinjunkie.

Was ist das für ein Ort? Was sind das für Menschen? Wohin wollen sie mich treiben? In den Wahnsinn? Oder zurück ins Leben? Trost ist verlogen, der minderwertige Kitt, der die Reste einer Ruine zusammenhält, die längst hätte zusammenstürzen müssen. Er zögert das Unvermeidliche hinaus, sowie Vincent, der einen Todgeweihten quält, indem er ihn durch seine Pflege am Leben erhält. Ich möchte nicht so enden. Ich brauche meinen Alkohol. Zum Teufel mit dem Wasser, dieser Betrügerflüssigkeit, die einem vorgaukelt, es gäbe so etwas wie „Wohlbefinden" und „Gesundheit". Der Normalzustand des Menschen ist „Sterbend", nicht „Lebend".

 

Ich laufe zurück zu meinem alten, zuverlässigen Ford, schnappe mir die dritte Wodka-Flasche und hänge sie mir an den Hals. Es brennt, aber es tut gut. Es dauert eine Weile, bis der Schwindel einsetzt und ich mich auf den Boden setzen muss. Ich warte. Ich sitze und warte. Allein. So wie ich mir das hier vorgestellt habe. Niemand hat mir etwas zu sagen. Niemand muss mich darüber belehren, was ich zu tun, zu lassen und zu empfinden habe!

Ich sitze und warte und trinke und starre in die Ferne. Die Schotterstraße liegt vor mir in all ihrer Trostlosigkeit. Der Trost ist hier. Da draußen ist die Verheerung. Was davon brauche ich? Was davon verdiene ich?

Zeit vergeht. Die Schatten werden erst kürzer, dann länger. Die Flasche leert sich. Ich liege im Sand und wimmere.

„Ich war nie glücklich in meinem Job“, sage ich zu Vincent, „Es war kein schlechter Beruf, das nicht. Aber ich war nicht glücklich, mit dem, was von mir erwartet wurde. Verstehst du? Ich hatte ein gutes Ansehen, aber ich mochte mich selbst nicht, weil ich wusste, wie es hinter diesem Ansehen aussieht, was wirklich abgeht, wie viel Dreck sich hinter einem blütenweißen Hemd und einer Krawatte verbergen kann. Ich habe jedem Lächeln misstraut.“

„Schon gut“, sagt Vincent, „Das ist vorbei.“

„Für mich, ja. Aber für die anderen geht es immer weiter. Ich wünschte, ich hätte irgendetwas Sinnvolles tun können, aber es ging immer nur um Geld, darum, wie man noch zehn Dollar sparen und vor der Steuer verbergen konnte.“

„Wo hast du gearbeitet?“, fragt Vincent.

„In einer Rechtsanwaltskanzlei. Schwerpunkt Wirtschaftsrecht. Ich habe den ganzen Tag nur Verträge gelesen, geschrieben, umgeschrieben, ausgewertet und nach Schwachstellen untersucht.“

Vincent nickt: „Davon verstehe ich nichts.“

„Nein, niemand tut das. Niemand versteht irgendwas von diesem Quatsch. Deshalb streitet man sich ja andauernd. Jeder interpretiert die Paragraphen anders. Welchen Sinn haben solche Richtlinien, frage ich dich?“

„Sie erhalten viele Menschen in Lohn und Brot“, sagt Vincent.

„Und treiben sie in den Wahnsinn.“

„Ist es das, wovor du geflohen bist?“

„Ein bisschen“, sage ich, „Zum Teil. Weißt du, im Recht ist es anders als im echten Leben: Wenn man lügt und damit durchkommt, ist das ein Erfolg und alle sind stolz auf dich. Du bekommst eine Prämie und ein Schulterklopfen. Niemand ist dir böse, wenn du dich auf die Seite der Widerlinge stellst. Sie sehen es als Herausforderung. Ich war am Ende ganz gut darin, schmutzige Westen weiß zu argumentieren.“

„Aber dann hast du es nicht mehr ertragen“, stellt Vincent fest.

„Naja“, sage ich, „Im Grunde ist nichts gegen den Beruf des Anwalts zu sagen. Es gibt viele gute Sachen, um die man kämpfen kann. Umweltschutz zum Beispiel. Das Problem war, dass wir meist auf der anderen Seite standen.“

„Komm mit“, sagt Vincent, „Ich bringe dich auf andere Gedanken. Du musst Eugene und Alfred kennen lernen, bevor die Sonne untergeht. Und ich brauche noch etwas für uns beide zu Essen für heute Abend.“

Eugene

 

Eugene lebt in einem ehemaligen Hotel, von dem nur noch wenig mehr als die Fassade steht. Über die Stellen, an denen das Dach fehlt, hat er Planen gespannt. Darunter steht die Hitze und der Wind weht Sand herein.

Vincent begrüßt, den kleinen, nagetierhaften Mann mit Handschlag. Eugene geht etwas gebeugt, als verspüre er jederzeit das Bedürfnis, sich unterwerfen zu müssen. Der geborene Omega-Wolf.

Es gibt diese Menschen, bei denen man nicht erklären kann, wieso man eine Abneigung gegen sie empfindet. Sie sind weder gefährlich, noch gehen sie einem auf die Nerven und dennoch löst ihre Anwesenheit Unbehagen aus. Eugene ist so ein Mensch. Seine offensiv zur Schau gestellte Schwäche, bereitete mir Gänsehaut. Dieser Mann bedeutet Scherereien, undankbare Scherereien.

Seine Begrüßung ist servil, beinahe unterwürfig, als wüsste er, dass er in der Rangordnung hinter mir kommt. Seine natürliche Position ist die Hintere. Ängstlich und scheu um die Ecke lugend, niemals ein Wort sagend, wenn er nicht angesprochen wird. Kurz: Er ekelt mich an.

„Herzlich Willkommen", sagt er und ich murmele etwas, das wie ein Dankeschön klingen soll, sich aber wohl eher nach „Lass mich bloß in Frieden!" anhört.

„Das ist nicht der schlechteste Ort, weißt du. Es gibt Schlimmeres."

„Aha.", sage ich, damit er merkt, dass es mich nicht interessiert und dass ich schnellstmöglich von hier weg will.

„Er kennt sich aus", sagt Vincent freundlich, um das Gespräch in Gang zu halten.

„Oh ja, das stimmt", sagt Eugene, „Dieses Land ist voller Möglichkeiten, aber es kann auch grausam sein."

„Manche Menschen sind eben nicht für Möglichkeiten geschaffen", sage ich mürrisch.

„Und manche Möglichkeiten sind nicht für alle Menschen geschaffen", erwidert Eugene und lächelt, „Aber was nutzt es, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Was hätte sein können, ist das, was nicht ist. Und das, was nicht ist, ist nicht wert, darüber zu spekulieren."

„Gesunde Einstellung", sage ich.

„Eugene ist noch nicht lange hier, aber er hat sich schon gut eingelebt", sagt Vincent, „Als er hier ankam, glaubte er auch, sein Leben sei zu Ende."

Langsam zweifele ich daran, hier meinen Plan umsetzen zu können. Offensichtlich setzt Vincent alles daran, die Leute hier von ihren Vorhaben abzuhalten. Warum? Um Gesellschaft zu haben? Wer von uns beiden ist jetzt bitte grausam?

„Das war es auch", sagt Eugene, „Es war zu Ende, sodass ich hier neu beginnen konnte. Ich bin ein völlig neuer Mensch."

„Wird er die Stadt je wieder verlassen können?", frage ich Vincent so leise, dass Eugene es nicht verstehen kann.

„Nein, aber das muss er auch nicht. Er will es auch nicht", flüstert Vincent zurück. Lauter sagt er: „Wir sind ein Asyl für alle Gestrandeten und bieten Hilfe für alle, die glauben, keine Hilfe zu benötigen oder in Anspruch nehmen zu dürfen."

„Ist das euer Wahlspruch?", frage ich, „Ist das hier so eine Art betreutes Wohnen für Gescheiterte?"

Plötzlich fühle ich mich allem hier sehr fremd. Ich bin falsch hier, denn ich bin nicht gescheitert, ich habe lediglich mein Schicksal selbst in die Hand genommen. Wer immer behauptet, Selbstmord sei nur ein Hilferuf, hat keine Ahnung. Da mag der Wunsch der Vater des Gedanken sein. Menschen wie Vincent glauben, labile Menschen führen zu können und damit etwas Gutes zu tun. Aber das tun sie nicht. Sie entheben ihre Schützlinge ihrer Entscheidungsfreiheit und versetzen sie in einen Zustand der Abhängigkeit. Vincent gefällt sich in der Rolle des Kümmerers, das fällt mir schon auf, seit ich ihn heute Morgen getroffen habe. Aber ich bin nicht wie Eugene und lasse mir das gefallen. Ich will nicht in die Rolle eines Kindes zurückgeworfen werden.

Die Kindheit ist für mich keine Zeit der Sorglosigkeit und Unbeschwertheit gewesen und ich glaube, dass das gut so war. Heute hänge ich diesen Trugbildern nicht nach, wünsche mir nicht, noch mal an den Weihnachtsmann glauben zu können. Kinder aus intakten Familien neigen dazu, behäbig und satt zu sein. Sie neigen zu einer Anspruchhaltung und zu Enttäuschung. Ihnen fehlt der klare, messerscharfe, analytische Blick des Zynikers.

„Es ist ein Platz für die, die keinen Platz mehr haben", sagt Eugene, „Auch Menschen wie wir, haben ein Recht auf Existenz."

Aber doch bitte nicht in meinem Blickfeld, denke ich und beiße mir auf die Zunge. Dieser Mann macht mich aggressiv. Er ist ein Opfer. Von der Evolution in jeder Hinsicht benachteiligt. Geistig und körperlich.

Ich habe Männer wie ihn schon öfter gesehen. Es ist ihnen nicht peinlich, in der Öffentlichkeit zu weinen. Sie geraten ständig an irgendwelche persönlichen Grenzen, brauchen ständig Hilfe, sind überfordert mit ihrem ganzen Leben. Eigentlich müssten sie einem leidtun, aber Eugene hier widert mich einfach nur an.

Ich sage: „Ich gehöre nicht hier her. Ich bin kein Mensch wie du!"

„Sind Sie also eine Außerirdische?", fragte Eugene und glaubt, einen Scherz gemacht zu haben. Außer Vincent lacht niemand.

„Nein, ich bin nur nicht so...", ich will nicht „erbärmlich" sagen, sage es aber dann doch. Eugene ist es bestimmt gewohnt, was soll es also?

„Wenn es nicht deine Erbärmlichkeit ist, was führt dich denn sonst hier her?", fragt Eugene und ich glaube, mehr Mut hat er in seinem ganzen Leben nicht aufgebracht. Meine Provokation hat ihn aus der Reserve gelockt und er beginnt zu schwitzen. Ihm ist es peinlich, mich zu konfrontieren, ich lechze danach.

„Würde", sage ich, „Ich beanspruche einen würdevollen Abgang für mich. Allein. Nach meinen Regeln. Ich werde hier nicht bleiben und ich würde sagen, dass es mich gefreut hat, dich kennen zu lernen, aber ich habe auch nicht mehr vor, so kurz von meinem Ende zur Lügnerin zu werden."

Vincent blickt mich überrascht an: „Ich hätte alles von dir erwartet, aber nicht, dass du keine Lügnerin bist."

„Und ich hätte alles hier erwartet, außer einer Gemeinschaft von Versagern, die in der Wüste Gruppentherapie spielen."

„Sie ist noch ein bisschen schüchtern", sagt Vincent, „Sie muss sich erst noch akklimatisieren."

Langsam geht er mich auf die Nerven. „Ich glaube, du hast mich falsch verstanden, aber ich werde hier nicht bleiben!"

„Wohin willst du gehen? Ins Gefängnis? Ins Irrenhaus? Willst du in der Wüste verdursten?", fragt Eugene.

„Was ist dieser Ort denn anderes als ein Gefängnis für Irre, die langsam aber sicher zu Grunde gehen?", frage ich.

„Langsam", sagt Eugene, „das ist der Unterschied. Hier geht es langsamer und schmerzloser als drüben in der Stadt. Hier ist man nicht einfach nur eine Nummer oder jemand, der durchs Raster gefallen ist, eine statistisch vernachlässigbare Ausnahme. Hier ist man jemand. Man hat einen Namen und man wird wertgeschätzt, so wie man ist. Ja, wir gehen zu Grunde. Wir alle tun das. Aber hier können wir den Prozess verlangsamen."

„Ich habe kein Interesse an Schmerzlosigkeit", sage ich, „Ich muss nichts betäuben, ich komme sehr gut zurecht. Ich halte das Leben aus. Ich halte auch den Tod aus."

„Wenn du das Leben aushalten würdest, wieso würdest du dann den Tod wählen?“, fragt Eugene.

„Weil ich nicht feige bin“, sage ich.

„So? Du hältst also die Lebenden für feige?“, fragt Vincent.

Ich halte inne, bevor ich etwas Unüberlegtes sage.

„Feigheit ist ein leichtfertiges Argument“, sagt Eugene, „Ich habe es schon so oft gehört. Sei nicht so zögerlich! Geh mal ein Risiko ein! Mach mal was aus deinem Leben! Es ist sehr einfach, so etwas zu sagen, weil es nichts kostet und weil man so einen dankbaren Schuldigen gefunden hat. Aber es ist nicht immer Feigheit, die einen in die Misere bringt. Es sind die Risiken, die andere auf deinem Rücken eingehen.“

Es ist genau dieses Gejammer, das ich nicht ertrage. Immer sind die anderen schuld. Nie hat man selbst etwas versäumt. Als wäre es so schlimm, das zuzugeben! Jeder macht doch Fehler. Es ist nichts Verwerfliches, aber Leute wie Eugene suchen zuerst nach einem Schuldigen und dann nicht mehr nach einer Lösung und das ist der Grund, warum sie abrutschen. Sie handeln problem- und nicht lösungsorientiert.

Ich muss mir das nicht anhören. Ich will mir das nicht anhören. Ich will viel lieber davon laufen. Gesichter wie das von Eugene regen mich auf. Sie blicken einen von unten herauf an, können kaum die Tränen verbergen und man sieht ihnen an der Stirn an, dass sie nicht die geringste Ahnung habe, was sie tun sollen. Sie brauchen immer jemanden, der sie anleitet, der ihnen sagt, was sie tun sollen. Dabei war es genau diese Haltung, die sie überhaupt erst in die Bredouille gebracht hat.

In meinem Job nannten wir solche Leute „Hasenfüße“, leichtgläubige, sicherlich aufrichtige, ehrliche Menschen, die sich über den Tisch ziehen ließen, damit wir dann für sie die Kuh von Eis holten. Sie sind die Lieblinge der Medien, die Angesprochenen in jeder wohlklingenden Wahlkampfrede der Demokraten. Dabei werden sie auch von denen nur benutzt und verarscht.

Da lob ich mir den die Ehrlichkeit derer, die nicht zu verstecken versuchen, dass sie in diesem Spiel die Rolle des Unsympathen spielen. Auf euch, ihr multinationalen Konzerne mit euren ausbeuterischen Geschäftspraktiken! Zumindest schafft ihr es, euch souverän in den Untiefen des Kapitalismus zu bewegen!

 

„Geld ist keine eigenständige Intelligenz“, sagt Eugene plötzlich, „Obwohl gerne so getan wird. Der Markt ist keine handelnde Person und auch die Händler sind nicht unbedingt intelligent. Es reicht, wenn sie skrupellos sind. Skrupellosigkeit wird oft mit Geschäftstüchtigkeit verwechselt.“

„Und Unwissen oft mit Schuldlosigkeit“, sage ich.

Vincent spürt, dass ich drauf und dran bin, abzuhauen und greift zur Sicherheit nach meiner Hand. Er hält mich fest, als wollte er sagen: „Und das hörst du dir jetzt an!" Es ist ein vorwurfsvoller Griff, einer der weiß, was in mir vorgeht und es nicht durchgehen lässt. Ich finde es unverschämt. Ich schulde diesen Menschen nichts. Nicht meine Anwesenheit und nicht meine Aufmerksamkeit. Nicht einmal mein Mitgefühl.

„Ich bin nicht immer so gewesen, weißt du", sagt Eugene, „Ich war mal jemand. Niemand Bedeutendes, aber ich hatte alles, was ich brauchte, um glücklich zu sein. Ein kleines Häuschen, eine Frau, zwei Kinder, einen guten Wagen und einen Job, mit dem ich unser Leben finanzieren konnte. Ich gehörte zu denen, die man gemeinhin als das Rückgrat dieser Gesellschaft bezeichnet."

Ich bin jetzt schon gelangweilt. Das wird so eine herzzerreißende Absteigergeschichte, bei der man am Ende auf das System und auf die Politik schimpft. Mir ist das jedoch zu einfach. Das System ist zum Beispiel nicht dazu da, deine Eheprobleme zu lösen.

„Meine Frau hat mich verlassen, nachdem sie damit drohten, das Haus zu pfänden", erzählt Eugene. Was dazwischen passiert ist, lässt er aus, aber ich kenne die Geschichten.

Ich habe diese und ähnliche Schicksale schon häufiger mit angesehen. Um genau zu sein 18.585 Mal. Das ist die Anzahl der Familien, die um ihre Geldanlagen geprellt wurden und gegen die unsere Kanzlei eine Investmentfirma verteidigen musste.

Die Medien zeigten jeden Tag Familien mit großen, tränendurchwirkten Kulleraugen, um davon abzulenken, dass diese Menschen erwachsen genug hätten sein müssen, um Verträge, die sie nicht verstanden, nicht zu unterschreiben. Mein Mitleid für Gier gepaart mit Unwissenheit hält sich in engen Grenzen.

Die Geschichte ging so: Diese zugegebenermaßen windige Investmentfirma kaufte Anteile von irgendwelchen Forderungen und erhoffte sich, über die Zinsen enorme Profite generieren zu können. Die Kunden konnten in dieses Geschäft investieren und hoffen, ihren Anteil des Profits absahnen zu können. Nun stellte sich aber heraus, dass es sich bei diesem Geschäftsmodell weniger um eine Geldanlage, als um ein riesiges Schneeballsystem handelte. Die Forderungen, die im Zentrum des Geschäfts standen, waren so faul, dass sie nichts einbrachten und die Auszahlungen der Anleger mit den Einzahlungen neuer Kunden beglichen werden mussten. Das ging natürlich nur eine begrenzte Zeit lang gut und wer seine gesamten Ersparnisse in der Hoffnung auf fette Rendite angelegt hatte, der konnte seinem Geld nur noch hinterher winken, sah es aber nie wieder.

Die Sache war groß genug, um die Medien auf den Plan zu rufen und es kam zu einer Welle der Empörung. Jeder, der sich als armes Opfer profilieren wollte, bekam seine Chance. Niemandem schien es peinlich zu sein, zuzugeben, über den Tisch gezogen worden zu sein. Alle Hemmungen fielen, aber von Mitleid kann man seine Hypotheken nicht bedienen und so verloren nicht wenige dieser 18.585 Personen ihr Heim.

Was für ein verlogenes System: Man verliert, muss einen Seelenstriptease vollführen und bleibt dennoch auf der Verliererseite. Im Fernsehen in Tränen auszubrechen nutzt rein gar nichts.

Ich lernte damals, dass man von niemandem Hilfe erwarten konnte. Die Firmen wollen nur dein Geld und die Medien nur deine Emotionen. Niemand interessiert sich wirklich für dich. 18.585 Menschen standen vor dem Ruin und alles, was sie bekamen, war die moralische Unterstützung der Gaffer.

Dabei stellt sich durchaus die Frage, wer hier seiner Gier hemmungslos nachgegeben hat. Jeder weiß, dass Investitionen, die abnorm hohe Renditen versprechen risikobehaftet sind. Trotzdem haben sie ihr Geld dort eingezahlt. Jeder weiß, dass man Dingen, die man nicht versteht, misstrauen sollte. Trotzdem haben sie alle ihre Unterschriften gemacht. Sein ganzes Geld zu verlieren, ist kein Schicksalsschlag, es geht meist mit einem freiwillig getätigten Federstrich einher.

Ich will nicht glauben, dass ich hier, mitten in der Wüste nun ausgerechnet einen dieser 18.585 Menschen vorfinde, Eugene kann auch auf eine völlig andere Masche hereingefallen sein, aber es berührt einen Nerv in mir.

Ich sage: „Vielleicht hast du dich einfach überschätzt."

„In was für einer Welt würden wir leben, wenn wir immer davon ausgehen müssten, belogen zu werden?", fragte er mich.

„In einer realistischen."

„Du findest also, man trägt die Schuld auch dann, wenn man belogen und betrogen wird? Man hätte es einkalkulieren müssen?"

Ich sage nichts. Ich bin es leid. Es ist mir egal, wer schuld daran ist, dass Eugene pleite ist. Ich bin es nicht. Ich habe ihm sein Geld nicht gestohlen. Warum also hält er mir diese Moralpredigt?

„Gier nach ein bisschen Glück. Ist es verwerflich, ein paar kleine Träume zu haben? Eine Absicherung im Alter. Das Eigenheim abbezahlen. Den Kindern die Ausbildung finanzieren. Ist es falsch, diese Dinge zu wollen und zu glauben, dass andere einem dabei helfen, sie zu erreichen? Es ist keine Verschwendung, in die Zukunft seiner Familie zu investieren. Jeder Politiker wird dir das bestätigen. Ist es schändlich, zu wollen, was andere einem vorleben, was andere bewerben als eine gute, sinnvolle Sache?"

„Es ist naiv zu glaube, dass jemand einem hilft", sage ich.

„Das ist die Gier nach Macht", sagt Eugene.

„Ach, komm schon. Man muss es auch nicht überdramatisieren", sage ich.

„Doch", besteht er, „Macht, denn Geld brauchen dieser Leute nicht. Körperschaften haben auch keine Träume und keine Kinder. Sie gehen nicht in den Ruhestand und haben keine Lebensführungskosten. Es geht ihnen darum, zu bestimmen, andere zu überlisten, ihnen etwas abzuluchsen. Gier kann Lust sein, Freude am Leben. Oder Zerstörung und Geringschätzung. Es kommt drauf an, ob man bereit ist, andere zu schröpfen, um sich selbst etwas Gutes zu tun."

„Und du glaubst, dass du niemanden schröpfst?", frage ich, „Wer hat deine Kleidung zusammengenäht? Wer hat den Mais angebaut, den du isst? Wer hat das Haus gebaut und verlassen, das du jetzt bewohnst? Glaubst du, du profitierst nicht vom Leid anderer? Wie selbstgefällig!"

„Und zweimal Unrecht ergibt Recht?", fragt Vincent dazwischen.

„Nein", sage ich, „aber zweimal Unmoral ergibt auch nicht Moral."

„Ich hielt dich für eine Person, die Moral eher verlogen findet", sagt Vincent.

„Ich finde nicht wichtig, wofür du mich hältst“, sage ich.

„Der Nihilismus der verhinderten Selbstmörderin. Du machst es dir sehr einfach, Liz“, sagt Vincent, „Du kommst nicht drum herum zu existieren, das hast du vielleicht noch nicht verstanden. Selbst wenn du tot bist, wirst du Leute und Ereignisse beeinflusst haben und weiter beeinflussen. Du kannst die Erinnerungen anderer nicht auslöschen. All deine Sünden sind nicht verschwunden, nur weil du nicht mehr lebst. Du machst dich damit nicht rückgängig, du nimmst dir nur die Chance und Notwendigkeit, dich den Konsequenzen deiner Taten zu stellen.“

„Du glaubst, ich finde Moral verlogen und doch appellierst du an mein Gewissen“, bemerke ich.

„Ich appelliere an deinen gesunden Menschenverstand.“

„So etwas besitze ich nicht“, behaupte ich.

„Jeder besitzt so etwas“, sagt Eugene und klingt plötzlich mitleidig mit mir. Etwas, was mich noch mehr auf die Palme bringt.

„Du musst es ja wissen“, schnappe ich zurück.

„Das Problem ist, dass es dir zu weh tut, zu erkennen, dass du die Welt zu schnell in Gut und Böse einteilst. Du willst dir nicht eingestehen, dass du Fehler machen könntest und du willst nicht verstehen, dass Gut und Böse komplexer sind als dein Urteil. Wovor hast du Angst? Davor ertappt zu werden? Davor Reue zu zeigen? Schwäche?“

„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“, sage ich.

Was ist das hier? Ein Trip zurück zu allen Verfehlungen meines Lebens? Ich habe doch schon zugegeben, dass ich bei Jeremy einen Fehler gemacht habe! Wieso jetzt diese Gardinenpredigt? Wem kann man es verdenken, wenn er den Rahmen des Gesetzes ausreizt, um im Sinne unseres Wirtschaftssystems erfolgreich zu sein?

„Oh, ich habe dir nie etwas unterstellt“, sagt Eugene in einem entschuldigenden Ton, für den ich ihm eine Ohrfeige verpassen will.

„Ich wünschte, du hättest es“, sage ich.

„Dann müsstest du dir die Vorwürfe nicht selbst machen“, stellt Vincent fest, „Du bist besser im Angriff auf andere als in der Verteidigung deiner selbst. Nein, Liz, du kennst überhaupt nur den Angriff. Entweder du greifst andere an oder dich selbst. Hör dir nur mal an, wie dünn deine Rechtfertigungen sind. Du glaubst sie ja selbst nicht!“

„Glauben ist in jeder Hinsicht ungesund“, sage ich.

„Die Welt wäre eine bessere, wenn es etwas gäbe, auf das man vertrauen kann“, sagt Eugene, „und wenn es nicht Gott ist, so müssen es die Menschen sein. Man darf sich von schlechten Erfahrungen nicht die Hoffnung darauf vermiesen lassen.“

„Hoffnung ist ein nutzloses Wort“, sage ich, „Wo führt es uns schon hin, außer in die Irre.“

„Zu einem besseren Selbst und einer besseren Gesellschaft“, sagt Vincent, „Es mag Rückschläge geben und Niederlagen, aber man darf das Ziel nicht aus dem Blick verlieren.“

„Ich hatte ein Ziel, als ich hier her kam“, sage ich, „Aber du versuchst, es mir auszureden.“

„Nein, du hast dein Ziel verloren und bist deshalb mutlos stehen geblieben, in der Hoffnung die Zeit und die Erde würde es dir gleich tun. Aber sowohl die Uhr als auch dieser Planet drehen sich weiter und wenn du nicht aktiv daran teilnimmst, deine Zeit und deine Umgebung zu gestalten, wird alles gegen deinen Willen geschehen.“

„Vincent, warum spielst du dich hier so auf?“, frage ich, „Was geht es dich an? Es könnte dir egal sein, ob ich lebe oder sterbe. Bis vor ein paar Stunden wusstest du nicht einmal, dass ich existiere.“

„Aber jetzt weiß ich es und das macht den Unterschied. Ich bin nun mit verantwortlich für dein Leben wie du auch mitverantwortlich bist für das meine, das von Billy und das von Eugene. Siehst du nicht, was ich versuche zu tun? Ich gebe dir Gründe zum Weiterleben. Mag sein, dass du allein und abgekoppelt von der Welt warst, als du keinen Sinn mehr darin sahst, weiterzuleben, aber jetzt hast du neue Beziehungen, Freunde, Menschen, die sich Sorgen machen, die dich nicht verurteilen. Trost bedeutet Akzeptanz. Ich bin nicht dein Gegner, ich bin derjenige, der dir hilft, dich zu reinigen.“

„Vielleicht will ich ja schmutzig bleiben. Vielleicht finde ich es unerhört, sich reinzuwaschen von Sünden, die man begangen hat und nicht mehr rückgängig machen kann“, sage ich, „Eugene und seinesgleichen machen es mir schwer, meine eigene Entscheidung zu akzeptieren, weil sie sich entscheiden, weiterzuleben.“

„Sie lassen dich schäbig wirken“, sagt Vincent.

Es ist meine Art, immer das letzte Wort haben zu müssen, aber es fällt mir einfach nichts ein, das ich kontern könnte. Stattdessen kann ich die Tränen erneut nicht mehr zurückhalten. Ich ertrage das alles nicht ohne Alkohol. Diese Konfrontation, diese Erinnerungen, diese Leuterung. Ich fürchte mich davor, was noch kommen könnte. Kurz vor dem Tod, heißt es, sieht man sein Leben wie in einem Film an einem vorbei ziehen. Ist es das, was hier gerade passiert? Und wenn es so ist, was wartet am Ende auf mich? Ich bin vor etwas geflüchtet, nicht um in der Wüste diesen Dämonen wieder zu begegnen, damit diese mir dann Absolution erteilen.

Ich bin nicht schlechter dran als die 18.858 Familien. Ich habe es nicht verdient, dass sie mit mir Mitleid haben.

„Wer sich aus dem Staub macht, ist schäbig. Aber du bist ja jetzt hier, das ist sehr mutig von dir“, sagt Eugene versöhnlich, „Ich wünschte, meine Frau wäre so mutig gewesen.“

„Wenn sie ihr Leben in die eigenen Hände genommen hat, ist sie mutig gewesen“, gebe ich zurück.

„Hat sie das? Hat sie sich nicht eher an unsinnige Konventionen gekettet? Den Partner zu verlassen, wenn der ins Straucheln gerät. Ist das nicht eher verletzter Stolz?“

„Ich frage mich, wessen Stolz verletzt ist“, sage ich.

„Du hast Recht. Vorwürfe sind schlechte Verhandlungsargumente. Schweigen wir davon. Sie wird ihre Gründe gehabt habe, so wie wir alle unsere Gründe haben.“

„Und sie sind zu respektieren“, sage ich mit Blick auf Vincent.

„Sind sie das? Soll man nicht eingreifen, wenn man jemanden in sein Verderben rennen sieht?“

„Kommt drauf an, wie man „Verderben“ definiert“, sage ich.

„Für mich hat es unter anderem die Form eine Wodka-Flasche“, sagt Vincent, „Komm mit, lass uns zu Alfred gehen, vielleicht hat er etwas Angemesseneres vorrätig. Eine schöne Flasche Rotwein zum Abendessen? Was sagst du, Liz? Nach so einem anstrengenden Tag?“

Ich bin zu schwach, um abzulehnen. Also verabschieden wir uns von Eugene und ziehen weiter zum nächsten Haus der Siedlung.

Alfred

 

Ich habe gar nicht mitbekommen, wie der Tag verflogen ist. Wie lange war ich zwischendurch weggetreten? Habe ich geschlafen? Jedenfalls weicht die unerträgliche Hitze langsam einem kühleren Luftzug, der den Abend ankündigt.

Ich trotte hinter Vincent her und verliere völlig das Gefühl für Raum und Zeit. Kam mir dieser Ort zuvor wie eine kleine Ansammlung von Mauerresten vor, wirkt er nun auf mich weitläufig wie eine untergegangene Metropole. Es ist das Schweigen, die Kälte zwischen uns. Vincent möchte, dass ich nachdenke. Er glaubt, dass er mich beinahe so weit hat. Wie weit? Wo will er mich haben? Spielt er Schach mit mir?

Am Ende handelt jeder eigennützig. Jede Hilfe, die man anbietet, ist eine versteckte Erwartung, irgendwann eine Gegenleistung fordern zu können. Gute Taten sind Investitionen in die Zukunft. So sind wir konditioniert worden. Verluste müssen vermieden werden.

Wieso eigentlich? Es gibt Dinge, die ich sehr gerne loswerden würde, die aber an mir kleben wie Sirup oder der eigene Schatten. Was würde ich dafür geben, diesen Schatten loswerden zu können? Mein Leben bin ich bereit, zu geben, um jemand oder etwas anderes zu sein. Sich selbst zu töten, bedeutet auszuradieren, was man gewesen ist und wofür man sich schämt, sich zu distanzieren vom eigenen Selbst, sich abzuspalten von Erinnerungen, Motivationen, Wünschen und Geschichten. Kurz: Es bedeutet, sich vorsätzlich und kaltblütig selbst zu belügen und nur wer es schafft, seinen eigenen Lügen zu glauben, schafft es auch, seinem eigenen Schatten zu entkommen.

Ich will nicht enden wie diese Stadt. Sie soll mir lediglich ein Mahnmal sein. Es gibt nicht mehr viele solche Städte, aber es gibt viele Menschen wie mich. Die meisten verfaulen oder brechen nach und nach in sich zusammen. Wenn aus ihnen keine Museen gemacht werden, kümmert sich niemand mehr darum. Sie werden den Elementen preisgegeben und ihrem Schicksal überlassen. So werden ganze Familiengeschichten ausgelöscht. Durch aggressive Ignoranz. Sie ist die Triebfeder und der solide Boden, auf dem dieses Land aufgebaut wurde und noch immer besteht. In Amerika bauen wir mit Holz, um sicher zu stellen, dass nichts davon die Zeit überdauert, weil wir tief in unserem Herzen wissen: Es ist besser, wenn vergessen wird. Es ist besser, nach vorne zu schauen, denn hinter uns… hinter jedem von uns liegt nichts weiter als ein Gemetzel, Enttäuschung, Wut, Verzweiflung, Verlust, Niederlage. Wir sind nicht wie die Iren, deren Geisterstädte für die Ewigkeit als steinerne Zeugen des eigenen Scheiterns die Reinheit der Natur besudeln.

Was also? Gehen oder bleiben?

Wieso sollte man irgendwohin reisen, wenn man nicht dort bleiben will? Wieso sollte man irgendwo bleiben, wo man nicht sein will?

Mein Körper ist aus Holz, aber meine Seele ist aus Stein. Meine Gedanken sind aus Metall, aber mein Leben nur aus Schnee.

Man sollte meinen, dass es für einen Menschen aus Schnee allein in der Wüste einfach sein würde, zu sterben. Aber ich schleppe mich immer noch durch die unsichtbar gewordenen Straßen dieser verlorenen Stadt. Bevor meine Geschichte zu etwas wird, das man in einem Museum ausstellt, muss ich sie zerstören. Ich muss vergessen, nicht erinnern. Je weniger an mich erinnert, umso weniger Schaden werde ich auf lange Frist angerichtet haben. Leute wie ich können nur zu Helden werden, wenn sie vergessen werden, denn nur unsere Uneitelkeit bewahrt andere davor, uns zu verfallen.

