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Kapitel: | 15 | |
Sätze: | 1.342 | |
Wörter: | 11.664 | |
Zeichen: | 65.913 |
Als ich mich dazu entschied, nach England zu ziehen, war ich noch voller Leben, Abenteuerlust und Freude. Ich war davon fasziniert, etwas neues zu erleben, Menschen kennenzulernen, mein Englisch auszubauen. Doch jetzt... jetzt ist alles verschwunden. Nichts mehr ist, wie es war.
Man könnte meinen, ich habe meine Lebensfreude verloren.
Die einzigen Leute, die mich noch am Leben halten, sind Jasmin, Candy und Michael. Meine besten und einzigen Freunde. Ohne diese Personen würde mein Leben keinen Sinn mehr machen.
Ja richtig.
Mein Vater ist tausende Kilometer von mir entfernt. Er hat mir zwar die Wohnung finanziert und es mir möglich gemacht, eine Schule in England zu besuchen, doch während er zu Beginn noch jeden Tag anrief, meldet er sich nur noch selten bei mir. Meine Schwester Lara ist selbst damit beschäftigt, zu lernen und steckt in Deutschland fest. Und meine Mutter... naja... sie hat sich umgebracht...
Was ich werden will, weiß ich nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Und diese Aussicht lässt mir mein Leben so ziemlich trostlos vorkommen.
Ich bin schon wieder zu spät dran. Das spüre ich noch bevor ich auf meinen Wecker schauen kann. Und als ich auf die Digitalanzeige blicke, weiß ich, dass ich Recht habe. Natürlich. In fünfzehn Minuten beginnt der Unterricht und alleine der Schulweg dauert zehn Minuten. Ich könnte kotzen. Das war doch wieder typisch. Da steht man einmal früher auf, um rechtzeitig zum Unterricht zu erscheinen und hält sich zu lange im Badezimmer auf. Ich habe noch nicht einmal gefrühstückt!
Hastig schlüpfe ich in meine High heels, werfe mir meinen Mantel über die Schultern, stopfe ein Brötchen in die Tasche und öffne dann die Wohnungstür. Mit einer Hand taste ich meine Hosentasche ab, ob ich den Wohnungsschlüssel wirklich dabei habe. Ja! Perfekt! Ich trete ins helle Treppenhaus ein und die Tür fällt mit einem lauten Knall hinter mir zu.
Ich rausche die Treppen hinunter- ein Fahrstuhl existiert in diesem Haus nicht- und stürme fünf Stockwerke weiter unten ins Freie.
Kalter Wind weht mir ins Gesicht. Dafür, dass es erst September ist, ist es ziemlich kalt.
Die Absätze klackern auf dem Asphalt und hallen in der ruhigen Wohngegend von den Wänden wider. Fast schon gespenstig. Es passt fast zu meinem derzeitigen Geisteszustand.
Als ich vor der geschlossenen Klassenzimmertür stehe, ist mir sofort bewusst, dass ich zu spät bin. Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr, die mir dies nur bestätigen kann. Ein paar rote Ampeln haben mir einen Strich durch die Rechnung gemacht, pünktlich zu kommen. Ärgerlich.
Aber es hilft alles nichts, ich muss da rein.
Vorsichtig klopfe ich an und sofort erklingt Mr. Fox's klare Stimme. "Come in, please!"
Ich öffne die Tür und als ich die Blicke meine Mitschüler auf mir spüre, werde ich rot. Das spüre ich in jeder Faser meines Körpers. Es ist, als würde mir plötzlich ganz heiß werden und meine Sicht verschwimmen. So aufzufallen, hasse ich. Es ist als würde ich mich auf den Präsentierteller begeben. Umgeben von wilden Wölfen, die nur darauf warten, dass ich Gefühle, Verletzlichkeit, Scham zeige, um sich schlussendlich auf mich stürzen zu können. Verzehren, zerreißen, lachen. Ich weiß, dass meine Errötung dummerweise bei meinem blassen Hautton nur noch mehr auffällt.
"Entschuldigen Sie, Mr. Fox. Ich war heute einfach nur spät dran."
Mr. Fox wirft mir einen fast schon bösen Blick zu, bei dem mir mein Blut in den Adern gefriert. Kein anderer Lehrer nimmt Verspätungen so ernst, wie Mr. Fox. Er hasst mich sowieso schon und bestimmt gebe ich ihm einen Grund mehr, mich zu hassen. Na gut, ich bin kein guter Mensch. Da bin ich ehrlich. Vermutlich alleine schon durch meinen Pessimismus, der mich die ganze Welt durch ein schwarz gefärbtes, negativ geprägtes Fernglas sehen lässt.
"Ms. Frei. Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass dies bereits der vierte Eintrag in vier Mathestunden ist?"
Ich schlucke meinen Ärger hinunter. Muss er mich so blamieren? Genau das ist der Präsentierteller. Danke Mr. Fox! Sie könnten genauso gut ein rotes Schild an meine Stirn kleben auf dem, "Bitte nicht hinsehen!", steht.
Bei Mr. Fox habe ich wirklich das Gefühl, dass er es liebt, Schüler zu quälen.
"Sie werden heute Nachmittag nachsitzen."
"Aber..."
"Kein aber. Setzen Sie sich!"
Niedergeschlagen lasse ich mich neben Jasmin auf den Stuhl fallen. Meine Freundin sieht mich verkniffen an. "Was sollen wir denn Nadine sagen?"
Ja, was sollten wir Nadine sagen. Eine Sache, die ich vergessen hatte zu erzählen, war, dass ich leidenschaftlich gerne tanze. Nadine ist meine Tanzlehrerin und ein Training ausfallen zu lassen, ist praktisch unmöglich bei ihr. Schon gar nicht angesichts der Tatsache, dass demnächst ein großer Auftritt stattfindet. Das Nachsitzen würde somit in die Tanzstunde fallen, zumindest einen Teil wegnehmen.
"Ich habe keine Ahnung, Jassi", sage ich gequält. "Dieser Tag ist jetzt schon zum Kotzen."
Jasmin scheint angestrengt zu überlegen. "Wie wär's ich sage ihr, du seist krank geworden..."
Ich unterbrach sie sofort: "Und das ganze Training verpassen? Niemals! "
"Ms. Anderson! Ms. Frei! Ich bitte Sie." Mr Fox schaut uns vorwurfsvoll an und dreht sich dann erneut zur Tafel, um irgendwelche Formeln anzuschreiben. Ich packe meine Mathesachen aus und fange an, abzuschreiben, auch wenn ich keine Ahnung habe, was ich da überhaupt schreibe.
"Sag Nadine einfach die Wahrheit. Ich habe die Zeit vergessen, bin zu spät gekommen und deswegen muss ich nachsitzen. Ich komme aber nach", flüstere ich. Doch Jassi zeigt sich nicht wirklich einsichtig. Manchmal steht ihr ihr orientalisches Temperament zu sehr im Weg.
"Aber du weißt doch wie Nadine ist."
"Ja Jassi, aber das ist kein Grund zu lügen."
Jasmin zieht ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Möglicherweise ist es nicht nur ihr Temperament, sondern auch ihre Loyalität mir gegenüber und die Hilfsbereitschaft, mir das Leben so beschwerlos wie möglich zu machen. Ihre Art ist nicht unbedingt hilfreich, aber ich weiß es wirklich zu schätzen.
"Wir müssen doch etwas tun können." Jasmin starrt angestrengt auf ihr Matheheft. Eigentlich ist es das alles gar nicht Wert, dass sie sich solch einen Kopf darüber macht, aber das ist nun einmal Jasmin. "Ich habs!"
Ich schrecke auf. Jassi strahlt. Das einzige Problem dabei ist: Nicht nur ich konnte sie hören. Nein... Auch Mr. Fox.
"Jasmin Anderson. Was auch immer gerade wichtiger ist als mein Unterricht... Sie können Ms. Frei beim Nachsitzen Gesellschaft leisten."
Ich stoße meinen Kopf hoffnunglos gegen die Tischplatte und traue mich nicht, noch einmal aufzusehen.
Es klingelt zur Pause. Mr. Fox beendet den Unterricht mit einem schlechten Fazit und verlässt noch vor uns den Raum, während er Jasmin und mir sehr miese Blicke zuwirft.
"Und was machen wir jetzt?", frage ich Jasmin, während ich mein Federmäppchen einpacke. "Wir können ja nicht ohne ein Wort zu sagen, nicht zum Training kommen."
Mit einem Ratsch macht Jassi den Reißverschluss ihres olivgrünen Rucksackes zu und schultert ihn. "Ich habe da so eine Idee..."
"Eine Idee?" Skeptisch blicke ich Jasmin an. "Wir hatten vorhin schon den Salat mit deiner ach- so tollen Idee!" Ein wenig sauer war ich schon auf sie. Klar, sie hat es gut gemeint. Aber sie hätte auch nachdenken können. Schließlich ist sie kein kleines Kind mir.
"Louisa, sei nicht wütend. Bitte. Ich bringe es wieder in Ordnung."
Sie packt mich am Handgelenk und zieht mich in Richtung der Cafeteria, wo auf einem der hintersten Tische eine Blondine steht. Sie ist auffällig gekleidet. Nicht nur, weil sie schön ist mit ihren schulterllangen zu einem Bob geschnittenen Haaren und den strahlend grünen Augen. Sondern auch, durch ihren Stil. Türkise Leggings bei einer recht kurvigen Figur und einem Pullover mit Leopardenmuster stehen Candy gut. Das weiß sie auch. Sie bewegt sich und singt dabei laut zu ihrem neuen Lieblingslied.
Stände ich an ihrer Stelle, wäre ich vermutlich vor Scham im Boden versunken, aber Candy kennt das nicht. Sie schämt sich niemals, etwas zu tun. Deswegen ist sie an unserer Schule auch sehr beliebt. Ich kann nicht leugnen, dass ihre gelegentlichen Aufritte, Fremdscham in mir auslösen, aber solange Candy sich damit wohlfühlt, soll sie es tun.
Sie ist die Extrovertierte in unserer Gruppe und manchmal sind Jassi und ich wirklich dankbar, dass sie so ist, wie sie nun mal ist.