Die Welt liebt romantische Helden, weil sie glaubt ihnen etwas zu schulden. In der echten Welt, sind sie es nämlich, die als erste untergehen und unter unserer Grausamkeit zu leiden haben. Wir, die wir keinen Funken Romantik in uns tragen, aber die Welt lenken und glauben, dass unsere Perspektive die einzig rationale und richtige ist. Wir verdammen das Träumen, die Ideale, die Prinzipien, die Schönheit, weil sie uns unwirklich vorkommen. So verdorben sind wir. Und deshalb haben wir es nicht verdient, zu verweilen. Wir sind zu unmenschlich geworden.

In meinen Träumen ziehe ich umher, treffe Menschen, die mir nichts bedeuten und deren Gesichter ich nicht erinnern kann. Sie schicken mich von einem Ort zum nächsten, aber ich komme nie an. Ich komme immer nur fort. Es kümmert mich nicht, denn auf der Flucht fühle ich mich sicherer, als irgendwo sonst, irgendwo, wo man mich kennen lernen und ich Teil einer Gruppe werden könnte. Ich habe Geheimnisse und Geheimnisse sind eine Bürde, sind Verantwortung. Das Konzept des Geheimnisses fasziniert mich, seit ich ein Kind war. Etwas, das nur man selbst weiß und versteht, etwas, das einem ganz allein gehört. Ein Gefühl, eine Geschichte, eine Überzeugung, ein Name, ein Gesicht… Mit der Zeit wird man süchtig nach Geheimnissen und wie jede Sucht treiben sie einen in die Einsamkeit und in Verzweiflung.

Ich kann nicht atmen, ohne den Gedanken, dass das, was ich in meinen Körper aufnehme, um weiterleben zu können, vielleicht von jemand anderem ausgestoßen wurde, der danach nicht mehr eingeatmet hat. Ich stehle ihm den Sauerstoff und ich sehe ihre vorwurfsvollen Augen überall. Sie starren mich an aus dem verdorrten Gestrüpp, hinter geschlossenen, abgedunkelten Fenstern, in den Schatten, am Rande meines Spiegelbildes. Es ist, als hätte ich sie alle selbst erstickt. Manchmal glaube ich, sie sind im Wind und versuchen, mir die Luft aus den Lungen zu ziehen. Manchmal glaube ich, sie warten unter Wasser auf mich, um mich hinab zu ziehen. Ist es nicht albern, sich für den Tod aller Menschen verantwortlich zu fühlen. Ist man schuldig, weil man nicht selbst betroffen ist?

Dein Gesicht im Sand der Wüste, dein Körper tot und schlaff aufgehängt am letzten Baum vor der Todeszone, irgendwo weit draußen, wo nur ich dich finden konnte. Dein Blick im Spiegel. Deine Stimme im Wind. Dein Geruch hat sich in den Sitzen des Autos festgesetzt. Dann wieder dein Gesicht, diesmal auf einem Werbeplakat für Coca Cola, eingebrannt, eingerostet. Etwas von dir treibt den Fluss hinab. Etwas von dir vermodert im Wald. Etwas von dir verweht der Wind. Etwas von dir wartet am Boden jeder Flasche und in der Asche jeder Zigarette.

Ich übergebe mich erneut, falle vorn über und keuche. Vincent bleib stehen und wartet, als wäre meine Reaktion nichts Ungewöhnliches.

„Geht es wieder?“, fragt er nach einer Weile. Inzwischen können Jahrhunderte vergangen sein.

„Ich bin nur etwas müde“, sage ich, als müsste ich mich rechtfertigen oder gar um Entschuldigung bitten.

Menschen rauschen an mir vorbei wie gestern die Landschaft entlang des Highway. Ihre Namen lauten alle gleich. Ihre Gesichter sind nur verschwommene Farbkleckse und ihre Existenz ein kurzes Zucken in der Ewigkeit.

Wo ich aufgewachsen bin, gab es einen Baum, der mitten auf einem Feld stand. Um ihn herum gab es nur Gras und Gestrüpp, aber keine anderen Bäume. Dadurch hatte er Platz, groß und auslandend zu wachsen. Er wuchst symmetrisch und da das menschliche Auge Symmetrie schätzt, nach Meinung derselben: schön. Ich fragte mich damals, ob der Baum nicht einsam sei. Die Bäume im Wald jedenfalls wuchsen unförmig, schützten sich aber dafür gegenseitig vor dem Wind. Sie konkurrierten um Nährstoffe und Licht, aber sie befruchteten sich auch gegenseitig. Ich fragte mich, ob schöne Wesen immer einsam sind, oder ob einsame Wesen immer schön sind. Muss man für ein Leben ohne Rücksichtnahme den Preis der Einsamkeit zahlen oder benötigt man all diese Eitelkeiten, Schönheit, ein sicheres Nährstoffangebot, Entfaltungsfreiheit nur, wenn man durch keine Gemeinschaft geschützt ist?

„Wer bist du?“, frage ich Vincent verzweifelt, „Wer bist du, gottverdammt noch mal?“

„Namen lenken nur vom Wesentlichen ab“, sagt Vincent, „Du kennst mich und du weißt, dass ich nicht das Problem bin.“

Doch du bist es! Du bist es! Du lässt mich nicht in Ruhe, du zerrst mich herum, du lässt mich nicht sein, du redest auf mich ein, obwohl ich das nicht will. Du bist übergriffig! Es ist mein Recht, mein gottgegebenes Recht, hier zu Grunde zu gehen!

Da ist plötzlich der Geruch von fauligem Fallobst, der die ersten kühlen Nächte ankündigt. Die verschwitzte, klebrige Feuchtigkeit in den Wäldern und das bedrohliche Summen der Insekten, die bereits ahnen, dass ihre Tage gezählt sind. Das ist zu Hause, aber es ist auch eine fremde Welt, in der ich nie richtig überleben konnte. Wie ein Fisch an Land. Es fehlte immer irgendetwas. Oder es war von etwas zu viel da.

Da ist plötzlich das grünliche Licht eines schweren Sommerabends. In den Gärten hört man Kinder lachen und Hunde bellen. Rauch steigt auf von den Feuerstellen, auf denen saftiges Barbecue zubereitet wird. Männer trinken Bier. Frauen trinken Limonade.

Irgendwo läuten die Kirchenglocken. Es läuten immer irgendwo Kirchenglocken. Vielleicht ist ja heute noch mal Chorprobe. Musik gehört zum Lebensgefühl der Menschen hier. Sie atmen, arbeiten, reden, leben und lieben in einem seltsamen Rhythmus.

Das drückende Wetter macht mich müde, aber ich genieße die Langsamkeit allenthalben. Ich döse weg, hinüber in einen Traum. Damals konnte ich das noch.

Die Welt ist unwirklich geworden, seit du nicht mehr da bist. Blasser und grauer und irgendwie fremdartig, feindlich. Du fehlst und erst jetzt frage ich mich, welche Rolle du in ihr eingenommen hast und welcher Part jetzt nicht mehr besetzt ist.

Wer hat das gesagt? Und über wen? Die Glocken läuten. Eine Beerdigung? Eine Taufe? Beinahe das selbe.

„Jeder Abschied wird irgendwann bereut“, sagt Vincent, „Das liegt in unserer Natur. Ich bin ein Freund, Liz. Ein Freund ohne Hintergedanken.“

„Heißt das, es ist besser, sich nie zu bewegen, nur um das Bild nicht zu zerstören?“, frage ich, „Wo wären wir, wenn niemand jemals aus dem Rahmen gefallen wäre? Weiße Flecken, leere Flächen, das sind die Möglichkeiten, nicht das, was schon längst bepinselt und zig mal übermalt ist. Ist diese Welt wirklich eine Bühne, das Leben wirklich ein Theaterstück? Werden uns unsere Rollen zugeteilt? Wer führt Regie? Wer ist der Protagonist? Um wen dreht sich das alles? Was ist die Moral der Geschichte? Was können wir vom Leben lernen und wieso sollten wir? Am Ende sind wir alle allein in unserem Kopf. Wir sind umgeben von Ja-Sagern. Wenn wir fragen: „Soll ich meinen Job hinschmeißen und meinen Leidenschaften folgen?“ werden all unsere sogenannten Freude uns Mut zu sprechen, denn es kostet sie nichts und es bereitet ihnen keine Arbeit. Aber sie fürchten sich davor, uns auszubremsen. Sollten wir jedoch scheitern, so sind sie fein raus, indem sie behaupten können, dass es ganz allein unsere Entscheidung und unsere Verantwortung gewesen ist. Wir wollten es ja nicht anders. Wir haben es nie anders gewollt. Es wird stillschweigend vorausgesetzt, dass wir unsere Entscheidungen bereits getroffen haben, wenn wir um Rat fragen. Es wird angenommen, wir wollen kein Nein und man müsse uns immer geben, was wir wollten, denn sonst könnten wir unleidlich werden. Das ist Freundschaft. Eine verlogene Gemeinschaft aus verängstigten Opportunisten, die sich mehr davor fürchten, in einen Streit zu geraten, als den eigenen Verstand zu bemühen.“

Vincent reicht mir die Hand, zieht mich zurück auf die Beine und sagt: „Ein Problem wird nicht dadurch gelöst, dass man einen Schuldigen sucht und auch nicht dadurch, dass man ein Opfer benennt. Ein Problem wird nicht dadurch gelöst, dass das Opfer passiv bleibt und zusieht, wie andere es bemitleiden und sich anstrengen, ihm den Hintern abzuwischen und es wird auch nicht dadurch gelöst, dass man Sündenböcke dämonisiert, vertreibt, schlachtet und ausweidet. Ein Problem zu erkennen, bedeutet nicht, dass es bereits gelöst ist. Auch es zu benennen, reicht nicht. Es muss etwas getan werden. Jeder, der in der Lage ist, muss etwas tun. Wer nichts tut, obwohl er weiß, dass etwas getan werden müsste, läd Schuld auf sich, egal wie sehr er zuvor die Opferrolle für sich vereinnahmt hat. Manchen Opfern stehen keine Schuldigen gegenüber. Manche Probleme existieren einfach, ohne dass zuvor die Rollen verteilt wurden.“

Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht: „Eine Verkettung ungünstiger Umstände.“

„Eine Verkettung ungünstiger Umstände“, bestätigt Vincent.

„Ich habe nie gelernt, andere zu respektieren“, sage ich.

„So lange mal lebt, kann man dazu lernen“, sagt Vincent, „Da vorne wohnt Alfred. Er versorgt uns mit Lebensmitteln und allem, was wir sonst so brauchen. Wenn du etwas brauchst, kannst du es einfach bei ihm bestellen. Er besorgt es dir. Er hat einen Lastwagen, mit dem er raus in die Stadt fährt.“

„Er verlässt diesen Ort?“, irgendwie habe ich geglaubt, dass all diese seltsamen Menschen hier wie Geister an diesen toten Ort gebunden sind. Einen wie Vincent kann ich mir kaum irgendwo anders vorstellen als hier. Er würde sofort untergehen. Er ist zu weich und zu zart für das echte Leben.

„Alfred ist Koch von Beruf“, erzählt Vincent unbeirrt weiter, „Er kennt sich aus mit Lebensmitteln.“

„Aber er arbeitet nicht mehr in seinem Beruf“, werfe ich ein.

„Du doch auch nicht. Manchmal passieren Dinge und man muss sich umorientieren.“

„Wieso ist er hergekommen?“, frage ich, denn Alfred interessiert mich. Er scheint eine wirklich greifbare Person zu sein. Eine mit einer Vergangenheit, einer Vorgeschichte. Er hat einen Bruch in seinem Leben erlebt, aber er unternimmt hin und wieder Ausflüge in Realität.

Vincent, Eugene und Billy sind Feiglinge. Sie haben sich dazu entschieden, einfach nur zu sein, in der Gegenwart zu leben - als Sonderling, Taugenichts und Junkie. Eugene mag vielleicht einmal verheiratet gewesen sein, aber da war er noch ein anderer. Aus dieser Hülle hat er sich herausgeschält. Er ist jetzt voll und ganz aufgegangen in dieser Stadt. Er ist ein Geist geworden, weil genau das mit Feiglingen passiert.

Alfred, der diesen Ort hin und wieder verlässt, schein mir aus anderem Holz geschnitzt zu sein. Ich frage mich, ob es möglich ist, nur ein Teilzeit-Geist zu sein, oder ob das nicht doch nur die Definition für einen Heuchler ist.

 

Wir kommen an einen kleinen, improvisierten Laden. Die Tür ist geschlossen und Vincent klopft höflich. Es dauert eine Weile, bis uns Alfred öffnet. Ich bin enttäuscht. Er ist ein älterer Mann, der einmal sehr dick gewesen sein, in sehr kurzer Zeit aber viel an Gewicht verloren haben muss. Er sieht ein wenig ungepflegt aus. In der Brille, die er trägt, fehlt ein Glas. Mit dem entsprechenden Auge blinzelt er.

Sein Lächeln und seine Begrüßung sind verschlagen. Ich traue ihm nicht und plötzlich überkommt mich ein unerklärlicher Schauer.

Ursprünglich scheint dies ein Schuhladen oder eine Schuhmacherei gewesen zu sein, jetzt liegt in den Regalen allerlei unnützer – teils kaputter – Krimskrams. Alfred ist ein Sammler.

„Wir hätten gerne eine Flasche Wein“, bittet Vincent.

„Gibt es etwas zu feiern?“, fragt Alfred und seine Neugier stößt mich ab. Er kennt mich noch nicht einmal, interessiert sich aber schon für Gerüchte über mich.

„Es gibt immer etwas zu feiern“, sagt Vincent, „Das Leben, den Tod, die Freiheit…“

„Wer ist die junge Dame?“, fragt Alfred und zeigt mit dem Daumen auf mich. Es fühlt sich an wie eine unsittliche Berührung und ich weiche einen Schritt zurück.

Alfred hat Präsenz und ich sehe in ihm neben der Lebendigkeit auch die Gefahr, die in seiner Unberechenbarkeit liegt.

„Ihr Name ist Liz. Sie ist gestern Abend angekommen“, erklärt Vincent. Dann sagt er zu mir: „Du musst Alfred sagen, welche Vorlieben du hast, damit er dir mitbringen kann, was du dir wünschst.“

Ich zögere und frage dann: „Wie bezahlt er die Waren? Wie bezahlen wir den Wein?“

„Glaubst du wirklich an so etwas wie Geld?“, fragt Alfred.

„Die ganze Welt glaubt daran“, sage ich, „Was nutzt es also, wenn ich es ablehne?“

„Wenn du es ablehnst und ich es ablehne und Vincent es ablehnt, dann sind wir schon drei und wenn wir ein Feld bewirtschaften, sind wir unabhängig vom Glauben anderer Leute.“

„Aber wir bewirtschaften kein Feld“, sage ich.

„Es stört dich ernsthaft, dass wir unser Leben erhalten, auch wenn wir nicht bezahlen können, was wir brauchen?“, fragt Alfred.

„Also stielst du?“, frage ich.

„Ich nehme, was uns zusteht.“

„Und wir?“, frage ich Vincent.

„Bekommen, was wir wollen“, antwortet er.

Ich fühle Beklommenheit, eine unbestimmte Enge in der Brust.

„Ich finde es nicht richtig, zu stehlen“, sage ich schließlich.

„Wieso nicht?“, fragte Alfred mitleidig, „Es ist nichts dabei. Überleg dir nur, was sie alles von dir genommen haben. Da kannst du dir ja wohl etwas zurückholen.“

„Nur weil man selbst angeblich bestohlen wurde, bekommt man dadurch nicht automatisch einen Freibrief, selbst zum Dieb werden zu dürfen. Vincent, du hast selbst gesagt, dass zweimal Unrecht nicht Recht ergibt.“

„Interessant, wie sehr du plötzlich auf die Moral eines gerechten Handels bestehst“, sagt er mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen.

„Interessant, wie schnell du diese Moral über den Haufen wirfst“, erwidere ich.

„Ach lasst doch diese Spitzen“, versucht Alfred zu beschwichtigen, „Wie wäre es mit etwas Süßen, Liz? Ich habe Gummibärchen und…“

„Lakritzstangen“, vervollständige ich den Satz. Jetzt bin ich vollständig davon überzeugt, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen vorgeht. Wie konnte Alfred davon wissen? Wieso ausgerechnet jetzt und hier: Gummibärchen und Lakritzstangen?

 

Ich war zwölf Jahre alt und meine Eltern hielten Zucker für das Heroin des Grundschulhofs. Ein Junge namens Bernie lebte etwas außerhalb der Stadt in einem Trailerpark und wenn es jemanden gibt, auf den Leute, die in windschiefen Holzhäusern leben, herabblicken, dann sind es Leute, die in Trailerparks wohnen. In Bernies Familie hielt man Heroin für den Zucker des Erwachsenenlebens und so schärften die verantwortungsbewussten Eltern ihren Kindern ein, nicht mit Bernie zu spielen, am besten gar nicht mit ihm zu reden und bloß nicht mit ihm nach Hause zu gehen. Darüber, dass man Bernie nicht bedrohen, verprügeln oder bestehlen sollte, sagten sie nichts.

Dass seine Kleidung immer schmutzig und aufgeschürft war, lag nicht daran, dass seine Eltern sich nicht um ihn kümmerten, sondern daran, dass Bernie jeden Morgen bereits auf dem Schulweg in den Dreck geschubst, geschlagen und getreten und am ihm herumgezerrt wurde. Die blauen Flecken und die Schürfwunden hatte er nicht von zu Hause, sondern von seinen Mitschülern mitbekommen.

Niemand hatte Mitleid mit ihm, denn wir hielten ihn für schwach. Wir sahen nicht, dass es ihm schlecht ging, denn wir glaubten, dass es uns allen schlecht ging und wenn wir schon kein Mitleid bekamen, hatte Bernie erst recht keins verdient. Wir waren wütend und unsere Wut entlud sich auf dem kleinsten, wehrlosesten Jungen, bei dem wir sicher sein konnten, dass die Eltern sich keine Gedanken über seinen Zustand machen würden. Kinder haben einen sehr ausgeprägten Sinn für Grausamkeit.

Das heißt, sie entwickeln einen solchen Sinn, wenn sie selbst zum Opfer von Grausamkeiten werden. Schläge ins Gesicht und auf den Hintern waren in fast jeden Haus an der Tagesordnung und der Psychoterror mit dem Tenor „Wir wollen nur das Beste für dich!“, bohrte sich in unsere Schädel wie eine hartnäckige Lüge, die einfach nicht aufgibt, uns überzeugen zu wollen.

Neben vielen anderen Dingen, von denen meine Eltern glaubten, dass sie „das Beste für mich“ seien, lautete ihr Grundsatz: Ein Kind sollte nicht verwöhnt werden, sonst wird es träge und widerspenstig. Das bedeutete in der Praxis: Was immer ich mir wünschte, bekam ich ganz grundsätzlich nicht. Wenn es nicht dazu diente, mich vorzeigbar zu halten, brauchte ich es nicht. Wenn ich Übermut oder Begeisterung zeigte, bekam ich es nicht. Wenn ich weinte, quengelte, jammerte, fluchte, bettelte, bekam ich es nicht. Ich sollte lernen, dass das Leben kein Zuckerschlecken ist und man sich mit dem arrangieren muss, was es einem zuteilt.

Ich war nicht zufrieden mit dem, was mir zugeteilt wurde, also beschloss ich, mir zu nehmen, was man mir verweigerte und weil ich es nicht von jemandem nehmen konnte, der stärker war, musste Bernie dran glauben. Wut gepaart mit Feigheit gepaart mit Neid. Bernie hatte Geld, um sein Mittagessen zu bezahlen, aber ein gezielter Schlag in die Magengrube reichte aus, damit er es mir aushändigte. Es waren nur ein paar Dollar, aber er blieb eine ganze Woche lang hungrig, während ich mir Gummibärchen und Lakritzstangen kaufte.

Ich kaufte und aß sie heimlich, gierig und ohne etwas zu schmecken. Geteilt hätte ich nicht einmal mit meiner besten Freundin. Ich stopfte mich voll, bis ich Bauchschmerzen bekam. Es war ein Racheakt gegen meine Eltern auf Bernies Kosten.

 

„Nein“, sage ich, „Nein. Gibt mir den Wein stattdessen!“

Es ist eine billige Flasche mit Schraubverschluss, ich öffne sie und hänge sie mir an den Hals. Der Wein ist süß und klebrig. Ich werfe die Flasche auf den Boden und spucke aus, was ich noch im Mund habe. Der rote Saft versickert im Sand wie Blut und ich schnaube Vincent an: „Was wird hier gespielt?“

„Nichts“, sagt er unschuldig, dann ernster, „Das hier ist kein Spiel. Wer das Leben als Spiel wahrnimmt, versteht nicht seinen Wert.“

„Wert. Wert? Was ist schon ein Wert?“, brülle ich, „Was ist schon eine Tugend? Eine Moral? Eine Gerechtigkeit? Es geht nur darum, wer der Stärkste ist. Wir befinden uns permanent in einem Wettbewerb und ich werde mich von dir nicht austricksen lassen!“

„Austricksen? Wer hat denn hier wen ausgetrickst?“, fragt Alfred, „Ich bin nur ein Schauspieler, der auf Zuruf das improvisiert, was das Publikum verlangt. Vielleicht agiere ich manchmal eher plump, so wie ein Politiker, aber ich habe sicher nichts Böses im Sinn. Ich will dich nicht verführen. Nicht zu Zuneigung und nicht zu Hass. Du schreckst lediglich vor deinem eigenen Spiegelbild zurück. Schrecken ist heilsam. Erschrecken über andere ist ebenso gut wie der Erschrecken über sich selbst. Nur darf es nicht zu Scham verkommen oder dem Vertrauen auf Vergebung. Das wäre Selbsttäuschung. Es ist möglich ein besserer Mensch zu werden, auch wenn der Hass uns das nicht erkennen lässt. Hoffnungslosigkeit ist nicht unserer Befreiung.“

„Ich dachte, du wärst ein Koch?“, frage ich.

„Oh, wir sind alle zu allererst Schauspieler. Erst wenn wir das verstanden haben, können wir ehrlich sein.“

„Du sprichst von Ehrlichkeit? Du bist ein Dieb!“, sage ich.

„Ich bin noch mehr als das“, sagt Alfred und zwinkert mir zu, „Ich bin ein Betrüger und vorbestraft wegen eines Verstoßes gegen die Hygienerichtlinien für Gastronomen im Staate Kalifornien. Du siehst, jeder Mensch steckt voller versteckter Fassetten.“

Ich verziehe mein Gesicht zu einem Ausdruck von Ekel.

„Niemand ist krank geworden“, versichert er mir, „Niemand ist gestorben. Aber sag mir, wäre es besser, gute Lebensmittel zu verschwenden? Was würden die Menschen dazu sagen, die in Ostafrika verhungern? Wäre es nicht undankbar?“

„Ich weiß nicht, wem ich dankbar sein sollte“, sage ich.

„Na, unserem Vincent zum Beispiel. Dafür, dass er sich deiner annimmt.“

„Dafür, dass er mich nicht gehen lässt?“

„Dafür, dass er dafür sorgt, dass du in Sicherheit bist.“

„In einem Gefängnis ist man auch in Sicherheit“, sage ich.

„Aber frei ist man auch im Tode nicht“, sagt Vincent.

„Das ist eine nicht belegte Aussage.“

„Wieso bist du so knauserig mit deinem Leben?“, fragt Alfred, „Wieso willst du es mit niemandem teilen? Es ist doch genug davon da. Du bist jung und gesund. Geiz und Selbstsucht führen zu Einsamkeit.“

„Vielleicht gefällt es mir so“, sage ich.

„Würde es dir gefallen, wärst du nicht hier her gekommen“, meint Vincent.

„Möchtest du also die Süßigkeiten?“, fragt Alfred, bevor es zwischen Vincent und mir eskaliert, „Sie sind geschenkt.“

„Gestohlen“, murmele ich.

„Geschenkt“, insistiert Alfred und drückt sie mir in die Hand, „Geschenkt und frisch. Weil ich dich mag und weil du dich hier wohlfühlen sollst. Ohne Hintergedanken. Einfach, weil es gütig ist, zu teilen.“

Ich nehme die Gummibärchen und die Lakritze und ich akzeptiere Alfreds Lüge. Lügen sind so etwas wundervoll Reales, Entspannendes. Ich verzeihe sogar Vincent sein gluckenhaftes Verhalten, als er mich wieder bei der Hand nimmt und zurück zu seinem Häuschen führt.

„Es war ein bisschen viel heute. Das verstehe ich. Du kannst deine Süßigkeiten essen und dann schlafen, wenn du willst.“

So eine Aussage sollte mich eigentlich sauer werden lassen, aber nichts habe ich mir als Kind mehr gewünscht als die Freiheit eines „du kannst, wenn du willst“-Satzes. Etwas zu dürfen, ist etwas völlig Neues für mich. Bisher „musste“ ich immer oder musste mich über Verbote hinwegsetzen und Strafen in Kauf nehmen. Keine Angst und keinen Zwang zu verspüren, entspannt mich mehr als das Bewusstsein, dass ich es eigentlich nicht nötig habe, mir etwas absegnen zu lassen, mich alarmiert.

Ich verbringe die Nacht in meinem Auto, weil Vincent es mir erlaubt. Ich trinke nichts von meinem Wodka, weil Vincent meint, dass ich das heute nicht brauche. Ich schlafe, weil er sagt, dass ich es kann und ich träume, weil niemand es kontrollieren kann. Sicherheit ist ein falscher Freund, das weiß ich wohl, aber für eine Nacht, für einen Traum die Kontrolle aufzugeben, ist mein letztes Zugeständnis an meine Menschlichkeit. Wer weiß, was ich morgen sein werde? Eine Göttin oder ein Geist?

Mercedes

 

Ich wache davon aus, dass das Morgenlicht durch meine Lider schimmert und als ich die Augen öffne, starre ich direkt auf den Lauf einer 44er Magnum. Ich blinzele, um das Bild scharf zu stellen und wäre beinahe erschrocken zurückgewichen. Aber ich bleibe cool, ich will ja niemanden reizen.

Hinter der Pistole steht eine Frau mit wutverzerrtem, entschlossenem Gesicht. Wir blicken uns gegenseitig in die Augen. Ich blinzele als erste, was sie zum Anlass nimmt, das Gespräch zu eröffnen: „Mach, dass du weg kommst!“, krächzt sie, „Wir brauchen keine abgefuckte Weißbrot-Schlampe hier, egal was dir der Jammerlappen hier erzählt hat!“

Sie weist auf Vincents Hütte: „Er spricht nicht für uns, auch wenn er das vielleicht behauptet hat. Hier kann nicht einfach jeder herkommen und sich niederlassen. Also verschwinde. Geh zurück in dein rosa Traumhaus, Barbie, oder stürz dich von einer Brücke. Ist mir egal, aber wir sind nicht dafür zuständig, deine Probleme zu lösen!“

„Äh…“, sage ich.

„Schwer von Begriff?“, fragt sie.

„Ich hatte gar nicht vor, zu bleiben“, sage ich.

„Wunderbar, also krieg denen Arsch hoch und verpiss dich!“

Sie senkt die Pistole und grient. Ich grinse zurück, reiche ihr die Hand und stelle mich vor: „Liz.“

Sie nimmt die Hand nicht, nennt aber ihren Namen: „Mercedes. Und jetzt weg hier!“

„Wieso?“, frage ich. Auch wenn ich ihrem Wunsch nachkommen will, lasse ich mir nichts befehlen.

„Wenn hier jeder einmarschieren und bleiben könnte, wären wir dann noch eine abgeschiedene, unabhängige Gemeinschaft?“

„Was sind denn die Kriterien, um hier aufgenommen zu werden?“, frage ich.

Mercedes überlegt: „Du musst etwas beitragen können.“ Sie zeigt auf ihre Pistole: „Das ist mein Beitrag.“

„Und was ist Billys Beitrag?“, frage ich. Ich weiß, es ist eine Frechheit, aber Mercedes scheint man so begegnen zu müssen, um ihren Respekt zu gewinnen.

„Hätten wir ihn in der Wüste verrecken lassen sollen? Er ist hergekommen, hätte es aber nicht mehr zurück geschafft. Aber du bist jung und gesund. Du brauchst uns nicht!“

„Du bist auch jung und gesund“, sage ich, „Was brauchst du hier?“

Sie hält mir wieder die Pistole vor die Nase: „Das geht dich einen feuchten Haufen Scheiße an, Missy!“

Jetzt weiche ich doch zur Seite aus. Diese Frau ist vielleicht nicht geisteskrank, aber skrupellos. Bestimmt ist sie hier, um sich vor der Polizei zu verstecken. Wahrscheinlich hat sie jemanden ermordet. Oder mehrere. Mit dieser Waffe. Und ich bin sicher, dass sie es wieder tun würde. Und hier würde sie niemand dafür verurteilen. Meine Leiche würde verschwinden. Niemand würde sie je hier suchen. War es nicht das, was ich wollte?

Aber ich wollte es selbst tun. Bevor ich ermordet werde, will ich weiterleben. Bevor ich versklavt werde, will ich mich selbst töten.

„Mercy, Mercy!“, ruft Vincent, als er aus dem Haus stolpert. Er ist barfuß und nicht gekämmt. „Nicht die Nerven verlieren. Sie ist in Ordnung. Sie kann bleiben!“

„Und das entscheidest du?“, fragt Mercedes, „Seit wann? Hast du schon mit Frank darüber geredet? Was sagt Frank dazu?“

„Nein“, sagt Vincent, „ich habe noch nicht mit ihm geredet, aber was soll er schon dagegen haben? Er hat noch nie jemanden abgelehnt.“

„Ihr seid ein verdammter Haufen Weicheier!“, schreit Mercedes, „Was bedeutet schon eine exklusive Gemeinschaft, wenn jeder einfach Mitglied werden kann?“

„Wir haben auch dich aufgenommen. Erinnere dich daran, wie sehr du es wolltest“, sagt Vincent.

„Ihr braucht mich, deshalb durfte ich bleiben. Von euch ist nämlich keiner fähig, die Stadt zu verteidigen.“

„Du hast Frank die Waffe an die Schläfe gehalten, als er nicht sofort ja gesagt hat.“

„Und es hat ihn überzeugt“, sagt Mercedes.

„Sie war nicht mal geladen.“

„Aber die hat doch eine Wirkung.“

Ich muss unwillkürlich lachen: „Sie ist nicht geladen?“

„Alfred weigert sich, ihr Munition zu besorgen“, erklärt Vincent.

„Und ich kann nicht selber gehen, weil die Schweine mich sofort hopps nehmen würden.“

„Was ist denn mit ihr?“, frage ich Vincent.

„Sie“, sagt Mercedes betont genervt, „hatte mal eine geladene Pistole und sie hat sie auch benutzt. Reicht das als Erklärung? Diese Dinger werden nicht dafür gebaut, um auf Dosen zu schießen, verstehst du? Wer so was trägt, nimmt es in Kauf, Menschen zu töten. Wer sowas trägt, findet es richtig, in bestimmten Situationen, Menschen zu töten.“

„Und du findest das richtig?“, frage ich.

„Manche Menschen verdienen es nicht zu leben“, sagt sie und blickt mich scharf an, „Wer das Leben nicht wertschätzt, der versteht nicht, worum es hierbei geht“, sie zeigt wieder auf ihre Knarre, „Es ist ein Lebensgefühl, im wahrsten Sinne des Wortes. Du hast den Tod immer bei dir. Er erinnert dich ständig daran, dass du am Leben bist und wie viel Glück du hast. Und er beschützt dich. Der Tod der anderen beschützt dein Leben. Ich ertrage diese Verzagtheit nicht, mit der Leute ihr Leben für selbstverständlich halten. Diese Verdrossenheit, dieses deprimierende Dasein, das alles Schlimme ignoriert und damit blind für alles Schöne wird.“

„Eine Philosophie der Waffe“, spotte ich.

„Eine Philosophie des Lebens“, sagt Mercedes.

„Philosophie ist Wortverdrehung. Etwas Konkretes kommt dabei nie heraus. Leute schreiben Bücher, aber die Welt verändern sie damit nicht, auch wenn sie es glauben.“

„Aber die hier verändert die Welt“, sagt Mercedes wieder im Bezug auf ihre Pistole.

„Die hier verändert gar nichts“, sagt Vincent.

„Immerhin könnte ich dir damit den Schädel einschlagen“, sagt Mercedes, „Und sie hat etwas verändert. Die Schlampe hier hatte für einen Augenblick Respekt vor mir, bis du es kaputt gemacht hast.“

„Ich muss nicht bedroht werden, um Menschen zu respektieren“, protestiere ich.

„Ach ja? Da habe ich aber andere Erfahrungen mit deinesgleichen gemacht“, sagt Mercedes.

„Meinesgleichen?“

„Weiße Collage-Schlampen“, erklärt Mercedes.

„Das ist Rassismus“, befinde ich.

„Ach ja? Beweis mir, dass du keine Rassistin bist!“, fordert sie, „Was hast du gedacht, als du in diese Fresse geblickt hast?“, sie zeigt mit dem Finger auf ihr eigenes Gesicht, „Ich sag dir, was du gedacht hast: „Die da ist bestimmt auf der Flucht. Die da hat bestimmt einen umgebracht. Die da ist bestimmt in einer Gang!“ Das denkt ihr nämlich alle, wenn ihr eine wie mich seht. Sie ist nicht weiß, also ist sie ein Gangster. Und die Schwarzen denken: Sie ist nicht schwarz, also ist sie eine Verräterin. Sag mir, wer in dieser Gesellschaft ist kein Rassist? Absolut niemand kann etwas zu seiner Verteidigung vortragen, so lange er Eigenschaften an Hautfarben fest macht!“

Ich überlege. Dann sage ich: „Ich hatte mal was mit einem gemischtrassigen Bisexuellen.“

„Ach wie niedlich. Sie hat ihren Körper für einen Halbneger geöffnet und hält sich jetzt nicht mehr für eine Rassisten-Schlampe!“

 

Obwohl Mercedes es abwertet, ist es eine meiner schönsten Erinnerungen. Ein Triumph. Nicht Liebe oder Frieden, aber ein Sieg in dieser endlosen Schlacht, die sich Leben nennt. Ich habe weder ein schlechtes Gewissen, noch bin ich stolz, aber es beruhigt mich. Nicht jeder Mensch ist nur gut oder nur schlecht. Auch ich habe hin und wieder das Richtige getan – oder zumindest etwas, das ich nicht bereue.

Meine Hochzeit gehört nicht dazu – oder zumindest nur indirekt.