Als Candy uns in der Menschenmenge erblickt, unterbricht sie ihre Performance und steigt vom Tisch runter. Quittiert wird das Ganze mit einem enttäuschten "Oh" aus dem Publikum. Doch Candy beachtet dies nicht. Stattdessen winkt sie uns hastig zu . "Lou! Jassi!"
Strahlend begibt sie sich zu uns. "Was ist los? Ich habe euch ewig nicht mehr hier gesehen."
Sie drückt zuerst Jasmin an sich und dann mich. Bei ihrem starken Parfum kriege ich einen Niesanfall und versuche mich aus der Umarmung zu lösen. Ich hasse es, umarmt zu werden. Jegliche Berührungen sind für mich unangenehm. Candy weiß das. Aber trotzdem tut sie es.
"Stell dich nicht so an, Lou. Wie lange habt ihr mich nicht mehr hier besucht?" Sie lacht.
Jasmin räuspert sich. "Du musst uns helfen Candy. Kannst du dir eine Ausrede ausdenken für Nadine... Lou und ich müssen nachsitzen bei dem Foxie. Wir brauchen auch nur dreißig Minuten..."
"Nenn ihn nicht Foxie", sage ich mit einem panischen Blick in meinen Augen. "Das ist viel zu lieb für ihn."
Doch Candy achtet gar nicht auf den Kommentar. "Warst du schon wieder zu spät, Louisa?", fragt sie mich und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
Ich verdrehe die Augen. Candy ist von uns auch noch die erwachsenste. Manchmal führt sie sich wie unsere Mutter auf. Das ist, in der Tat, ein wenig anstrengend.
"Ja", gebe ich zu. "Und Jasim hat geredet. Wir haben es verstanden. Wir sind zwei böse Kinder."
Candy grinst einmal, weil sie die Anspielung auf ihre Mütterlichkeit sehr wohl versteht. Dann nickt sie aber. "Gut. Ich denke mir etwas aus. Versprecht mir aber, dass ich Nadine wegen euch danach nicht mehr anlügen muss."
"Heiliges Ehrenwort", sagt Jasmin und legt ihre Hand auf ihr Herz. Ich nicke zustimmend.
"Gut, dann sehen wir uns nachher", verabschiedet sich Candy von uns und geht zurück auf ihre provisorische Bühne.
*Jakes Sicht (ab jetzt in folgenden Kapiteln in braun geschrieben)*
Mein bester Freund Ole starrt erschrocken auf die zertrümmerte Motorhaube seines schicken Mercedes'. "Na super!" , sage ich und klatsche in die Hände. Natürlich aus reiner Ironie. Niemals würde ich mich freuen, wenn ich an dem beinahe wichtigsten Tag meines Lebens an einem Unfall beteiligt bin, den ich noch nicht einmal verursacht habe!
"Jetzt stecken wir tief im Mist!"
Es ist kaum zu fassen, dass Ole den Führerschein geschafft hat. Ich hätte locker darauf gewettet dass er niemals schafft. Vor allem nicht, wenn er sich so schnell ablenken lässt! Vor uns ist ein Mädchen auf einem Fahrrad gefahren und er hat so sehr auf ihren Hintern gestarrt, dass er die Kontrolle über sein schickes Auto verloren hat. Irgendwie hat er es geschafft, den Mercedes gegen einen Baum zu fahren. Gott sei Dank wurde kein anderes Auto oder Lebewesen dabei beschädigt.
"Toll gemacht", schnauze ich ihn an. "Beim Autofahren muss man sich konzentrieren! KON-ZEN-TRIE-REN! Kapiert?!"
"Sorry", murmelt Ole.
"Naja, es ist dein Wagen."
Ich schaue auf meine Uhr. Sie zeigt mir, dass es 10:30 Uhr ist. Ich vergrabe meinen Kopf in meinen Armen. "Das kann doch nicht wahr sein. In zwei Stunden geht mein Flug! So kriegen wir den nie! "
"Sorry..."
"Sorry.." Ich schnaube. Ich weiß, dass ich gemein sein kann, aber es geht hier einfach nicht anders. "Ist es das einzige, was du sagen kannst? Mir tut es auch leid, dass ich nicht Harry gefragt habe, ob er mich zum Flughafen bringen kann." Ich schüttele den Kopf. Ole sitzt immer noch wie angewurzelt vor dem Lenkrad. Der Airback wurde bereits mit Oles Taschenmesser zerstochen und hängt in Fetzen herab.
"Geh und schau dir diese doofe Haube an. Vielleicht können wir doch noch weiterfahren."
"Sorry", murmelt Ole noch einmal, ehe er das Auto verlässr und traurig die Motorhaube begutachtet. Beinahe hätte ich ihm für dieses letzte "Sorry" eine gescheuert, aber ich beherrsche mich. Ich schalte das Radio ein. Es läuft "Sorry", von Justin Bieber. Ich seufze und schalte das Radio wieder aus. Bieber kann mir genauso mit seinem "Sorry" erspart bleiben. Was für ein toller Tag...
Das Nachsitzen war nicht so schlimm, wie gedacht und auch das Tanzen lief gut. Ich habe immer noch keine Ahnung, was Candy Nadine erzählt hat, aber es hat definitiv gewirkt. Da Jasmin und ich fein rausgekommen sind, habe ich nicht weiter nachgehakt. Ich bin Candy nur unendlich dankbar.
Nach einem gemeinsamen Essen mit der Tanzgruppe mache ich mich auf den Heimweg. Es ist noch kühler als sonst und die Dunkelheit ist irgendwie beängstigend. Aber gleichzeitig genieße ich sie. Alles zeigt meinen Gefühlszustand. Diese Dunkelheit, die alles verschlingt, so dass selbst Laternen an den Straßenrändern sich nicht wirklich durchsetzen können. Kein Stern steht am Himmel. Es ist einfach nur dunkel.
Als ich zu Hause ankomme, fühle ich mich noch viel einsamer.
Wenn ich in der Schule bin oder tanzen gehe, vergesse ich alle meine Sorgen und werde kurz von Licht erfüllt. Vor allem Dank Candy und Jasmin. Ich seufze, pfeffere meine Tasche in die Ecke und lasse mich auf das Sofa fallen. Mein Blick fällt auf das Telefon: Ein verpasster Anruf.
Ich nehme es und drücke auf den Rückruf-Button.
Sofort hebt jemand ab. "Hallo Schatz."
Es ist Papa. "Hey Paps!", begrüße ich ihn. Ich hatte eigentlich nicht erwartet, dass er so schnell wieder anruft. Wir haben erst vor ein paar Tagen telefoniert. "Alles in Ordnung?", frage ich deshalb.
"Du musst unbedingt nach Deutschland", sagt er bloß. Ich erstarre in meiner Bewegung. "Papa, wie stellst du dir das vor? Ich kann die Schule jetzt nicht einfach liegen lassen! Ich brauch das Jahr."
"Louisa, hör mir bitte zur." Papa wird leiser und ich meine ein Zittern in seiner Stimme zu hören.
"Was ist es?" Ich spüre, dass etwas nicht stimmt. Mein Vater lässt sich sonst nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Unwillkürlich fange ich an zu zittern. Ich richte mich gerade auf und starre stocksteif auf die Tischplatte vor mir. "Was ist es, Papa?"
Er räuspert sich. "Ich bedauere es, dir das übers Telefon zu sagen..."
"Los!", fahre ich ihn an. "Was ist passiert?!"
"Lara hat Krebs. Es sieht nicht gut für sie aus."
Für mich bricht eine Welt zusammen. Ich höre nicht mehr, was mein Vater mir sagt. Meine Ohren scheinen durch eine Watteschicht abgedichtet zu sein. Alles verschwimmt vor meinen Augen, meine Lippen fangen an zu beben. Mir wird kalt. Tränen laufen über meine Wangen. Ich sitze nur da, kann nicht mehr klar denken. Der einzige Gedanke, für den Platz in meinem Kopf ist, ist "Lara hat Krebs."
"Es tut mir leid, Louisa", kann ich nur noch hören.
Nein, nein, nein.
"Nein", sage ich laut.
"Louisa... bitte..." Ich höre es Papa an, dass er seine Trauer zu verbergen versucht. "Wir brauchen alle Hoffnung. Es wird schon wieder."
"Wieso willst du mich in Deutschland haben?", frage ich.
"Lara ist schon fest davon überzeugt, dass sie sterben wird. Ich will... Ich will, dass du ihr hilfst. Ich schaffe das hier nicht alleine."
Ohne ihn ausreden zu lassen, lege ich auf.
Lara hat aufgegeben? Meine optimistische Lara?
Wie stellt sich das Papa vor?
Ich bin selbst am Boden zerstört. Ich bin pessimistisch, fast schon depressiv. Mir geht es nicht gut. Wie soll ich Lara helfen können?
Ich schluchze auf. Vorhin hatte ich mich nur einsam gefühlt. Jetzt fühle ich mich so, als sei ich in ein kilometertiefes Loch gestürzt ohne Aussicht, jemals wieder da rauszukommen...
"Ring, Ring, Ring." Ich schlage die Augen auf und will mit einer Hand auf die Snooze-Taste des Weckers hauen, damit er mit diesem schrecklichen Geräusch aufhört. Aber ich spüre weder den Nachttisch, noch die raue Oberfläche des Weckers unter meiner Handfläche. Suchend taste ich danach und kämpfe mich mit geschlossenen Augen weiter nach rechts, bis ich schließlich die Erdanziehungskraft wahrnehme, die mich hart auf den Boden befördert.
"Ah!"
Mit müdem Blick sehe ich mich um. Oh. Gestern Abend bin ich anscheinend auf dem Sofa eingeschlafen. Und dann katapultiert es mich zurück in die schmerzhafte Realität: Lara hat Krebs. Sofort spüre ich die Tränen in meinen Augen. Lara... Es fühlt sich so sureal an. Als wäre es gar nicht wahr.
"Ring, Ring, Ring", ertönt es da erneut. Jetzt erst bemerke ich, dass es die Haustür ist. Ich rappele mich langsam und zitternd auf als sei ich eine ältere, gebrechliche Dame. Während ich mir die Tränen aus dem Gesicht wische, laufe ich zur Tür. Bevor ich die Hand auf die Türklinke lege, werfe ich noch einen Blick in den Spiegel. Man sieht nicht, dass ich geweint habe. Lediglich die Müdigkeit kann man aus meinen Zügen ablesen. Aber das ist okay. Nur das Weinen ist etwas Persönliches und keiner sollte es jemals mitbekommen. Dann drücke ich die Türklinke hinunter und öffne die Tür. Blitze. Weiß und grell.
Ein Gelächter und sofort weiß ich, von wem es stammt.
"James!", kreische ich. "Ich warne dich, wenn du mich nicht in Ruhe lässt, hole ich die Polizei!" Sofort hört das Blitzen auf. Ein kurzes "Okay, okay", ertönt und im nächsten Moment schließt sich die Hautür.
James ist ein gescheiteter Fotograf. Aus irgendeinem Grund hat er es auf mich abgesehen. Er mag anscheinend mein Aussehen. Damals, als ich neu hier war, habe ich Mitleid mit ihm gehabt und ihm deshalb erlaubt ein Shooting mit mir zu machen. Doch das war vermutlich ein Fehler. Seit dem belästigt er mich, wann immer er kann und versucht ein Bild von mir zu machen, ohne meine Erlaubnis. Er weiß, dass es illegal ist, aber trotzdem hört er einfach nicht auf. Das einzige, was ihn auf Distanz hält, ist der Spruch "Ich rufe sonst die Polizei!". Ich weiß, dass James schreckliche Angst vor der Polizei hat, da er bereits vorgestraft ist. Er saß für kurze Zeit im Gefängnis, jedoch weiß niemand, wieso. Vermutlich ist es sein größtes Geheimnis.
Ich hole tief Luft, da mir das alles viel zu schnell ging. Erst der Gedanke an Lara, dann James... Ich kann nicht mehr. Schon wieder spüre ich, wie mich die Trauer zu überwältigen droht. Danach rollen mir die Tränen unablässig über die Wangen. Ich lasse mich an der geschlossenen Haustür sinken und vergrabe meinen Kopf in meinem Schoß. Das Schluchzen hallt laut durch die kleine, leise Wohnung und lässt mich die mich umgebende Einsamkeit noch mehr spüren.
Das Taxi biegt in die Royal Street ein. Häuser, große, weiße Häuser mit vielen Fenstern rauschen an mir vorbei. Alle sehen gleich aus. Die Straße ist leer und trotz der Sonne sieht es kalt und unfreundlich aus. Perfektionismus scheint hier zu herrschen oder hat zumindest im Kopfe des Architektens geherrscht. Wieso ich ausgerechnet diese Gegend zum Leben ausgesucht habe, weiß ich gar nicht mehr so richtig. Alles ist so still, fast schon gespenstig.
"Hier ist es nie wirklich laut", brummt der Taxifahrer in seinen Bart als könne er Gedanken lesen. "Man könnte meinen, hier lebe niemand, aber hier wimmelt es bloß so von Leuten. Die meiste sind so jung wie Sie."
Ich nicke bloß höflich und schaue weiter aus dem Fenster.
Ole hat es doch noch geschafft den Wagen irgendwie wiederherzustellen und so sind wir nur gerade so rechtzeitig am Flughafen angekommen. Für eine richtige Verabschiedung war leider keine Zeit mehr. Irgendwie vermisse ich Ole. Vermutlich hätte ich nicht so blöd zu ihm sein sollen. Schließlich ist es einfach Oles Charakter und als ich zustimmte, mich von ihm fahren zu lassen, hätte ich wissen müssen, worauf ich mich einlasse. Ich kenne doch meinen besten Freund. Aber sicherlich nimmt Ole es mir nicht übel. Da bin ich mir sicher.
Mein Blick richtet sich auf die Häuser, an denen wir langsam vorbeifahren. Bin ich mir wirklich sicher, dass ich hier leben will? Werde ich mit dieser Stille klarkommen? Ansonsten bin ich meine laute Halbschwester Rosie, meinen Stiefvater Harry, meine Mutter und Ole gewohnt. Wir lachen immer sehr viel. Aber hier?
"Ansonsten ist es eine schöne, ruhige Gegend", redet der Taxifahrer weiter. "Gut zum Lernen, also machen Sie kein so bedrücktes Gesicht."
Das Taxi wird noch langsamer und kommt schließlich zum Stehen. "Hier ist das Haus. Haus Nummer 127." Er seufzt.
Ich öffne die Tür und steige aus, dann gehe ich zum Kofferraum, um meine drei Koffer rauszuholen. Der Umzugswagen mit meinen Möbeln kommt leider erst in fünf Tagen an. Bis dahin muss ich, wohl oder übel mit den Sachen in den Koffern klarkommen.
Nun gehe ich zum Fenster auf der Fahrerseite und klopfe an die Scheibe. Der Taxifahrer kurbelt das Fenster hinunter.
"Wie viel macht die Fahrt?", frage ich dann und hole mein Portemonnaie aus der Hosentasche.
Der Taxifahrer schenkt mir ein strahlendes, von Zahnlücken geprägtes Lächeln. "Gar nichts!", winkt er ab.
Ich schaue ihn bloß verwirrt an.
"Sie erinnern mich an meinen verstorbenen Sohn", erklärte er dann.
Ich starre ihn an.
"Er ging mit acht Jahren zur Schule und ist nie wieder aufgetaucht. Man hat ihn weder lebend noch tot gefunden." Der Taxifahrer sieht traurig durch die Frontscheibe zur Straße hinaus.
"Wieso sagen Sie dann verstorben?", frage ich.
"Weißt du, Junge, ich habe bereits die Hoffnung aufgegeben. Es gab zu viele falsche Hoffnungen."
Eine unerklärliche Wut steigt in mir auf. "Man sollte nie die Hoffnung verlieren", sage ich. "Vielleicht lebt Ihr Sohn noch, aber weil Sie die Hoffnung aufgegeben haben, hat er nun auch keine mehr!" Ich krame in meinem Portemonnaie und ziehe ein paar Scheine hervor. Dann reiche ich das Geld dem Fahrer.
"Ist nicht nötig", winkt dieser erneut ab.
"Nehmen Sie es!", sage ich und lege es ihm auf das Armaturenbrett. Dann schnappe ich mir meine drei Koffer und schließe die Haustür mit dem neuen Schlüssel auf. Vielleicht wird das hier doch ganz schön werden. Ich habe die Hoffnung jedenfalls noch nicht aufgegeben.
Ich höre ein Auto anhalten. Das Fenster muss wohl irgendwo offen stehen. Aber das ist mir egal. Es interessiert mich genauso wenig, wie das Zuschlagen des Kofferraumes und das Öffnen der Haustür unten im Erdgeschoss. Ich will gar nichts mehr hören. Dann ertönen Schritte im Treppenhaus und nun ein Poltern, gefolgt von einem fürchtelichen Fluchen.
"Scheiße! Verdammte Kacke!"
Natürlich könnte ich rausgehen und helfen, aber ich habe keine Kraft. Außerdem... wer weiß, ob die Person überhaupt Hilfe möchte? Ich sollte mich nicht in die Leben anderer Leute einmischen. Immerhin hilft mir auch niemand...
"Scheiße! Verdammte Kacke!", fluche ich. Gerade eben sind zwei meiner Koffer, die ich bereits oben ordentlich abgestellt habe, umgekippt und die Treppe wieder heruntergerutscht. Ich seufze, stelle den letzten Koffer ab und renne wieder ein Stockwerk weiter runter, um die anderen zwei zu holen. Es ist klar, dass so etwas mir passiert.
"Alter", stöhne ich. "Warum gibt es in diesem Haus keinen beschissenen Fahrstuhl! Und wieso habe ich eine Wohnung im fünften Stockwerk?!"
Schnaubend ziehe ich die Koffer die Treppe nach oben und komme endlich dort an. Ich übernehme die Wohnung der Jacobs. Schnell krame ich nach dem Schlüssel und stecke ihn ins Schloss, als ich aus der gegenüberliegenden Wohnung ein klägliches Schluchzen höre. Ich halte in meiner Bewegung inne. Es ist ein schmerzhafter Laut und ertönt direkt hinter der Wohnungstür. Ich trete vorsichtig näher und lege mein Ohr an. Da sitzt jemand und weint. Die Person weint von ganzem Herzen. Ich bekomme eine Gänsehaut. Soll ich anklopfen? Soll ich fragen, was los ist? Gerade als ich meine Faust heben will, entscheide ich mich dagegen. Was ist, wenn die Person keine Hilfe will? Was ist, wenn ich sie nur störe? Ich sollte mich wirklich nicht in die Probleme anderer einmischen. Mit einem unguten Gefühl drehe ich mich um und trete in mein neues Zuhause ein.
Es ist bereits spät am Nachmittag als ich vor dem kleinen Eiscafé der Stadt stehe. Es sieht ein wenig verwahrlost aus mit seinen verstaubten alten Schaufenstern, dem kaputten Schild auf dem Dach und der alten Tür, die wie durch ein Wunder immer noch halbwegs in den Angeln hängt. Doch es ist immer gut besucht und von innen scheint es ein völlig anderes Gebäude zu sein mit seinen ledernen Sofas, sauber glänzenden Holztischen und wunderschönen Kronleuchtern an der Zimmerdecke. Weshalb ich hier bin? Michael arbeitet hier.
Michael ist mein bester und ältester Freund. Damals als meine Mutter gestorben ist, war er derjenige, der mich praktisch wieder aus dem Loch gezogen hat. Meine Hoffnung ist, dass er dies wieder tun kann. Ich brauche seinen Rat. Unbedingt.