In meinem Leben war so viel schief gelaufen und ich hatte das starke, beinahe überwältigende Gefühl, viele falsche Entscheidungen getroffen zu haben. Ich dachte, ich sei mein Leben lang in die falsche Richtung gerannt, hätte nicht erkannt, dass die Wände, die ich einreißen wollte, mich in Wirklichkeit schützten. Ich wurde nicht glücklich in der Rebellion. Im Gegenteil: Sie laugte mich aus. Und so kroch ich in einem schwachen Moment zu Kreuze und versuchte es noch einmal mit den Regeln meiner Eltern und Großeltern.

Sie geben dir Sicherheit, meinten sie. Sie geben dir Halt. Sie weisen dir den Weg. Sie haben sich bewährt, haben uns geholfen, durchzuhalten.

Und das Leben ist nichts weiter als Durchhalten und was immer einen dabei unterstützt, ist ein Wert, den es zu bewahren gilt. Nun, hier am Ende meines Lebens, nachdem ich die Entscheidung getroffen habe, nicht mehr durchhalten zu wollen, kann ich neutral darauf zurückblicken und erkenne, nur Verzweiflung und nicht Freude im Festhalten an den Traditionen.

Ich heiratete also einen Mann, mit dem ich zur Ruhe kommen wollte. Ich benutzte ihn, für meine eigenen Zwecke. Als Halt, als Führung, als jemanden zu dem ich aufblicken wollte, weil es nichts gab, das ich respektieren konnte und ich glaubte, dass dieses Loch in meinem Herzen gestopft werden müsste. Jeder braucht jemanden, der eine Schutzmauer zwischen ihm und der Leere ist, dachte ich.

Ich wählte meinen Mann aus, indem ich alles, was ich war, ins Gegenteil verkehrte. Ich hasste mich so sehr, dass ich glaubte, nur jemand, der mir ganz und gar unähnlich war, könnte mich noch retten und auf den rechten Weg zurück bringen.

Er war groß, breit, behaart und Republikaner. Meine Eltern und meine Großeltern liebten ihn. Sie wussten gar nicht, dass man so einen echten Mann im verweichlichten Kalifornien aufgabeln konnte. Ich liebte ihn nicht, aber das machte nichts, denn er liebte auch niemanden außer sich selbst. Mich betrachtete er als Trophäe, etwas das man vorzeigen kann, wenn man sich selbst als Mann profilieren muss. Seht her, so eine Frau kann ich an mich binden! Der Schönheit der Frau definiert den Rang des Mannes in seiner Gruppe.

Mit dem Vorzeigbar-sein kannte ich mich aus. Ich konnte lächeln, Makeup auflegen und mir die Haare angemessen zurecht legen. Mehr erwartete er nicht von mir und ich glaubte, es wäre eine Erleichterung, wenn man sich um nichts sonst mehr Sorgen machen muss. Ankommen, dachte ich, hätte etwas mit dem Ablegen von Gewichten zu tun, die man mit sich herumträgt, so lange man noch auf der Suche nach sich selbst ist.

Ich dachte, ich wäre bereit, mich selbst aufzugeben, nur um diese Gewichte loszuwerden. Ich wollte so gerne ankommen. Egal wo. Aber ich blieb auf der Strecke.

Es dauerte nicht lange, da langweilte ich mich zu Tode. Aber was hatte ich erwartet, dass mein altes Ich einfach so verschwindet, wenn ich den Namen meines Vaters gegen den meines Mannes eintausche? Dass ich von einem Tag auf den anderen eine andere sein würde, dass ich plötzlich wüsste und verstünde, was Glück ist? Dass ein Wunder passiert? Dass ich taub würde, nichts mehr fühlen, kein Schmerzen, kein Verlangen, keine Wut und keine Verzweiflung mehr wahrnehmen würde. Dass das Makeup mein Gesicht verstecken und meine Tränen zurückhalten würde? Dass ich mich in Plastik verwandeln und dass die Hohlheit in meinem Kopf mich befriedigen würde? Dass ich einfach so verstummen könnte, weil ich nichts mehr zu sagen hätte? Dass ich zufrieden wäre mit einer Existenz als Dekorationsgegenstands?

Kinder sind die Produkte ihrer Eltern, heißt es. Töchter heiraten ihre Väter. Egal wie sehr ein Kind rebelliert, am Ende sehnt es sich nach dem zurück, was es in seiner Kindheit erfahren hat. Das würde bedeuten, dass jede Erziehung richtig ist. Oder bedeutet es, dass jede Erziehung die Gehirne der Kinder so programmiert, dass sie gut finden, was sie erleben? Oder ist ganz einfach das Erwachsenenleben so grauenvoll, dass man sich – egal wie traumatisierend die Kindheit war – immer dorthin zurück sehnt? Bis man 16 ist, geht es bergauf und dann geradewegs bergab für den Rest deines Lebens! Wenn man also Glück hat ist man mit 16 relativ weit oben, sodass der Fall länger dauert. Wenn du aber mit 16 schon unten bist, wo wirst du dann mit 30 sein?

Ich war viel zu jung, um unten zu sein und das machte mir Angst. Wie viel weiter runter konnte es gehen? Wann war man endlich am Boden? Wann war man endlich am Ende? Wann kam endlich etwas, mit dem man sich arrangieren konnte?

Die Antwort ist: Niemals. Man kann sich nie arrangieren. Man muss immer rebellieren. Man muss immer kämpfen.

Aber mein Mann war jähzornig und mir körperlich deutlich überlegen. Er stellte Anforderungen an mich und ich traute mich nicht, mich ihnen offen zu widersetzen. Hätte ich einmal keinen Lippenstift aufgelegt, wenn seine Freunde zu Besuch kamen, wäre es vermutlich zum Streit gekommen und ich fürchtete die direkte Auseinandersetzung mit ihm.

Sicher, ich hätte langsam aber stetig sein Essen vergiften können, um ihn loszuwerden. Aber irgendwie wollte ich doch, dass er merkte, was das Problem war. Er sollte leiden. Er sollte diese Leere empfinden. Er sollte das Gefühl kennen lernen, nicht gut genug zu sein und zurückgewiesen zu werden. Ich wollte Selbstzweifel in ihm sähen.

Es fing ganz harmlos damit an, dass ich zwanglos zu einer Veranstaltung der demokratischen Partei ging. Ich hörte einer Rede zu und dann stellten Leute aus dem Publikum fragen. Ich verstand nicht viel davon, traute mich auch nicht, selbst etwas zu sagen. Ich empfand den Abend als angenehm. Niemand kannte mich. Niemand drängte mich. Ich konnte einfach da sitzen und zuhören. Ich war allein in einer großen Gruppe, fühlte mich aber nicht beobachtet.

In den folgenden Wochen ging ich immer wieder zu solchen Veranstaltungen. Irgendeine Wahl stand an, aber das interessierte mich nicht. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie an einer Wahl teilgenommen und ich würde auch diesmal nicht meine Stimme abgeben. Politik hielt ich für etwas, das abseits von der Lebenswirklichkeit der normalen Menschen passierte. Es hatte nichts mit mir zu tun. Niemand von diesen Idioten in Washington tat etwas für mich. Nichts von dem, was sie sagten, berührte mein Dasein oder löste gar meine Probleme. Ich vertraute schon nicht den Menschen in meinem unmittelbaren Umfeld, wie sollte ich also Politikern vertrauen?

Irgendwann begannen die Leute bei den Podiumsdiskussionen mich zu grüßen. Jemand sagte „Hallo“, nichts weiter, aber es gab mir das Gefühl, willkommen zu sein. Ich erwiderte sein „Hallo“ und erlebte wie diese kleine Berührung zweier Worte mich anhob, meine Laune verbesserte, mich wieder mit der Welt in Verbindung brachte. Ich spürte, dass mir der Kontakt zu Menschen abhanden gekommen war und dass ich ihn zurückerlangen konnte, wenn ich die mir dargereichten Hände nur ergriff.

Mein Mann hielt mir seine Hand nie entgegen. Er spürte nicht, dass ich ein Bedürfnis danach hatte. Er war ein eher körperlicher Mensch, ich hingegen hasste alles Körperliche.

Man wird geboren mit einem instinktiven Gefühl von Würde. Daran glaube ich. Jedes Kind weiß, was Zärtlichkeit und Verständnis ist, wie man andere berührt und wie man sich berühren lässt. Je älter wir werden, desto härter werden wir, desto dicker wird unsere Schale. Sobald wir mit Zynismus in Kontakt kommen, sobald wir zum ersten Mal verletzt werden, beginnen wir, unsere Instinkte zu unterdrücken und am Ende verlieren wir sie ganz. Sie bröckeln ab wie alter Putz und hinterlassen den Rohbau unserer Seelen, wenn denn da noch eine ist.

Sich die Würde zu erhalten und die Würde anderer zu achten, das bedeutet ein erfülltest Leben, das ist Befriedigung, Zufriedenheit, das ist Güte. Es ist seltsam, dass ich das so genau weiß, dass ich es sogar definieren, aber nicht umsetzen kann. Zu viele Menschen haben auf meiner Würde herum getrampelt, als dass ich noch dazu fähig wäre, ihnen Respekt entgegenzubringen. Nicht einmal Mitleid kann ich noch in mir finden. Da ist nur Wut. Wut, die Tränen hervorquellen lässt, die meine Nase verstopft, die mich nachts nicht schlafen lässt, die mich herumlaufen lässt, wie in Watte gepackt, die mich entkoppelt von der Welt, von der Normalität. Ich weiß nicht, was ich noch fühlen soll außer Wut. Ich weiß nicht, wie ich noch irgendetwas berühren soll, ohne dass es in Flammen aufgeht. Ich fürchte, selbst zu verbrennen, wenn ich zurück denke.

Jeder Tag war ein Kampf gegen die Wolken über mir und es regnete Steine und Felsbrocken jeden Tag. Jede Nacht fürchtete ich zu ersticken, zerquetscht zu werden, zwischen den Wänden und meinem Mann, der auch nichts anderes als eine Wand oder ein Hindernis war. Wenn ich nicht in die Dunkelheit starrte, fesselten mich Träume von Unbeweglichkeit und Folter. Ich starb tausend Tode bevor ich hierher kam. Ich betete jeden Abend, es möge kein Morgen geben. Es sollte alles enden. Für immer. Jeder Morgen war eine Enttäuschung, jeder Lichtstrahl der aufgehenden Sonne ein Hohn.

Wie kann es wahr sein, fragte ich mich jeden Tag. Wie kann das alles wahr sein? Wo habe ich den entscheidenden Fehler meines Lebens gemacht? Wo bin ich falsch abgebogen und wo hätte ich hinfahren sollen? Hatte ich meine Würde verscherbelt? War sie mir entrissen worden? Wieso war niemand da, der sie mir wieder gab, der mich ihrer versicherte? War ich es nicht wert, wertgeschätzt zu werden? Wurde ich übergangen oder bestraft? Ignoriert oder übersehen? Waren sie schuldig oder nur unaufmerksam? Egal, sie ließen mich verwahrlosen und ich verwahrloste. Sie ließen mich im Sumpf zurück und ich versank ganz langsam.

Das ist also die Institution Ehe. Das ist also Gottes heiligste Gemeinschaft. Wie kann er so etwas zulassen? Wie kann er die Menschen so strafen? Wieso lässt er sie etwas ersehnen, das ihnen die Seele raubt? Wieso begehrt niemand sonst dagegen auf? Spüren sie den Schmerz nicht? Oder halten sie ihn aus? Bin ich zu zimperlich? Will oder erwarte ich zu viel? Bin ich gierig und unmäßig? Nehme ich mir zu viel heraus? Wer hoch fliegt, wird tief fallen. Bei großen Erwartungen sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Deshalb gilt Bescheidenheit als eine Tugend. Deshalb krallen wir uns daran fest, zumindest tugendhaft zu sein, wenn wir nicht weinen. Aber nicht einmal das ertrage ich.

Die Ehe fühlte sich so an, als wäre man an etwas gekettet, das einen davon abhält, zu fliehen, obwohl man sich in akuter Lebensgefahr befindet. Immer unter Spannung. Immer nahe am Wahnsinn. Ich schwitzte viel damals. Die Nähe, die Ferne, der wenige Sauerstoff in der Luft. Er war nicht da. Er war ein Nichts. Ein übermächtiges, allgegenwärtiges Nichts. Kein Mensch. Nicht mal eine Kreatur. Er lebte nicht. Er saugte Leben aus wie ein Vampir.

An den Wänden in unserer Wohnung hingen keine Bilder. Ich hatte keine Kraft, die Räume wohnlich zu gestalten und ihn interessierte es nicht. Ich weiß nicht, was er sah, wenn er an die Wand starrte. Vielleicht gar nichts. Vielleicht konnte er sein Denken irgendwie abschalten. Aber ich sah Möglichkeiten, die nun unerreichbar waren. Ich sah Geschichten, die nie erzählt, nie erlebt wurden. Ich sah Welten, die dahinter liegen mochten, Landschaften, Himmel, Meere. Aber keine Lebewesen. In meinen Visionen lebte nichts mehr. Gedankenwüsten. Geisterwelten. Sie waren irgendwie erstarrt.

Aber ein kleines, unpersönliches „Hallo“ hatte eine so bahnbrechende Wirkung auf mich, dass ich beinahe an Ort und Stelle zusammenbrach. Mit der Wucht eines Tsunamis stürzte die Realität auf mich an. Sie rührte sich wieder. Der Film lief weiter. Es wuselte und tummelte um mich herum. Die Geräusche, der Lärm, die Gerüche, die Farben kehrten zurück. Ich erwachte wie aus einen Dornröschenschlaf.

Freundliche Worte sind eine Entgiftungskur für den Geist. Sie ergriffen die Scherben, die mein Herz waren und setzten sie zu etwas zusammen, das Wärme durch meinen Körper pumpen konnte. Und mit der Wärme kamen die Bedürfnisse zurück. Was hätte aus mir werden können, wenn man als Kind meine Fähigkeit, Würde wertzuschätzen gefördert hätte? Was hätte ich alles empfinden können? Welche Tiefen und welche Höhen? Welche Geborgenheit? Welche Freiheit?

Es sind alles nur Nervenimpulse. Schmerz und Wohlbefinden liegen nicht weit auseinander. Manchmal kann das Hirn sie auch gar nicht unterscheiden. Und dann wird alles zu Schmerz, sogar eine Umarmung. Oder nichts mehr, dann fühlt es sich sogar gut an, zu sterben. Ich weiß bis heute nicht, was schlimmer oder besser wäre.

Das kleine „Hallo“, beflügelte mich dermaßen, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben öffentlich eine Frage stellte: „Was wollen Sie tun, um die Waldbrände zu stoppen?“, fragte ich, denn es war Sommer und es schien, als stünde mal wieder der halbe Staat in Flammen.

Man war dankbar für meine Frage. Es war eine dankbare Frage. Emotional und gleichzeitig etwas, wo man sich klar positionieren konnte, denn wer die Frage der Waldbrände ernst nahm, der zeigte, dass ihm die Belange der Bürger wichtig waren, dass er ihren Besitz und ihre Heimat schützen wollte. Die Antwort, die ich bekam, interessierte mich nicht, aber mir gefiel, wie meine Stimme durch ein Mikrophon klang und dass ich Applaus bekam.

Nach Ende der Veranstaltung traf ich den jungen Mann wieder, der mich zuvor begrüßt hatte. Ob es Zufall war oder nicht, weiß ich nicht. Er befand: „Ihnen liegen unsere Wälder also am Herzen?“

Und ich sagte: „Natürlich. Sie sind der Reichtum dieses Landes.“

Und er sagte: „Wie heißen Sie?“

Und ich sagte es ihm.

Sein Name war Paul und ich mochte es, ihn auszusprechen.

Er lud mich zum Essen ein. Ich versuchte, mich im Vorfeld über Umweltschutzthemen zu informieren. Ich las heimlich die New York Times.

Es ist leicht, eine Affäre zu beginnen, wenn man gut vorbereitet ist und genau weiß, was man will. Und ich wollte nicht unbedingt Paul, nicht ihn als Menschen, sondern ihn als Identität: Ein liberaler, mindestens gemischtrassiger, offen bisexueller Demokrat. Er war perfekt.

Mir war klar, dass diese Rache Konsequenzen für mich haben würde, dass es unangenehm werden würde und ich den ein oder anderen blauen Fleck zurückbehalten würde. Mein Mann würde seinen Schmerz an mir auslassen. Aber das war mir egal. Hautsache, er hatte Schmerzen. Es sollte ihn verletzen. Diese Ehe war ein Krieg und jetzt ging ich in die Offensive. Man sollte seinen Gegner nie unterschätzen und ich hatte so viel erlebt, dass ich zu noch mehr fähig war.

Ich verspüre keine Freude an Sex, aber ich verstehe, was andere unter Befriedigung verstehen. Das Leid des anderen, der eigene Triumph. Es ist archaisch, es ist ein Spiel mit Träumen, Macht- und Unterwerfungsphantasien. Man kann mit den Erwartungen und Wünschen der anderen spielen, wenn man sie bedient oder verweigert. Man kann das Selbstwertgefühl des anderen angreifen, sein Ego kränken. Hat er sich so sehr in mir getäuscht? Zeig bloß keine Reue, verwirr ihn mit deinem Selbstbewusstsein! Lass ihn in seiner Verwirrung allein, lass ihn zweifeln, lass ihn in Panik geraten. Gib niemals einen Fehler zu. Krieche nicht zu Kreuze. Bestehe auf deinem Recht. Fühle nichts.

Ich kam mit einem blauen Auge davon und es kostete mich einen lockeren Zahn. Ich grinse zu viel, meinte er. Ich schulde ihm eine Erklärung und eine Entschuldigung. Ich schulde ihm eine Entschuldigung… Ich konnte nicht anders und lachte ihn aus. Ich lag auf dem Boden vor Lachen. Ich trommelte in den Fäusten auf den Boden und wischte mir die Tränen aus dem Augen, so sehr musste ich lachen. Noch zwei Tage später tat mir der Bauch weh vor lauter Gelächter.

„Vielleicht schulde ich Paul eine Entschuldigung“, sage ich zu Mercedes, „Weil ich ihn benutzt habe und es mir egal war, ob er verliebt in mich war oder nicht. Aber ich schätze, er wird darüber hinweg kommen. Wie viele Leute verlieben und trennen sich? Es ist Alltag. Ich habe kein schlechtes Gewissen.“

„Das ist typisch“, sagt sie und zieht eine Schnute, „Aber was erwartet man für Menschen hier in diesem Drecksloch?“

„Sag du es mir“, fordere ich, „Du lebst hier. Ich nicht.“

„Du versuchst mich zu beleidigen? Dass ich nicht lache!“

„Eigentlich…“, sage ich, halte mich dann aber zurück. Mercedes hatte es in ihrem Leben sicher auch nicht leicht. Wenn es nicht so herablassend wäre, würde ich ihr vergeben. Ich entscheide mich, sie zu akzeptieren und schweige.

„Frank wird entscheiden, was mit dir passiert!“, schnappt Mercedes, „Nicht du und nicht Vincent! Frank wird herkommen und dir sagen, dass du dich verpissen sollst!“

Sie stapft davon und ich steige aus dem Auto aus. Vincent hält mir einen Teller mit Rühreiern hin.

„Hier, iss!“

„Nein, danke. Ich bin nicht hungrig. Ich werde mich ab jetzt strikt an meinen Ernährungsplan halten“, sage ich und verweise auf meine Wodka-Vorräte, „Wer ist Frank?“

„Er wohnt da drüben neben der Kirche“, erklärt Vincent, „Er ist sowas wie unser Sprecher.“

„Ach? Und ich dachte die ganze Zeit, dass du das bist?“

„Ich? Oh nein. Ich bin bloß eine Art Wächter. Jemand der Ausschau hält, verstehst du? Aber keine Angst, Frank hat ein gutes Herz. Du musst dich nicht vor ihm fürchten.“

Justice

 

Ich fürchte mich vor nichts und niemandem. Soll dieser Frank doch kommen. Was wäre das Schlimmste, das er mir antun kann? Ich bin nicht hier, um ihn um Asyl anzubetteln. Ich bin auf niemanden hier angewiesen. Ich kann hier sterben oder woanders hingehen und dort sterben. Frank hat keine Macht über mich. Er bestimmt nicht über mein Schicksal.

Ich nehme einen Schluck Wodka, um mir damit den Mund auszuspülen, aber ich spucke ihn nicht aus, sondern schlucke ihn hinunter.

„Glaubst du, es interessiert mich, was irgendjemand hier über mich denkt oder zu mir sagt?“, frage ich Vincent.

„Glaubst du, irgendjemand hier interessiert sich dafür, was du denkst oder sagst?“, gibt er zurück.

„Hmm. Also ist deine Höflichkeit nur aufgesetzt.“

„Oder dein abweisendes Verhalten ist es.“

Ich habe keine Lust, mit ihm zu diskutieren. Es geht ihn gar nichts an, warum ich hier bin.

„Was suchst du hier wirklich?“, fragt Vincent.

Ich zucke mit den Schultern.

„Wenn wir nicht wissen, was du brauchst, können wir dir nicht helfen.“

„Ich brauche nichts“, sage ich, „und ich suche nichts.“

„Du brauchst Hilfe“, sagt Vincent, „Aber wie soll die aussehen? Dies kann ein Ort der Strafe sein, aber auch ein Ort des Trostes, ein Ort der Gnade, ein Ort der Vergebung und ein Ort der Gerechtigkeit.“

„Ich suche einen Ort der Ruhe“, sage ich, „Ich will mich weder erklären, noch rechtfertigen müssen. Ich will einfach, dass alle akzeptieren. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Worte können nicht ungesagt und Taten nicht rückgängig gemacht werden.“

„Aber können sie totgeschwiegen werden?“

„Traust du mir nicht zu, dass ich mich selbst damit auseinandersetze? Was ist das mit dir, Vincent? Pathologische Neugier oder ein Helfersyndrom?“

„Verantwortungsbewusstsein“, sagt Vincent.

„Du musst dich nicht für mich verantwortlich fühlen“, sage ich.

„Wenn du dich nicht für dich verantwortlich fühlst, wer soll es sonst tun?“

„Du unterstellst mir Dinge, die nicht wahr sind“, erwidere ich und nehme noch einen Schluck Wodka, „Aber ich vergebe dir, denn dies ist ein Ort der Vergebung.“ Ich male ein Kreuzzeichen in die Luft.

In diesem Moment kommt Mercedes zu uns zurück gestapft.

„Er war nicht da!“, ruft sie uns entgegen, „Nur sein blöder Köter!“

Und ich bemerke, dass sie sich etwas schneller und nervöser bewegt, als es ihre Coolness erlauben sollte. Ich grinse in mich hinein, bis ich bemerke, warum Mercedes sich so beeilt: Hinter ihr trottet ein großer, gefährlich aussehender, schwarzer Hund, der die Zähne fletscht und der Welt und dem Universum ganz generell nichts als ein Knurren entgegen bringt.

„Vincent, Herrgott, mach, dass dieses Vieh verschwindet!“, ruft Mercedes uns entgegen, „Alfred will mir keine Kugeln besorgen, aber dieses Scheißköter rennt hier einfach frei herum mit seinen Zähnen und Klauen und wahrscheinlich ist er auch noch tollwütig oder sowas! Los verschwinde!“

Aber der Hund verschwindet nicht, er läuft hinter ihr her wie ein bedrohlicher Schatten. Bei meinem Wagen angekommen bleibt er stehen und beschnüffelt erst Vincent, dann die Reifen des Ford und dann mich. Er schaut auf, blickt mich vorwurfsvoll an und knurrt.

„Frank hat ihn Justice genannt. Er ist eines Tages hier aufgetaucht“, sagt Vincent.

„Nicht mal dieses Höllenvieh konnte er wegschickten!“, beschwert sich Mercedes, „Frank ist ein richtiger Schlappschwanz.“

„Sie hat Angst vor Hunden“, erklärt Vincent.

„Sie hat keine Angst, sie hält es für unnötig, dass wir hier Hunde halten. Sieh ihn an, er ist unberechenbar. Und er hört auf niemanden. Und er läuft frei herum. Wie soll man sich in dieser Stadt sicher fühlen, wenn an jeder Ecke diese Bestie auf einen lauern kann? Wenn ich nur eine Kugel hätte, dann würde das Mistvieh längt über einem Lagerfeuer garen, das könnt ihr mir glauben!“, sagt Mercedes.

„Um ehrlich zu sein, fühle ich mich auch nicht recht wohl mit ihm“, gestehe ich, „Könnte man ihn nicht wenigstens anleinen?“

„Frank ist nicht so sehr fürs Anleinen“, sagt Mercedes, „Jedenfalls nicht für unfreiwilliges.“

„Aber er ist bissig!“, sage ich, „Zum Schutz aller…“

„Vorbeugende Strafe. Hältst du das für gerecht?“, fragt Vincent.

„Hältst du es für gerecht, alle Leute hier der Gefahr von Bisswunden auszusetzen?“

„Ich bin kein Richter“, sagt Vincent.

„Ich ebenfalls nicht, aber ich habe ein persönliches Interesse.“

Ich weiche vor Justice zurück und überlege einen Augenblick, zurück ins Auto zu steigen, aber die Blöße gebe ich mir vor Mercedes nicht.

„Ich hab Bar gesagt, sie soll Frank sagen, dass er herkommen soll“, sagt Mercedes.

„Und was hat Bar gesagt?“, fragt Vincent.

„Irgendwas hat sie gesagt. Wer versteht schon, was die Schlampe so sagt. Hält sich für super schlau wie immer.“

„Wer ist Bar?“, frage ich.

„Eine ehrenwerte, ältere Dame“, sagt Vincent.

„Du bist ein dreckiger Lügner, Vince, und glaubst, dass dich das sympathisch macht. Aber um ehrlich zu sein, finde ich es ein bisschen ekelerregend“, sagt Mercedes und an mich gewandt: „Jetzt mach schon dieses verdammte Auto auf, Schlampe! Oder willst du dich hier draußen in Fetzen reißen lassen?“

Ich zeige Mercedes mein strahlendstes Lächeln. Ihre Angst amüsiert mich und ich lasse sie noch eine Weile zappeln, indem ich mich dazu überwinde, dem knurrenden Justice den Kopf zu tätscheln.

„Ich weiß gar nicht, wo dein Problem ist“, sage ich.

„Vielleicht ist dein Tod ja bedeutungsvoll und logisch, sodass du ihm gelassen oder gar freudig entgegenblicken kannst, aber mein Tod durch diese Bestie wäre absurd und sinnlos und ich möchte ihn vermeiden! Als mach das Scheiß-Auto auf und lass uns drinnen warten!“

Ich tue wie geheißen, wir steigen ein und sitzen nun zu dritt in meinem Wagen. Ich komme mir ein bisschen lächerlich vor und kann ein Lachen nun nicht mehr unterdrücken. Um uns herum schleicht dieser womöglich aggressive Hund, dem irgendein Witzbold den Namen „Gerechtigkeit“ gegeben hat.

„Wie in diesem Buch von Stephen King“, sage ich.

„Dein Geschmack ist widerlich“, sagt Mercedes.

„Du kannst gerne aussteigen.“

„Du kannst gerne die Klappe halten!“

 

Ich nehme es Mercedes nicht übel. So etwas ist schnell daher gesagt und man denkt sich nichts dabei. Trotzdem klappt mein Mund beinahe automatisch zu. Wie oft wurde mir geraten, mitgeteilt, befohlen, ich solle still sein, die anderen reden lassen, nicht so vorlaut sein, mich zurückhalten. So oft, dass es mir in Fleisch und Blut übergegangen ist.

Was sagt man darauf auch? Was antwortet man einem Menschen, der deutlich gemacht hat, dass er nichts auf das gibt, was du zu sagen hast? Es ist das ultimative Totschlagargument.

Wer still ist, der blamiert sich nicht. Wer schweigt, ist mysteriös und interessant. Wer beobachtet und nicht am Geschehen teilnimmt, läuft nicht Gefahr, ordinär zu wirken. Es gibt so viele gute Gründe, nicht zu reden, Dinge geschehen zu lassen, Dinge unwidersprochen stehen zu lassen. Und sie alle sind egoistisch. Sie alle drohen. Sie alle arbeiten mit Angst.

Ich wurde unter Androhung von Strafe zu einer Egoistin erzogen, mit dem Ergebnis, dass ich mich heute nicht mehr traue, meinem Willen Ausdruck zu verleihen. Es ist absurd.

Seien wir ehrlich, meine Eltern waren Idioten, die sich selbst nicht zu helfen wussten und deshalb schwiegen, zuhörten und vor allem glaubten. Sie glaubten allen möglichen Schwachsinn, nur damit sie nicht selber denken und entscheiden mussten.

Nun ist Glauben nicht unbedingt immer schädlich. Es stirbt zum Beispiel niemand, wenn er regelmäßig das Horoskop in irgendeiner Zeitschrift liest. Daran festzuhalten ist zwar dämlich, aber nicht im medizinischen Sinne ungesund. Solche Spleens hat jeder zu einem gewissen Maße und ich halte sie für menschlich und verzeihlich. Und wenn jemand Hoffnung aus dem Glauben schöpft und danach sein Leben wieder auf die Reihe kriegt, wer bin ich, ihn zu verurteilen?

Nein, es geht um die andere Art von Glauben, die, die eher Hindernis als Triebfeder ist, die, die Regeln aufstellt, wo Fortschritt geboten ist. Die Art von Glauben, die man anderen aufzwingt, weil man um ihre Seele fürchtet, wenn sie nicht genau das selbe denken, sagen und fühlen wie man selbst. Dieser Glaube ist phantasie- und empathielos, denn er gesteht anderen keine Perspektive zu und das ist der Nährboden für Kriege und Konflikte jeder Art.

Kurz: Religion birgt das Potenzial zur Festigung und zur Zerrüttung zwischenmenschlicher Verhältnisse.

Meine Eltern hingen dem verrückten Glauben an, Gott lege Wert auf Gebete, Gesänge, verschwendete Sonntage und Hände über der Bettdecke. Ihrer Ansicht nach war jeder Mensch entweder ein Opfer oder ein Werkzeug Gottes und wir alle hatten die Wahl, was wir sein wollten.

„Die Hölle ist voll mit Leuten, die ihre Eltern belügen“, bekam ich des Öfteren zu hören. Auch liebten sie es, über „gerechte Strafen“ zu schwadronieren, darüber, wie wenig Mitleid sie aufbrachten.

Es ist eine müßige Argumentation. Wenn wir dem Menschen Verantwortung und einen freien Willen zugestehen, können wir ihn auch verantwortlich machen. Es ist also nicht nur jeder seines Glückes Schmied, sondern jeder schaufelt auch sein eigenes Grab. Es ist, als wären sie die Hälfte es Weges mit den Existenzialisten mitgegangen und dann an der entscheidenden Kreuzung falsch abgebogen. Denn während die Existenzialisten auch die Verantwortung betonen, die man für andere übernehmen muss, sagten meine Eltern: „Damit du nicht auf Abwege gerätst, musst du deine Entscheidungsfreiheit abgeben!“

Und weil sie am besten wussten, was am besten für mich war, entschieden sie, welche Kleidung und wie ich meine Haare tragen durfte, welche Bücher ich las, welche Musik ich hörte. Sie organisierten meine Interessen und strichen alles aus meinem Leben, das ihnen suspekt erschien oder das sie nicht kannten.

Ich durfte im Kirchenchor singen, aber keine Rockmusik hören. Ich durfte in der Bibel lesen, aber kein Buch von Simone de Beauvoir. Ich sollte wie ein Mädchen gekleidet sein, aber die Röcke mussten mindestens bis übers Knie reichen.

Heute glaube ich, dass meine Großeltern dahintersteckten. Wo sie bei ihrer eigenen Tochter versagt hatten, wollten sie ihrer Enkelin mit besonderer Strenge begegnen. Dabei lief ich damals kein bisschen Gefahr, das Schicksal meiner Mutter zu teilen. Die Jungen in meiner Schule hielten mich für völlig durchgeknallt, geradezu furchteinflößend. Ich sah aus wie eine Psychopathin im Gewand einer Klosterschülerin. Der Stoff, aus dem Horrorfilme sind…

Es wäre eine Lüge, würde ich schreiben, dass diese Erziehung bis zu jenem gewissen Zeitpunkt gut ging. Sie lief von Anfang an in die falsche Richtung und war zum Scheitern verurteilt. Eines dieser Systeme, die nicht zu reformieren, sondern nur zu revolutionieren sind…

Es knirschte oft, aber ich erkannte lange nicht, wo das Problem lag. Ich merkte sehr wohl, dass ich es nicht schaffte, meinen Willen durchzusetzen, aber meine Eltern und Großeltern schienen für ihre Ablehnung immer gute, sinnvolle, erwachsene Gründe zu haben, sodass ich mit dem Eindruck zurückblieb, meine Unerfahrenheit stelle eine Gefahr für mich dar und ich müsse beschützt werden, weil ich offensichtlich zu falschen Entscheidungen neigte. Oh, sie erzogen mir die Angst vor mir selbst an. Wie perfide, wenn man darüber nachdenkt… Am Ende war ich dankbar dafür, dass ich nicht bekam, was ich wollte.

Aber eine solche Lügenspirale kann nur in ihrem eigenen Kollaps enden und irgendwann wurde sogar ich alt und erfahren genug, um hinter all den vielen Einzelverboten das Fundament zu suchen. Was ich fand, war ein Zusammenhang: Gott. Die Begründung, warum ich nicht sein durfte wie die anderen, lief immer auf den Willen Gottes hinaus und es wunderte mich, dass ausgerechnet meine Eltern so genau wissen sollten, was Gott wollte, während anderen Leuten dieses Wissen offenbar verborgen blieb. Wie groß soll diese Hölle eigentlich sein, wenn alle außer uns sündig waren? Wie einsam würde es im Himmel sein und wie glücklich konnte ich dort werden, wenn ich da auch wieder nur mit meinen Eltern und Großeltern zusammen sein würde? Musste ich mich etwa im Himmel auch an all diese Regeln halten? Gab es keine Rockmusik da oben? Wieso sollte jemand an einem solchen Ort leben wollen? Sogar bis in alle Ewigkeit…

Ich gab mich einigen harten Gedanken hin und entschied mich schließlich, dass ich das ewige Leben mehr fürchtete als die Strafen Gottes. Ewiges Leben bedeutete ewige Langeweile. Ich lebte jetzt schon ein angeblich gottgefälliges Leben und war, wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, nicht glücklich. Was mich aufrecht erhalten sollte, war die Hoffnung auf ein ewiges Dasein, das sich, nach allem, was meine Eltern mir erzählten, nicht so sehr von dem unterschied, was ich jetzt schon hatte. Dann lieber Verdammnis.

Aber wieso eigentlich Verdammnis? Wenn Gott gnädig war, wenn er die Menschen liebte, dass musste er auch lieben, was sie taten, was sie schufen und was sie liebten. Und wenn Gott nicht gnädig war, wieso sollte man sich ihm anbiedern? Was muss ein Gott überhaupt für ein Jammerlappen sein, wenn er beleidigt ist, wenn man ihn nicht andauern lobpreist und sich ihm als sein Werkzeugt anbietet?

Wenn ich an einen Gott glaubte, dann sollte es ein cooler Gott sein, der verstand, was ich empfand und der mir nicht vorschrieb, was ich zu empfinden hatte. Ich konnte ja schließlich nichts dafür.

Wenn ich auf etwas hoffte, dann auf etwas, das meine persönlichen Wünsche erfüllte und nicht die, die irgendjemand anderes für mich bereithielt.

Wenn ich für etwas betete, dann war es meine Angelegenheit, ob ich meine Bitte für angemessen hielt.

Tatsächlich aber hielt ich es schließlich für ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Gott überhaupt existiert. Und selbst wenn, war er nichts weiter als das Werkzeug von Menschen, die Macht über andere ausüben wollten.

Schließlich überwand ich mich also und sprach aus, was die Spirale zum Einsturz bringen sollte. Es war unvermeidlich gewesen. Sie hätten es wissen müssen. Ich hätte ein gesundes Verhältnis zur Religion haben können, aber sie trauten es mir nicht zu, also musste ich abtrünnig werden, um nicht auf alle Ewigkeit in ihrem Fahrwasser herum dümpeln zu müssen.

Zu meinen Großeltern sagte ich: „Woher wisst ihr eigentlich, dass ihr Recht habt und nicht eine der anderen tausend Religionen? Wie könnt ihr euch sicher sein, das Richtige zu tun? Was, wenn Gott nun ein Rolling Stones-Fan ist? Immerhin hat er auch Mick Jagger gemacht und ihn mit diesem gewissen Talent ausgestattet. Wenn Gott einen Plan hat, wieso soll dann ausgerechnet die Rockmusik dagegen verstoßen?“

Und sie sagten: „Kind, Gott stattet uns mit allen möglichen Talenten aus, aber wir entscheiden, was wir damit machen, ob wir den Pfad der Tugend oder den Pfad der Sünde gehen.“

Und dann sagte ich: „Ich habe den Eindruck, dass man auf dem Pfad der Sünde mehr Spaß hat.“

Und sie: „Natürlich sieht das Werk des Teufels attraktiv aus. Auch das Netz der Spinne wirkt anziehend auf die Fliege.“

Ich würde jederzeit ein Spinnennetz einem Scheißhaufen vorziehen, dachte ich und war für den Schoß der Kirche für immer verloren.

Meine Eltern reagierten weniger metaphernreich. Sie erklärten mir klipp und klar, wie gottlos und verdorben ich war und dass sie mich nicht retten könnten, wenn das jüngste Gericht – vermutlich jeden Augenblick – über uns hereinbrechen würde.

Und ich sagte zu ihnen: „Bevor sie mich holen, holen sie andere. Wer ist schon unschuldig? Stammt der Spruch nicht von eurem Herrn Jesus? Ich habe es immer geglaubt und bin nachsichtig gewesen, wollte nicht richten, weil es mir nicht zusteht, wollte keine ungerechten Urteile sprechen, nicht schlecht über Menschen denken, aber die Wahrheit ist: Wer immer das Beste von anderen annimmt, nimmt von sich das Schlechteste an. Wer den anderen immer nachgibt, hat selbst das Nachsehen, muss zurückstecken, hinter jenen die sich im Bewusstsein von Gottes Gnade nehmen, was sie glauben, das ihnen zusteht. Für sich selbst nehmen sie Gnade, Vergebung und Recht in Anspruch, wir anderen sollen in Furcht und Demut leben. Ich glaube, es sollten die gleichen Regeln für alle gelten und diese Regeln sollten wir festlegen, denn wer kann schon bezeugen, dass es wirklich Gottes Wille ist, was irgendwer behauptet, das er sei?“

Egal ob ich eine Antwort bekam oder nicht und egal welche es war, der Bruch war vollzogen. Die Enttäuschung überwand die elterliche Liebe und kühlte das Familienleben ab bis zu dem Tag, als ich meinen Mann heiratete. Ich legte die Weichen, es war meine Entscheidung. Ich musste damit leben und ich musste eine Lösung finden. Ich muss dafür gerade stehen und ich schäme mich nicht. Was würde es auch nutzen?

Gut, die meisten Menschen würden diesen Bruch mit der Religion nicht für eine große Sache halten, aber es war das erste Mal, dass ich meinen Mund aufmachte und keine Angst vor Widerspruch hatte, weil ich zuvor nachgedacht und zu einem Schluss gekommen war, weil ich eine Erfahrung gemacht hatte, die mich erwachsener werden ließ. Es war ein emanzipatorischer Akt und damit ein Dorn im Auge all derer, denen es besser gefallen hätte, wenn ich unmündig geblieben wäre. Aber das ist in Ordnung. Ich habe sie hinter mir gelassen und entschieden, dass es mir nichts ausmacht.

Ich habe nicht gelogen, sondern nur nach meinem Gewissen gehandelt. Sollte ich einen Fehler gemacht haben, so soll Gott mich bestrafen und nicht seine weltliche Armee. Ich erwarte ihn und ich habe ein paar gute Argumente.

 

„Was ist los, Schlampe?“, Mercedes stößt mich von der Seite an, „Warum so schweigsam? Hab ich einen wunden Punkt erwischt?“

„Würde es dir leid tun, wenn es so wäre?“, frage ich.

Sie schnaubt.

„Schon gut. Wieso sollte mich etwas verletzen, wenn es dir nicht mal leid tut? Willst du einen Schluck Wodka?“

Natürlich sagte Mercedes nicht nein. Nur Vincent blickte uns strafend, aber machtlos an.

„Schweigen, wenn man reden sollte, ist gefährlich“, sage ich.

„Reden, wenn man aufstehen sollte, ist gefährlicher“, sagt Mercedes.

Ich lächele und schweige.

Barbie

 

Die Mittagshitze beginnt den Wagen aufzuheizen und Justice schleicht immer noch um uns herum. Er hechelt, wir schwitzen. Mercedes und ich halten uns mit Wodka bei Laune. Vincent gibt den Asketen und scheint zu meditieren.

Alkohol aber scheint seine alte Macht, aus Feinden Freunde zu machen – und umgekehrt – nicht eingebüßt zu haben. Mercedes hat zwar nicht aufgehört, mich Schlampe zu nennen, aber sie sagt es jetzt in einem anerkennenderen Tonfall.

„Weißt du, was das hier ist?“, lallt sie.

„Was?“, frage ich.

„Die Hölle! Siehst du wie sich alles um uns dreht? Das sind die Kreise der Hölle.“

„Ach ja? Das heißt, wenn du mich von hier vertreiben willst, ist das zu meinem Besten?“

„Wer weiß? Vielleicht gibt es noch etwas Schlimmeres als das hier? Wer weiß, was du angestellt hast, dass du hier gelandet bist? Sieh nur, wie der Hund dich anknurrt. Der riecht etwas. Ist es Angst oder Schuld? Bist du untreu gewesen oder faul oder unmäßig im Essen und Trinken?“

„Ja“, sage ich, „Ich war ein richtiges Schwein! Ich habe alles genau so gemacht, wie man es nicht machen soll.“

„War’s wenigstens gut?“, fragt Mercedes.

„Die Hölle“, sage ich, „ist der Himmel dagegen.“

„Soll ja Leute geben, die auf Schmerzen stehen.“

„Faszinierend, wenn Leute wissen, was sie wollen“, sage ich.

„Also ich weiß, was ich will“, sagt Mercedes.

„Und was?“

„Meine verdammte Ruhe.“

„Darauf stoße ich an!“

„Männer sind die größten Schweine“, befindet Mercedes, „Und es tut ihnen nicht mal leid.“

„Wenn man es zu was bringen will, muss man ein Schwein sein“, sage ich, „Da sind die Kerle deutlich im Vorteil.“

„Du sagst es, Schwester! Aber wenn du und ich uns wie die Schweine verhalten, heißt es, wir seien Schlampen. Das ist ungerecht, verstehst du?“, sagt Mercedes und ich nicke. Ich habe keine Lust, sie auf ihre eigenen Widersprüche festzunageln.

„Aber eigentlich sind Männer auch nur Menschen. Sie mögen glauben, Ambitionen haben zu müssen, aber wer ansetzt, um hoch zu fliegen, darf sich nicht wundern, wenn er auf die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit trifft und auf ein Niveau zurückfällt, für das er zuvor nur Verachtung übrig hatte“, sagt sie weiter.

„Und sie geben uns die Schuld für ihr Versagen. Die Männer, meine ich“, sage ich, „Sie hassen uns Frauen, weil sie es nichts übers Herz bringen, sich selbst zu hassen und wir hassen uns, weil wir es nichts übers Herz bringen, sie zu hassen.“

„Ich bin diplomatisch“, meint Mercedes, „Ich hasse einfach alles und jeden.“

„Gute Einstellung“, finde ich.

„Ich finde, diese Unterhaltung geht langsam in eine Richtung, die man als Irrweg bezeichnen könnte“, sagt Vincent.

„Ach bist du auch noch da?“, kichert Mercedes, „Keine Sorge, Anwesende sind immer ausgeschlossen von den Verallgemeinerungen.“

„Es gibt drei Arten von Menschen“, sage ich, „Die einen behaupten, das Leben zu verstehen und tun es nicht Die sind gefährlich, weil sie dazu neigen, Führungspositionen für sich zu beanspruchen. Die nächsten verstehen das Leben nicht und verzweifeln daran. Die sind verloren. Und die letzten glauben, das Leben nicht zu verstehen und haben damit mehr verstanden als alle anderen, auch wenn sie sich über diejenigen wundern, die ihr Scheitern bedauern, daran verzweifeln oder es vertuschen.“

„Okay, du hattest eindeutig genug von dem Zeug“, sagt Mercedes und reißt mir die Wodka-Flasche aus der Hand.

„Nein, das meine ich ernst. Man sollte Leuten, die selbstsicher auftreten, grundsätzlich misstrauen und Leute, die verzweifeln, bringen einen nicht weiter. Das einzig Sinnvolle, was man tun kann, ist, sich zu wundern und niemals damit aufhören. Immer wenn man glaubt, etwas verstanden zu haben, kann man sich sicher sein, dass man etwas missverstanden hat.“

„Ist da Resignation oder Gnade in deinen Worten?“, fragt Vincent.

„Ein Realist muss in seine Worte keine Emotionen legen“, erwidere ich.

„Aber du bist keine Realistin. Niemand ist das. Wir sind alle Opfer unserer Hoffnungen und Ängste“, sagt Vincent, „Selbst die Aufgeklärtesten unter uns, wir alle, suchen nach Zeichen und Omen. Es ist die Natur des Menschen. Die Schicksalsgläubigkeit ist in unseren Genen eingebrannt. Zufälle sind zu profan. Alles muss eine Bedeutung haben. Alles muss zusammenhängen.“

„Wie der Pinguin und ich“, werfe ich ein und wie auf Knopfdruck beginnt Mercedes, zu prusten. Wir sind jetzt Verbündete. Also erzähle ich die Geschichte: „Als ich in die Vorschule kam und mir ein Haken für meinen Turnbeutel zugewiesen wurde, bekam ich statt eines Namensschildes oder einer Nummer, die ich noch nicht hätte lesen können, das Symbolbild eines Pinguins zugeteilt und seit dem frage ich mich, was das wohl zu bedeuten hat. Was habe ich mit dem Pinguin gemeinsam? Ist der Pinguin mein Spirit-Animal, mein tierischer Schutzengel? Bin ich in einem früheren Leben ein Pinguin gewesen? Oder werde ich als solcher widergeboren werden? Diese Fragen beschäftigen mich schon fast mein ganzes Leben lang.“

„Im Ernst?“, ruft Mercedes dazwischen, „Das beschäftigt dich? Du denkst dein ganzes Leben über so etwas nach? Kein Wunder, dass du hier gelandet bist. Muss ja schrecklich aufregend gewesen sein, dein Leben…“

„Ich mag nicht mal Fisch und fühle mich bei Kälte nicht wohl“, erzähle ich unbeirrt weiter, „Ich glaube, es gibt kein Tier, das ich mehr hasse, als den Pinguin.“

Und das ist das höchste Maß an Aufgeklärtheit und Rebellion gegen das Schicksal, zu dem ich fähig bin.

„Ach, scheiß auf den Pinguin“, sagt Mercedes, „Es gibt kein Tier, das ich mehr hasse als diesen Köter da draußen!“

„Auch er hat eine Seele und Empfindungen“, sagt Vincent.

„Ja, die Empfindung, dass er uns die Kehlen aufreißen muss für sein Seelenheil.“

Nach einer Weile, als ich wieder etwas nüchterner bin, sage ich zu Mercedes: „Dass sie uns Schlampen nennen, ist schmutzige Kriegsführung. Sie reden uns ein schlechtes Gewissen ein und wir merken es nicht einmal.“

„Wer?“, fragt sie.

„Na, alle. Die Männer. Die Frauen, die den Männern gefallen wollen. Die Männer sehen uns als Gefahr und die anderen Frauen als Konkurrentinnen. Das führt zu einem Klima des Misstrauens und wir nennen uns eher gegenseitig „Schlampe“, als uns zu solidarisieren.“

„Und jetzt?“, fragt Mercedes, „Willst du dich mit mir gegen Vince verbünden? Vergiss das mal ganz schnell. Ich spiele nicht die Fürsprecherin für dich, nur weil wir hier zusammen festsitzen.“

Und so geht der magische Moment dahin. Wir schweigen und ich spüre, dass Mercedes wie ich sich Gedanken darüber macht, ob wir uns nicht zu sehr verbrüdert – verschwestert – haben. Konnten wir einander trauen? Welchen Grund sollten wir dafür haben? Welche Vorteile konnten wir dadurch erreichen?

 

Wir starren eine Weile nach draußen in die Ferne. Die Wüste scheint in ihrer Unendlichkeit trostlos und in ihrer Trostlosigkeit unendlich. Wie kann hier überhaupt etwas überleben, frage ich mich. Hier liegt alles brach. Die Gedanken, die Zeit, die Seele. Gefundenes Fressen.

„Wir werden deine Seele fressen“, das steht auf dem Schild vor der Stadt. Wie die Kojoten stürzen sie sich darauf.

Ich nutze die Zeit, eine Liste von Dingen zu erstellen, die einem die Seele auffressen, wenn man nicht aufpasst:

1. Schuld

2. Feigheit

3. Käuflichkeit

4. Heuchelei

5. Gleichgültigkeit

6. Grausamkeit

7. Gier

8. Macht

9. Hass

Ich hake die Nummern Eins, Zwei, Drei, Sechs, Sieben und Neun vor meinem geistigen Auge ab. Genug für einen Ausflug in die ewige Verdammnis, schätze ich.

Wie es sich wohl anfühlt, frage ich mich, ein Leben ohne Seele. Taub? Bewusstlos? Gleichgültig? Habe ich sie jetzt in diesem Moment noch, meine Seele? Wer wird sie fressen? Der Hund? Wie schmeckt sie? Und dann? Welches Schicksal könnte schlimmer sein, als mit Leib und Seele verdammt zu sein? Nur mit dem Leib verdammt zu sein, erscheint mir dagegen fast wie ein Wellnessurlaub. Und wenn es hart auf hart kommt, kann man so einen Leib recht einfach loswerden. Womit versuchen sie mir Angst zu machen? Was ist so eine Seele eigentlich wert? Wofür ist sie gut? Steht sie einem nicht eher im Weg? In etwa so wie die Jungfräulichkeit, die eher ein theoretisches, kulturelles Konzept ist, aber trotzdem beschützt werden muss, auch wenn sie keinen Sinn erfüllt und absolut nichts aussagt? Wieso ist den Menschen der Glaube an übernatürliche Konzepte und Interpretationen so wichtig, dass sie ihr Leben danach ausrichten und Entscheidungen damit begründen?

Von mir aus sollen sie meine Seele haben. Meine Weisheit, meine Libido, mein Selbstwertgefühl und meinen Schmerz können sie gratis dazu bekommen, wenn sie wollen. Ist am Ende sowieso alles eine Sauce.

Manchmal gelingt es mir, etwas zu sehen, ohne es wahrzunehmen. Ich kann mit offenen Augen schlafen und deshalb erschrecke ich fürchterlich, als plötzlich eine sehr dicke, sehr wütende Frau vor dem Auto steht und den Hund mit einem Teppichklopfer auf Distanz zu halten versucht. Ich habe keine Ahnung, wo sie hergekommen ist und ich bin mir sicher, dass ich sie noch nie zuvor in meinem Leben gesehen habe. Sie ist so real wie dieser Augenblick.

„Was macht ihr hier? Versteckt euch in einem schrottreifen Geländewagen und sauft! Das gefällt euch wohl so!"

Wenn sie die Mutter von irgendwem ist, kann man diesen jemand nur bedauern. Ich kurbele die Fensterscheibe herunter und sage: „Guten Tag."

„Und du bist?", fragt sie.

„Liz."

„Dann bist du also die stinkende Weiße, die Mercy erwähnt hat. Was willst du hier?"

„Nichts mehr", sage ich, „Ich habe schon verstanden, dass ich nicht willkommen bin."

„Aber das ist doch nicht wahr", wirft Vincent ein.

„Ja, den Kerlen passt es natürlich gut, wenn eine neues Weibchen in die Gruppe kommt", die Frau spuckt vor uns auf den Boden.

„Das ist Bar", erklärt Mercedes, „Sie verbringt hier ihren Ruhestand und Lebensabend."

„So alt sieht sie gar nicht aus", flüstere ich ihr zu.

„In ihrer Branche altert man schneller."

„Oh", ich frage nicht weiter.

„Was ist? Was starrst du so, Mädel? Hab ich irgendwas an mir? Ekelst du dich vor mir? Bist ein bisschen etepetete, was?"

„Nein, entschuldige. Es ist nur..."

„Wieso bist du hergekommen. Das hier ist kein Ort, durch den man einfach durchfahren kann. Das hier ist eine Endstation. Von hier kommt niemand mehr weg, hörst du? Es gibt kein Zurück. Wer einmal hier ist, hat alles aufgegeben. Du siehst nicht aus, als hättest du kein Geld und keine Perspektive, Schätzchen, als was ist dein Problem? Wirst du verfolgt? Sind dir die Cops auf der Spur? Gott steh dir bei, wenn du die Cops hergeführt hast!"

„Ehrlich gesagt, hört sich Endstation genau danach an, wonach ich suche", sage ich, „Ich würde einfach gerne irgendwo ankommen, nicht mehr ständig in Bewegung sein, nicht mehr ständig suchen", sage ich.

„Suchen? Wonach lohnt es sich schon zu suchen?"

„Glück?"

Sie verpasst Justice einen Schlag auf die Schnauze, als er sich ihr wieder zu nähern versucht: „Wenn du danach suchst, ist es kein Wunder, dass du nicht zur Ruhe kommst."

„Was gibt es stattdessen?", frage ich.

Bar verweist mit einer umfassenden Bewegung auf die Wüste um uns her: „Das hier und unser Solace."

Der Trost in der Wüste. Irgendwie trügerisch, finde ich. Fast wie eine Fata-Morgana.

„Also, wenn ich du wäre, Schätzchen, würde ich davon laufen, nicht auf etwas zu, von dem du nicht weißt, ob es eine Falle ist", sagt Bar.

„Ist das hier denn eine Falle?", frage ich.

„Was glaubst du? Dass wir hier leben, weil das Klima uns so gut gefällt? Etwas zu suchen, bedeutet immer Enttäuschung, aber vor etwas fliehen, bedeutet ein Erfolgserlebnis mit jedem Schritt, bei dem du nicht erwischt wirst."

„Sie hält sich für weise", kommentiert Mercedes, „Aber selber hat sie es nie geschafft, etwas zu widerstehen. Sieht man ja."

Der Teppichklopfer klatscht auf die Windschutzscheibe: „Komm du mir da raus, Mercy. Willst du eine damit hinter die Ohren? Ich hab schon ganz andere Leute verprügelt. Solche vorlauten Gören wie dich verspeise ich zum Frühstück! Mein Leben ist vielleicht vorbei, aber du wirst noch viele, viele Jahre diesen Sand hier fressen."

„Wo ist Frank?", fragt Mercedes, ohne auf Bars Drohungen einzugehen.

„Weiß der Teufel. Was hängst du eigentlich so an ihm? Glaubst du, wir können ohne ihn keine Entscheidungen treffen? Hast du Angst allein? Ohne deine Pistole? Mercy, du enttäuschst mich!“

„Wenn Frank nicht entscheidet, wer soll es stattdessen tun? Vincent hier? Der spielt sich schon viel zu sehr auf mit seinem Gutmenschengetue. Hält sich für achso heilig."

„Und du hältst dich für achso tough", wirft Vincent ein.

„Worüber wollt ihr überhaupt ständig entscheiden?", frage ich, „Ich habe doch gar nicht vor, zu bleiben. Und außerdem finde ich es ziemlich respektlos, wenn man mir keine Stimme bei dieser Sache zugesteht."

„Hast du denn eine Stimme verdient? Oder hast du sie nicht längst verwirkt?", fragt Bar, „Du kommst her und stellst sofort Ansprüche. Du gefällst mir, Missy."

„Ich habe gelernt, dass, wer keine Ansprüche stellt, keine Zugeständnisse bekommt", erkläre ich.

„Und ich habe gelernt, dass, wer Ansprüche stellt, vor allem enttäuscht wird", erwidert Bar, „Mach dich davon und nicht von anderen abhängig. Das ist mein Rat an dich."

Ich mag Bar, auch wenn sie überheblich mit mir redet und mich vermutlich verachtet.

 

Tugenden, sind Dinge, die man Kindern beizubringen versucht, damit man weniger Arbeit mit ihnen hat. Im Zentrum meiner Erziehung stand dabei einerseits die Bescheidenheit und andererseits die Beständigkeit. Wer schätzt schon ein anmaßendes, flatterhaftes Mädchen? Und was wurde aus solchen?

Bescheidenheit bedeutet die eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen und Beständigkeit, das Leid zu ertragen, wenn man seine Bedürfnisse abgeschrieben hat. Ich bin nicht sehr leidensfähig, wie es scheint und fügte so einem Jungen namens Walter Leid zu, das er vermutlich nicht verdient hatte.

Es war das erste Mal, dass ich erkannte, dass unterschiedliche Maßstäbe für Mädchen und Jungen angelegt wurden und weibliche Tugenden sich signifikant von männlichen unterschieden. Statt bescheiden, sollten die Jungen hartnäckig sein und statt beständig ehrgeizig. Aggression wurde ihnen eher nachgesehen und Feigheit nicht als Vorsicht belohnt, sondern als Schwäche gebrandmarkt. Während wir leise sein und Harmonie verbreiten sollten, sollten Jungen eine klare Rangordnung unter sich ausmachen, die zwar unausgesprochen blieb, die aber immer irgendwie in der Luft lag.

So kommt es auch, dass Leid unterschiedlich bewertet wird. Ein Mädchen hat Zurückweisung mit Würde und Verständnis hinzunehmen, ein Junge muss dagegen nicht damit umzugehen wissen. Er hat das Recht, Zurückweisung zurückzuweisen.

Es ist nicht so, dass dieses Verhalten naturgegeben ist, es wird uns anerzogen. Ich weiß, dass es so ist, denn von Natur aus ertrage ich Zurückweisung nur sehr schlecht, erwarte aber Akzeptanz für meine Entscheidungen. Zumindest weiß ich es heute, da ich die ungeschriebenen Regeln der Gesellschaft durchblickt und für mich abgelehnt habe.

Anders verhielt es sich damals, als Walter und ich an diese unsichtbaren Verhaltensrichtlinien vorstießen.

Es war eine recht einfache Geschichte. Er war in mich verliebt, ich war in ihn verliebt. Dann merkte ich, dass ich doch nicht mehr in ihn verliebt war, aber er teilte diese Meinung nicht.

Ich weiß nicht, wieso diese Dinge immer so eine bedeutende Rolle in den Biographien von Frauen spielen. Die Lebensgeschichte einer Frau scheint die Geschichte ihrer Männer zu sein, während die Lebensgeschichte eines Mannes, seine Lebensgeschichte ist. Niemand kommt auf die Idee, bei einem bedeutenden Mann, erstmal alle seine Affären aufzuzählen, während es bei einer Frau schon fast erstaunlich ist, wenn neben ihren Männern noch irgendwas Erwähnenswertes passiert ist. Liebeskummer ist angemessen für Frauen, Männer hingegen belächelt man dafür. Wer seine Freundin nicht halten kann, ist ein Schwächling. Wer verlassen wird, bringt es einfach nicht. Es ist peinlich, nicht schmerzhaft für ihn.

Die Frau ist auf den Mann angewiesen, der Mann kann sich auf sich selbst verlassen. Also ist es ungehörig und undankbar, wenn die Frau ihn verlässt. Ich weiß nicht, in wie fern Walter sich dieser Strukturen bewusst war, aber er ertrug es nicht, dass ich ihn verließ. Er wollte mich nicht, ich wollte ihn nicht, aber er wollte, dass ich ihn wollte, um sich geschmeichelt zu fühlen und sich dann darüber beschweren zu können, wie schwierig es wäre, mich loszuwerden.

Die Lebensgeschichte einer Frau ist die Geschichte, wie sie sich von lästigen Verehrern befreit. Die Pflanze unserer Persönlichkeit wächst in der Asche und dem Staub unserer Beziehungen.

Was Walt nicht verstand, war, dass die Asche einer Beziehung nicht die Asche einer Person war. Er fühlte sich eher beleidigt als verletzt, gedemütigt und lächerlich gemacht. Seine Eitelkeit galt – im Gegensatz zu meiner – nicht als Charakterfehler, sondern als Resultat eines gesunden Selbstvertrauens und so begann er, mich zu terrorisieren mit Briefen und Telefonaten. Meiner Mutter erzählte er, wie eiskalt ich ihn abserviert hätte, meinem Vater machte er Vorwürfe, weil ich kein schlechtes Gewissen hatte. Er beteuerte, wie sehr er mich hasste, wie sehr er mich nicht vermisste und wie sehr ich es bedauern würde, ihn in den Wind geschossen zu haben. Er klingelte nachts an meiner Haustür und warf einen Stein durch unser Kellerfenster, um in unsere Waschküche einzubrechen. Dort stahl er meine Unterwäsche und gab sie nie zurück.

Seinen Freunden riet er, dass sie besser nichts mit mir anfangen sollten, da ich ein Flittchen sei. In der Stadt ging daraufhin kurzzeitig das Gerücht herum, ich hätte meinen Körper für Geld verkauft, woraufhin meine Mutter einschritt und die Sache schließlich ein für alle Mal klarstellte, indem sie mir Hausarrest erteilte, bis die Wogen sich geglättet hatten.

Als ich Walt schließlich zur Rede stellte und versuchte, ihm zu erklären, dass er einfach nicht der Richtige für mich sei, sagte er: „Du rammst mir einen Pfahl ins Herz. Du bist schuld, wenn ich eines Tages durchdrehe!“

Ich hatte Visionen von Blutbädern und Hinterhalten, von denen aus er mir auflauerte. Ich schlief nicht mehr, weil ich fürchtete, er könnte durchs Fenster in mein Zimmer einsteigen. Aber vor allem fürchtete ich, zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn Walt tatsächlich durchdrehte. Würde es nicht heißen, dass er aus unerwiderter Liebe gehandelt hätte? Er, der Liebende, ich, die Abblockende. Sie würden es ein Drama nennen, als wäre es unvermeidlich gewesen, nicht eine Gewalttat, ein Verbrechen oder Hass. Sie würden es romantisieren, weil die Emotionen eines Mannes involviert waren. Die Emotionen einer Frau taugen allerhöchstens, um sich darüber lustig zu machen.

Also wurde ich kalt.

Und ich akzeptierte, dass ich Männer dazu bringen konnte, durchzudrehen, dass ich die Macht besaß, die in den Wahnsinn zu treiben, dass ich sie verletzte durch meine pure Existenz. Ich ließ mich hassen, weil es das ist, wofür Frauen offensichtlich geboren werden. Sie sind die Sündenböcke der Gesellschaft, die Strippenzieher im Hintergrund, diejenigen, die der männlichen Rationalität im Weg stehen. Wir verhindern das Utopia und die Männer machen uns für ihre Unfähigkeit verantwortlich.

Ich schämte mich meiner, obwohl ich nicht wusste, was ich falsch gemacht hatte, was ich wie hätte anders machen können. Was wurde von mir erwartet? Bescheidenheit und Beständigkeit, aber auch Anstand und Ehrlichkeit. Die universellen Tugenden. Empathie und Selbstlosigkeit. Die falschen Freunde.

Konnte es sein, dass ich brutal, böse und ungerecht gehandelt hatte? Habe ich ihn wirklich abservieren müssen? Habe ich etwas Falsches gesagt? Hätte ich zu seinen Gunsten zurückstecken müssen? Hatte er es nicht doch verdient, mit mir zusammen zu sein, wenn er das wollte?

Dabei war Walt ein eher unscheinbarer Typ und deswegen sicher frustriert. Allerdings hätte man ihm vermutlich keinen solchen Terror zugetraut, wie er ihn mir zumutete. Und allein das war ein Kriterium, mir zu misstrauen. Er war ein guter Junge, kämpfte für die Liebe, schenkte mir Aufmerksamkeit, während ich sie undankbar ignorierte.

Ich weiß nicht, was Walt heute tut, wo er ist und was das Leben für ihn bereit gehalten hat. Ich weiß nicht, ob sein Ego immer noch angekratzt ist, ob er mich vergessen hat oder ob er mir immer noch grollt. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich ihm noch böse sein soll. Bin ich es je gewesen? Wäre er nicht so penetrant gewesen, hätte ich ihn längst vergessen. Immerhin darin hatte er Erfolg…

Wahrscheinlich hält er sein damaliges Verhalten heute für kindisch, nicht aber für falsch. Typen wie er, halten sich im Nachhinein nicht für schuldig, sondern für naiv. Nur Frauen wie ich, geben sich mit der Erklärung „Naivität“ nicht ab und fragen fortwährend, ob sie nicht vielleicht doch ein bisschen schuld gewesen sind und die Walters dieser Welt nehmen diese Unsicherheit dankbar an, um ihr eigenes Gewissen rein zu halten. So ein ganz kleines bisschen, hält Walter sich bestimmt immer noch für ein Opfer. Ein bisschen Hass ist das immer noch. Seine Ansprüche haben sich nicht geändert, er hält sich heute nur für großzüger, milder oder wählerischer. Wahrscheinlich meint er sogar, eine Frau müsste ihm dankbar sein, wenn er sie nicht belästigt, obwohl er es könnte und wenn er sie belästigt, müsste sie ihm erst recht die Füße küssen, denn wer sonst soll sie beachten?

Walter, wo immer du bist, ich trinke auf dein Wohl und darauf, dass dir deine Erbärmlichkeit irgendwann bewusst wird und du dich bis ans Ende deiner Tage für dein vertanes Leben schämst!

 

Bar sagt: „Ihr kennt diese Romane, in denen diese Typen selbstmitleidig von ihren Lebenskrisen erzählen, die sie vergeblich zu bewältigen versuchen, indem sie mit jeder Menge zweifelhafter Dirnen schlafen? Ihr seid jede einzelne dieser Frauen. Ihr seid seine Erkenntnis, dass jedermann in dieser Welt völlig allein um auf sich gestellt ist, dass niemand ernsthaft an seinen Problemen interessiert ist, niemand ihm je helfen wird und niemand überhaupt auch nur versucht, ihn zu verstehen. Ihr seid die Teilnahmslosigkeit, die Gleichgültigkeit, die Kälte, die ihm entgegen schlägt. Ihr seid die äußere Leere, die seine innere Leere nicht füllen kann und die ihm zeigt, dass er nicht besser, anders oder besonders ist, sondern auch nur die Hure für irgendwen anders, der ebenso versucht, mit seinem Leben klarzukommen.“

„Wir werden gehasst, weil wir ihnen die Augen öffnen?“, frage ich.

„Niemand mag es, aufzuwachen, wenn er gerade schön geträumt hat“, sagt Bar.

„Aber ist es dann nicht ein Zeichen von Hilflosigkeit, wenn sie die Schuld bei anderen suchen, statt nach Wegen hinaus aus der Situation zu suchen?“

„Natürlich, aber willst du jemanden für seine Hilflosigkeit verurteilen? Da kannst du auch einem Beinamputierten vorwerfen, dass er nicht laufen kann“, sagt Bar.

„Sie hat keine große Meinung von Männern“, erklärt Mercedes.