Ich schaue durch das große Fenster und entdecke ihn sofort. Seine rotbraunen Haare stehen, wie immer eigentlich in alle Richtungen ab. Michael hat eine schöne gerade Nase und relativ helle Haut, die von Sommersprossen besprenkelt ist. Ich habe ganz vergessen wie groß und breitschultrig er ist, und dass er vermutlich das netteste Lächeln auf der Welt hat. Als er sich durch Zufall zu mir dreht, winke ich und zeige auf die Tür. Nur fünf Minuten... Michael gibt mir ein Zeichen und ich beschließe, mich fürs Erste auf die kaputte Bank vor dem Café zu pflanzen. Es ist relativ kühl und der Wind streift meine, nur von einer hauchdünnen Schicht Strumpfhose bedeckten, Beine. Ich verschränke meine Arme vor meiner Brust, um mich zu wärmen. Aber was bringt es eigentlich? Früher oder später werde ich ohnehin erfrieren. Meine innere Kälte, ausgelöst durch die Welle der Einsamkeit, die mich immer wieder aufs Neue versucht zu ertränken, ist unaufhaltsam. Die Welle gefriert und ich bin mitten in diesem Meer gefangen. Alleine.
"Hey Loulou!"
Ich sehe auf.
"Hi Michael!"
Mein bester Freund umarmt mich, drückt mir einen kurzen Kuss auf die Wange und während er neben mir Platz nimmt, sieht er mich fragend an. "Ist alles okay? Wir haben uns in letzter Zeit nicht mehr oft gesehen... und um ehrlich zu sein, ist es nicht gerade der beste Zeitpunkt." Michael dreht sich in Richtung des Schaufensters, um die Kundschaft zu prüfen und gleichzeitig Ausschau nach seinem Chef zu halten.
"Tut mir leid", presse ich hervor. "Ich hatte nur einiges zu tun."
Ich blicke auf den dreckigen Asphalt. Wie soll ich Michael das bloß erklären... Wie um Himmels Willen? Soll ich einfach anfangen? Einfach sagen, dass es mir beschissen geht? Dass meine Schwester krank ist? Dass ich das Gefühl habe, es gebe keinen Ausweg mehr aus der dunklen Höhle?
"Was ist los, Loulou?" Michael streicht mir mit seiner Hand über meine Schulter. Er scheint zu spüren, dass mich etwas bedrückt.
In dem Moment habe ich das Gefühl, erneut in Tränen ausbrechen zu müssen. Ich werfe mich in seine Arme und fange an zu schluchzen. Ich hasse es normalerweise, vor Fremden zu weinen. Immerhin ist Weinen etwas persönliches. Man offenbart sich, zeigt, dass man verletzlich ist. Aber bei Michael ist es mir egal.
"Lara hat Krebs" schluchze ich in seinen blauen Pullover und benetze die einzelnen Wollfäden mit Tränen. "Aber es ist nicht nur das..." Mein Schluchzen raubt mir für einen Moment den Atem und ich muss eine kurze Sprechpause einlegen. "Mein Dad will, dass ich nach Deutschland komme. Er meinte, dass Lara den Glauben verloren hat... Ich soll ihr helfen... Aber ehrlich Michael... Wenn sie, meine optimistische Lara die Hoffnung aufgegeben hat, was bleibt dann für mich übrig? Ich bin ein Wrack!"
Das haut mich um. Meine Worte verschwimmen zu einem komplett unverständlichen Laut und Michael bleibt nichts anderes übrig, als mir behutsam immer wieder über die Schulter zu streichen. "Louisa, es tut mir so leid... Ich weiß, wie viel dir Lara bedeutet."
Er seufzt. "Aber bitte sag nicht, dass du die Hoffnung verloren hättest... Du musst stark sein. Ich weiß, dass du es sein kannst... Es fällt dir schwer, nach all dem, was du erlebt hast, ist dies auch völlig verständlich."
Ich schaue ihm ins Gesicht. Seine grüngrauen Augen sind von Trauer und Besorgnis geprägt und seine Stirn wirft Falten. Vorsichtig wischt er mir meine Tränen weg. "Schwesterlein..." Über die Bemerkung muss ich tatsächlich kurz lächeln. "Du musst diesmal für Lara stark sein", fährt er fort. "Sie hat dir bei eurer Mutter geholfen, jetzt bist du an der Reihe, das zurückzugeben, was sie dir damals gab."
Ich antworte nicht, bis plötzlich eine laute, ärgerlich klingende Stimme ertönt. "Michael Ross! Kommen Sie sofort zurück an die Arbeit! Sie können doch die Kunden nicht warten lassen!"
Ich zucke kurz zusammen und schaue in die Richtung, aus der die Stimme kommt. Ein dicker Mann mit Papierhütchen und weißer Schürze war aus dem Café gestampft und steht nun mit den Händen in die Hüfte gestemmt, präsent vor seinem Laden. Michaels Chef- ein unangenehmer Mann, der jedoch die besten Kaffee-, Kuchen- und Eisrezepte in der gesamten Stadt besitzt.
Wie verbrannt, lässt mich Michael los. "Können wir später weiter reden?", flüstert er. Ich nicke, wische mir hastig die Tränen weg und hoffe, dass es nicht zu auffällig ist. Michael drückt mir einen letzten Kuss auf den Kopf und ruft dann: "Bin gleich da, Mr. Jonson!"
"Sofort!"
Mr. Jonson verschwindet wieder im Café und Michael wirft mir einen entschuldigenden Blick zu, bevor er ebenfalls das Café betritt.
Ich nicke bloß, stehe auf und mache mich auf den Weg zum Supermarkt.
Der kleine Supermarkt an der Ecke meiner Straße ist rappelvoll. Die Leute drängeln sich durch die engen Gänge und nehmen kaum rücksicht auf einander. Was ist aus unserer Gesellschaft geworden? Ich kämpfe mich seufzend durch die dicke Menschenmenge, um an das Regal mit der Schokolade zu kommen. Seit neustem gibt es die limitierte Ausgabe einer Sorte, die ich total gerne mag. Ich suche das Regal nch dem Namen "Yummy" ab, in der Hoffnung, dass noch etwas übrig ist. Als ich den gwünschten Pappkarton finde, greife ich rasch nach den letzten zwei Tafeln Schokolade. Gerade nochmal Glück gehabt. Dann gehe ich in die Fleischabteilung.
Schokolade. Am besten die limierte Ausgabe von "Yummy".
Der Supermarkt ist so voll, dass man meinen könnte, er platze gleich aus allen Nähten. Ich suche den gesamten Laden ab, bis ich die Abteilung mit den Süßwaren finde. "Yummy, yummy, yummy", murmele ich, während ich am Regal vorbeigehe. Da! Perfekt! Nicht weit von mir entfernt, steht ein Mädchen mit hellblondem Haar und blasser Haut. Sie trägt eine schwarze Seidenstrumpfhose, einen genauso schwarzen Rock und eine rote Bluse. Die schwarzen Absatzschuhe sind klein und haben eine Schleife auf der Spitze sitzen. Zweifellos, sie ist hübsch, auch, wenn sie an einen Vampir erinnert. Oder an diese Monster-High Figuren, mit dene meine kleine Halb-Schwester immer spielt. Das Mädchen greift ins Regal und holt genau zwei Tafeln der gesuchten Schokolade heraus. Super. Ich warte, bis das Mädchen weitergeht und stelle mich dann an das besagte Regal, um mir ebenfalls etwas von der Süßigkeit zu holen. Zu meiner Enttäuschung muss ich feststellen, dass der Pappkarton leer ist. "Mist", schimpfe ich. Dabei wollte ich doch diesen Kuchen aus dem Internet ausprobieren.
In dem Moment fällt mein Blick erneut auf das Mädchen. Elegant bewegt sie sich durch die Gänge und schafft es erstaunlicherweise, niemanden anzurempeln, geschweige denn angerempelt zu werden. Mit meinem Einkaufswagen nehme ich die Verfolgung auf. Vielleicht gibt sie mir auf Nachfrage eine ihrer Tafeln. Ich meine, man kann ja teilen. Sie geht zur Fleischabteilung, zieht sich eine Packung Schinken heraus und macht sich dann auf den Weg in Richtung der Kasse. Mist! Nein! Sie darf noch nicht gehen. Bitte. Unbewusst werde ich schneller und stoße ganz unvorbildhaft ein paar Leute zur Seite, die sich empörte Laute entnehmen lassen.
"Hey!", rufe ich. "Warte!" Doch das Mädchen nimmt mich anscheinend nicht wahr.
Die Menschen sehen mich verwirrt an, aber ich ignoriere ihre Blicke, stattdessen starre ich das Mädchen an, das sich an der Kasse anstellt und die nächste Kundin sein wird. Plötzlich, als ein "Achtung!", aus irgendeiner Richtung ertönt, sehe ich die Dosenpyramide, die wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht ist. Mir dämmert es sofort: Es ist zu spät zum Ausweichen oder zu bremsen. Mit Karacho laufe ich in die Dosenpyramide hinein. Scheppernd fallen die Blechdosen auf den Boden und ich sitze da, vermutlich rot wie eine Tomate. Genauso rot wie der Aufkleber auf den Konserven, die eine gut schmeckende Tomatensuppe enthalten sollen. Ironie des Schicksals, würde ich behaupten. Und das alles nur, wegen einer Schokolade. Alle Blicke sind auf mich gerichtet. Auch der, des Mädchens. Zuerst sieht sie erschrocken aus, dann zieht sich ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. Es ist wirklich süß. Mies, aber süß.
Doch dann nimmt sie die Schokoladentafeln und verlässt den Laden. Im nächsten Moment vernehme ich, wie etwas Hartes auf meinen Kopf fällt und dann wird alles schwarz um mich herum.
"Hey Jake..." Das Mädchen lächelt mich an. Sie sieht so hübsch aus, dass ich meinen Blick nicht von ihr lösen kann.
"Hi... Woher kennst du meinen Namen?", frage ich als nächstes und beobachte sie weiterhin. Ihre Absatzschuhe klackern auf de Asphalt als sie mir näher kommt, eine Hand auf meine Schulter legt und mir dann eine Tafel Schokolade von "Yummy" in die Hand drückt.
Verlegen streiche ich mir mit der freien Hand über den Nacken. "Ach nein, beahlte sie. Es ist nur Schokolade. Ich hätte nicht so dämlich sein sollen."
Sie machte ein mitleidiges Gesicht. "Du hast dich doch so angstrengt."