„Alles Schwächlinge“, sagt Bar, „Anwesende ausgenommen.“

Vincent winkt ab: „Kein Einspruch.“

„Alle Romane lügen“, sage ich, „Dickens zum Beispiel belügt uns mit seinen Geschichten darüber, wie jemand, der ein furchtbares Leben führt, zu einer Erkenntnis kommt und daraufhin augenblicklich zu einem besseren Menschen wird. Ich hatte in meinem Leben, glaube ich, nur eine einzige Erkenntnis und das war im Alter von fünf Jahren. Dass es eine Erkenntnis von lebensbestimmendem Ausmaß war, verstand ich aber erst viel später. Dass es vielleicht sogar eine universelle Wahrheit, ein Rezept für ein gutes und erfülltes Leben ist, darüber konnte ich bisher noch nicht nachdenken.“

„Na, dann klär und mal auf, Liz“, sagt Mercedes, „Was ist deine universelle Erkenntnis?“

„Also: Ich war fünf Jahre alt und stellte mir vor, der Fernsehsessel meiner Mutter sei ein Raumschiff. Aber bevor ich loslegen und Abenteuer im Weltall erleben konnte, musste ich erst Vorräte und Gepäck aufladen und so verbrachte ich den ganzen Tag damit, Krimskrams auf mein Raumschiff zu laden, den ich nicht vermissen wollte, wenn ich erstmal da oben sein würde. Bis ich einigermaßen zufrieden mit einem Hausstand war, war die Sonne untergangen und ich musste ins Bett. Ich hatte kein einziges Abenteuer erlebt aus Angst, etwas zurück zu lassen, aus Gier, aus Furcht, etwas zu vergessen. Heute sitze ich in einem Auto auf einer verdorrten Wiese, um mich herum verfällt eine ganze Stadt. Ich starre in den strahlend blauen Himmel und… ja um ehrlich zu sein, könnte ich gerade nicht glücklicher sein. Ich besitze nichts, ich kann nichts vergessen oder verlieren. Ich muss mich von nichts trennen. Alles wird irgendwann so enden, wie dieser Ort. Es ist unausweichlich und es ist überhaupt nicht schlimm. Die Welt verkraftet den Tod. In der Welt gibt es keine Verluste nur Umwandlung. Diese Erkenntnis brauchte Jahre, um in mir zu reifen, um mich dazu zu bringen, zuzugeben, dass ich einen Teil meines Lebens vergeudet habe. Es ist nicht so leicht, wie in einem Dickens-Roman. Es tut weh, es kostet Überwindung, Kraft und harte Verhandlungen mit sich selbst. Erkenntnisse sind harte Arbeit. Sie fallen nicht vom Himmel, egal wie blau, strahlend, klar und wahrhaftig er ist.“

„Halten wir also fest, dass Loslassen uns allen guttut“, sagt Mercedes, „Aber Männer ertragen das nicht, weil sie fürchten, nichts mehr zu haben und nichts mehr zu sein, wenn sie nicht fortwährend nach irgendwas grapschen, das anderen gehört.“

„Sie definieren sich nur über das, was sie sich aneignen“, bestätigt Bar.

„Und worüber definieren sich Frauen?“, fragt Vincent.

„Gar nicht“, sage ich schnell, „Ich muss mich nicht zwanghaft definieren, von anderen abgrenzen oder mich in eine Gruppe einordnen.“

„Man kann auch wachsen, ohne jemand anderem etwas wegzunehmen“, sagt Bar.

Frank

 

Justice beschnüffelt gerade Bars Pantoffel, als sie ihm einen festen Schlag auf den Kopf versetzt. Der Hund rennt jaulend davon und Bar verkündet triumphierend: „Und ihr werdet nicht mit so einem Hundchen fertig? Ihr seid jämmerlich!“

„Immerhin hattest du einen Teppichklopfer“, sagt Mercedes, als sie aus dem Auto aussteigt.

Vincent und ich folgen ihr.

„Ich soll euch zu Frank bringen. Deshalb bin ich überhaupt erst gekommen“, sagt Bar.

„Warum kann er nicht selber kommen?“, frage ich.

„Wegen des Dramas“, meint Bar.

„Wegen des was?“

„Ach nichts.“

 

Wir trotten durch die glühende Mittagshitze eine staubige Straße entlang. Wir alle schweigen. Ich, weil ich die Ruinen der Stadt begutachte, die anderen, weil sie sich zu schämen scheinen, dass sie mir als Touristin keine echten Sehenswürdigkeiten bieten können.

Frank wohnt im Pfarrhaus, aber er hat uns in die Kirche beordert, die das Herz der Stadt bildet und aussieht, wie eine übergroße Scheune.

Die Eingangstür steht offen und lockt uns mit augenfreundlicher Dunkelheit gegen die blendete Sommersonne. Auf der Türschwelle liegt ein Fußabtreter mit dem Aufdruck: „Go Away“. Ich fühle mich willkommen.

Als meine Augen sich an die relative Düsterheit des Kircheninneren gewöhnt haben, erkenne ich die Silhouetten von Eugene und Alfred, die auf dem Fußboden vor dem Altar sitzen und sich eine Flasche Wein teilen.

Auf dem Altar im Schneidersitz wartet ein hagerer, düster dreinblickender Mann auf uns. Er starrt mir direkt in die Augen und ich muss blinzeln, so durchdringend ist sein Blick. Das muss Frank sein.

Er hat den Innenraum der Kirche etwas umdekoriert. Es dominieren jetzt dunkle Farben und es ist kein einziges Kreuz mehr zu finden, das richtig herum hängt. Was ist das? Die Kirche Satans?

Immer noch besser als die Kirche der Menschen, denke ich und versuche Franks Musterung stand zu halten.

 

Die Kirche scheint eine Konstante in meinem Leben zu sein. Alles beginnt oder endet in einer. Kirchen sind grausame Orte, die einem das Heil versprechen, leere Phrasen anbieten und am Ende doch nur Fallen darstellen. Wer einmal drin ist, der muss kämpfen, um aussteigen zu können. Ich habe erlebt, wie der Glaube – insbesondere der Glaube an eine Kirche – die Beziehungen zwischen Menschen stören kann, die sich eigentlich nahe stehen sollten.

Und ich habe erlebt, wie die Kirche Beziehungen erzwingt.

Meine Eltern wollten, dass ich mich mit einer gewissen Lucy anfreundete, weil sie mit Lucys Eltern befreundet sein wollten. Sie kannten sich aus den Gottesdiensten und der Gemeindearbeit. Meine Großmutter befand, Lucy sei ein guter Einfluss für mich, da sie so wohlerzogen sei und es ihr leicht falle, ihren Eltern zu gehorchen.

Lucy trug die Kleider, die meine Eltern sich für mich gewünscht hätten, die aber etwas zu teuer waren. Lucy sang im Kirchenchor, kannte sämtliche Gebete auswendig, ging mit ihrer Mutter zum Reverend zum Kaffeekränzchen, weil sie eingeladen wurde – im Gegensatz zu uns, die wir unsererseits den Reverend einladen mussten, um mit ihm Kuchen verspeisen zu können.

Mein Interesse an Lucy pendelte zwischen Neid und Bewunderung. Ich wollte nicht sein wie sie, aber es war offensichtlich, dass sie besser war als ich. In allem. Und dafür wurde sie mehr geliebt, mehr gefördert, mehr herumgezeigt, mehr zum Gespött der Gleichaltrigen.

Lucy stellte den einzigen Grund dar, warum ich nicht zum ständigen Opfer von Hänseleien wurde. Sie war einfach noch lächerlicher als ich. (Und ich hatte Bernies Essensgeld abgezockt, das flößte einigen damals durchaus Respekt ein…) So kam es, dass Lucy glaubte, dass, wenn sie sich an mich hängt, sie nicht mehr so allein auf dem Schulhof herumstehen würde.

Sie wollte tatsächlich meine Freundin sein, auch wenn nur aus egoistischen Motiven. So etwas war mir noch nie passiert. Ich, der starke Part in einer Freundschaft, nicht der zerstörerische oder der sich unterwerfende. Ich hätte es genießen können, ich hätte mich vorbildich verhalten und Lucy helfen können, aber ich tat so, als ginge sie mir auf die Nerven.

Ich sagte zu ihr: „Deine Eltern sind der Grund, warum du immer herum geschubst wirst.“

„Du meinst, sie sind neidisch?“, fragte sie.

„Nein. Sie finden es erbärmlich, wie du dich anbiederst.“

So hatte Lucy das noch nie gesehen, denn sie selbst empfand sich längst nicht als gut genug, wenngleich doch als besser als andere. Sie schämte sich gar für diesen Hochmut, so anständig war sie.

„Es geht den Leuten auf die Nerven, dass ihre Eltern sie fragen, warum sie nicht ein bisschen mehr so wir du sein können, verstehst du? Sie wollen nicht mit dir verglichen werden, weil sie nicht so sein wollen wie du.“

„Wieso nicht?“, fragte sie, „Ist es so schlimm, ich zu sein?“

„Sag du es mir.“

Und irgendwann sagte sie es mir.

Es war eine dieser leidlichen Geschichten, die es nie in die großen, landesweiten Medien schaffen, weil niemand zu Tode kommt, oder lebenslang verstümmelt wird. Diese Geschichten, die passieren und bei denen jeder froh ist, wenn sie vertuscht werden, weil sie ein irgendwie schlechtes Licht auch auf einen selbst werfen, weil man es zugelassen hat, weil man es nicht gemerkt hat oder weil man jemandem gerne vertraut hat, dem man nicht hätte vertrauen sollen. Denn manchmal ist der Wunsch danach, vertrauen zu können, stärker als der Gerechtigkeitssinn.

Und auch Lucy wollte gerne jemandem vertrauen. Also vertraute sie mir an, wie sehr sie sich in ihrem Vertrauen getäuscht hatte: „Mom nimmt mich zum Reverend mit, weil er es sich wünscht. Er sagt jedes Mal extra, sie solle mich mitbringen. Dabei will ich gar nicht mit. Es ist langweilig und ein bisschen gruselig.“

„Und warum gehst du dann mit?“, fragte ich.

„Weil ich muss. Wenn ich nicht mitgehe, fragt er sofort, was los ist. Er ruft bei mir zu Hause an, um mit mir sprechen zu können. Er kommt nach Ende der Chorprobe zu mir und erzählt mir, wie er seinen freien Tag verbracht hat. Das interessiert mich gar nicht, aber Mom meint, ich solle stolz sein, dass der Reverend mich so gern hat.“

„Mich kann er nicht so leiden“, sagte ich, um wenigstens irgendwas zu sagen.

„Du bist nicht blond“, meinte Lucy und das verwirrte mich, „Ja, er steht auf Blonde.“

„Woher weißt du das?“

„Weil er mich gefragt hat, ob meine Haarfarbe auch natürlich ist und wo ich sonst noch blonde Haare habe und so.“

„Okay?“

„Das war ultrapeinlich.“

„Was hast du ihm gesagt?“

„Dass ich nicht weiß, was er damit meint.“

„Und dann?“

„Dann sagte er, er könne mir auch zeigen, was er meine.“

In diesem Moment griff Lucy nach meiner Hand und drückte sie so fest, dass ich hinterher Druckstellen von ihren Fingernägeln hatte. Sie blickte mir in die Augen, um zu sehen, ob ich die Richtige war, der sie die Wahrheit sagen konnte und ich konnte die Enttäuschung sich darin spiegeln sehen. Schließlich gewann die Resignation und sie entschied, dass sie niemand Besseren als mich finden würde und sie es dringend loswerden musste: „Und dann hat er es mir gezeigt.“

Ich spüre heute noch, wie ich nach diesem Satz unwillkürlich die Stirn runzeln musste. Ich konnte oder wollte nicht glauben, was sie da sagte, denn ich hielt unseren Reverend für den asexuellsten Menschen der Welt. Ich war mir sogar ziemlich sicher, dass er keinerlei Genitalien besitzen konnte. Also sagte ich: „Bist du sicher, dass das wirklich passiert ist?“

Und Lucy erwiderte: „So wahr ich hier stehe! Er sagte, dass jetzt ich an der Reihe sei und er das mit den blonden Haaren unbedingt wissen müsse. Es ginge lediglich darum, mich vor der Eitelkeit zu schützen. Er müsse sicher gehen, dass ich mir nicht die Haare färbe. Irgend so ein wirres Zeug. Ich bin davon gelaufen.“

Als Lucy das sagte, weinte sie nicht, denn vor mir wollte sie keine Schwäche zeigen. Dafür war ich nicht die richtige Person. Tief in ihrem Inneren wusste Lucy, dass wir keine Freundinnen waren und sie die ganze Zeit allein, dass niemand wirklich Anteil an ihren Problemen nahm und sie sie allein nicht würde lösen können. Sie war verloren und sie hatte es in diesem Augenblick verstanden und akzeptiert.

„Der arme Kerl“, sagte ich, weil ich irgendwas sagen musste und mir nichts anderes einfiel und ich konnte hören, wie Lucys Herz brach.

Es ist leicht, jemandem die Schuld zuzuschieben, der unsicher ist und es ist leicht, vorzugeben, Mitgefühl zu haben, wenn die betreffende Person nicht da ist, um zu prüfen, ob man es ernst gemeint hat. Denn natürlich hatte ich keinerlei Mitgefühl mit dem Reverend, aber diese Situation erforderte irgendeine Emotion. Lucy konnte ich kein aufrichtiges Gefühl anbieten und sie zu betrügen, wäre unangemessen gewesen, also meinte ich, etwas Unverfängliches über den Reverend sagen zu können, um aus dieser unangenehmen Lage fliehen zu können.

Die Beschuldigung des Opfers, egal ob man es Provokation oder Verführung nennt, ist nichts anderes als Selbstschutz.

Und wie schnell rutscht einem ein solcher Satz heraus. Lucy ließ meine Hand los. Sie hatte sich nicht in mir getäuscht. Sie hatte sich in sich selbst getäuscht, indem sie sich wider besseren Wissens eingeredet hatte, ich sei integer, hätte eine Idee, stünde zumindest auf ihrer Seite. Wie schnell macht man eine solche Hoffnung zunichte, indem man die Empathie in sich abblockt.

Ich sagte nicht: Du bist schuld, Lucy! Du hast ihn und dich in diese Situation gebracht und er hatte keine andere Wahl!

Ich sagte auch nicht: Aber er hat vielleicht Recht. Er ist der Reverend und will sicher nur das Beste für dein Seelenheil.

Nein, ich sagte: „Der arme Kerl.“

Weil er Probleme bekommen würde. Weil er sich nicht im Griff hatte. Weil er sich jetzt sicher sehr schämte für diesen einen zügellosen Augenblick. Weil er vielleicht wirklich völlig missverstanden wurde. Konnte ich Lucy überhaupt glauben, oder hatte sie sich die Geschichte vielleicht nur ausgedacht?

Er, er, er… Wie kommt es eigentlich, dass egal in welcher Situation der Mann immer im Mittelpunkt des Interesses steht? Immer wird nur nach seiner Motivation und seiner Zukunft gefragt, nie aber nach dem, was seine Handlungen mit anderen anstellen. Wie kommt es, dass Opfern ob ihrer Passivität oft ein Teil der Schuld zugesprochen wird. Wird nicht auch viel zu oft Passivität mit Hilflosigkeit verwechselt? Kann es Schuld in der Hilflosigkeit geben? Eigenverantwortung in der Machtlosigkeit?

Es ist leichter, das Verhalten des aktiven Parts zu bewerten und zu entschuldigen, denn Passivität wirkt auf uns immer verwirrend. Passive Menschen sind furchteinflößend, weil man sie nicht einordnen kann. Was wollen sie? Was denken sie über einen? Was wissen sie? Was planen sie und was sind sie bereit, zu tun?

Mich verwirrte Lucy. Wieso war sie davongelaufen? Sie hätte schreien oder lachen können. Sie hätte den Reverend zur Rede stellen können. Sie hätte zur Polizei oder ihren Eltern gehen können. Sie hätte ihm in seine gottverdammten Eier treten können. Warum hat sie das nicht getan? Warum war sie nicht auf die Idee gekommen, ihren Standpunkt klarzustellen? Muss man so etwas nicht kritisieren? Diese Feigheit, die uns Mädchen ohnehin nachgesagt wird. Ist sie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung?

Vielleicht war ich wütend auf Lucy, weil sie nicht das getan hatte, was ich getan hätte. Aber hätte ich es getan? Erwartete ich von Lucy Dinge, die ich selbst vielleicht nicht hätte leisten können – nur dass ich sie nicht hatte leisten müssen, weshalb ich fein raus war.

Arme Lucy.

Wie verhält man sich aber richtig als Zeuge? Oder als vertraute Person? Greift man ein? Gibt man Ratschläge, Verduftet man? Schweigt man?

Ich wählte den Weg des geringsten Widerstandes und verschloss die Augen, während ich zu Lucy sagte: „Wenn du nicht willst, dass diese Sache noch peinlicher für dich wird, dann sagst du am besten niemandem davon.“

Sieh nicht hin, dann passiert es nicht! Sieh nicht hin, dann können wir so tun, als wüssten wir nichts! Sieh nicht hin, dann kann alles so weitergehen wie bisher! Denn wer mag schon Veränderungen? Und willst du etwa der Stein sein, der die Lawine ins Rollen bringt? Willst du im Mittelpunkt stehen? Willst du ausgefragt werden und alle peinlichen Details öffentlich darlegen müssen? Willst du dich dem Misstrauen aussetzen und dem Hass derer, die nicht glauben wollen, was du erzählst? Willst du wirklich diesen Preis bezahlen oder nicht doch lieber warten, bis ein anderer dazu bereit ist.

Denn es wird andere geben. So lange geschwiegen wird, wird es weitergehen und niemand wird ein Unrechtsbewusstsein entwickeln. Ist das also die Verantwortung des Opfers und seiner Zeugen?

Lucy ging, ohne sich von mir zu verabschieden. Sie hatte sich mehr von mir erwartet. Sie wollte meine Unterstützung, meine Bestätigung, aber alles, was ich tat, war, ihr noch mehr Angst zu machen.

Aber was hätte ich tun können – abgesehen von dem, was ich hätte sagen können? Mir aus Solidarität die Haare blond färben? Das Kirchengebäude nachts mit Graffiti beschmieren? Während des Gottesdienstes aufstehen und dem Reverend das Mikrophon vom Ständer reißen?

Nein, keine Entschuldigungsversuche mehr! Man muss dafür geradestehen, was man getan hat und was man nicht getan hat. Lucy ist fort. Irgendwo aber wird sie sein und sie wird sich an mich erinnern als die Freundin, die versucht hat, ihr die Feigheit aufzuschwatzen, die sie in sich selbst nicht erkennen wollte. Sie wird sich erinnern an fürchterliche Ereignisse und daran, wie es sich anfühlt, allein damit zu sein. Sie wird den Glauben verloren haben. Sicherlich den an die Menschheit und vielleicht auch den an Gott. Sie wird ein gutes Gespür für Heuchler haben oder paranoid geworden sein. Sie wird vielleicht immer noch mit ihrer Scham kämpfen oder ihre Abscheu kultivieren.

Ich frage mich, wie es sein kann, dass ich alle Menschen so sehr abschrecke, dass sie mich irgendwann verlassen. Sind wir wirklich alle völlig allein auf unseren Wegen? Passieren Treffen wirklich nur rein zufällig und sind sie wirklich nie von Dauer? Sehne ich mich vielleicht gar nicht nach einem Ende, sondern nur nach einem Ende der Enden, nach Beständigkeit, nach Verlässlichkeit, nach all diesen konservativen Tugenden, die meine Eltern mir verdorben haben, indem sie sie mir schmackhaft machen wollten?

 

„Selbstunsicherheit ist ein hartnäckiger Charakterfehler“, sagt Frank, „findest du nicht?“

„Ich weiß nicht“, antworte ich.

„Da hast du es! Mit solchen Antworten drehen wir uns hier stundenlang im Kreis, ohne eine Lösung zu finden.“

„Eine Lösung für was?“, frage ich.

„Für dein Problem natürlich. Du hast doch ein Problem, oder? Niemand kommt hier her, wenn er kein Problem hat. Oder ist es eine Frage? Oder eine Bitte? Eine Bitte. Eine Bitte um Nachsicht oder um Entschuldigung. Hab ich Recht?“

„Ich wüsste nicht, warum ich euch um Entschuldigung bitten sollte, ich habe euch nichts getan“, sage ich.

„Aber irgendjemandem hast du etwas getan. Wir alle tun anderen etwas, oder wir würden gar nicht existieren. Die Probleme entstehen allerdings erst, wenn die Leute, denen man etwas tut, einem nicht mehr egal sind. Früher oder später verwandeln sich Menschen, mit denen man vertrauter wird, in Jammerlappen. Sobald sie anfangen, einem zu vertrauen, glauben sie einem all ihre negativen Gefühle offenbaren zu müssen. Was sie hassen, wovor sie sich fürchten, welche Fehler sie gemacht haben und wie achso deprimiert sie sind. Ich finde das ermüdend keine einzige Freundschaft wurde jemals auf der Basis von „oh, da haben wir ja eine gemeinsame Schwäche!“ geschlossen. Positive menschliche Eigenschaften scheinen aus dem Mode gekommen zu sein. Alle konzentrieren sich immer nur auf ihre Unzulänglichkeiten. Alle hoffen sie, dass sie wegen – nicht trotz – ihrer Jämmerlichkeit gemocht werden, aber ich muss sie enttäuschen. In meinen Augen macht ihr damit nur ein bereits mittelmäßiges Bild zu einem völligen Desaster. Ihr könnt mich nicht beeindrucken mit euren Selbstmordphantasien, euren Panikattacken, euren kindischen Fluchtversuchen in Phantasiewelten, wenn euch euer eigenes Leben zu viel wird. Das einzige, was mich wirklich überraschen würde bei eurer Spezies wäre echte und aufrichtige Aufgeschlossenheit – nicht Naivität, mit der ihr sie verwechselt, sondern die Fähigkeit, neue oder andere Dinge nicht sofort zu verdammen oder als Gefahr wahrzunehmen.“

Diese Predigt hat eine seltsame Wendung genommen und ich brauche einen Augenblick, um mich zu sammeln. Was bildet er sich eigentlich ein, frage ich mich, so über mich und meinesgleichen zu urteilen… Meinesgleichen? Gibt es andere wie mich? Die anderen hier? Bin ich ihnen wirklich so ähnlich? Gehöre ich vielleicht wirklich hier her? Gehört irgendwer überhaupt irgendwohin?

„Ich habe kein Interesse an eurer Freundschaft und eurem Verständnis“, sage ich.

„Warum bist du dann hier?“, fragt Frank, „Was glaubst du, was das hier ist?“

„Eine schwarze Messe?“, frage ich vorsichtig, während ich mich in der verunstalteten Kirche umsehe. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, es ist kühl hier drin, abweisend und arrogant – wenn ein Raum arrogant wirken kann.

Frank lässt ein überhebliches Lachen ertönen und ich möchte mich am liebsten abwenden und hinausrennen.

„Oh, wir sind keine Sekte, du kannst gehen, wann und wohin du willst, allein… du willst nicht, habe ich Recht?“

„Warum fragst du ständig, ob du Recht hast?“

„Weil ich es aus deinem Mund hören will. Du willst nicht gehen, bevor du diese Sachen nicht geklärt hast, stimmt’s?“

„Welche Sachen?“, frage ich.

„Deine offenen Posten, deine Schulden. Jeder zieht am Ende seines Lebens Bilanz und wenn sich herausstellt, dass man Raubbau an seinem Leben betrieben hat, landet man hier. Du kannst nicht gehen, ohne Vergebung. Du suchst nach Absolution. Herzlich Willkommen am einzigen Ort der Welt, an dem du diese nicht bekommen kannst!“

„Ich erwarte nicht, dass ich hier etwas bekomme“, sage ich erneut. Aber Frank hat Recht, dieser Ort ist unheimlich, trostlos, ebenso lebens- wie todesverachtend. Wie er da auf dem Altar sitzt, respektlos gegen jede Spiritualität, sieht er aus wie ein Satanist. Er hat Ausstrahlung, das muss man ihm lassen. Der Zynismus umgibt ihn wie eine beinahe sichtbare Aura. Es ist seine Haltung, seine Sprechweise: Flapsig, nasal, schleppend, aber nicht einfältig. Es ist ihm wichtig, dass er gehört und verstanden wird. Er will die Bestätigung oder die Rebellion. Er richtet sich auf und steht nun auf dem Altar wie der Zeremonienmeister einer transzendenten Zirkusshow. Fehlt nur noch der verbeulte Zylinder und ein Gehstock.

Stattdessen streicht er sich die schweißverklebten Haare zurück, springt hinunter und kommt geradewegs auf mich zu.

„Du hast die Leute hier kennen gelernt und sie waren fair und freundlich zu dir, nicht wahr?“

„Ja“, sage ich automatisch und ich lüge nicht. Diese durchdringenden Augen kann niemand belügen.

„Aber durch Fairness und Freundlichkeit wird man nicht geläutert.“

„Ich glaube nicht, dass es so etwas wie Läuterung gibt“, sage ich.

„Es ist irrelevant, woran wir glauben. Wichtig ist nur, was real ist.“

„Ich glaube, ich weiß nicht mehr, was real ist. Ich bin hier her gekommen, um meinem Leben ein Ende zu setzen. Nein. Ich bin hergekommen, um mich um meinen Verstand zu trinken. Das Leben an sich könnte ich ertragen, das ist nicht das Problem. Mein Verstand ist es. Meine Erinnerungen. Mein Wissen. Meine Vergangenheit. Seit ich hier bin, werde ich heimgesucht davon. Schlimmer als vorher. Es stimmt, deine Freunde sind freundlich und zuvorkommend. Sie wollten mir helfen. Um ehrlich zu sein, ist es ungewohnt, solche Wertschätzung zu erfahren für eine pure Existenz. Ja, es tut sogar weh, denn ich weiß Dinge, die sie nicht wissen und wenn sie sie wüssten, würden sie mich verabscheuen. Es fühlt sich an, als würde ich sie belügen.“

„Dann sag die Wahrheit“, schlägt Frank vor.

„Das kann ich nicht. Ich kann die freundlichen Gedanken, die gegen mich gehegt werden, nicht aufs Spiel setzten. Was hätte irgendwer davon? Wieso sollen nicht wenigstens ein paar Leute gute Erinnerungen an mich haben? Ich werde ohnehin nicht mehr lange hier sein. Ich will euch nicht anekeln.“

„Was ist ekelhafter als ein dreckiges Geheimnis, das man mit ins Grab nimmt?“

„Tot zu sein und zu wissen, dass alle glücklich darüber sind“, sage ich.

„Sie macht ihr Selbstbild zu sehr davon abhängig, was andere für ein Bild von ihr haben“, mischt sich plötzlich Vincent ein.

„Das ist also dein Fürsprech?“, fragte Frank.

Ich sage nichts. Ich verstehe die Regeln dieses Spiels nicht.

„Wir brauchen noch einen, der die andere Seite repräsentiert“, sagt Mercedes.

„Ich hätte gedacht, dass du das machst“, sage ich.

„Dafür brauchst du Mercedes nicht. Du bist sehr gut darin, dich selbst anzuklagen“, befindet Frank.

„Ich soll mich selbst verdammen?“

„Das tust du doch ohnehin längst. Also, warum solltest du deiner Meinung nach sterben?“

„Ich bin grausam und es macht mir nichts aus“, sage ich, „Ich habe keine Gefühle, keine Hemmungen und keine Skrupel. Ich war gierig, verlogen, selbstsüchtig, feige und undankbar. Ich habe keinem Menschen je etwas Gutes getan, sondern sie alle ins Verderben gestürzt. Nichts davon berührt mich. Nichts davon würde ich anders machen, wenn ich erneut die Chance dazu bekäme, weil ich weiß, dass Entscheidungen nicht im Kopf sondern in Situationen getroffen werden und ich bin nicht reif, nicht menschlich genug, um keine Gefahr für das Leben anderer zu sein. Ich bin nie glücklich gewesen, habe nie bekommen, was ich wollte, bin nie gefragt oder gehört worden. Das, was ihr hier seht, ist das Produkt von 30 Jahren konsequenter Missachtung, ein Monster, für das es nirgendwo eine Entsprechung gibt. Ich war allein, bin allein und werde allein sterben. Niemand wird mich vermissen. Niemand wird mich betrauern. Niemand wird mein Grab besuchen. Niemand wird ein Buch über mich schreiben, weil niemand sich mit mir identifizieren wollen würde. Ich bin der Abschaum einer abgestumpften, egoistischen Gesellschaft, die es gewohnt ist, den Weg des geringsten Widerstand mit ausgefahrenen Ellenbogen zu gehen. Niemand will sein wie ich, aber alle sind es. Deshalb hassen sie mich, deshalb fürchten sie mich. Niemand wird ein Buch über mich schreiben, denn es wäre zu grausam und zu hoffnungslos. Also nehme ich meine Grausamkeit und die Wahrheit über die Hoffnungslosigkeit des Lebens mit ins Grab.“

„Manche Bücher werden nicht geschrieben, um gelesen zu werden“, sagt Vincent.

„Das? Das ist deine Verteidigung?“, rufe ich, „Das ist aber wirklich furchtbar dünn! Natürlich muss ein Buch gelesen werden! Wieso sollte es sonst geschrieben werden? Jeder Autor, jeder Mensch will doch kommunizieren! Er will Vorschläge machen und seine Wahrheiten verbreiten. Allerdings sind meine so ekelerregend, dass niemand sie ertragen könnte. Das hat kein Leser verdient.“

„Rieche ich da einen Funken Lebenswillen?“, fragt Frank.

„Wer bist du?“, schnappe ich, „Der Richter? Wer hat dich dazu ernannt! Es geht um mein Urteil und das darf nur ich allein fällen. Ich erkenne kein anderes an!“

„Aber so läuft das nicht, Liz. Es urteilt immer ein neutrales Gericht. Deine Perspektive ist viel zu verzerrt. Du bist übermüdet und betrunken. Wie soll da ein gerechtes Urteil herauskommen? Wir werden gemeinsam entscheiden. Oder wir werden gar nicht entscheiden“, sagt Frank, „Und was das Buch angeht: Wer ein Buch nicht mag, weil er nicht zu 100% darin repräsentiert ist oder weil der Autor vielleicht eine andere Vision verfolgt, als man es für korrekt hält, weil man die eigene Vision als die einzige legitime Vision anerkennt, der sollte sein Leben nicht mit Lesen verschwenden, denn die Gedanken anderer Menschen scheinen ihm mehr zuzusetzen als zu erbauen oder zu erhellen. Es gibt einfach Leute, die ertragen es nicht, dass andere Menschen von ihnen abgekoppelte Gedanken, Wünsche und Ideen haben. Sie fühlen sich dann machtlos, missverstanden und ausgegrenzt. Man kann denen nur raten, die Bücher, von denen sie glauben, dass sie die einzig legitime Botschaft beinhalten, selbst zu verfassen. Und wer sein Buch dann so bewirbt und Anhänger um sich schart, der ist auf dem besten Weg, seine eigene, persönliche Sekte zu gründen, in der er sich – als angenehmem Nebeneffekt – als Gesandten Gottes, Verkünder des Heil oder Sprecher der verborgenen Wahrheit anbeten lassen kann.“

„Aber“, rufe ich, „Meine Botschaft kann nur die von Machtlosigkeit, Missverständnis und Desintegration sein! Es ist nicht die Schuld der Leser, wenn ich sie all das fühlen lasse! Macht mich das zu einer Sektenführerin?“

„Dein hypothetisches Buch wäre wohl die Bibel aller Möchtegern-Außenseiter da draußen“, sagt Frank.

„Glaubst du, es gefällt mir, so zu sein?“, frage ich.

„Natürlich gefällt es dir. Du möchtest auf keinen Fall anders sein, denn wenn du über dich selbst am härtesten urteilst, darfst du auch auf andere herabblicken. Dein Selbsthass ist der Preis den zu bezahlst, um überheblich sein zu können.“

„Du verstehst gar nichts“, sage ich matt, „Ich wünschte, ich hätte nicht permanent ein schlechtes Gewissen. Ich wäre gerne eine Psychopathin. Wirklich. Jemand, der es genießt, grausam zu sein, wenn ich es ohnehin bin.“

„Du könntest auch versuchen, nicht grausam zu sein“, wirft Vincent ein.

„Und mich herumkommandieren lassen? Das ist es doch, was mit Leuten passiert, die nicht gemein sein wollen oder können. Sie werden untergebuttert“, sage ich.

Frank lächelte: „Was für eine schöne Vorstellung. Eine Welt, in der nur die Zarten und Feinfühligen sich herumkommandieren lassen. Was wären das für rücksichtsvolle Kriege, die wir führen würden.“

„Ich führe keinen Krieg“, sage ich, „Ich bin die größte Pazifistin, die euch je begegnen wird! Und ich zerstöre die tödlichste Waffe von allen: Die Fehlbarkeit und die Schwäche des menschlichen Geistes.“

„Langsam wird es ermüdend“, meldet sich Eugene, „Hadern ist natürlich und menschlich, aber irgendwann muss sich der Blick nach vorne festigen und man muss weitergehen. Man muss eine Entscheidung treffen und man muss alle anderen Möglichkeiten fallen lassen, so weh es auch tut. Leben ist Aussortieren von Möglichkeiten, es ist Reduktion nicht Addition. Das ist, was du akzeptieren muss. Du wirst immer etwas verlieren. Bei jedem Schritt, in jedem Augenblick rinnt dir deine Zeit durch die Finger. Du kannst versuchen, sie durch materielle Güter und die Erfüllung oberflächlicher Wünsche zu ersetzen, aber dadurch rinnt der Sand trotzdem nicht langsamer. Es gibt einfach Dinge, auf die haben wir keinen Einfluss und manchmal tun wir Dinge, die wir hinterher bereuen. Deshalb müssen wir uns aber nicht aufreiben. Das macht unsere Fehler auch nicht ungeschehen. Strafe führt nie zur Wiedergutmachung.“

„Aber der Gedanke, dass man eh nichts ändern kann, führt dazu, dass sich nie etwas verändern wird“, sage ich.

„Die Vergangenheit wird sich nicht ändern, aber du hast die Zukunft in der Hand“, sagt Eugene.

„Ich habe die Zukunft gesehen, die ist Verheerung“, sage ich.

„Das sagst du dir, um dich selbst zu beruhigen“, sagt Frank, „Die Wahrheit ist viel erschreckender. Die Zukunft ist ungeschrieben.“

„Auch eure Zukunft?“, frage ich, „So wie ich das sehe, ist euer aller Leben vorbei. Ihr seid festgefahren und glücklich dabei. Wenn Leben Bewegung im Unbekannten ist, dann seid ihr tot. Alle zusammen. Ihr habt euch gegen das Leben entschieden, wollt mich aber davon überzeugen. Ihr seid wie die katholischen Priester, die jungen Paaren erzählen wollen, wie sie zu leben, wann und ob sie Kinder bekommen und wie sie diese zu erziehen haben. Es wirkt unglaubwürdig, heuchlerisch.“

„Kanalisierst du jetzt deinen Selbsthass gegen uns?“, fragt Mercedes, „Im Ernst, ich habe selten etwas Erbärmlicheres als dich gesehen und ich weiß nicht, warum wir uns dein Gejammer hier noch länger anhören. Du bist nicht besser oder schlimmer als andere, komm damit klar! Dein Problem ist, dass du von dir selbst enttäuscht bist, weil du dich für etwas Besseres hältst!“

„Tun wir das nicht alle?“, fragt Bar, „Uns selbst über andere stellen?“

„Wenn dem so wäre, wäre die Welt ein kalter, ungemütlicher Ort“, sagt Vincent.