Das Mädchen lächelte zart, wie es im Einkaufsladen bereits gelächelt hatte.
Plötzlich wurde aus dem Mädchen mit der blassen Haut und den hellblonden Haaren ein Mann mit Bart. Verwirrt rückte ich ein Stück von ihm weg.
Nein... es sollte ihm besser gehen."
"Wer sind Sie?", frage ich noch verwirrter.
Der Mann ignoriert mein Versuch der Distanzbewahrung und macht einen erneuten Schritt auf mich zu, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken.
Hektisch atmend wache ich auf. Ich liege in einem Bett mit weißer Bettdcke und lila Punkten drauf. Wo bin ich? Ich drehe mich zur Seite und entdecke- meine Mom!
"Mom?!", rufe ich aufgebracht. "Wo bin ich? Was machst du denn hier?"
Meine Mutter sollte zu dem Zeitpunkt eigentlich in Alabama bei ihrem Mann und ihrer Tochter sein!
"Hey... Jaki... Alles gut! Du bist in eine Dosenpyramide gerannt und eine von den Konserven ist dir blöd auf den Kopf gefallen. Du bist ohnmächtig geworden." Besorgt streicht sie mir über meine Schulter. "Mein Armer Hase."
Ich verdrehe die Augen. "Mom", sage ich mit Nachdruck. Meine Mutter schenkt mir nur ein verschmitztes Lächeln.
"Und warum bist du dann hier oder wo sind wir überhaupt?"
"Wir sind im Central-Krankenhaus. Ich wurde benachrichtigt und bin so schnell wie möglich hierher geflogen."
Sofort fühle ich mich schlecht. Hätte ich mich doch nur nicht wie der letzte Depp verhalten.
"Es tut mir so leid, so einen Aufwand verursacht zu haben", beteure ich aber Mom lächelt nur breit. "Schatz, es ist alles gut. Ich habe dich ohnehin schon vermisst."
Ich muss schmunzeln. Es ist wirklich keine Lüge, dass meine Mom die aller niedlichste der Welt ist. Ich drücke meine Mutter an mich. "Hab dich lieb, Mama."
Mom streicht mir über den Rücken. "Ich dich auch." Dann sieht sie mich aber direkt an. "Aber wie konnte das denn passieren? Eine Dosenpyramide übersieht man schließlich nicht jeden Tag."
Die röte steigt mir erneut ins Gesicht. "Da war so ein Mädchen-"
Ich hätte das ganze vermutlich ganz anders angehen sollen aber es ist zu spät, meine Mutter fasst sich sofort ganz theatralisch ans Herz und seufzt zufrieden. "Oje! Mein Sohn hat sich verliebt. Wie reizend."
"Mom!", sage ich bestimmt. "Bitte. Es ist nichts der gleichen! Es ging um Schokolade, okay?"
Ich habe ihre Aufmerksamkeit zurückerlangt, das sehe ich in ihren Augen.
Und dann erzähle ich ihr das wenige, das vorgefallen ist.
Die Krankenzimmertür öffnet sich und unterbricht damit mein Handyspiel.
Game Over
erscheint auf dem kleinen Bildschirm. "Verdammt", fluche ich und schaue erneut auf die halbgeöffnete Tür. Nach dem Doktor soll ich noch bis morgen in der Klinik bleiben. Die Platzwunde soll nicht groß sein, aber dadurch, dass ich immer noch einigermaßen starke Schmerzen im Hinterkopf habe, wollen sie mich zur Sicherheit da behalten. Ich habe, um ehrlich zu sein, keine Lust. Ich habe noch eine Wohnung zu renovieren und in einer Woche besuche ich den ersten Unterricht. Meine Mutter ist bereits gegangen. Vorrübergehend sucht sie sich ein Hotel, aber trotzdem beschleicht mich des öfteren ein Gefühl der Schuld. Meine Mutter ist nicht mehr die jüngste und trotzdem mache ich ihr einen solchen Stress. Sollte ich nicht bereits in der Lage dazu sein, ein eigenes Leben zu führen? Ohne gleich in eine Dosenpyramide zu laufen...
Es klopft an der Tür. "Ja?", frage ich.
Ein braunhaariges Mädchen betrott das Zimmer. Sie hat getönte Haut und die schönsten, braunen Rehaugen auf der Welt. Damals hätte ich gesagt, dass diese Augen nichts außer Unschuld ausdrücken, aber heute... Sie hat mir wehgetan. Es ist Naemie. Meine Ex-Freundin.
"Hi", sagt sie.
"Hey", brumme ich. Ich kann sie nicht mehr ansehen. Vermutlich kann ich sie auch nicht leiden. Ich schaue auf die Bettdecke. Vor zwei Jahren ungefähr habe ich mit ihr Schluss gemacht. Es tat so weh. Ich liebte sie wirklich. Aber ich habe es doch gesehen, dass sie mich mit einem meiner Mitschüler betrogen hat. Was sucht sie hier?
Naemie setzt sich langsam auf die Bettdecke und schaut mir in die Augen. Ich drehe mich weg und starre weiterhin auf die lila gepunktete Bettdecke, bis es wehtut.
"Also... Wie konnte das passieren? Ich habe mir Sorgen..."
Ich lasse sie nicht ausreden. Ich habe einfach keine Nerven dafür übrig. "Naemie... was hast du hier zu suchen? Warum interessierst du dich überhaupt dafür? Ich sollte dir egal sein, am Arsch vorbeigehen."
Sie schweigt.
"Ich dachte, dass Evan dich interessiert. Für ihn hast du mich doch sitzen lassen. DU hast MICH betrogen."
Sie schweigt immer noch.
"Und jetzt tauchst du nach zwei Jahren einfach so auf..." Als sie mir immer noch nicht antwortet, reißt mir der Geduldsfaden. "Kannst du mal was sagen?!" Ich werde lauter.
Sie zuckt zusammen aber sagt immer noch nichts.
"Warum rede ich überhaupt mit dir? Und wenn du nicht vorhast, etwas zu sagen, dann geh! Hau ab! Du hast deinen Evan! Sei glücklich mit ihm, aber lass mich in Ruhe! Okay?!"
Ich habe Tränen in den Augen aber versuche sie so gut es geht zurückzuhalten. Sie ist es nicht wert. Eine Simme in meinem Kopf sag mir, dass sie es eben doch Wert doch ist, aber ich ignoriere sie.
Naemie sieht mich erschrocken an. Ich sehe die Tränen auch in ihren Augen. "Ich wollte doch bloß helfen", flüstert sie.
"Helfen? HELFEN!“ Ich lache laut auf. Ich weiß, dass ich mies bin, aber ich bin einfach so unglaublich sauer auf sie. „Zuerst tust du so wie ein Engel, was du im Grunde genommen auch bist, aber das tut nichts zur Sache… Du hast mich betrogen! Und jetzt tauchst du hier auf?!“, fahre ich fort. „Also DEINE Hilfe brauche ich nicht!“
Sie beißt sich auf die Lippe. „Ich habe dich nicht betrogen.“ Sie steht vom Bett auf.
„Jaja, Klar! Ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen!“
„Du hast was Falsches gesehen!“, protestiert sie.
"Hör auf, Naemie. Es ist zwei Jahre her! Was willst du?! Du hast mein Herz schon gebrochen, glaub mir."
Naemie beißt sich auf die Lippe, bevor sie leise: "Ich habe dich nicht betrogen, Jake! Ich schwöre! Bitte! Du musst mir glauben!"
Es war abends. Spät abends. Ich schaute aus dem Fenster. Das gegenüberliegende Fenster war geschlossen und das Licht aus. Vermutlich war Naemie nicht da. Ich schaute hinunter auf die Straße, wo ein schwarzes Cabrio vor Namies Haustür parkte. Ein Junge mit schwarzen Haaren und gut gebauten Körper stieg aus. Evan? Was hatte Evan hier zu suchen? Aus der Beifahrertür stieg ein Mädchen aus. Ihr langes, braunes Haar war zu einem Zopf geflochten und sie trug ein hübsches Kleid. Natürlich erkannte ich sie. Wie sollte ich meine eigene Freundin nicht erkennen? Aber was hatte Naemie mit Evan zusammen hier verloren? Mein Unterkiefer klappte hinunter, als Naemie Evan umarmte, fest an sich drückte und ihm schließlich einen Kuss gab. In mir schien alles zu gefrieren. Tränen stiegen mir in die Augen. Schnell schloss ich das Fenster, drehte mich weg und verließ das Zimmer.
Naemie (in den nächsten Kapiteln immer in lila)
Es war abends. Spät abends. Ich schaute aus dem Fenster und entdeckte Jake am gegenüberliegendem Fenster. Ich musste lächeln und winkte, doch Jake starrte nur hinunter auf die Straße, wo meine Zwillingsschwester Caroline in dem Arm eines Typen lag. "Jake!", rief ich hinüber aber er reagierte nicht. Mein Blick fiel erneut auf meine Zwillingsschwester, die gerade den Jungen küsste. Ich freute mich für sie, dass sie jemanden gefunden hat. Ich mochte Evan zwar nicht, aber solange sie mit ihm glücklich war... Ich schaute wieder zum Fenster auf die andere Seite, aber Jake war nicht mehr zu sehen.
Ein leises Bimmeln ertönt, als ich die Tür zu Annies Friseuralon aufdrücke. Sofort strömt mir der Duft von frischgebackenen Keksen und Kakao entgegen. Ich hole tief Luft. So muss das wahre Glück riechen! Ich seufze zufrieden, lege meinen Mantel ab und hänge ihn an den Kleiderhaken, der an der Wand angebracht ist. Annies Friseursalon ist der einzige Salon in unserer Stadt. Sie selbst wohnt über dem Salon, was ihr einige Vorteile bietet, auch bezüglich der Flexibilität. Schon von weitem höre ich Annies abgehacktes Lachen und dann entdecke ich sie in der Ecke ihres Friseursalons. Sie spricht in ihr Kabeltelefon, welches ich jedes Mal aufs Neue fasziniered finde .
"Oui, oui. Bien sûr! J'ai beaucoup de temps. Franchement, je suis la femme la plus heureuse..." Da erblickt sie mich. "Oui... alors bises! À demain!"