„Die Welt ist ein kalter, ungemütlicher Ort“, sagt Alfred.

„Und weil das so ist, bleibt die Frage, was geschehen soll, allein an dir hängen, Liz“, sagt Frank, „Was willst du tun?“

„Was kann ich tun?“, frage ich.

„Was immer du willst.“

„Ich will, dass die Zeit stehen bleibt, dann kann es zumindest nicht mehr schlimmer kommen.“

„Aber auch nicht besser“, sagt Vincent.

„Er hat Recht“, sagt Bar.

„Aber nur gesetzt den Fall, dass sie hier und jetzt am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen ist“, sagt Frank, „Was glaubst du, Liz: Geht die Abwärtsspirale noch weiter nach unten?“

„Ich weiß es nicht“, sage ich.

„Du hast Billy kennen gelernt?“, fragt er.

„Ja. Aber er hat zumindest ein reines Gewissen.“

„Hat er das?“

„Hat er das nicht?“, frage ich.

„Das ist der Punkt. Du siehst anderen ihre inneren Kämpfe mit sich selbst nicht an. Wie kannst du wissen, ob du allein bist?“, fragt Vincent.

„Ich bin allein. Er ist allein. Wir alle sind allein in unserer Blase, in unserer Abwärtsspirale“, sage ich.

„Also ist es die Zeit, die du fürchtest?“, fragt Frank, Nicht so sehr das Leid?“

„Vielleicht“, gebe ich zu.

„Und willst du dich von deiner Angst heilen oder willst du dich von dem, das dir Angst macht, verstecken?“

„Ich will nicht ständig mit Fragen gequält werden“, sage ich.

„Die Qual entsteht durch deinen Widerstand gegen einen Prozess, den du nicht aufhalten kannst“, meint Eugene, „Die Zweifel werden bleiben, aber wenn du sie verstehst, kannst du damit umgehen.“

„Was bist du? Ein verhinderter Therapeut? Ein Hobbyprediger?“

„Ein Mann der das alles selbst durchgemacht hat. Emotionen zu kontrollieren bedeutet, sie zu verstehen, nicht sie zu unterdrücken. Angst ist natürlich, Wut ist gesund, aber du musst wissen, wo sie herkommen, warum sie da sind und was du damit machen kannst“, sagt Eugene.

„Und was kann ich mit Angst und Scham und Hass machen?“, frage ich.

„Du kannst der Wahrheit begegnen“, sagt Frank, „Wir können deine Freunde sein oder wir können dich fertig machen. Es liegt an dir. Du musst uns gegenüber treten, nicht wir dir.“

„Und was ist die Wahrheit?“, frage ich.

„Es liegt an dir“, sagt Vincent.

„Die Wahrheit ist“, sagt Frank, „manche Menschen sind bemitleidenswert, manche Menschen sind unscheinbar, manche Menschen werden zurecht gehasst. Aber müssen wir uns von denen die gute Laune verderben lassen?“

„Pff“, sage ich, „Menschen mit guter Laune sind diejenigen, die ich als bemitleidenswert betrachte.“

„Und was fühlst du dabei?“, fragt Vincent, „Außer Neid und der Verachtung, die du allem und jedem entgegen bringst, der dir Gutes tun will?“

„Ich fühle nichts“, sage ich, „Ich fühle nichts, außer, dass ich etwas fühlen müsste, dass etwas fehlt, dass ich etwas verpasse, dass ich abgekoppelt bin, während für alle anderen sich die Erde weiter dreht.“

„Sag, Vincent“, fragt Frank, „Hat Liz eigentlich schon Beth kennen gelernt?“

Freitag, 04. Juli

 

Rick und die Kinder sind beim Fischen gewesen, während ich im Garten alles für das Grillen vorbereitet habe. Ich habe gerne meine Ruhe beim Saubermachen und Dekorieren und ich fühle mich besser, wenn die Kinder nicht in der Nähe des ganzen Feuerwerkszeugs sind, das Rick angeschleppt hat. Es ist ja schön, wenn er seinen Patriotismus auslebt, aber ich habe nicht gerne explosive Substanzen im Haus.

Ich habe ihnen gesagt, dass sie ja nicht mit leeren Händen nach Hause kommen sollen, denn ich habe kein anderes Fleisch im Haus, das wir auf den Grill legen können. Melanie hat zwar eine Schnute gezogen – sie ist gerade in einer Phase, in der sie ihr Mitgefühl mit Tieren entdeckt – aber auf ihren Anteil am Fisch will sie dann doch nicht verzichten. Es wird Zeit, dass dieses Mädchen die Realitäten des Lebens lernt: Wenn man Fisch essen will, muss man ihn fangen, töten und ausweiden. So ist das.

Ich weiß, dass alle jungen Menschen Idealisten sind. Sie halten es für klug, alles zu hinterfragen, was ihre Eltern ihnen erzählen. Sie wollen mehr vom Leben als das, was sie bei den Alten sehen und bei Gott ich wünschte, ich könnte es ihnen ermöglichen. Aber die Wahrheit ist, dass jedes Leben ausleiert wie ein zu oft getragener Pullover. Die Farben gehen mit der Zeit verloren, er kommt aus der Mode, verzieht sich, verliert den ein oder anderen Faden. Wir können ihn vielleicht ab und zu in die Wäsche geben, die Flecken ausbürsten und seine Löcher flicken, aber los werden wir ihn nicht. Wir können nicht einfach in ein Geschäft gehen und uns ein neues Leben kaufen. Wir können uns auch keine neue Haut überstreifen und behaupten, jemand anderer zu sein.

Melanie würde am liebsten alles ausprobieren. Sie ist eine richtige Draufgängerin. Ihre Enttäuschung wird erschütternd sein, wenn sie irgendwann festsitzt in einem Netz aus Verantwortungen und Pflichten. Aber so ist das Erwachsen-werden: Man öffnet die Augen und die Welt, die man sieht, ist nur ein Schatten dessen, was man sich zuvor ausgemalt hat. Zum Teufel mit Platon!

Aber da mussten wir alle durch und ich finde es nicht richtig, diejenigen mehr zu bedauern, die mehr darunter leiden. Es würde bedeuten die Anstrengungen der anderen kleinzureden. Nicht immer sind diejenigen, die sich nie beschweren, die Glücklichsten. Nicht immer sind die Stillen die Zufriedensten.

Wenn Dan in das entsprechende Alter kommt, wird er es ebenso schwer haben. Die Jugend von heute hat durch all die Kinofilme und Zeitschriften völlig überzogene Erwartungen an das Leben, aber wer kann es ihnen verübeln. Es ist ja nicht ihre Schuld, dass man ihnen diese Anspruchhaltung einredet.

Rick versucht sein Bestes, ihnen einen gesunden amerikanischen Pragmatismus beizubringen, aber in den Schulen werden solche Bemühungen heutzutage ja völlig zunichte gemacht. Wir würden es bevorzugen, wenn die ideologische Perspektive eines Lehrers seinen Unterrichtsstoff nicht überschatten würde. Bildung bedeutet, die Fakten zu kennen. Sie einzuordnen sollte jedem selbst überlassen bleiben. Durch Beeinflussung – auch in den Schulen – wird die natürliche Schärfe des Verstandes abgestumpft und die Wirklichkeit in den Köpfen junger Menschen verfälscht.

Melanie ist leicht beeinflussbar und wir müssen aufpassen, dass sie nicht entgleitet. Was soll nur aus einem Kind werden, das sich seine Lehrer zum Vorbild nimmt? Immerhin wird nur derjenige Lehrer, der zu schlecht ist, um wirklich in seinem Fachgebiet zu arbeiten.

Rick sagte gestern zu ihr: „Mit Mathematik kannst du vielleicht berechnen, wie du dein Gewehr anlegen musst, aber bis du damit fertig bist, ist das Kaninchen schon in seinem Bau verschwunden. Bücher machen dich nicht satt und bauen dir kein Haus. Wenn du es schon ekelhaft findest, einen Frosch zu sezieren, wie willst du dann jemals eine Weihnachtsgans ausnehmen? Du musst die Dinge sehen, wie sie sind, nicht durch die Brille irgendwelcher Schemata!“

Melanie hat geweint, aber ich glaube, sie versteht, dass er Recht hat.

Erziehung ist eine große, verantwortungsvolle Aufgabe, an der nachgiebige Charaktere schnell scheitern. Das Ergebnis ist dann ein unsicheres, ein verwirrtes, ein unreifes Kind, das in dieser Welt keinen Schritt weit kommt, ohne sich Gedanken um die Ameisen zu machen, die es dabei zerquetscht.

Es geht nicht darum, hart, sondern realistisch zu sein, praktisch zu sein, ein Ziel zu finden, es zu verfolgen und zu erreichen. Wer herum eiert, nicht genau weiß, was er will, sich von Zweifel zurückwerfen lässt, der vergeudet Zeit und Energie und ich möchte nicht, dass meine Kinder bereits vom Nachdenken Erschöpfungszustände bekommen. Sie sollen wissen, was richtig und falsch ist, aber sie sollen es selbst erkennen und nicht vorgekaut bekommen, Sie sollen es mit ihren eigenen Augen sehen und nicht theoretisch darüber schwadronieren.

Das Leben, das ist die Welt um uns herum und nicht die Träume in unseren Köpfen. Dieses Land ist groß geworden, weil Menschen es erschlossen und bearbeitet haben. Kein Gedanke hat je die Welt nachhaltig verändert. Sie können sie kurzfristig beeinflussen, früher oder später kommt jemand mit einer Gegenthese um die Ecke und wirft alles über den Haufen. Was bleibt, ist der Mensch und seine Bedürfnisse, die er befriedigen muss. Und das muss er unabhängig davon, welcher Dampfplauderer gerade in Washington das Sagen hat.

Rick ist ein fleißiger Mann und ich eine moderne, gebildete Frau. Wir versuchen, die bestmöglichen Vorbilder für unsere Kinder zu sein. Sie müssen wissen, dass Fleiß und Ausdauer die wichtigsten Tugenden und Ziele nicht gleich Träume sind. Sie sollen wissen, dass sie dann belohnt werden, wenn sie für etwas gearbeitet und sich gegebenenfalls überwunden haben. Sie sollen nicht glauben, dass ihnen die gebratenen Tauben in den Mund fliegen.

Deshalb nimmt Rick sie mit zum Fischen und auf die Jagd. Deshalb traut er ihnen zu, mit Werkzeugen und Waffen umzugehen. Es bringt nichts, sie von allem Gefahren des Lebens fernzuhalten, das fördert nur irrationale Ängste und etwas, das ich Lebensverneinung nennen würde.

Lebensverneinung ist die größte aller Todsünden, sie ist die Ablehnung, die Nicht-Akzeptanz des Konzeptes der Sünde und das wäre die Umkehrung aller etablierten und bewährten Werte.

Mit diesem Hintergrund können Melanie und Dan es einmal weit bringen. Melanie ist klug und mitfühlend. Dan ist ehrgeizig und großzügig. Sie beide haben viele Freunde und es fällt ihnen leicht, ihre Position innerhalb einer Gruppe zu definieren und zu besetzen. Das ist wichtig, denn nur wenn die Positionen klar sind, kann produktiv gewirtschaftet werden.

Rick meint, Dan sei der geborene Anführer, er könne andere begeistern und mitreißen. Deshalb ist er ein so erfolgreicher Sportler und wir tun alles dafür, seine Talente zu fördern. Er soll wissen, dass Anstrengung belohnt wird und Erfolg sich gut anfühlt. Positive Bestätigung funktioniert besser als Bestrafung, aber negative Erfahrungen können ebenso Ansporn sein. Es gilt, einen Ausgleich zu finden und das ist die Aufgabe der Eltern: Bestätigen, wo etwas gut gemacht wurde, auf Fehler hinweisen und Effekte nicht von den Kindern fernhalten. So lernen sie von ganz allein, welches Verhalten sie weiter bringt und welches in eine Sackgasse führt.

Ich bin froh, einen Mann zu haben, der diese Ansichten vertritt und mir klar gemacht hat, worauf es im Familienleben ankommt. Ich will, dass wir an einem Strang ziehen, denn damit lässt sich mehr erreichen, als wenn man gegeneinander arbeitet und seine Zeit mit Streit und Grabenkämpfen vergeudet. Unsere Kinder sollen lernen, dass Kooperation innerhalb der Familie der Schlüssel zur Zufriedenheit und Konkurrenz in der Arbeitswelt der zum Erfolg ist. Sie sollen stark sein, wenn es drauf ankommt, sich durchzusetzen und loyal, wenn es ihnen einen Vorteil bringt. Das Leben ist keine komplizierte Sache, wenn man sich an diese simplen Grundsätze hält. Rick hat es damit zum Filialleiter einer Bank gebracht, wo er die Verantwortung für über zwanzig Angestellte übernimmt.

Er sagt, er brauche den Ausgleich. Wenn er die ganze Woche über mit Geld und Zahlen arbeitet, so muss er am Wochenende etwas Handfestes tun. Er will die Natur spüren, die Kraft der Elemente und der Wildnis. Er müsse spüren, dass er am Leben sei, sagt er, den Kontakt herstellen und neu justieren.

Er hat eine sehr feine Verbindung zu seinen Mitmenschen. Immer hat er die richtigen Worte parat. Immer weiß er, was zu tun ist. Alles scheint er schon erlebt zu haben und damit vermittelt er uns Sicherheit. Ein Mann muss eine Person sein, der man vertrauen und eine Frau muss eine Person sein, die vertrauen kann. Das hat meine Mutter immer gesagt und sie war mit Rick als meiner Wahl äußerst zufrieden. Er wird dich gut versorgen, hat sie gesagt und Recht behalten.

Ich kann mich wirklich nicht beschweren. Es geht uns gut, unsere Kinder sind beliebt und werden von allen gelobt. Unser Haus und unseren Garten halte ich gepflegt. Wir achten auf unser Äußeres und darauf, niemanden vor den Kopf zu stoßen. Wir reden nicht über Politik oder andere Themen, über die man leicht in Streit gerät und das ist auch schon das ganze Geheimnis einer und unseren glücklichen Ehe.

Man muss kein extravagantes Leben führen oder unrealistischen Traumbildern hinterher jagen. Es reicht, seinen Ehrgeiz auf erreichbare Ziele zu richten und zufrieden zu sein, wenn man sich eine kleine Existenz aufgebaut hat. Stolz steht dem Glück im Weg, Ehrgeiz ist sein Wegbereiter.

Diese Nation hat eine ruhmreiche Geschichte und sie ist nicht getrieben von leerem Stolz, sondern von Ehrgeiz und dem Willen, etwas zu erreichen, ein lebenswertes Umfeld zu schaffen und jedem die Möglichkeit zu geben, sein Glück zu machen.

 

Rick und die Kinder kommen vom Fischen zurück. Ich habe den Grill gesäubert, aber es ist Ricks Aufgabe, das Feuer zu entfachen. Während er Dan in diese Kunst einweisen wird, werde ich Melanie zeigen, wie man einen Fisch zubereitet. Wo der Künstler mit seinen Farben hantiert, hantiert die Hausfrau mit ihren Gewürzen und wie der Maler kann sie damit ein Meisterwerk erschaffen oder sich in Grund und Boden blamieren.

Allein: Sie kommen mit leeren Händen zurück.

Ich sehe Rick fragend an, aber er wirft nur seine Angelausrüstung in den Flur und stapft hinauf ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Dabei hinterlässt er matschige Schuhabdrücke im Flur und auf den Treppenstufen. Ich weiß, dass es nichts nutzt, sauer auf ihn zu sein, aber ein wenig ärgert mich Ricks Rücksichtslosigkeit. Mag sein, dass er wütend ist, dass sie nichts gefangen haben, mag sein, dass er sich deswegen vor mir schämt, mag sein, dass er fürchtet heute Abend nichts Ordentliches zu Essen zu bekommen, aber das an den frisch geputzten Böden auszulassen, wäre nicht nötig gewesen.

Ich gehe zum Wandschrank und suche Schrubber und Putzeimer hervor, währenddessen läuft mir Melanie in die Arme und weint sich an meiner Schulter aus. Eigentlich ist sie zu alt für so etwas, aber ich warte bis sie sich beruhigt hat, um ihr das zu sagen.

Sie schluchzt: „Es ist einfach unfair!“

„Was?“, frage ich.

„Dad erlaubt mir nicht zu Chloes Party zu gehen. Ich habe ihm gesagt, dass keine Jungs da sein werden. Es ist eine ganz normale Party. Warum lässt er mich nicht gehen? Weiß er wie das aussieht, wenn ich da nicht hingehen darf? Stattdessen schleppt er mich mit zum Angeln! Das ist so unfair! Sieh, wie ich aussehe und wie ich rieche! Ich werde niemals wieder sauber, Mom! Sieh dir meine Haare an! Sie sind völlig durcheinander und Dan blockiert das Bad.“

„Aber was ist denn das für eine Party?“, frage ich.

„Na, eine für den vierten Juli. Chloes Dad hat gesagt, er fährt uns in den Park, um das Feuerwerk zu sehen. Das ist viel cooler als das hier draußen, wo jeder seine eigenen Sachen in die Luft jagt. Aber Dad sagt, er will mich nicht hinfahren.“

„Wir haben gesagt, dass wir den vierten Juli zusammen verbringen, Schatz“, sage ich, „Das ist ein Familientag und wir haben alles dafür vorbereitet.“

„Wir haben ja nicht einmal einen einzigen Fisch gefangen!“, ruft sie verzweifelt und ich argwöhne, dass sie etwas mit diesem Misserfolg zu tun hat.

In diesem Moment kommt Dan aus dem Bad und rubbelt sich die Haare trocken. Dabei verteilt er Schaum und Wasser auf dem ohnehin schon verdreckten Fußboden.

„Was ist los?“, frage ich.

„Sie hat den ganzen Eimer voller Fische in den See gekippt. Vorsätzlich!“

„Es war ein Versehen!“, besteht Melanie.

„Ach ja? Sonst bist du doch nicht so ungeschickt!“, sagt Dan, „Du wolltest doch von Anfang an nicht mitkommen. Du bist einfach eine Zicke, Mel, das ist alles. Du kannst nicht damit umgehen, wenn sich mal nicht alles um dich dreht.“

„Das kann ich sehr gut!“, behauptet sie, „Ihr wärt mich den ganzen Abend los, wenn Dad mich zu Chloe fahren würde.“

„Dad wird dich nicht zu Chloe fahren“, interveniere ich. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie die Fische mit voller Absicht zurück ins Wasser geworfen hat und dafür kann ich sie ja wohl kaum damit belohnen, dass sie heute Abend nicht hier sein und sich die schlechte Laune ihres Vaters antun muss.

Melanie beginnt zu schmollen, lässt von mir ab und stürmt ins Bad. Die Tür knallt sie hinter sich zu, nur um sie dann wieder aufzureißen und Dan anzubrüllen: „Hast du wirklich vor, mir das Bad so zu hinterlassen?“

„Wie denn?“, fragt Dan und grinst.

„Wie ein Saustall, Dan! Was hat du da drin gemacht? Ein Schwein gewaschen, das sich im Schlamm gesuhlt hat?“

Ich gehe hinüber zu Melanie und drücke ihr Putzeimer und Lappen in die Hand: „Wenn du ein sauberes Zuhause haben willst“, sage ich, „Dann musst du auch etwas dafür tun.“

Ich weiß, dass ihr das nicht gefällt, aber sie ist keinen Deut weniger dreckig als ihr Bruder und wenn nicht alles an mir hängen bleiben soll, muss ich meine Tochter dazu erziehen, ihren Teil der Haushaltsaufgaben zu erfüllen.

Dan hat sich seine kurze Freizeithose angezogen und schlendert mit freiem Oberkörper hinaus in den Garten, wo er sich aus dem bereit gestellten Getränkekühler eine Cola nimmt.

„Mom, du glaubst gar nicht, was ich für einen Fisch an der Angel hatte!“

„Ich glaube dir“, sage ich, „Aber unter den gegebenen Umständen gibt es heute nur Salate.“

Rick kommt hinunter. Auch er hat sich gewaschen und umgezogen. Seine Wut ist ein wenig verraucht, aber er gibt mir trotzdem keinen Kuss, sondern grummelt: „Mel nimmt sich zu viel heraus. Ich habe ihr zwei Wochen Hausarrest erteilt und du wirst ihr das Makeup in dieser Zeit wegsperren. Sie muss nicht aufgedonnert wie ein Filmstar im Haus herum laufen.“

Ich bestätige seine Strafe und versuche ihn ein wenig aufzumuntern: „Ob Fisch oder nicht, mein Kartoffelsalat hat dir doch noch immer am besten geschmeckt.“

Er lächelt nicht, sondern geht nach draußen in den Garten, setzt sich zu Dan und nimmt sich ein Bier.

„Für nichts und wieder nichts“, murmelt er vor sich in, „All die Anstrengung.“

„Dad, das nächste Mal nehmen wir sie einfach nicht mehr mit“, schlägt Dan vor, „Es hat ihr sowieso keinen Spaß gemacht und das versaut uns die ganze gute Laune.“

„Ja, Dan“, sagt Rick, „Das nächste Mal gehen nur du und ich. So ein richtiger Vater-Sohn-Nachmittag, wie es sich gehört!“

Das scheint ihn aufgeheitert zu haben und ich bringe die Salate nach draußen.

„Wo bleibt nur Mel?“, frage ich.

„Ach, lass sie auf dem Klo schmoren!“, sagt Dan.

Wir essen, ohne dabei zu reden. Wir kauen auf den Salatblättern herum und tun so, als würde es uns schmecken und als würden wir davon satt. Es ist ein Gebot der Höflichkeit, sich nicht über Dinge zu beschweren, die niemand der Anwesenden mehr beeinflussen kann.

Melanie taucht an diesem Abend nicht mehr auf und Rick erwähnt ihren Namen in keinem unserer Gespräche. Dan genießt unsere Aufmerksamkeit. Ich argwöhne, er spekuliert auf eine Position als Lieblingskind, die er – wenn es nach Rick geht – ohnehin inne hat.

„Ich brauche einen neuen Baseballhandschuh“, sagt er schließlich, „Wir können in dieser Saison wirklich etwas reißen und ich habe dem Trainer versprochen, dass ich mein Bestes geben werde.“

„Aber du hast doch erst vor Kurzem neue Schuhe bekommen“, sage ich.

„Stellt nicht eure Schule das Equipment?“, fragt Rick.

„Nur denjenigen, die kein eigenes haben und das Schulzeug ist uralt und löst sich schon fast in seine Bestandteile auf und es riecht ekelig. Dad, ich kann da nicht auftauchen und mit einem Handschuh der Schule spielen. Alle sehen mich an, wenn ich auf dem Platz stehe.“

„Wo ist das Problem mit deinem alten Handschuh?“, frage ich.

„Der passt nicht mehr“, behauptet Dan.

„Wie das?“, fragt Rick.

„Na, meine Hand ist gewachsen. Der Handschuh ist schon zwei Jahre alt. Da bin ich raus gewachsen. Der war ja noch für Kinder. Dad, niemand spielt mehr mit so einem Handschuh. Ich brauche unbedingt einen Neuen, wenn die Schule wieder losgeht. Es wäre furchtbar peinlich, wenn ich keinen hätte.“

Das sehe ich ein und ich sage: „Na schön. Du spielst ja sehr gut. Also fahren wir nächste Woche in die Stadt.“

„Moment mal“, grätscht Rick dazwischen, „Dazu habe ich noch nicht ja gesagt!“

„Wo ist das Problem?“ frage ich, „Er braucht den Handschuh, er ist in der Schulmannschaft.“

„Wenn ich Dan etwas kaufe, will Mel auch gleich wieder etwas. Wir dürfen sie nicht so verwöhnen.“

„Mel hat es nicht verdient, etwas zu bekommen“, mischt sich Dan ein.

„Du hältst dich da raus“, sage ich.

„Hast du es denn verdient?“, fragt Rick.

„Dad, ich bin in der Schulmannschaft. Die zählen auf mich!“

„Rick, es ist in Ordnung. Er braucht den Handschuh“, sage ich.

„Einen feuchten Kehricht braucht er!“, ruft Rick und schlägt mit der Faust auf den Tisch, „Wenn dir dein Handschuh zu klein ist, werden wir auf dem Dachboden nachsehen, ob mein alter Handschuh noch irgendwo dort oben ist. Ich bin sicher, mit dem kannst du genauso gut spielen.“

„Aber Dad! Alle anderen bekommen einen neuen Handschuh!“

„Genug davon!“

„Was hast du denn?“, frage ich.

„Diese Kinder bekommen zu viel und tun so wenig dafür“, sagt Rick.

Ich bedeute Dan, er solle hinein gehen. Er hat schon verstanden, dass er seinen Vater zur falschen Zeit gefragt hat. Er wird es morgen oder übermorgen wieder versuchen. Bis zum Ende der Ferien jedenfalls wird er seinen neuen Handschuh haben, da ist er sich sicher und da bin ich mir sicher. Rick will ihm nur die Grenzen aufzeigen, will ihn ein bisschen zwiebeln, ihm eine kleine Machtdemonstration darbieten. Väter tun so etwas manchmal, denn Söhne brauchen es von Zeit zu Zeit.

Dan geht hinein und ich spreche unter vier Augen mit Rick: „Vielleicht können wir ja zu seinem Geburtstag…“

„Beth, ich habe nein gesagt! Was veranlasst dich, zu glauben, dass ich nicht bei meinem Wort bleibe? Du und die Kinder, ihr habt euch einen Lebensstil angewöhnt, der auf Dauer ein wenig kapriziös wird.“

„Was?“, frage ich.

„Kapriziös. Melanie redet nur noch davon, auf Parties zu gehen und sich teure Kleider zu kaufen. Dan hält es für selbstverständlich, dass man ihm jeden Wunsch erfüllt und du scheinst überhaupt nicht mehr auf die Preise für unsere Lebensmittel zu achten. Erst gestern habe ich gesehen, wie du einen ganzen Sack Kartoffeln weggeworfen hast.“

„Aber sie sind schlecht geworden“, sage ich, „Willst du etwa verfaulte Kartoffeln essen?“

„Dann kauf halt nicht so viele Kartoffeln!“, brüllt Rick mich an. Ich erstarre. Sowas hat er noch nie zu mir gesagt. Er hat mir immer freie Hand bei der Haushaltskasse gelassen. Er hat mir vertraut.

„Entschuldige“, sage ich, „Sie sind schlecht geworden. Wir haben in letzter Zeit zu selten Kartoffeln gegessen.“

„Ich möchte, dass wir unsere Ausgaben reduzieren“, sagt Rick, „Ich möchte, dass du ein Haushaltsbuch führst und ich möchte, dass du mich vorher fragst, wenn du außergewöhnliche Dinge kaufst.“

„Außergewöhnliche Dinge?“

„Kleider, Dekoration, Schmuck, Kosmetik. Beth, es kann nicht sein, dass das hier außer Kontrolle gerät!“

„Aber was soll denn außer Kontrolle geraten?“, frage ich, „Wir haben doch keine Probleme.“ Es ist meine feste Überzeugung, keine Frage.

Rick antwortet nicht.

Also wiederhole ich meine Frage: „Was soll außer Kontrolle geraten?“

Rick kann es nicht sagen, das sehe ich ihm an. Es gibt eine Antwort auf meine Frage, aber er bringt sie nicht über die Lippen. Stattdessen starrt er an mir vorbei in den Garten, versucht, nicht zu blinzeln, versucht irgendwie, drum herum zu kommen, die Wahrheit zu sagen.

Die Sonne geht langsam unter und der Garten ist in ein romantisches Licht getaucht. Eigentlich sollten wir jetzt mit Sekt anstoßen und uns auf das Feuerwerk freuen. Normalerweise würde Rick es jetzt herausholen und den Kindern einen Vortrag darüber halten, aber Mel schmollt in ihrem Zimmer und Dan hat uns vermutlich streiten gehört und wagt es ebenfalls nicht mehr, hinaus zu kommen.

Rick und ich sitzen da, zwischen uns eine unausgesprochene Sache, die er kennt und ich nicht. Es geht hier nicht um einen Sack Kartoffeln, das weiß ich. Auch nicht um einen Baseballhandschuh. Es geht auch nicht um Hausarrest, Parties oder Schmuck. Rick hat es schon gesagt, es geht um Kontrolle und egal, was her behauptet, verhindern zu wollen: Er hat sie längst verloren.

„Erinnerst du dich an das Geld, mit dem wir den Fernseher gekauft haben?“, fragt er schließlich. Das Grillenzirpen ist lauter als seine Stimme.

„Ja. Du hast ihn bar bezahlt“, sage ich.

„Das Geld, es war nicht meins. Ich habe es genommen.“

„Von wo hast du es genommen“, frage ich.

„Vom Kassenschalter“, sagt er.

„Ich habe einfach zugegriffen und es genommen. Dann habe ich die Bücher manipuliert, damit es nicht auffällt.“

„Rick, du musst das Geld zurücklegen!“, sage ich, „Gleich am Montag, bringst du es wieder hin. Das ist Diebstahl, weißt du!“

„Ich muss es nicht wieder zurücklegen“, sagt Rick, „Sie haben es mir schon vom Lohn abgezogen.“

Ich blicke ihn ungläubig an: „Das heißt, du hast es deinem Boss gesagt? Hat er es dir als Darlehen gewährt? Rick, es ist in Ordnung, wenn wir diesen Monat etwas zurückhaltender sein müssen. Du musst es mir nur sagen!“

„Nein“, sagt Rick, „Sie haben es mir nicht als Darlehen gewährt. Sie haben es als Diebstahl gewertet und mich letzte Woche entlassen.“

„Aber…“, das liegt jenseits meiner Vorstellungskraft, „aber du bist jeden Morgen zur Arbeit gegangen.“

„Nein“, sagt er nur.

„Aber du hast das Haus verlassen!“

„Ich konnte es dir nicht sagen, Beth.“

„Aber wieso nicht? So etwas muss ich doch wissen. Mein Gott, Rick! Was soll jetzt werden? Werden wir das Haus halten können? Müssen wir den Wagen verkaufen? Was ist mit den Kindern?“

„Wir werden erst einmal sparen müssen“, sagt Rick.

„Sparen? Wie sollen wir denn sparen, wenn kein Geld mehr hinein kommt? Wir werden unsere Ersparnisse aufbrauchen müssen. Was wird dann aus den Collegefonds für die Kinder? Was ist mit unseren Rücklagen fürs Alter? Kannst du mit der Vorgeschichte überhaupt jemals wieder eine Stellung bekommen? Rick, wie soll es jetzt weiter gehen?“

Samstag, 05. Juli

 

Wir alle haben eine schlaflose Nacht hinter uns. Melanie hat sich vor Wut in den Schlaf geweint. Dan versteht nicht, was an diesem Abend geschehen ist, warum es kein Feuerwerk gegeben hat und warum sein Vater ihn so zurück gewiesen hat. Das gibt ihm viel zum Nachdenken und er ist kein großer Denker.

Die ganze Nacht konnte ich Rick beim Grübeln zuhören. Er schwankt zwischen dem Gefühl, nicht mehr weiter zu wissen und dem Gefühl zu viel auf einmal tun zu müssen. Angriff oder Flucht? Aber vor wem soll er flüchten? Wen soll er angreifen? Er hat sich allein in die Leere bugsiert und sucht nun nach einem Anhaltspunkt, nach einer Landmarke, die ihm zeigt, in welche Richtung er gehen muss. Aber solche Landmarken gibt es nicht. Wir sind blind in die Zeit geworfen, sehen nur verschwommen, was hinter uns liegt und haben keinen blassen Schimmer von der Zukunft.

Ich starre in die Dunkelheit und lausche in der Ferne auf vereinzelte Feuerwerkskörper. Andere Familien haben einen glücklicheren Feiertag. Es fällt mir schwer, ihn ihnen zu gönnen. Es fällt mir schwer, gut von anderen Menschen zu denken. Ich weiß, dass die Geheimnisse verbergen und Schmutz unter den Teppich kehren. Sie sind nicht ehrlich, ihr Lächeln ist falsch. Sie haben Schulden. Sie haben Sorgen, auch wenn sie es nach außen nicht zeigen. Ich weiß, dass es so ist, denn das ist auch meine Strategie, den Unwägbarkeiten des Lebens und meinen Nachbarn zu begegnen.

Jetzt aber sehe ich, wie sich unsere Fassade nicht mehr aufrecht erhalten lässt und wie wir abrutschen werden. Wieso passiert so etwas ausgerechnet uns? Was haben wir falsch gemacht? Warum ist es uns nicht vergönnt, den schönen Schein aufrecht zu erhalten? Ich erwarte ja gar kein echtes Glück. Mein Leben muss nicht aus massivem Gold bestehen, aber ein bisschen Blattgold habe ich verdient, finde ich.

Wie kann Rick uns das antun? Wie konnte er nur so unüberlegt handeln? Wieso hat er vorher nichts gesagt.

Aber wir brauchten den Fernseher. Heutzutage hat jeder einen. Er gehört einfach zur Einrichtung dazu. Was sollen unsere Gäste denken, wenn wir sie ins Wohnzimmer führen und da steht kein Fernsehapparat? Nur hätte es sicher eine andere Möglichkeit der Finanzierung gegeben. Musste Rick ihn im Geschäft unbedingt bar bezahlen, um dem Verkäufer zu imponieren? Mochte er das Gefühl des Geldbündels in seiner Jackentasche so sehr? Er war so glücklich an diesem Tag. Am nächsten Morgen hatte er Muskelkater um Gesicht vom andauernden Grinsen.

Dan liebt den Fernseher und Melanie hatte Freudentränen in den Augen, als wir ihn aufgestellt haben. Müssen wir ihn jetzt vielleicht zurückgeben? Müssen wir alle unsere Habe ins Pfandleihhaus bringen, um uns Essen kaufen zu können? Wo werden wir in naher Zukunft leben? Was werden die Nachbarn denken, wenn wir ausziehen? Wir werden zum Gespött der Stadt werden. So etwas bleibt nie geheim. Bald werden alle wissen, was Rick getan hat. Sie werden wissen, dass wir unseren Lebensstandart durch Veruntreuung aufrecht erhalten haben und sie werden glauben, dass ich davon gewusst habe.

Vielleicht muss ich mich von ihm trennen.

Aber was ist mit den Kindern. Ich werde sie mit mir nehmen. Aber wohin und wie soll ich sie alleine durchbringen? Vielleicht können wir bleiben, wenn ich Rick davon überzeuge, dass er gehen muss. Er kann nicht bleiben. Er muss fort. Niemand darf ihn mehr auf der Straße sehen. Niemand soll sich an ihn erinnern, dann kann ich meinen Ruf vielleicht retten und die Kinder unbeschadet durch die Sache bringen.

Ich werde arbeiten müssen. Jeden Morgen das Haus verlassen. Was werden die Leute sagen? Mit was für Leuten werde ich in Kontakt kommen? Frauen, die es sich nicht leisten können, zu Hause zu bleiben. Frauen, die ihre Kinder vernachlässigen. Asoziale. Sind wir jetzt Asoziale? Sind wir Rabeneltern?

Daran, wie Rick sich im Bett hin und her wälzt erkenne ich, dass er verunsichert ist. Er weiß nicht, was er tun soll und hofft darauf, dass ich es ihm sagen kann, aber ich weiß selbst nicht, was zu tun ist. Wessen Haut kann ich noch retten, wen muss sich dafür im Stich lassen?

„Ich werde versuchen, eine neue Stelle zu finden“, murmelt Rick. Es klingt, wie eine Entschuldigung, macht mich aber nur noch wütender. Offensichtlich hat er den Ernst der Lage nicht durchblickt, wenn er immer noch die Hoffnung hat, dass unser Leben in normalen Bahnen weiter verlaufen kann.

„Bis dahin, müssen wir den Gürtel enger schnallen“, sagt er und meint es versöhnlich, aber ich bin nicht mehr zu einer Versöhnung bereit. Wenn er schwach ist, muss ich stark sein und Versöhnung ist etwas für Schwächlinge, die ihren eigenen Weg aus den Augen verloren haben.

„Ich weiß nicht, warum die Familie leiden muss, wenn du selbstverschuldet deinen Job verlierst“, sage ich und bekomme keine Antwort.

 

Das Gefecht geht erst am Morgen weiter, als wir am Frühstückstisch sitzen und ich den Kindern erklären muss, was Sache ist.

„Euer Vater hat seine Anstellung verloren“, sage ich, „Wir haben im Augenblick kein Einkommen und werden uns in Zukunft weniger leisten können.“

„Was?“, ruft Melanie, „Was soll das denn bedeuten?“

„Dass du ein wenig bescheidener werden musst“, sagt Rick genervt.

„Aber wieso? Was ist denn passiert? Wieso hast du deinen Job verloren?“, fragt sie.

Rick sagt nichts, deshalb sage ich es. Die Kinder haben es verdient, die Wahrheit zu kennen: „Euer Vater hat das Geld, mit dem er den Fernseher bezahlt hat, aus der Kasse genommen und nicht zurückgelegt.“

„Er hat es gestohlen?“, sagt Dan sofort. Er ist sichtlich entsetzt.

Rick schweigt immer noch.

„Er hat es vom Lohn abgezogen bekommen“, sage ich.

„Aber… wieso sollen wir bestraft werden für etwas, das Dad getan hat?“, fragt Melanie.

„Eine Familie ist eine Schicksalsgemeinschaft“, sagt Rick, „Da steht man füreinander ein, auch in schlechten Zeiten.“

„Ich habe mir nicht ausgesucht, in dieser Familie zu sein“, sagt Melanie.

„Es hätte dich auch sehr viel schlimmer treffen können“, behauptet Rick, „Stell dir vor, du wärst irgendwo in einem Negerviertel geboren worden! Dann könntest du dir keine teuren Kosmetika kaufen.“

„Das kann ich jetzt ja wohl auch nicht mehr“, schmollt sie.

„Krieg ich deshalb keinen neuen Handschuh?“, fragt Dan. Er versucht auf die versöhnliche Tour doch noch etwas rauszuschlagen.

Rick streicht ihm über den Kopf und sagt: „Genau. Im Augenblick kriegst du keinen neuen Handschuh.“

Dan entwindet sich den Zärtlichkeiten seines Vaters und geht auf Distanz: „Aber Dad, die Mannschaft braucht mich!“

„Du kannst die Mannschaft auch mit einem Handschuh der Schule unterstützen und von der Tribüne aus, kann sowieso niemand erkennen, ob deine Ausrüstung neu ist oder gebraucht.“

Ich sehe Dan an, dass er durchaus der Meinung ist, dass es einen Unterschied macht und ich gebe ihm Recht: „Wenn der Trainer zu ihm gesagt hat, er braucht einen eigenen neuen Handschuh, dann sollten wir ihm einen besorgen.“

„Wenn er seinen blöden Handschuh bekommt, dann will ich ein neues Kleid“, meldet sich Melanie.

„Da, ich habe es dir gesagt“, sagt Rick.

„Du? Du hast mir etwas gesagt?“, gifte ich zurück. Es passiert unwillkürlich. Eigentlich tue ich so etwas nicht vor den Kindern.

„Ich habe dir gesagt, dass, wenn Dan etwas bekommt, Mel auch etwas fordert und wir können uns im Augenblick solche Wünsche nicht leisten!“.

„Rick, ich bin nicht komplett verblödet!“, sage ich, „Ich wundere mich nur, dass du es für nötig und angemessen hältst, uns zu belehren und darauf hinzuweisen, was du nicht alles längst gewusst hast.“

„Beth, werde jetzt bitte nicht unfair“, sagt Rick.

„Unfair? Ich bin unfair? Rick, du hast das alles verbockt! Wir können jetzt alles gebrauchen, aber nicht deine Selbstgefälligkeit!“

„Aber ich kann es doch nun auch nicht ändern“, verteidigt sich Rick, „Du kannst doch jetzt nicht vor lauter Trotz das Geld aus dem Fenster schmeißen, nur um mir eins auszuwischen.“

Oh, die Verzweiflung in seinem Gesicht gibt mir Genugtuung. Ich kann nicht erklären, wieso, aber sein Leid befriedigt mich und mein Bedürfnis nach Befreiung.

„Dad, was heißt das jetzt?“, fragt Melanie, „Werden wir den Fernseher zurück geben müssen und das Auto verkaufen?“

„Nein“, versichere ich.

„Vielleicht doch“, sagt Rick, „Der Apparat war sowieso viel zu teuer.“

„Aber Dad!“, quengelt Melanie, als wolle sie ihren Vater nochmal umstimmen. Rick hat seinen Kommentar hingegen vollkommen ernst gemeint.

„Der Fernseher bleibt im Haus!“, sage ich.

„Welches Opfer bist du also bereit zu bringen, Beth?“, fragt Rick, „Wirst du deinen Pelz verkaufen? Deinen Schmuck? Deine Armbanduhr? Den Wandteppich?“

„Ich verstehe immer noch nicht, wieso ich das erste Opfer bringen muss“, sage ich.

„Weil all diese Dinge unnötig sind, Beth!“

„So siehst du das jetzt!“, sage ich.

„Nein, es war schon damals unnötig, als du es gekauft hast, aber ich habe nichts gesagt, weil ich keinen Streit mir dir vom Zaun brechen wollte“, sagt Rick.

„Tja, den Streit hast du dann aber nur hinausgezögert und nicht vermieden“, kommentiert Melanie.

„Du hältst dich da raus, junge Dame“, fährt Rick ihr über den Mund.

„Ja, wie immer. Ich muss alles ertragen, darf aber nichts dazu sagen. Herzlichen Dank.“ Sie stapft aus der Küche und verkriecht sich in ihrem Zimmer. Damit haben wir sie wohl für den Rest des Tages gesehen.

Dan schaufelt unterdessen seine Cornflakes in sich hinein. Er schaufelt, als müsste er damit etwas kompensieren. Sein Arm bewegt sich wie ein Schaufelradbagger. Alles dreht sich. Die Welt dreht sich um uns, wir drehen uns um uns selbst. Die Zeit steht still. Immer wieder stellen sich die selben Fragen und immer wieder machen wir uns die selben Vorwürfe. Es wird ewig so weitergehen, glaube ich. Wir sind hängen geblieben, wurden herausgeschleudert.

„Das alles wäre gar nicht passiert“, sagt Rick plötzlich in die vom Schmatzen unseres Sohnes unterbrochene Stille, „Wenn ihr nicht all diese Ansprüche stellen würdet.“

Mir fällt meine Gabel aus der Hand und ich verschlucke mich an meinen Pfannkuchen.

„Ja. Ich hätte das Geld nicht nehmen müssen, wenn ihr ein wenig bescheidener hättet leben können.“

„Jetzt sind wir schuld?“, sage ich entgeistert.

„Wer hat mir denn in den Ohren gelegen, dass wir ohne Fernseher das Gespött der Leute wären? Wer von uns beiden braucht alle sechs Monate eine völlig neue Garderobe? Und zu deinem Geburtstag erwartest du ja schon nichts mehr weniger als Brillanten. Man kann davon ausgehen, dass du schlecht gelaunt bist, wenn du nicht bekommst, was du verlangst und jetzt werft ihr mir vor, dass ich versucht habe, dich zufrieden zu stellen, dich glücklich zu machen? Etwas, das mir in letzter Zeit immer schwerer gefallen ist. Aber langsam frage ich mich, ob es das überhaupt wert gewesen ist. Ist es Liebe oder Pflichtgefühl gewesen? Egal, du wirst mir aus beidem einen Strick drehen, nicht wahr?“

„Was sagst du denn da?“, rufe ich entsetzt, „Du meinst, du hättest aus Pflichtgefühl deinen Job aufs Spiel gesetzt?“

„Aus Pflichtgefühl dir gegenüber“, sagt Rick matt, „Aber ich sehe, dass es vergebens war.“

„Allerdings“, sage ich.

„Ein Mann, der versucht, allem gerecht zu werden, muss schließlich scheitern, denn der Frau ist nie genug, was er heranschaffen kann. Sie nimmt ohne Dank und erwartet mehr.“

„Was willst du damit sagen? Dass wir es uns nicht leisten können, ein normales Leben zu führen? Welchen Luxus gönnen wir uns schon? Nur das, was jeder hat. Und hattest du nicht eine gehobene Stellung inne?“

„Ja, aber auch das hat euch nicht ausgerecht. Es musste immer mehr sein, immer besser, immer üppiger. Was letztes Jahr noch ausgereicht hat, ist dieses Jahr aus der Mode und muss ersetzt werden. Was gestern noch herbei gesehnt wurde, wird morgen weggeworfen werden.“

„Du bist nicht nur verantwortungslos, du bist auch noch völlig uneinsichtig“, sage ich, „Ich kann nicht glauben, was du da sagst. Hättest du gesagt, wir sollten sparen, so hätten wir es getan!“

„Hättet ihr das? Ich sehe, wie ihr gerade zu sparen bereit seid“, sagt Rick, „Hättest du verzichtet, ohne zu murren? Hättest du mir das Leben nicht zur Hölle gemacht, wenn du nicht bekommen hättest, was du wolltest?“

„Du redest nur noch im Konjunktiv“, erwidere ich, „Ein bisschen spät für solche Überlegungen.“

„Ich bin mir seit langem sehr klar über alles“, behauptet Rick, „Wenn ich meine Ruhe will, muss ich dafür bezahlen.“

„So? Du willst also deine Ruhe?“, rufe ich empört.

„Wenn ich schon keine Zuneigung von dir erwarten, kann dann doch wenigstens das!“

„Willst du mir gerade sagen, dass ich dich…“

„Tyrannisiere“, beendet er den Satz und ich rücke vom Tisch ab, lege mein Besteck nieder, stehe auf und verlasse die Küche.

Dan schaufelt weiter seine Cornflakes in sich hinein, als sei nichts geschehen und ich muss mich zügeln, nicht zurückzukommen, ihm eine Ohrfeige zu verpassen und herauszuzerren, damit ich seinem Vater einmal ordentlich die Meinung sagen kann.

Die Meinung. Was genau weiß er eigentlich nicht über mich? Was habe ich ihm von mir vorenthalten? Willentlich? Versehentlich? Was weiß er über mich, das ich nicht weiß? Was ahnt er? Was erfahre ich erst jetzt über mich? Wie viel von einem Monster steckt in uns beiden? So etwas erfährt man immer erst dann, wenn man in schwierige Fahrwasser gerät.

Ein Mensch, der keine Abgründe in sich entdeckt, ist nicht vollständig. Wer keine dunklen Zeiten durchstehen muss, hat nicht gelebt. Jeder Fehler ist eine Erfahrung und es wert, beachtet, gefeiert und ausgekostet zu werden.

Die USA sind das Land der zweiten Chancen und die Amerikaner dafür bekannt, bei Schwierigkeiten zusammenzustehen. Und ich hielt uns eigentlich für Patrioten. Wieso also sitze ich jetzt hier und weine?

Was hat mich bloß so verletzt? Die Unterstellung? Die Schuldzuweisung? Die Bloßstellung vor unserem gemeinsamen Kind, für das ich immer nur das Beste wollte und das trotzdem einen stärkeren Bezug zu seinem Vater hat? Ist es Neid? Streiten wir jetzt schon um die Liebe unserer Kinder.

Ist dies das Ende. Hat es wirklich nur ein paar Stunden gedauert, um diese Ehe zu ruinieren? Wie stabil ist sie überhaupt jemals gewesen? In guten Tagen ist es leicht, verliebt zu sein. Wann nur ist die Liebe verloren gegangen? So unbemerkt wie unser Wohlstand. Was ist überhaupt echt in dieser Ehe? Zumindest die Brillanten, denke ich. Sie gehören mir, die retten vielleicht mein Leben, wenn schon mein Mann es nicht tut.

Er kommt herüber, aber nicht, um sich zu mir zu setzen und mich zu trösten. Das war noch nie seine Stärke und ich erwarte es gar nicht von ihm.

Ich sage: „Du bist nie stark genug gewesen, um für das gerade zu stehen, was du tust. Immer sind andere schuld an deinen Misserfolgen. Für alles andere willst du aber trotzdem gelobt werden.“

„Glaubst du, du machst es, auch nur einen Deut besser mit deinen Vorwürfen?“, fragt Rick, aber er erwartet keine Antwort.

„Und schon wieder erwartest du von mir, dass ich etwas, das du in den Sand gesetzt hast, wieder gut mache!“, sage ich.

„Was ist diese Ehe wert, wenn wir nicht zusammenstehen, wenn die Zeiten hart werden?“

„Ja. Was ist sie wert, wenn du nicht ehrlich zu mir bist, wenn du lieber deine Ruhe willst, als mit mir über Probleme zu sprechen? Weißt du, meine Mutter war von dir als Ehemann total begeistert. Am liebsten hätte sie dich selbst geheiratet und ich… ich wollte vermutlich nur meine Ruhe. Ich wollte vermutlich ihr gefallen und nicht dir. Ich wollte das Richtige tun, also verließ ich mich auf ihren Rat und nicht auf meinen Instinkt, denn das ist es, was sie jungen Mädchen einreden: Unsicherheit ihrem eigenen Willen gegenüber. Man redet ihnen ein, es sei klüger, zu tun, was andere ihnen sagen, weil sie dann zumindest nicht selbst schuld sind, wenn sie auf die Nase fallen. Ihre Ehre steht und fällt mit ihrer Unschuld, mit ihrer Demut und ihrer Nachgiebigkeit. Aber auch Ratgeber machen Fehler. Ich kann diesen hier vielleicht meiner Mutter anlasten, leiden muss dennoch ich unter ihm. Es ist völlig irrelevant, wer die Schuld trägt, das habe ich jetzt erkannt. Es geht nicht darum, wer der Täter ist. Täter gehören vergessen und verschwiegen. Es geht darum, die Opfer sichtbar zu machen und zu stärken.“

„Worauf willst du hinaus?“, fragt Rick, aber er weiß es längst.

„Es war ein Fehler, dich zu heiraten.“

Ich sage es, als würde ich speziell unsere Hochzeit meinen, aber er versteht es richtig, das sehe ich an seinen Augen an. Rick, du bist es nicht wert, von irgendwem geheiratet zu werden. Du bist es nicht wert, Kinder zu haben, ein Haus, ein Nest, Vertrauen, Liebe, ein Leben.

Wenn er ein Herz hätte, hätte ich es ihm damit gebrochen. Aber er hat kein Herz, er hat nur eine Faust. Er sagt nicht einmal mehr etwas dazu, als würde er mir Recht geben, aber mich gleichzeitig dafür bestrafen müssen, dass ich die Wahrheit ausspreche. Er erträgt sie nicht, aber ich ertrage sie, denn ich bin stärker.

Er geht und lässt mich zurück. Wohin? Egal. Ob und wann er zurückkehrt? Irrelevant. Vollkommen irrelevant. Es wird zu spät sein.

Ich laufe auf Autopilot, ich bin leer, aber glücklich. Ich habe etwas zu tun. Ich habe ein Ziel.

Ist es richtig, was ich tue? Gibt es so etwas wie richtig oder falsch überhaupt noch nach dieser Nacht? Ist nicht alles völlig verschwommen? Sind wir nicht alle nur Blätter im Wind der Ereignisse um uns herum? Der Herbst hat begonnen. Zeit, zu verrotten.

Es muss schnell gehen. Es muss präzise passieren. Es muss geplant sein. Frauen sind die besseren Organisatoren, denn sie sind kaltblütiger, denken logischer und haben Intuition. Davor fürchten sich die Männer: Von uns in die Tasche gesteckt zu werden. Deshalb muss jedes Mädchen irgendwann im Alter zwischen 13 und 17 gebrochen werden. Man impft ihnen Selbstzweifel und redet ihnen Interessen ein, die sie davon ablenken sollen, ihren eigenen Kopf zu entwickeln. Sie sollen, glauben, dass es wichtiger ist, einem Mann zu gefallen, als sich selbst zu gefallen. Sie sollen leiden, um zu beschäftigt für Glückseligkeit zu sein. Melanies Leben ist eine vorprogrammierte Hölle und sie beginnt es zu spüren.

Verständnis und Liebe sind zwei Dinge, die Mädchen nie entgegen gebracht werden, aus Angst, es könnte sie zu Höherem anspornen. Immer werden sie gezügelt, ihre Ambitionen gedämpft. Ihre Mütter beneiden ihre Freiheiten und ihre Väter sind so abgestumpft, dass sie keine Ahnung davon haben, wie es sich anfühlt, ein fühlender, denkender, lebendiger Mensch zu sein.

Denn Väter sind nur älter gewordene Jungen, die man zu groben Klötzen zurecht gestutzt hat, statt sie zu formen. Alles, was an ihnen weich und liebenswert ist, wird ihnen aberzogen. Sie sollen bloß nicht weibisch sein, kindisch schon gar nicht und verhalten sich dabei vollkommen irrational. Männer, die um ihre Männlichkeit fürchten, agieren wie aufgescheuchte Hühner. Fast könnte man es Hysterie nennen, aber dieses Wort haben sie ja bereits anders definiert.

Dans Schicksal wird es sein, zu vegetieren, zu funktionieren und jegliche innere Regung zu unterdrücken. Dabei wird er oft wütend und frustriert sein und verwirrt, denn er wird nicht wissen, wem er diesen Zustand verdankt.

Und ihm wird Wut entgegenschlagen, denn man wird ihm seine Gewissenlosigkeit neiden und die Stellung, die er sich erwerben wird. Er wird eine lieblose Ehe eingehen, denn ein abgestumpfter Mann findet nur eine abgestumpfte Frau. Sein Leben lang wird er kämpfen müssen, aber er wird nicht wissen, wofür und wogegen. Es wird ein Ringen im Dunkeln sein und ohne echten Feindkontakt und ohne die Chance, zu gewinnen, während eine Niederlage den vollständigen Ruin bedeutet.

Das Leben ist kein Abenteuer, in dem man ständig auf neue Wunder stößt, die einen zum Staunen bringen, es ist ein Gewaltmarsch durch den Schlamm, den einem die vorherigen Generationen überlassen haben. Die hochgelobten, ausgetretene Wege sind längst keine Wege mehr, sondern abschüssige Pisten, über die man geschleust wird – ohne wenn und aber.

Es gibt keinen Halt. Was ich gestern noch für den Halt in dieser Gesellschaft gehalten habe, ist unter uns zusammengebrochen. Dünnes Eis. Wir leben und arbeiten auf dünnem Eis. Aber gibt es etwas Besseres? Ist die Alternative nicht der freie Fall? Wohin? Was ist dort unten?

Der Horror.

Sonntag, 06. Juli

 

Es hat nur zwei Tage gedauert, um unsere Familie zu zerrütten. Das Monster steckt in jedem von uns. Es nährt sich von Unzufriedenheit, Angst und dem Gefühl ungerecht behandelt worden zu sein. Es vergärt diese Dinge zu Hass und der ätzt sich durch den Kokon, den wir als Schutzvorrichtung um deine Seelen gesponnen haben.

Zwei Tage und sie hat sich völlig aufgelöst und in mir schwappt die rasende Wut wie Säure hin und her, ohne dass etwas sie halten kann. Sie trieft mir aus den Worten, strömt durch meine Adern, stärkt meine Muskeln, bewegt mich, lässt mich auf und ab gehen.

Er ist nicht hier. Die Kinder liegen mit einer Magenverstimmung im Bett. Ich bin hier und stehe in Mitten eines Sturms aus Ideen, von denen ich nicht mehr weiß, welche davon ich besser hätte verwerfen sollen.

Da draußen irgendwo ist eine Welt, aber das Innere dieses Hauses ist die Realität. Sie ist es, ich weiß es, denn für einen Traum sind die Messer in meiner Küche zu scharf. Die Wolke, die sich um uns gelegt hat, ist der Nebel des Krieges.

Er ist nicht hier, aber die Lücke, die er hinterlassen hat, schließt sich bereits und wird zu einer Narbe. Wunden heilen, wenn man sie ausbrennt. Erst muss der Schmerz unendlich werden, dann erkennt man, dass man lebt. Dann, wenn man sich sicher ist, nicht tot zu sein, kann man anfangen, die Nerven zu veröden.

Ich weiß nichts mehr, nicht mehr, was wahr ist und nicht mehr, was ich mir eingebildet habe. Was ist Wunsch, was ist Furcht? Ich kann nicht mehr auseinander halten, was ich liebe und was ich hasse. Ich weiß nur noch, was getan werden muss, aber das ist zumindest schon mal etwas.

Was ich hätte tun sollen, was ich hätte wissen müssen, weiß ich jetzt mit aller Klarheit. Ein hypothetisches Leben breitet sich hinter mir aus. Ein totes Leben, denn es besteht aus nicht getroffenen Entscheidungen, schillernden Möglichkeiten, attraktiven Chancen. Alle verworfen für einen Mann, der mich hingeworfen hat, für Kinder, denen ich ein Leben zumute, ohne sie gefragt zu haben, ob sie das überhaupt wollen.

Ich fühle mich wie aufgeklebt, etwas, das mutwillig vor einen Hintergrund platziert wurde, obwohl es gar nicht dazu passt und jetzt gerade, beginne ich mich abzulösen.

Das Land, von dem ich geglaubt habe, dass es mein Land ist, ist in Wirklichkeit das Land derer, die darin nichts sehen außer einer Kulisse für den Film ihres Lebens. Was sie behaupten, ist ihnen nichts wert. Die Wunder, von denen sie behaupten, dass sie sie gesehen hätten, existieren nur in ihren Phrasen, mit denen sie uns andere dazu motivieren wollen, uns weiter anzustrengen, nicht in negative Gedanken zu verfallen, nicht wütend oder destruktiv zu werden. Dies ist nicht das Land der Wunder, es ist das Land des Scheiterns.

Ich werde weggehen. Morgen werde ich meine Sachen packen und versuchen, etwas zu finden, das weniger anstrengend ist als dieses Leben. Eine Nacht noch in meinem Bett schlafen, um sicher zu gehen und dann den Klebstoff, der mich hier festhält, loswerden.

Wenn ich an letzte Woche denke, fühle ich mich mir völlig fremd. Als wäre eine andere Person aus mir herausgebrochen und hätte meinen Körper übernommen. Ich dachte, mit einem neuen Baseballhandschuh könnte ich Dan glücklich machen, dabei hätte ich wissen müssen, dass ihm ein absolut glückloses Leben bevor steht. Ich dachte, Melanie würde unglücklich werden, wenn sie ihre Selbstsucht nicht überwinden würde, dabei machte gerade dieses Überwinden müssen sie unglücklich. Und über all dem stellte sich mir die Frage, ob es nicht gierig und unanständig ist, glücklich werden zu wollen. Kann man überhaupt glücklich werden, wenn man es ständig versucht? Ist das eigene Glück nicht immer das Unglück der anderen? Wieso besteht mein Leben nur aus rhetorischen Fragen und nicht aus Antworten?

Ich habe so vieles falsch gemacht, für das ich mich heute schäme, während ich mich über die Dinge, die ich richtig gemacht habe, nicht freuen kann. Wenigstens bin ich keine Psychopathin. Wenigstens bin ich bei vollem Bewusstsein. Ich weiß, was ich tue und ich kann es begründen. Ich kann es erklären und ich schäme mich nicht dafür, dass ich mich schäme.

Ich denke über den idealen Menschen nach, der aus einer idealen Familie kommt und eine ideale Erziehung genossen hat, der ideal gebildet ist und sich dann in dieser unperfekten Welt zurecht finden muss. Wie irritiert muss er sein, auf all die gestörten, verletzten, fehlgeprägten und unglücklichen Menschen zu treffen. Wie sehr würde es ihn erschüttern, eine Person wie mich zu treffen? Würde er sich seiner Privilegien schämen oder mich ob meiner Unfähigkeiten verachten? Könnte er seine Umwelt überhaupt verstehen oder würde er wahnsinnig über all das Leid, das er wahrnehmen, wie aber erleiden müssen, ohne es zu merken. Ist es überhaupt Leid, wenn man es nicht als solches empfindet?

Ich glaube, das ist der Trick, der dieses Land groß gemacht hat. Man trainiert uns das Empfinden des Leides ab, ohne das Leid an sich zu bekämpfen. Offensichtlich habe ich versagt. Die Erkenntnis, die man mir anriet, zu unterdrücken, hat sich in meinem Geist festgesetzt: Ich bin allein. Da ist niemand, dem ich so wichtig bin und niemand, der mir so wichtig ist, wie ich mir selbst.

Er ist nicht mehr da. Rick ist im Nebel verschwunden und die Erinnerung an ihn ist so blass wie das wolkenverhangene Blau des Himmels. Was ist er mir gewesen? Jemand der meine Unsicherheit kompensiert. Jemand, der mein Leben oberflächlich und bequem macht. Jemand der mir sagte, was ich denken soll. Und es war ja auch gemütlich, es war einfach.

Glauben ist immer einfacher als Wissen. Überzeugung ist einfacher zu spielen als zu empfinden. Um einer, irgendeiner Wahrheit nahe zukommen, müssen wir aber ehrlich sein und ich weiß nun, dass ich nichts wissen kann und ich glaube an nichts mehr. Ich habe keine Überzeugungen mehr, die ich aufrecht erhalten muss und keinen Stolz.

Wegen ein bisschen Geld, denke ich. Wegen einem kleinen Bisschen Wohlstand. Er war der Kitt, der das alles hier zusammengehalten hat. Wie erbärmlich, zu entdecken, dass, wenn die Fassade einmal abgebröckelt ist, sich darunter nichts verbirgt. Wenigstens können wir unter den Trümmern dieses Nichts nicht verschüttet werden. Ich bin noch da, im Nebel, im Krieg. Noch eine Nacht, um sicher zu gehen.

Ich warte, ob das Telefon klingelt oder jemand vor der Haustür steht. Immerhin konnte ich nicht verhindern, dass etwas aus diesem Haus nach draußen dringt. Rick ist nicht mehr da und er hat seine Pistole mitgenommen. Ich habe ihn nicht daran gehindert, ich habe ihn gehen lassen. Jetzt ist er da draußen im Nebel und wird ein Zeichen setzen.

Die Spuren werden hier her führen und jemand wird kommen, um mich zu informieren. Es werden Fragen gestellt werden, rhetorische Fragen. Es wir einen Gottesdienst geben, die ganze Nachbarschaft wird da sein. Ich nicht. Denn es wird keine Geheimnisse mehr geben, alles wird ans Licht kommen.

Und dann wird sich in ihnen allen der Hass breit machen. Die Kleingeister werden mich verfluchen, die anderen werden erkennen, dass jedes Leben und jeder Mensch auf diese Situation, diese Erkenntnis zusteuert und es dann keine anderen Möglichkeiten mehr gibt, um sich aus den selbstgeschaffenen Zwängen zu befreien.

Die Polizei wird nach mir suchen und vielleicht werden sie mich auch finden, aber was soll’s? Was können sie mir antun, das mir Rick nicht schon längst in viel schlimmerem Maße angetan hat. Die Ehe ist Freiheitsberaubung, ist Abhängigkeit, ist Unterdrückung. Und Mutterschaft? Mutterschaft ist ein Rachebedürfnis, nichts mehr. Die Ungerechtigkeit, die die Frau von ihrem Mann erfährt, gibt sie ungefiltert weiter an ihre Kinder. Auch wenn sie behauptet, dass die Kinder es mal besser haben sollen, so will sie das am Grunde nicht. Was sie selbst mitgemacht hat, ist gerade gut genug für ihren Nachwuchs. Wieso sollte der es auch leichter haben, wenn sie es so schwer hatte?

Liebe bedeutet, das alles nicht geschehen zu lassen, zu schützen und zu bewahren, die Zeit aufzuhalten. Liebe ist Widerstand gegen die institutionalisierte Verzweiflung, genannt Gesellschaft.

Und wenn ich noch ein letztes Mal frage, wer an all dem die Schuld trägt, dann sage ich mir: Niemand und alle. Rick hätte ein guter Mensch sein können, aber er ist geworden, was er war, weil ihn jemand dazu gemacht hat und die, die ihn dazu gemacht haben, sind auch gemacht worden, ohne dass es hätte zwingend so sein müssen. Wir sind Produkte, die sich selbst optimieren und dabei blind gegen die Wand am Ende der Schnellstraße rasen. Ständige Verbesserungen und Beschleunigung schützen uns nicht vor dem Abgrund, sondern bringen uns nur schneller dort hin. Wir reformieren uns ins Verderben und behalten dabei das beste Gewissen, halten uns für sozial, menschlich und anständig. Wir betreiben Raubbau und schütten das Geröll auf, um es unsere Paläste zu heißen. Wir verstümmeln uns, um besser in die Lücken zu passen, die wir uns selbst zurechtzimmern.

Ich hätte ein guter Mensch sein können, wenn das Wort „gut“ nur irgendeine Bedeutung hätte. So bin ich einfach nur ein Mensch, der sich von diesem Makel befreien will. So wie ich gemacht wurde, ging ich kaputt, jetzt laufe ich zumindest auf Verschleiß.

Ich bleibe stehen und lächle. Ist das ein Nervenzusammenbruch? War das ein Nervenzusammenbruch? Wie ruhig die Welt danach ist. Man geht wie auf Watte, das Rauschen in den Ohren hat für einen Augenblick ausgesetzt. Bin ich erschöpft, oder bin ich selig? Bin ich frei, oder bin ich erledigt?

Die Kinder liegen oben in ihren Betten, inzwischen dürften sie ihre Magenverstimmung überwunden haben. Ich bleibe noch eine Nacht, um sicher zu gehen und morgen früh wird sich der Nebel verzogen haben und das Blau des Himmels leuchten. Die Welt wird weit und lebendig sein und ich werde mir aussuchen können, in welche Richtung ich ziehe.

Niemand ist mehr da, nicht mal ich. Ich bin jetzt eine andere und es kümmert mich nicht. Könnte Rick mich jetzt sehen, würde er mich nicht wiedererkennen. Er wäre angewidert und schockiert. Was ein wenig Geld aus einem Menschen machen kann, wenn es nicht mehr da ist… Aber ich würde lügen, wenn ich sagte, ich würde glauben, dass wir jetzt nicht mehr zusammen passen würden. Wir beide waren und sind Monster. Nur habe ich diese Tatsache akzeptieren gelernt.

Noch eine Nacht, um sicher zu gehen. Dann verabschiede ich mich von den Kindern und diesem Dasein. Jemand wird sie finden und untersuchen. Natürlich werden sie früher oder später heraus bekommen, was passiert ist. Die Nachbarn werden etwas gehört oder gesehen haben. Alle haben eine Geschichte, aber niemand hat was gewusst. Vielleicht wird eine Zeitung darüber schreiben, vielleicht werden sie mein Foto veröffentlichen und öffentlich nach mir fahnden. Es werden Stimmen laut werden, die sagen, dass sie mich auch tot sehen wollen, denn eine Frau, die sich von ihrer Familie freimacht, ist nichts mehr wert. Sie werden es eine Tragödie nennen und vielleicht wird man eine Debatte lostreten, aber dann bin ich schon nicht mehr hier.

Ist dies nun das Land der zweiten Chancen oder nicht?

Ich höre sie schon brüllen: „Mörderin! Mörderin! Hat ihren Mann in den Tod getrieben!“ Aber was kann ich da noch anderes tun, als mit den Schultern zucken? Meine Tränen zumindest sind echt, ihre sind verlogen. Ihre Anteilnahme ist gespielt, denn sie sind so wenig zu echten Emotionen fähig, dass sie eine Sensation brauchen, um etwas in der Art in sich zu erwecken.

Und so stehe ich hier reglos und warte auf die Nacht und auf den Morgen. Wie dehnbar die Zeit ist. Dort oben in ihren Betten sind meine Kinder schon jenseits davon. Hier unten hingegen kommt sie langsam wieder in Gang. Ich muss mich wieder an das Ticken der Uhr, die Sekunden, Minuten und Stunden gewöhnen. Ich werde altern und ich werde mich für immer an diesen Tag erinnern. Das ist der Deal, den man eingeht, wenn man etwas Denkwürdiges, unfassbar Falsches und gnadenlos Gutes tut.

Fühle ich mich im Recht?, werden einige vielleicht fragen. Bin ich kaltblütig und heimtückisch? Abgeklärt? Planend? Eine schwarze Witwe? Bin ich selbstsüchtig? Menschenverachtend? Krank?

Ich glaube nicht mehr an so etwas wie Recht. Ich glaube an niemanden, der Recht sprechen kann, wie also soll man Recht schaffen? Wie definiert man es? Mord ist nur ein Konstrukt.