Annie legt auf und sieht mich mit einem einladenden Blick an. "Oh Bonjour Louisa! Ma chérie!"
"Hallo Annie", begrüße ich sie lächelnd. Die zierliche Frau mit den rosa gefärbten Locken umarmt mich und drückt mir einen Bussi auf jede Wange.
"Was führt dich denn zu mir? Deine Haare sehen doch noch toll aus!", sagt sie mit ihrem französischen Akzent und lacht anschließend erneut.
"Ich brauche deinen Rat", erwidere ich.
"Bien sûr! Allez!"
Annie geht vor, die Treppe zu ihrer Wohnung nach oben und schließt diese auf. Dann gewährt sie mir den Vortritt. In Annies Wohnung riecht es noch intensiver nach Keksen und ein leichter Stich Parfum steigt mir in die Nase. Annie deutet auf zwei Sessel. Auf einen setzt sie sich und auf dem anderen nehme ich Platz. "Soll ich Tee machen?", fragt sie mich.
"Ja gerne", antworte ich mit einem Lächeln. Annie steht wieder auf und geht die Küche, um das Wasser aufzusetzen. Man hört das Klappern des Geschirrs, das Zischen des Wasserkochers und Annies schiefes Summen. Ich grinse. Annie lernte ich vor ungefähr drei Jahren kennen. ich brauchte ein Haarpflegemittel, da meine Haare sehr schnell Spliss hatten. Sie beriet mich und schnitt mir meine Spitzen. Nach und nach haben wir uns alles anvertraut und seitdem ist sie wie eine Mutter für mich. Annie ist immer für mich da und redet niemals schlecht über mich. Selbst, wenn ich Augenringe hätte, meine Haare verfilzt wären und ich zerrissene Klamotten trüge, würde sie sagen, dass ich originell aussehe. Ich liebe Annie. Sie ist einfach die Beste.
Ich erinnere mich daran, wie traurig ich war, als ich den Betrug gesehen habe. Ich hatte Naemie geliebt, über alles. Und dann hat sie mir so wehgetan. Ich war depressiv. Ihretwegen ergab mein Leben keinen Sinn mehr. Und jetzt? Jetzt soll ich ihr glauben? Nach zwei Jahren? Ich soll ihr glauben, dass sie mich nicht betrogen hat, nachdem ich alles mit eigenen Augen gesehen habe? Nein, das kann ich einfach nicht.
Mit feuchten Augen schaue ich Naemie an. Dann schüttele ich den Kopf. "Nein, tut mir leid... Ich vertraue dir einfach nicht mehr."
"Aber Jake!" Ich sehe die Tränen in ihren Augen.
"Nein." Ich spüre, wie ich zittere. Ich will ihr ja vertrauen, aber es geht nicht.
"Aber..."
"Kein Aber... Mach es mir nicht schwerer als es ist!"
"Bitte... Jake..."
"VERSCHWINDE!" Ich zucke über meine eigene Reakton zusammen. "Namie, geh."
Langsam geht sie rückwerts zur Tür. Ich höre, wie sie zu weinen beginnt und das schmerzt. Es schmerzt so sehr, dass ich glaube, deswegen im Krankenhaus liegen zu müssen. Ich glaube, ebenfalls weinen zu müssen.
Weinend verlasse ich das Zimmer und renne in Richtung des Haupteinganges. ich schluchze und die Tränen nehmen mir jegliche Sicht. Warum will er mir nicht glauben? Ich habe ihm doch nichts getan! Es ist Caroline, die mit Evan zusamen ist, nicht ich! Die Leute im Gang sehen mich mitfühlend an. Ich ignoriere ihre Blicke und stürme durch die Eingangstür hinaus. Seit Jake habe ich keinen neuen Freund mehr. Niemand ist so, wie er. Und ich will auch niemanden Neues kennenlernen! Den einzigen, den ich will, ist Jake... Aber für ihn bin ich zu spät, tausende Jahre zu spät.
"So... der Tee ist fertig." Annie stellt zwei dampfende Tassen auf den kleinen Couchtisch. Daneben ein kleines Porzellanschälchen mit Zuckerwürfeln. Annie setzt sich gegenüber mir hin.
"Jetzt erzähl doch, mon chèrie... Pourquoi tu as triste? Oh pardon! Ich habe jetzt Franzöisch geredet!" Annie lacht. "Warum bist du traurig?", übersetzt sie dann.
"Also es ist so viel passiert", sage ich und beginne alles zu erzählen. Ich erzähle von Lara, dem Jungen im Einkaufsladen, dem Tanzen und Mr. Fox. Annie hört mir ruhig zu und unterbricht mich kein einziges Mal.
"Noch mal zu dem petit garcon", sagt Annie, nachdem ich meine Erzählung beendet habe. "Du scheinst ihn zu mögen, oder?"
Den Tee, den ich soeben in meinen Mund geführt habe, pruste ich direkt wieder aus. Peinlich berührt, greife ich nach einer Serviette und wische alles sauber. "Quatsch", sage ich dabei. "Wie kommst du denn darauf?! Ich kenne ihn doch gar nicht! Ich habe ihn nur einmal gesehen! Und das, als er wie ein Volldepp in eine Dosenpyramide reingefahren ist! Nein, Annie, du irrst dich."
"Ich irre mich nie", beteuert Annie mit fester Stimme.
Ich seufze. "Na gut, was solls."
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. "Oh je! Ich muss schon wieder los! Danke fürs Zuhören und danke für den Tee. War wirklich lecker."
"Oh chèrie, de rien!"
Annie begleitet mich nach unten und wir verabschieden uns. Nun verlasse ich den Salon und mache mich auf den Weg nach Hause.
Der Wind ist kühl und ich ziehe den Mantel enger um mich herum. An der Ecke der Straße stehen ein paar gleichaltrige Jungen. Sie tuscheln und schauen ab und zu in meine Richtung. Zügig gehe ich weiter. "Nur weg von hier", schießt es mir durch den Kopf. Meine Absätze klackern auf dem Steinweg und ich habe Mühe, nicht umzuknicken. Immer schneller laufe ich, bis ich schließlich an ihnen vorbeigehe. Ich höre ein Pfeifen, aber ich ignoriere es so gut es geht.
"Hey!"
Da spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. ich drehe mich um und blicke in das Gesicht eines schwarzhaarigen Jungen mit blauen Augen und Sommersprossen im Gesicht. Er ist größer als ich mit den Absätzen und schaut spöttisch auf mich herab.
"Was willst du", murmele ich und versuche so wenig Furcht wie möglich zu zeigen. Schließlich sind es letztendlich irgendwelche pubertierende Jugendliche, die sich vor ihren Freunden behaupten wollen.
"Meine Kumpels und ich würden dir gerne, was zeigen."
Ich schlucke. Er und seine Kumpels sind die Sorte von Jungs, die jede Gelegnheit nutzen, um ein Mädchen zu entführen und es sogar zu missbrauchen.
"Nein danke. Da muss ich passen. Ich habe einen Termin."
"Oh lala." Der Junge schaut in die Richtung seiner Kumpels. "Habt ihr gehört? Die Schönheit hier hat einen Termin!" Er legt mir seine Hand auf die Schulter.
"Halt deine Schnauze und verzeih dich", sage ich spitz und schüttele seine Hand ab.
"Nicht so schnell", sagt der Junge und funkelt mich an. "Solche hübschen Mädchen wie dich treffe ich selten. Vor allem in dieser abgestandenen Gegend..."
"Lass mich einfach", sage ich erneut, schubse ihn zur Seite und renne los. Immer schneller. Nur weg von dieser Gegend. Ich höre, wie die Jungs mich verfolgen. Ich renne weiter bis zum Central Krankenhaus und renne in den Innenhof rein, doch plötzlich werde ich an der Schulter gepackt. Gerade rechtzeitig kann ich mein Gleichgewicht halten, bevor ich nach hinten gezogen werde. Ich blicke dem schwarzhaarigen Jungen wütend in die Augen. Doch dieser dängt mich an die kalte Hauswand des Krankenhauses. "Lass mich", zische ich und trete mit meinem Knie aus, um ihn zwischen die Beine treten zu können, doch ein Braunhaariger ist schneller. Er packt nach meinem Bein und drückt es grob an die Wand. Ich beiße die Zähne zusammen und kneife die Augen zu.
"Na, hat das Schätzchen Angst?", lacht einer der Typen und ich spüre seine fetten Finger nach meiner Wange greifen. Er kneift grob hinein und schüttelt sie, wie meine Großmutter es immer gemacht hat, wenn sie mich sah. Aber das hier ist tausendmal schlimmer! Angst sprudelt durch meine Adern und ich spüre, wie sich jedes einzelne meiner Haare aufstellt.
Es ist vorbei. Ich versuche erneut mit meinem Bein auszutreten, bis ich einen schallenden Schlag höre. Erst danach breitet sich ein lodernder Schmerz in meiner Wange aus. Er hat mich geschlagen. Tränen sammeln sich in meinen Augenwinkeln und mein Körper wird von den Schluchzern geschüttelt. Ich mache mich auf das Schlimmste gfasst, als plötzlich eine tiefe Stimme ertönt: "HEY! LASST SIE SOFORT IN RUHE, IHR PENNER!"
Ich höre schallendes Gelächter aus dem Innenhof des Krankenhauses. "Na, hat das Schätzchen Angst?" Ich zögere kurz, dann aber gehe ich an das Fenster des Zimmers heran und öffne es ein Stückchen weiter. Draußen im Hof stehen fünf Jungs. Zwie davon pressen ein Mädchen mit außergewöhnlich hellem Haar an die Wand. Was machen die da bloß? Plötzlich hebt der eine Junge seine Hand und verpasst dem Mädchen eine schallende Backpfeife. Das Mädchen beginnt zu zittern und ein Beben durchzuckt ihren Körper. "Scheiße", murmele ich, denn der Ernst der Lage, wird mir erst jetzt wirklich bewusst. "Ich muss doch etwas tun."
Ehe ich weiter darüber nachdenken kann, reiße ich das Fenster auf und brülle so laut ich kann: "HEY! LASST SIE SOFORT IN RUHE, IHR PENNER!"
Erschrocken öffne ich die Augen. Die Jungen haben mich immer noch nicht losgelassen, allerdings schauen sie nach oben, wo im Fenster ein anderer Junge mit braunen Haaren sie grimmig anstarrt. Mein Herz macht einen erleichterten Sprung.
"Was soll uns daran hindern, Bro? Ich bin ürbigens Pete", ruft der schwarzhaarige und spuckt einmal auf den Asphalt.
Der Junge im Fenster schaut immer noch grimmig. "Ich bin nicht euer Bro! Ihr sollt sie einfach nur in Frieden lassen!"
Zur Antwort hebt Pete zwei Steine vom Boden auf und wirft sie in das Zimmer rein. Der Junge kann gerade noch so ausweichen. Danach verschwindet er aber endgültig vom Fenster und schließt es wieder. Jetzt scheint sich alles in meinem Körper zusammen zu ziehen. Er lässt mich alleine...
Ich merke, wie mir wieder übel wird, als der Schwarzhaarige und seine Freunde sich mir wieder nähern.
"Und jetzt zu dir Fräulein", knurrt er und kommt mir so nahe, dass ich die Mitesser und ungepflegt wirkende Bartstoppeln sehen kann. Angewidert rümpfe ich die Nase. "Hast du dir denn nie dein Gesicht gewaschen?", zische ich bloß, um einen Teil meiner Furcht zu verdecken. Doch Pete packt mich bei meinen Haaren und zieht sie nach oben, bevor er ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche holt. Ich ahne schon, was passieren wird.
"NEIN!", kreische ich. "Bitte nicht!"
Pete lacht boshaft. Er zündet das Feuerzeug an und kommt immer näher an meine Haare. Alles in mir schreit nach Flucht, aus meinen Augen rinnen die Tränen, ich schließe sie und mache mich bereits auf den Schmerz gefasst, wenn das Feuer mein wertvolles Haar auffrisst. Plötzlich lässt Pete jedoch meine Haare los und das Geräusch eines brechenden Knochens ertönt. Ich reiße die Augen wieder auf. Da ist der Junge von oben! Aus dem Krankenhauszimmer! Nur im weißen Krankehauskittel und braunen Hausschuhen bekleidet, steht er da und hat Pete zu Boden gehauen! Dieser hält sich schreiend die Nase, rappelt sich auf und gibt seinen Freunden ein Zeichen. "Kommt! Lasst uns verschwinden!" Dann suchen sie das Weite. Ich spüre, wie mein Mut und meine Kraft nachlassen. Anschließend nehme ich den Fall in die Tiefe wahr, welcher jedoch von dem Jungen im Krankenhauskittel gestoppt wird. Ich sehe ihm ins Gesicht. Der Junge hat braunes, verstrubbeltes Haar und große braune Augen. Es ist der Junge aus dem Einkaufsladen.
"Hey, hey, hey", höre ich ihn sanft rufen. "Bleib bei mir! Ich hole Hilfe!"
Doch ehe ich reagieren kann, fallen mir die Augen zu und alles um mich herum wird schwarz.
Ich schrecke hoch. Verschlafen schaue ich mich um. Wo bin ich? Das ist nicht meine Wohung! Panisch sehe ich mich weiter um. Ich liege in einem Bett mit einer lila gepunkteten Bettdecke und auf dem Stuhl gegenüber sitzt ein Junge. DER JUNGE. Er schaut auf sein Handy und scheint mit jemandem zu chatten. Da wird es mir wieder klar!
Die Typen. Die Schläge. Der Junge im Krankenhauskittel. Schwärze.
Vermutlich bin ich im Krankenhaus!
Ich spüre, wie ich den Tränen nahe bin. Hektisch atme ich ein und aus. Bloß nicht weinen. Weinen ist etwas Persönlich, das muss nicht jeder mitbekommen. Ich fahre mir mit der Hand durch mein Haar und versuche herunterzukommen. Ganz ruhig, Louisa, wiederhole ich in meinem Inneren wie ein Mantra. Es ist alles in Ordnung.
In dem Moment schaut der Junge auf. Er lächelt ein sanftes, liebenswürdiges Lächeln. "Gott sei Dank bist du wach geworden! Ich habe mir schon solche Sorgen gemacht!"
Verwirrt blicke ich ihn an. Sorgen gemacht. Es war lange her, seit dem sich jemand das letzte Mal wirklich um mich gesorgt hatte... Ich schlucke. Er ist mir fremd! Wieso also ist er so hilfsbereit? Ich zögere nicht, ihm diese Frage zu stellen: "Wieso hast du mir geholfen?"
Der Junge legt sein Handy auf den Tisch und sieht mich mit seinen sanften braunen Augen an. Den Gedanken, dass er süß aussieht, kann ich nicht verdrängen.
"Also erinnerst du dich?", fragt er anschließend.
Ich nicke.
Der Junge überlegt und räuspert sich dann. "Ich weiß nicht. Ich helfe gerne, schätze ich... Es gab zu viele Situationen, in denen ich nicht geholfen habe."
"Danke", bringe ich hervor. "Ehrlich... Wer weiß, was diese Typen mit mir angestellt hätten..."
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich sie kenne. Aber woher bloß? Und dann trifft es mich wie ein Blitz. Ist sie nicht das Mädchen aus dem Einkaufsladen? Die, die lächelnd abgehauen ist? Die, die mir nicht geholfen hat? Die, die die letzte Schokolade aus dem Regal gemopst hat?
Ich starre sie an. Mist. Der Gedanke, dass sie das Mädchen aus dem Laden ist, betäubt mich. Ich stehe auf. Erst einmal brauche ich frische Luft.
"Gute Besserung", presse ich hervor und verlasse das Zimmer.
Ich weiß es. Er weiß es. Wir kennen uns. Er ist der Junge aus dem Einkaufsladen.
"Gute Besserung", murmelt er etwas gezwungen und verlässt dann das Zimmer. Ich hätte sehr gerne seinen Namen gewusst. Ist er sauer auf mich, weil ich damals nur gelächelt habe anstatt zu helfen? Was für eine Ironie!
Aus irgendeinem Grund hoffe ich, dass er mir mein Verhalten nicht übel nimmt...
Wie sich herausstellte, hatte ich nur einen kleinen Schock und habe deshalb das Bewusstsein verloren. Mr. Wateford, wie der Junge heißt, hatte aber dafür gesorgt, dass ich mir bei meinem Sturz keine ernsthaften Verletzungen zugezogen habe.
Aber ich darf nach Hause. Ich nehme den Bus in Richtung des Supermarktes, weil ich noch ein paar Besorgungen machen will. Candy und ich wollen heute Nachmittag zusammen kochen und ich habe leider noch nicht alle Zutaten da.
Als ich den Supermarkt betrete, wird mir sofort das Bild von Mr. Wateford und seinem Einkaufswagen ins Gedächtnis gerufen. Wohl oder übel, werde ich diesen Supermarkt immer wieder mit ihm verknüpfen. Ich schüttele den Kopf und gehe durch die Getränkeabteilung, als ich eine Stimme höre. "HEY DU!"
Ich drehe mich erschrocken um. Ein Mädchen mit dunkelbraunen Haaren, genauso braunen Augen und getönter Haut schaut mich böse an. "Du... Du bist doch die doofe Kuh, die meinen Freund... äh Ex-Freund dazu gebracht hat, in die Dosenpyramide zu fahren!"
Ich runzele die Stirn. Wer ist sie? Und woher will sie wissen, dass ich daran beteiligt war?
"Ähm... Kennen wir uns?", frage ich sie also.
Das Mädchen schaut mich ungläubig an. "Es ist egal, ob wir uns kennen! Das einzige, was zählt, ist dass mein Ex wegen dir im Krankenhaus liegt!"
Ich schüttele den Kopf. "Wer sind Sie?", frage ich. "Und wieso reden Sie überhaupt mit mir?"
Sie kommt mir näher, sodass zwischen uns nur noch wenige Zentimeter Abstand liegen. Mit zusammengekniffenen Augen funkelt mich das Mädchen böse an. Ganz plötzlich im nächsten Moment, als würde ein Schalter umgelegt werden, grinst sie ganz breit, schafft ein wenig Abstand und hält mir die Hand hin. "Naomi Scott mein Name. Jakes Freundin... äh Exfreundin."
Das Mädchen ist mir definitiv suspekt. Als sie merkt, dass ich keine Anstalt mache, nach ihrer Hand zu greifen, lässt sie sie fallen.
"Also... du bist das Mädchen, oder?"
Ich will nur, dass diese unangenehme, merkwürdige Konversation endet, weshalb ich sage: "Meinen Sie Mr. Wateford?"
Ihre Augen weiten sich bei seinem Namen. Er heißt also Jake. Jake Wateford. "Ja genau! Du bist also diese blöde Kuh!"
Woher weiß sie das?
"Können Sie aufhören, mich zu beleidigen?", sage ich empört.
"Nein." Naomis Lächeln ist wie weggefegt. "Denn genau wegen DIR hat er sich verletzt."
Ich habe keinen Nerv mehr dafür. "Wegen mir?! Ist das Ihr Ernst?!"
"Ja, es ist mein Ernst!", antwortet sie frech.
"Also hören Sie..." Ich schiebe mich an ihr vorbei. "Ihr Ex-Freund ist selber daran Schuld. Er hätte nicht wie blöde durch den Laden rennen sollen... Also... Wenn Sie mich entschuldigen."
Ich gehe weiter und ignoriere ihre frustrierten Rufe. Kopfschüttelnd gehe ich noch einmal meine Einkaufsliste durch. Sie ist so krank. Wie kann man sich so daneben verhalten?
"Niemand!", ruft sie mir nach. "Niemand, lässt Naomi Scott stehen!"
Ich lache hart auf und rufe nur: "Besorgen Sie sich lieber einen Psychiater!", über meine Schulter. Ihren Todesblick kann ich in meinem Rücken förmlich spüren.