Ich denke an andere Dinge. Daran, dass ich zum Beispiel diese Stadt noch nie wirklich verlassen habe. In meinen Träumen sehe ich immer die selben Straßen und meine alten Schulfreundinnen, die alle fortgezogen sind und mich über die Jahre sicherlich vergessen haben. Ich denke daran, wie einfach die Welt als Kind war. Als Kind konnte man sich nicht blamieren, nur andere. Man konnte Fragen stellen, ohne dass die Leute einen für dumm hielten. Diese Zeiten sind für mich vorbei, trotzdem weiß ich vieles immer noch nicht und ich bin und bleibe neugierig. Ich denke an all die Jahre, die ich verloren habe seit dem. Jahre, in denen ich mich zufrieden gegeben habe mit Dingen, Geschenken und dem Gefühl, nur immer mehr haben zu müssen, um konstant zufrieden sein zu können. Es war wie eine Droge. Während man ihr immer mehr verfällt, bemerkt man nicht, was einem verloren geht.

Und jetzt habe ich alles verloren. Ich habe mich allem entledigt. Also kann ich jetzt von vorne anfangen. Ich fühle mich wie ein indischer Asket oder ein Einsiedler in den Bergen. Es heißt, die glücklichsten Menschen leben auf diese Weise, befreit von Zwängen und Erwartungen, weit entfernt von ihrer Heimat und ohne Kontakt zu Menschen, die es gut mit ihnen meinen.

Oh, ich kann grausam sein. Besser, wenn mir niemand in Quere kommt. Ich kann furios sein, ich kann mich vergessen. Ich kann die Welt in Brand stecken, nur um sie brennen zu sehen. Und ich kann nach einem Krieg als letzte lebend das Schlachtfeld verlassen. Am Ende bekommt jeder, was er verdient.

Nein, es ist keine Frage von Recht oder Schuld. Es geht ums Überleben und um Freiheit. Es geht darum, die eigene Scham zu ertragen und Konsequenzen zu ziehen, Prioritäten zu setzen. Denn, wenn wir sie nicht setzen, werden sie entweder für uns gesetzt oder wir versinken in der Gleichgültigkeit, mit der die Natur all ihre Geschöpfe bedenkt. Kann ich nun diese Gleichgültigkeit adaptieren oder kann ich sie zunichte machen, indem ich selbstbestimmt handele? Es ist einen Versuch wert. Andere haben es vor mir getan, wieso soll ich also zögern. Jenseits der altbekannten Straßen liegen neue Träume, wohnen neue Freunde, stellen sich mir neue Fragen.

Und ich bin neugierig.

Ich stehe da und atme - auf Werkseinstellung zurückgestellt. Ich glaube, ein wenig müde zu sein. Draußen ist es dunkel. Durch das Wohnzimmerfenster kann ich ein oder zwei Sterne sehen. Da draußen hat sich nichts geändert. Die Sterne interessieren sich nicht für unsere kleine Krise hier. Wie beruhigend die eigene Belanglosigkeit sein kann. Das eigene verpfuschte Leben ist aus der Perspektive der Sterne nichts weiter als ein verglühendes Staubkorns. Dort draußen in der Milchstraße interessiert sich niemand für den Tod eines unsauberen Ehemannes und den seiner verzogenen Kinder. Ich wäre eine freie Frau, fast überall.

Und schließlich schlafe ich ein. Irgendwie. Irgendwo. Mal sehen, wann und wo ich aufwachen werden. Und wer ich dann seins werden

Liz

 

Ich lese diesen Text jetzt zum siebzehnten Mal hintereinander, aber nicht auf den gleichen Blättern. Jemand, wahrscheinlich Beth, hat ihn siebzehnmal hintereinander in ein Buch geschrieben und danach noch unzählige Male, denn sie lebt hier schon seit vielen Jahren, sagt Frank. Zu Gesicht bekommen habe ich sie bisher nicht.

„Niemand trifft sie“, sagt Vincent. Er versorgt mich mit Lebensmitteln und Wasser, während ich in der Kirche sitze und versuche, herauszufinden, was es mit dieser Frau auf sich hat.

„Wieso nicht?“, frage ich.

„Sie kann dich nicht wahrnehmen. Sie lebt in ihrer eigenen Welt“, sagt Vincent.

„Und sie führt Tagebuch?“

„Du hast sie vor dir liegen.“

„Wieso sind es immer die gleichen drei Einträge?“, frage ich.

„Das wissen wir nicht“, sagt Frank, „Sie war vor uns allen hier und sie lebt einfach vor sich hin. Es ist, als ob sie festhängt. Sie durchlebt immer und immer wieder diese drei Tage und hält ihre Gedanken auf Papier fest.“

„Aber es sind immer die selben Gedanken“, sage ich.

„Es ist immer die selbe Geschichte.“

„Kann man ihr irgendwie helfen?“

„Wobei?“

„Na, da herauszukommen.“

„Aus ihrem Kopf?“, fragt Frank.

„Es muss doch fürchterlich sein, alle drei Tage zu durchleben, wie man seine Familie verliert“, sage ich.

„Wenn die Erinnerung nun aber das letzte ist, was sie hat? Was soll sie sonst durchleben hier in der Wüste? Die endlosen Schuldgefühle einer Dreifachmörderin?“

„Ihr lasst das einfach zu?“

„Es ist nicht an uns, uns einzumischen“, sagt Frank.

„Ihr habt euch in mein Leben eingemischt“, protestiere ich.

„Wir versuchen nicht, deine Entscheidungen zu beeinflussen, sondern dir aufzuzeigen, dass deine Perspektive nicht die einzige ist.“

„Warum also nicht bei ihr?“, frage ich.

„Weil sie weiß, was sie tut“, sagt Vincent knapp.

„Das tut sie nicht!“, sage ich.

„Wir glauben, sie ist glücklich“, sagt Frank, „Das ist das glücklichste Leben, das sie führen kann und sie hat sich dafür entschieden. Sie weiß, dass alle anderen Optionen ihr noch mehr Leid bereiten würden und so ist es Strafe und Leuterung zugleich. Fluch und Segen.“

„Aber es sind die schlimmsten drei Tage ihres Lebens!“, gebe ich zu bedenken.

„Es sind die Tage ihrer Epiphanie, die Tage, an denen sie wurde, wer sie ist. Sie sind das einzige, was sie von sich hat und je bekommen kann“, sagt Frank, „Stell sie dir vor, Jahrzehnte nach ihren Taten. Soll sie in Selbstmitleid versinken? Soll sie vergessen und stumpfsinnig vor sich hin vegetieren? Soll sie sich selbst verzeihen und selbstgerecht unter den Unschuldigen wandeln?“

„Das heißt, sie hat sich selbst dazu entscheiden?“, frage ich.

„Sie hatte keine andere Möglichkeit, als sich dazu entscheiden“, meint Frank.

Ich sage nichts.

„Sieh mal“, erklärt Vincent, „Sie hat über sich nachgedacht und ist zu der Erkenntnis gekommen, dass sie etwas verändern muss. Dann hat sie etwas verändert und beschlossen authentisch und verantwortlich zu sein. Wie hätte sie also den Rest ihres Lebens anders gestalten sollen als so? Sie ist eine Mörderin, Liz, sie hat es eingesehen und lebt nun mit der Schuld. Jeden Tag aufs Neue, ohne ihre Taten jemals zu überwinden, ohne weiter zu gehen, ohne einen Neuanfang zu wagen. Es ist ihre Bestrafung für sich selbst.“

„Und ihr meint, dass so ein Leben angemessen ist?“, frage ich.

„Das ist nichts, was wir entscheiden können“, sagt Frank, „Dies ist ein Ort, an dem nicht geurteilt wird, hast du das schon vergessen?“

„Aber was bedeutet das für andere Menschen?“, frage ich, „Sind wir nicht alle Sünder? Haben wir nicht alle eine gewisse Schuld auf uns geladen? Ich meine, das ist doch unbestritten. Es gibt lediglich Unterschiede darin, wie Menschen ihre Schuld verarbeiten. Manche haben kein Unrechtsbewusstsein und machen einfach immer weiter und manche gehen an ihrem schlechten Gewissen zu Grunde. Für ein und die selbe Tat. Ist das nicht ungerecht?“

„Was meinst du denn damit?“, fragt Frank, „Meinst du es gibt Mörder, die keine Reue empfinden und dass es denen besser geht, obwohl sie schlechtere Menschen sind? Liz, du sitzt immer noch dem Glauben auf, dass es einen Unterschied macht, ob jemand ein guter oder ein schlechter Mensch ist. Wieso bist du her gekommen? Was erwartest du von diesem Ort? Sicher nicht den Tod, denn du bist ja immer noch am Leben.“

„Ich weiß es nicht“, sage ich und mir kommen die Tränen.

„Also bist du Hals über Kopf losgerannt und hier gestandet?“, fragt Vincent, aber er weiß, dass es nicht stimmt.

„Ich glaube, mein ganzes Leben hat mich hier her geführt“, sage ich, „Es gab keinen anderen Weg für mich. Es war Schicksal. Oder zumindest berechenbar. Aber ich beschwere mich nicht. Jeder hat in seinem Leben ein wenig Trost verdient, oder nicht?“

„Jeder?“, fragt Frank, „Auch eine Mörderin?“

Ich überlege. „Ja, auch eine Mörderin. Wenn sie Trost darin findet, zu bereuen, dann sei ihr dieses private Glück gestattet. Wer bin ich, ihr das wegzunehmen, was sie in ihrem Herzen fühlt?“

„Du bist also hergekommen, um Trost zu suchen, jemanden der deine Fehler sieht, sie nicht entschuldigt, dir aber dennoch deine Würde nicht abspricht“, sagt Vincent.

„Manchmal braucht man nur jemandem, dem man erzählen kann, was man für einen Mist gebaut hat“, sage ich, „Ich brauche kein Urteil, sondern Gewissheit.“

„Und hast du diese hier gefunden?“, fragt Frank.

„Ich weiß es nicht, also vermutlich nicht. Aber das ist nicht schlimm. Ich habe etwas anderes gefunden: Frieden. Seht euch diese Tagebücher an. Beth lebt ein ganzes Leben an drei Tagen. Wieder und wieder. Nichts kann sie erschüttern. Sie hat die Zeit aus ihrem Leben verbannt, das Altern, ihre Umwelt.“

„Du meinst also, sie ist glücklich?“, fragt Frank mit einem Grinsen im Gesicht.

„Es ist eine seltsame Vorstellung“, gebe ich zu, „Sie durchlebt den Horror Tag für Tag für Tag und doch scheint es für sie ein Trost zu sein.“

„Für sie wiegt Wahrhaftigkeit schwerer als Annehmlichkeit“, wirft Vincent ein.

„Was ich mich frage“, sage ich langsam, „seid ihr eigentlich glücklich? Und Billy, Eugene, Alfred, Mercy und Barby?“

„Schwierige Frage“, gibt Vincent zu, „Ich glaube, ich kann mir kein Leben vorstellen, das anderes verlaufen wäre und in dem ich so zufrieden gewesen wäre wie in diesem hier. Ich finde mich zurecht und das reicht mir.“

„Ich hab ein paar wilde Zeiten hinter mir, die ich nicht missen möchte“, sagt Frank, „Aber ewig kann man so nicht weiter machen. Irgendwann muss man sich entscheiden, ob man die Aufmerksamkeit derer will, die einen verurteilen, oder ob man sich zurückzieht. Die Menschen da draußen lechzen nach dem Blut und der Seele anderer Leute und es gibt diejenigen, die beides verkaufen. Ich glaube, dass ich meine Seele bewahrt habe und das gibt mir Sicherheit, wenn es das ist, was du wissen willst.“

„Du glaubst an so etwas wie eine Seele?“, frage ich, „Ich dachte, du bist Satanist.“

Er zuckt mit den Schultern und antwortet nicht.

„Das muss jeder für sich selbst entscheiden“, sagt Vincent, „Wenn du glaubst, dass er eine Seele hat, dann hat er auch eine.“

Ich blicke Frank lange und durchdringend an. Ich kann keine Seele erkennen. Er steht einfach nur da, als würde es ihn nicht interessieren, was ich denke.

„Ich habe viel Mist gebaut“, sage ich schließlich, „Dinge, von denen ich geglaubt habe, dass sie mich von innen auffressen. Mir ging es viel besser als den meisten Menschen und doch bin ich nicht glücklich gewesen. Ich dachte immer, dass ich undankbar sei.“

„Man sollte keine individuellen Empfindungen an allgemeinen Befunden über die Gesellschaft messen“, sagt Vincent.

„Meine Kindheit war zu perfekt, zu schön, um nicht schrecklich gewesen zu sein“, sage ich, „Ich wurde fortwährend von Gewissensbissen geplagt. Erst viel später erkannte ich, dass sie mir eingeredet wurden und nicht natürlichen Ursprungs waren. Fast mein ganzes Leben lang glaubte ich, für ein schlechtes Gewissen gebe es immer auch einen guten Grund, weshalb die Scham sich immer weiter potenzierte. Ich schämte mich für alles, was ich hatte, was andere nicht hatten, für meine Fähigkeiten, mein ganzes Sein. Und dabei erwartete ich, dass es anderen genauso gehen müsse. Scham erachtete ich als Anstand und wer sich nicht schämte, der schien mir asozial zu sein.“

„Du trägst nicht die Sünden und die Leiden der anderen auf deinem Rücken“, sagt Vincent.

„Du brauchst mir keine Absolution zu erteilen“, sage ich, „Das habe ich nicht verdient. Denn erst trug ich meine Tugendhaftigkeit zur Schau, zeigte, wie wunderbar schamhaft, ich sein konnte und dann verdammte ich diejenigen, die sich gegen die Ungerechtigkeiten wehren wollten, die ihren widerfuhren. Ich hielt das Ertragen für erstrebenswerter als das Verändern. Ich hielt Frieden für das Unterlassen von Beschwerden und nicht für das Finden von Lösungen für Probleme.“

„Gewaltlosigkeit allein ist keine Sicherheit“, sagt Frank, „Gewaltlosigkeit ist die Aufrechterhaltung des Status Quo. Egal, von welchen Wundern sie dir erzählen, Jede Veränderung ist ein Gewaltakt gegen irgendwen, der es sich irgendwo gemütlich gemacht hat.“

„Ich habe schlechte Ratschläge gegeben“, sage ich.

„Haben sie auch Schlechtes bewirkt?“, fragt Frank.

„Ja“, gebe ich zu, „Ich habe viel Schlechtes zu verantworten. Ich habe Herzen gebrochen, Menschen zum Weinen gebracht, ihnen ihre Habseligkeiten weggenommen, sie ihren Ruf und ihre Karriere gekostet. Ich hatte kein Mitleid, keine Angst vor Konsequenzen. Wenn ich etwas nicht sehen konnte, berührte es mich nicht. Ich war kalt. Ich war skrupellos. Ich habe mich selbst nicht geliebt und deshalb alles hingenommen, was man mir antat. Ich wehrte mich nicht gegen die Gewalt gegen mich, sondern ich kämpfte gegen mich selbst, ohne es zu merken. Ich opferte mich in meinem eigenen Krieg.“

„Hast du gewonnen?“, fragt Frank.

„Eine Erkenntnis“, sage ich.

Das Kirchenportal öffnet sich und aus dem gleißenden Sonnenschein herein tritt Mercedes, die ich an ihrem schwankenden Gang erkenne. Ich freue mich, sie zu sehen, denn in den letzten Tagen sind wir so etwas wie Freundinnen geworden. Sie nennt mich immer noch „Schlampe“, aber ich tragen diesen Titel inzwischen wie einen Orden.

Hinter ihr trottet Justice, der schwarze Hund. Mercedes blickt sich immer wieder unsicher nach ihm um, aber das Tier hält Abstand. Es kann Frank, seinen Herrn riechen und weiß, dass er sich in seiner Gegenwart keine Fehltritte erlauben darf.

„Ich hab Alfred deinen ganzen Schnaps überlassen“, sagt sie, „Er meint, er würde ihn aufheben, für eine Gelegenheit, wenn es mal etwas zu feiern gibt.“

Ich nicke.

„Wo willst du einziehen?“, fragt sie.

„Ich weiß nicht“, sage ich, „Viele Häuser sind ja nicht mehr übrig.“

„Es findet sich immer eins“, sagt Vincent.

„Und was hältst du von unserer Beth?“, fragt Mercedes, „Ziemlich abgefahrene Geschichte, was? Hat ihren Mann und ihre Kinder um die Ecke gebracht.“

„Ich glaube, es ist etwas anderes, das mich fasziniert und erschreckt“, sage ich.

„Und?“

„Es ist ihr Verrat. Ihre völlige Entsagung an die Welt, die Menschen, sogar an den Lauf der Zeit. Sie hat es voll durchgezogen, spottet Gottes Vorsehung und macht einfach ihr Ding. Sie ist eine Abtrünnige, das, wovor sich die Mächtigen am meisten fürchten: Eine, die sie nicht anerkennt. Keine Strafe der Welt kann sie mehr treffen. Kein Teufel, nicht mal Satan höchst persönlich kann sie noch erschrecken. Sie muss niemanden anbeten, sich niemandem unterwerfen, niemanden sehen, mit niemandem sprechen. Sie ist bewundernswert und bedauernswert zugleich. Würde mich nicht wundern, wenn sie auch den Trost, den sie hier erfährt, ablehnt, aber das können wir nicht wissen.“

„Ich finde sie gruselig“, sagt Mercedes, „Alfred besorgt ihr für jeden Tag ihren bescheuerten Salat und stellt ihn auf ihre Türschwelle, aber nicht mal er hat je ein Wort mit ihr gewechselt. Sie redet immer nur mit sich selbst und den Leuten in ihrer Phantasie. Dabei sind die nicht mal sympathisch, findest du nicht?“

„Du meinst Rick und die Kinder? Nein, die haben es vielleicht sogar nicht anders verdient…“, sage ich.

„Was?“, fragt Vincent.

Ich atme tief ein, weiß aber trotzdem nicht, wie ich erklären soll, was ich gerade gesagt habe.

„Findest du nicht, dass auch Rick, Dan und Melanie ihre zweite Chance verdient gehabt hätten? Findest du nicht, dass sie ein Recht gehabt hätten, über ihr Leben selbst zu bestimmen?“, fragt Vincent.

„Sie haben viel zu lange über das Leben von Beth bestimmt“, sage ich.

„Ich hätte Mel gerne kennen gelernt“, sagt Mercedes, „Und dann hätte ich ihr eine aufs Maul gegeben.“

„Sie war doch auch nur das Kind ihrer Eltern“, gibt Vincent zu bedenken.

„Das heißt nicht, dass man ihr nicht hätte den Kopf zurecht rücken müssen.“

„Muss man das?“, frage ich.

„Findest du nicht, dass wir alle für alle anderen verantwortlich sind?“, fragt Frank.

„Nein. Nicht mehr. Ich will nicht bevormundet werden, also bevormunde ich niemanden.“

„Und doch bist du hier und interessierst dich für unsere Meinungen“, sagt Frank.

„Eine Meinung ist etwas anderes als ein Ratschlag“, behaupte ich.

„Wovor hast du Angst“, fragt Mercedes, „Dass man dir deine Idee, die du längst in deinem Kopf ausgearbeitet hast, madig machen könnte?“

„Vielleicht“, gebe ich zu.

„Und doch bist du unsicher“, sagt sie, „Unsicher genug, um dennoch mit uns zu sprechen.“

„Ich bin eben nicht so selbstsicher wie Beth“, sagte ich.

„Nein, das bist du nicht“, bestätigt Frank, „Immerhin hast du uns immer noch nicht erzählt, warum du dich auf den Weg zu uns gemacht hast. Ich sehe, wie du dieses Tagebuch schreibst, ich sehe, wie du alle möglichen kleinen Vergehen gestehst, wie du damit haderst, wie du um den heißen Brei herum schreibst und wie du uns alle als deine Zeugen betrachtest. Dabei gibt es gar kein Tribunal, es sei denn, es findet in deinem Kopf statt. Wie also lautet die Anklage, Liz. Weswegen bist du wirklich hier. Doch wohl nicht, weil du vor Urzeiten einem kleinen Jungen ein paar Dollar abgezogen hast?“

„Ihr seid nicht meine Zeugen“, sage ich, „Ihr seid die Nebenkläger.“

Frank lacht: „Ich habe nichts zu beklagen, herzlichen Dank.“

„Das behauptest du vielleicht, aber in deinen Augen sehe ich, dass du mich verabscheust, wie du alles und jeden verabscheust, nur dass du in meinem Fall nicht genau weißt, warum. Sieh nur den Hund an, er knurrt mich dauernd an. Er weiß, dass etwas mit mir nicht stimmt. Er kann meine Aura wittern und sie riecht faulig. Ich bin vielleicht nicht stark genug, um ein Leben wir Beth zu führen, aber ich verspüre doch das Bedürfnis nach…“

„Rechtfertigung?“, fragt Vincent.

„Nein“, sage ich, „Ruhe.“

Mercedes verschränkt dir Arme vor ihrer Brust und schmollt: „Ruhe ist was für Langweiler! Wenn man Ruhe haben will, kann man sich auch gleich ein Loch ausheben und ich dachte, über diesen Punkt sind wir hinweg. Es gibt keine Ruhe. Ruhe ist Luxus. Ruhe ist etwas, das du dir nicht leisten kannst.“

„Dann vielleicht Versöhnung?“, sage ich.

„Mit wem? Uns an Stelle aller, denen du vermeintlich Unrecht getan hast?“, fragt Frank, „Dann würdest du uns ganz schön missbrauchen.“

„Ist nicht jede Interaktion in gewisser Weise Missbrauch?“, frage ich.

„Sie hat in ihrem Leben wirklich die essenziellen Dinge nicht gelernt“, sagt Bar, die irgendwie hereingekommen sein muss, ohne dass ich es gemerkt habe, „Interaktion ist nicht Missbrauch, sondern ein Versuch der Kontrollübernahme. Ob er gelingt, liegt an demjenigen, der dir gegenüber steht.“

„Täter bin ich trotzdem“ sage ich.

„Täter kommt von tun und tun kann man auch Dinge, die nicht verwerflich sind“, meint Vincent, „Auch die Übernahme der Kontrolle für jemanden kann zu dessen Schutz geschehen. Hilfe ist nicht gleich Einmischung, sondern Ausdruck von Güte und Mitgefühl.“

„Hast du etwas davon?“, fragt Frank, „Güte oder Mitgefühl?“

„Ich glaube nicht“, sage ich, „Ich habe nur Scham. Ich lebe immer erst hinterher. Ich blicke zurück und schäme mich, statt nach vorne zu schauen und die Möglichkeiten abzuwägen.“

Mercedes verzeiht das Gesicht zu einem Grinsen, sagt aber nichts, was ich sehr verwirrend finde. Sie macht mir Angst, wenn man ihr ansieht, dass sie einen Gedanken für sich behält.

Wie kann sie einen Gedanken für sich behalten, frage ich mich plötzlich. Wie kann sie etwas wissen, das ich nicht weiß? Wieso fordert mich Frank auf, auszuformulieren, was er ohnehin längst weiß? Jeder hier weiß alles, wieso also zwingen sie mich, darüber zu reden? Es aufzuschreiben?

Ich bin eine untreue Ehefrau, neben vielen anderen Dingen bin ich vor allem das: Die Frau an der Seite eines Mannes, die ihre Aufgaben nicht erfüllt hat. Als Frau ist man immer zuerst Frau, hat man immer zuerst die Aufgaben einer Frau zu erledigen und darüber Rechenschaft abzulegen. Erst danach hat man einen Beruf, eine Funktion, Erfolge, Persönlichkeit, Vorlieben, Wünsche und Ängste. Sie zählen alle nicht, wenn man als Frau versagt. Welchen Sinn hat es also, über all die anderen Dinge zu reden?

Ich hatte einen Beruf, aber ich habe als Frau versagt, deshalb bin ich als Anwältin nicht mehr zu gebrauchen. Ich hatte eine Position, aber ich habe als Frau versagt, deshalb war ich dort nicht mehr vertretbar. Ich hatte Erfolge, aber ich habe als Frau versagt und deshalb zählen diese nicht, nein, im Gegenteil, ist nicht sogar zu hinterfragen, ob meine Erfolge nicht vielleicht moralisch verwerflich waren? Ich hatte eine Persönlichkeit, aber die steht mir jetzt nicht mehr zu, denn ich habe als Frau versagt. Ich hatte Vorlieben, aber nachdem ich als Frau versagte, habe ich kein Recht mehr, sie zu äußern. Meine Wünsche sind irrelevant, denn ich habe die Wünsche meines Mannes mit Füßen getreten. Und meine Ängste, nun, die habe ich verdient, denn wer als Frau versagt, soll wissen, dass so etwas nicht ohne Folgen bleibt.

Selbst schuld, Liz, dass dein Status in sich zusammengebrochen ist. Selbst schuld an allem, was in deinem Kopf passiert.

Du liegst hier, halb verhungert und zu drei Vierteln verdurstet und denkst an nichts anderes, als dass du selbst schuld bist an deiner Lage. Versagerin! Hast du etwa geglaubt, irgendjemand interessiert sich für deine Entschuldigungen, deine Erklärungen, deine Plädoyers? So viel Bewunderung, wie du für Beth aufbringen kannst, hättest du besser mal für deinen Mann aufbringen sollen. Er war ein guter Mensch, ein bescheidener und doch ehrenhafter Mann. So werden sie es schreiben und du hast keinen Einfluss mehr darauf. Dein Ruf liegt nun in den Händen anderer, das ist es, was du nicht erträgst.

Trost ist eine Sackgasse, eine Lebendmausefalle für Menschen, die nicht zurück können, aber auch kein Ziel mehr vor Augen haben. Du hast dein Ziel eigenhändig beseitigt, Liz, hast dir den eigenen Weg verbaut mit einer ganzen Trümmerstadt, bewohnt von den Geistern deiner Schuld. Sie sind widerspenstig, nicht wahr? Widerspenstig, aber so verständig. Ist es das, wonach du doch sehnst? Verständnis? Das Verständnis derer, die du verletzt und betrogen hast? Du fürchtest die Wut anderer Leute, ihre negativen Gefühle dir gegenüber. Du bist feige im Inneren und voreilig nach außen hin. Das, Liz, ist dein Verderben. Du hast dich nicht im Griff und hattest es nie. Impulse. Fluchtimpulse, Liz, und du kannst dich ihnen nicht entziehen. Deine Angst vor Verurteilung ist zu groß. Da übernimmst du das lieber gleich selbst, was? Aber so läuft das nicht. Du bist nicht allein auf der Welt, du bist ja nicht mal allein in deinem Kopf. Dort erwartet dich vielleicht ein mildes Urteil, mit dem du leben kannst, das dich zufrieden stellt, aber hier draußen, liegt dein Leben nicht mehr in deiner Hand.

Ich drehe mich zur Seite und greife nach einem der Blätter, die um mich herum verstreut liegen. Darauf steht geschrieben: „Mörderin! Mörderin! Hat ihren Mann in den Tod getrieben!“

Hat sie das? Hat nicht eher ihr Mann sie dazu getrieben, ihn in den Tod zu treiben?

Deine Verteidigungsrede ist schwach, Liz. Er wollte nicht sterben, das weißt du.

Er wollte vielleicht, dass ich sterbe, ich bin ihm nur zuvorgekommen. Und hat nicht er mich letztendlich auch in den Tod getrieben? Oder zumindest in den Wahnsinn?

Es ist egal, was er getan hat, wenn er tot ist, Liz. Wer tot ist, ist das Opfer, wer lebt, hat einen ungerechten Vorteil.

Ich bäume mich auf und übergebe mich auf den Boden der über und über mit Papierfetzen und Zetteln bedeckt ist. Ich nehme ein weiteres Blatt: „Ich denke an den idealen Menschen. Würde er sich seiner Privilegien schämen?“

Würde er? Müsste er? Geziemt es sich? Schäm dich, Liz, du hattest ein gutes Leben und hast es versaut. Du hattest alle Chancen und hast sie nicht ergriffen. Stattdessen bist du überall falsch abgebogen, wo es nur möglich war. Sieh dich an, dein Zustand, dein Dasein, das Ergebnis deiner Entscheidungen!

Aber ich hätte doch nicht wissen können, dass es einmal so endet!

Wie ist wohl das Leben derer geendet, die du von dir gestoßen hast, die du nicht in dein Leben ließest? In dein Herz so eng, so klein, so verkrustet gewesen, dass es nur Platz für dich darin gab? Kannst du lieben, Liz? Etwas oder jemand anderen als dich selbst?

Ich bin niemand. Ich kann nicht einmal mich selbst lieben. Ich bin leer, ausgesaugt und zurückgelassen. Ich bin nur noch die Hülle meiner Seele, glaube ich. Sie ist abhanden gekommen mit den Jahren und als sie fort war, hatte ich nichts sonst mehr zu verlieren. Macht mit mir, was ihr wollt. Nehmt mich, werft mich den Hunden zum Fraß vor, sie werden nicht satt werden.

Scheinbare Opferbereitschaft ist nichts Bewundernswertes, Liz, und du willst doch bewundert werden. Für deinen souveränen Umgang mit deiner Schuld, für deine Leidensfähigkeit, für deinen gradlinigen Charakter, dafür, dass du Nägel mit Köpfen machst und dich deinen Ängsten stellst. Und doch tust du nichts. Du liegst hier und wartest, das andere dich dem aussetzen, was du verdient hast. Du koppelst deinen Geist von deinem Köper ab, oder versuchst es zumindest, um diesen Schmerz nicht mehr zu spüren, der sich in deiner Magengrube eingräbt. Was glaubst du, was das ist, Liz? Ein Parasit? Ein Tumor? Ein wachsender Fötus? Was willst du damit beweisen? Dass du nicht vollkommen versagt hast? Dass du ein bisschen was Menschliches zurücklässt?

Ich versuche mein Bestes, meine Würde zu bewahren.

Du widerholst dich. Hast du keine besseren Argumente mehr? Willst du wieder von vorne anfangen? Zurück zum Anfang? Rein ins Auto, Flucht über den Highway? Aber wohin diesmal? Glaubst du, es gibt irgendwo auf dieser Welt einen Ort, an dem du allein bist, wo niemand dich finden wird, der nicht bewohnt ist? Du bist in der Welt, Liz, und so lange das so ist, ist dieser Planet kontaminiert. Er wehrt sich gegen dich, schafft Fata Morganen, streckt dich nieder, überlässt dich den Naturgewalten.

Ich suche nach weiteren Blättern, grabsche um mich herum nach den Dingen, die ich aufgeschrieben habe, während ich weggetreten war. Aber ich finde nichts, das mit bekannt vorkommt. Das ist ein Alptraum, fällt mir ein. Es ist nicht echt. Es passiert nicht. Ich bin woanders. Ich bin eine andere.

Du suchst etwas, das dich entlastet. Aber da ist nichts außer einem umfangreichen Geständnis. Du, Liz, bist schuldig. In allen Anklagepunkten schuldig. Hier und überall. In der Realität, in deinen Träumen, in deinen Visionen, in deinen Psychosen, in deinen Flashbacks, in deinen Erzählungen, in deinen Bitten um Verzeihung, in deinen Tränen, in deinen Schreien, in deinem Sterben und im Tod. Du bist schuldig, Liz. Für immer. Das ist dein Andenken, das wird auf deinem Grabstein stehen und alle werden es lesen. Die Zeit kann nicht betrogen werden, außer durch die Dinge, die man in Steine meißelt. Sie werden dich begraben und versuchen zu vergessen. Wenn sie zynisch sind, werden sie dich neben deinem Mann begraben und deine Eltern werden beide Gräber mit den gleichen Blumen schmücken. Werden sie glauben können, was geschehen ist oder werden sie es verdrängen? Was hast du ihnen nur angetan, Liz?

Sie haben ihn mehr geliebt als mich. Sie werden mehr um ihn als um mich trauern. Wieso also sollte es mich kümmern, welche Blumen sie für mich opfern? Es bedeutet mich nichts. Kein Abschied, der mir leichter fallen würde. Kein Schmerz, der erträglicher wäre.

Was für einen bittere Rache. Weil sie ihn dir bevorzugten, hast du entschieden, dich selbst demjenigen vorzuziehen, dem du Liebe und Treue geschworen hast. Schäbig, Liz, schäbig. Du hast ihn verraten.

Indem ich mich für mich selbst entschieden habe? Sollten Ehepartner nicht auf der selben Seite stehen? Aber das taten wir nie, also entschied ich mich, mich auf meine Seite zu stellen und aufzuhören, mich selbst zu bekämpfen.

Ach, hast du das, Liz? Aufgehört dich selbst zu bekämpfen? Wann? Wo? Als du dich hier besinnungslos gesoffen hast? Oder schon vorher? Als du ihm die Waffe aufs Kopfkissen eures Ehebettes gelegt hast? Wie man es bei einem erfolglosen Offizier macht? Was bist du, Liz? Die Diktatorin deiner Dämonen? Wann hast du deine Selbstbeherrschung verloren? Als du zum ersten Mal Blut geschmeckt hast? Als du zum ersten Mal diese Schmerzen verspürt hast? Keine Entschuldigung, Liz, keine Entschuldigung für alles, was du getan hast.

Ich schaffe es, mich aufzurichten und stehe nun da. Über mir die Sterne, um mich der leere Raum. Die Stille wird nur unterbrochen von ein paar zirpenden Heuschrecken, die sich irgendwo im strohigen Wüstengras verstecken. Das Mondlicht beleuchtet die bizarren Formen der Ruinenstadt, die sich als schwarze Schatten vor dem dunkelblauen Himmel abheben. Hier hat es einst Leben gegeben, jetzt gibt es hier nur noch den Tod und mich. In keinem der Häuser brennt mehr Licht, keine der Straßen wird mehr betreten. Niemand glaubt mehr an diesen Ort, er ist verlassen und verbrannt wie jede andere Vergangenheit. Dieses großartige Land spuckt auf die Spuren, die es hinterlässt. Spuren in der Landschaft, spuren in der Bevölkerung, Spuren in den Seelen. Bin ich wirklich hier? Ist das, was ich sehe real? Nur eine Nacht noch, um sicher zu gehen.

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Autor

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Statistik

Kapitel: 13
Sätze: 3.982
Wörter: 53.370
Zeichen: 309.392

Kurzbeschreibung

Der Versuch eines existenzialistischen Romans rund um das Thema Schuld. Liz beschließt zu sterben und begibt sich dafür mit einem Vorrat an Alkohol in eine abgeschiedene Geisterstadt am Fuße der Sierra Nevada. Sie muss jedoch feststellen, dass die niedergebrannte Ruinenstadt Solace keineswegs unbewohnt ist.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Philosophie auch im Genre Entwicklung gelistet.

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