Ich habe die Küche bereits vorbereitet, als es an der Tür klingelt und Candy sich von unten am Apparat meldet. Ich drücke auf den Knopf, der die Haustür öffnen soll und lehne schon einmal die Wohnungstür an. Ich höre Candy Schritte, die im Treppenhaus von den Wänden widerhallen.
Als sie schließlich vor mir steht, drückt sie mich einmal fest an sich. "Hab ich dich vermisst!"
"Wir haben uns doch erst gestern gesehen", stelle ich grinsend fest.
"Trotzdem", beharrt Candy. "Es war trotzdem viel zu lang!"
Ich schließe die Wohnungstür hinter ihr und wir gehen in die Küche. Candy stellt ihre Tasche ab und wir machen uns ans Kochen.
"Alles okay bei dir? Michael meinte, es ginge dir nicht so gut...", fragt Candy.
"Seit wann telefonieren du und Michael?", frage ich zurück. Denn ich bin die einzige, die weiß, wie sehr Michael auf Candy steht. Ihr gegenüber traut er sich kein Wort zu sagen. Umso schwerer fällt es mir dementsprechend, Candys Worten Glauben zu schenken.
"Das spielt jetzt keine Rolle", entgegnet Candy energisch. "Los, sag, was ist los?"
Ich seufze. "Lara ist krank. Sie hat Krebs... Und weißt du, ausgerechnet ich, soll ihr helfen... Ich meine, ich bin selbst ein seelisches Wrack."
Candy sieht entsetzt aus. Im nächsten Moment klammert sie sich an mich und streicht mir mitfühlend über meine Schulter. "Tut mir so leid", sagt sie.
"Ist schon gut, winke ich ab." Ich möchte nicht schon wieder in Tränen ausbrechen müssen, also wechsele ich das Thema: "Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist!"
"Erzähl!", fordert Candy und lässt den Themenwechsel zu.
Ich berichte ihr ausführlich von Mr. Watford, den ich das erste Mal im Einkaufsladen getroffen hab und über die Blödmänner, die mich misshandeln wollten, genauso wie über die plötzliche Rettung.
Candy lacht die gesamte Zeit über in sich hinein. "Wie süß", sagt sie dann schließlich. Und inzwischen haben wir schon die ersten Schichten der Lasagne geschafft.
Wir beenden unsere Arbeit und wollen uns gerade ins Wohnzimmer pflanzen, als es an der Haustür klingelt. Ich runzele die Stirn. Ich bekam nie Besuch. Mit einem unguten Gefühl in meiner Magengrube gehe ich zum Apparat und hebe ab. "Hallo?", frage ich.
"Hey Louisa. Hier ist James."
Ich verdrehe die Augen und meine gute Laune ist direkt wieder im Keller. James ist wie eine lästige Mücke.
"Verschwinde James!" Ich knalle den Hörer zurück in seine Halterung.
"Wer war das?", fragt Candy neugierig.
"James", knurre ich.
Es klingelt erneut an der Tür.
"Ich gehe schon", sagt Candy und streicht mir einmal liebevoll über meine Schulter. Sie meint es gut, aber aus irgendeinem Grund fühle ich mich so, als würde ich nicht mit ihm klarkommen, weshalb sie eingreifen müsste.
Dabei komme ich mit James klar. Mehr oder weniger gut.
Sie hebt den Hörer an. "Hi James. Was willst du hier?"
"Mit Louisa reden... Es ist dringend."
"Okay. Komm rein."
Candy drückt den Knopf und hängt den Hörer ein.
"Bist du verrückt geworden?", frage ich Candy.
"Reg dich ab Lou, du weißt doch gar nicht, was er will..." Candy öffnet die Haustür.
In dem Moment kommt James schwarzer Lockenkopf zum Vorschein. Er schiebt sich durch die schmale Tür und schließt die Wohnungstür hinter sich. Ich rechne schon fest damit, dass er gleich seine Kamera rausholt und damit ein paar Bilder macht. Aber nein. Die Canon, die ansonsten um seinen Hals baumelt, ist verschwunden und er sieht auch nicht so aus, als habe er die Absicht ein Foto zu machen.
"Hey Louisa! Hallo...ähm..." James stockt, als er Candy sieht.
"Candy", stellt sie sich vor und reicht ihm die Hand.
"Ich bin James, James McBrian."
Candy spielt ganz und gar den freundlichen Gastgeber. "Komm doch rein, James."
"Danke gerne." Er streift sich seine schwarzen Sportschuhe ab und geht dann ins Wohnzimmer, um sich anschließend auf die Couch fallen lassen zu können. Mir passt das überhaupt nicht. Was hat er zu suchen? Wieso ist Candy so nett zu ihm?
"James, was willst du bei mir?", frage ich genervt und setze mich gegenüber ihm auf die zweite Couch.
Er scheint sich unsicher zu sein, aber dann fährt er sich durch seine Locken und sieht mich eindringlich an. "Ich wollte mich entschuldigen", murmelt er.
"Für was?"
"Für mein scheußliches Verhalten."
Damit habe ich definitiv nicht gerechnet. "Echt jetzt?"
"Ja... Ich habe eingesehen, dass es nicht richtig war, weiter Fotos von dir zu machen... Ich meine, du hast mir mehrfach gesagt, dass ich es sein lassen soll... Also... Hier bin ich und entschuldige mich."
"Okay..." Das muss ich erst einmal verkraften.
"Aber weißt du was...", beginnt er plötzlich. "Ich bin noch wegen etwas anderem hier."
Erwartungsvoll schaue ich ihn an. Ich sehe sogar bereits die Kamera aufblitzen und sein spöttisches Lachen, das mir verrät, dass er ein verdammter Lügner ist. Jedoch geschieht erneut nichts der gleichen. Stattdessen kramt er in seiner Jackentasche und breitet jede Menge Zeitungsausschnitte und Bilder auf meinem Couchtisch aus. Mir bleibt die Luft weg, als ich die Schlagzeilen lese:
Mann (36) und Frau (31) springen von Brücke
Was hatten die beiden miteinander zu tun?
Mutter (31) springt von Brücke
Es geht um meine Mutter. Sofort spüre ich, wie der Schmerz mich zu überfluten droht. Als wäre ich in das Meer gefallen und so als würden sich meine Lungen immer weiter mit Wasser füllen, sodass es irgendwann unendlich weh tut. Die Tür zu meinem Herzen verriegelt sich. Ich höre nichts, ich rieche nichts, ich spüre nur den Druck auf mir.
"Louisa?", fragt James.
"Ich will darüber nichts hören", sage ich bloß mit schwacher Stimme.
"Willst du nicht wissen, wieso sie sich das Leben genommen hat? Willst du nicht wissen, wer der andere Mann war? Willst du das für immer so auf dir lasten lassen?" James klingt beinahe schon wütend.
"Ja, James. So ist es. Ich will darüber nichts wissen. Ich habe damit abgeschlossen." Die Wut in mir kämpft sich immer weiter nach oben. Ich kann den Rauch schon förmlich riechen, der von mir ausgeht. Ich balle meine Hände zu Fäusten.
"Louisa. Du warst 13 als sie gestorben ist! 13! Du warst gerade dabei, Erwachsen zu werden..."
"Stopp! Ich will davon nichts hören!"
Die Tränen kämpfen sich in mir hoch. Ich spüre, wie ich langsam aber sich die Kontrolle über mich verliere.
"Sie hätte noch...", beginnt er erneut.
Ich greife nach einer halbvollen Kaffeetasse, die auf dem Tisch steht und werfe damit nach James. Ich verfehle. Die Tasse zerschellt mit einem lauten Klirren an der Wand. Die Scherben fallen auf den Boden. Die weiße Tapete wird von einem hässlichen braunen Fleck und braunen Schlieren geziert.
Candy starrt mich nur ungläubig an. "James, bitte geh", sagt sie, ihre Augen immer noch geschockt an mich geheftet. James sammelt erschrocken seine Bilder und Ausschnitte ein, steckt sie in seine Jackentasche und verlässt meine Wohnung. Die Tür fällt ins Schloss.
"Ich hole einen Putzlappen und ein Kerblech", kündigt Candy an und verschwindet im Nachbarraum. Zurück bleibt die erdrückende Stille.
Die Wahrheit ist: Ihr Tod tat mir so weh, dass ich mir geschworen habe, mich nie wieder damit zu befassen. Ich wollte nie wieder diesen Schmerz spüren. Ich wollte mir nie wieder Gedanken über dieses unendlich große "Warum" machen. Nie wieder. Ich hatte eine Mum gebraucht. Eine Mutter, die mir bei meinem Liebeskummer hilft. Eine Mutter, die mich in dem Moment unerstützt, in dem ich gemerkt habe, dass etwas nicht stimmt. Mit mir nicht stimmt. Aber das hatte ich nicht. Stattdessen musste ich mich um Lara kümmern, dass wenigstens sie eine Mutter hatte. Und plötzlich waren meine Probleme tief vergraben, verschlossen in einer Truhe, die ich nie wieder hervorholen will.
Mein Blick wandert zu Candy, die die Scherben sorgfältig aufkehrt.
Ich höre das Klirren nicht. Meine Ohren fühlen sich so an, als seien sie mit Watte vollgestopft.
Dann nehme ich ein Blatt Papier auf dem Couchtisch wahr. Ich rücke ein Stück nach vorne. Es ist ein Flugticket nach Deutschland. Zu Lara. In drei Wochen. Mich durchfährt es wie ein Blitz. Wieso hat James so etwas getan?
"Candy", sage ich. Meine Stimme ist nur noch ein Flüstern. "Ich kann zu Lara fliegen."
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kakaos1 • Am 15.02.2022 um 22:00 Uhr | |||
Ich weiß glaub ich von wem der todesblick inspiriert ist Kenne da ein zwei Experten � | ||||
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kakaos1 • Am 12.12.2021 um 23:06 Uhr • Mit 6. Kapitel verknüpft | |
I Like this very much Ist gut geschrieben und gut geworden weiter so ��� |
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kakaos1 • Am 30.12.2021 um 18:06 Uhr | |
Weiterhin super Mach weiter so das wird gut |
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Kapitel: | 15 | |
Sätze: | 1.342 | |
Wörter: | 11.664 | |
Zeichen: | 65.913 |