Storys > Romane > Liebe > Die Saga um den Planeten Remandor

Die Saga um den Planeten Remandor

335
17.07.19 12:43
16 Ab 16 Jahren
Heterosexualität
In Arbeit

Im 11. Zeitalter

im Jahr 10338

im Märus

dem 15.

ein Frenar

nach Beginn der Zeitrechnung

 

Was ist schon Wahnsinn?

Verfluchte Gedanken, Taten und ihr Beginn?

Oder eine arme Seele, die sich windet und um Hilfe schreit?

Bis zu dem Tage, an dem man sie befreit?

(Gedankliche Überlegung Nouriahs, entnommen den Wurzelschriften)

 

Kapitel 1:

Wahnsinn?

 

Ein großer, hagerer Mann hastete durch den dunklen Wald der Morgendämmerung. Seine Kleider einst aus feinster Amalin gewebt und mit Silberspänen durchzogen, mochten kaum noch an ihre vergangene Pracht erinnern. Vor Schlamm triefend, durchnässt von den nächtlichen Regenfällen und von unzähligen Rissen und Löchern durchzogen, schien jeglicher Zauber schon vor langer Zeit von den Kleidern gewichen zu sein.

Der Mann stolperte vor Erschöpfung, ging zu Boden und krachte schmerzvoll gegen die halbverrotteten Wurzeln eines umgekippten Baumes. Doch wie im Wahn rappelte er sich wieder auf und rannte von neuem los. Sein langes, schwarzes Haar wirbelte in der Luft umher und verfing sich nicht selten in kleinen Zweigen oder anderem Geäst. Der Mann schien von alledem jedoch nichts zu bemerken und hastete weiter. Sein einziger Gedanke galt dem Weiterkommen.

Weiter! Ja, er musste weiter! Auf keinen Fall durfte er stehen bleiben!

Als wäre das furchtbarste Grauen Remandors leibhaftig hinter ihm her, rannte er durch das Dickicht des dunklen Waldes. Dornen rissen seine Haut auf und Zweige peitschten sein Gesicht. Aber dennoch, er lief weiter und wagte es nicht, einen Blick über seine Schulter zu riskieren.

Sie waren da! Sie mussten da sein! Ja, sie waren da, dass wusste er! Oder vielleicht doch nicht? Nein, sie mussten da sein! Aber… wer überhaupt?

Er stutze für einen Moment und kam keuchend zum Stehen. Die Blätter der Bäume raschelten leise durch die sanften Berührungen des kalten Frühjahrswindes und hier und da erwachten nach und nach die ersten Vögel, um ihr morgendliches Konzert zu geben.

Wovor lief er eigentlich weg? Musste er denn wirklich davon laufen? Es verfolgte ihn doch keiner… oder?

Ganz langsam richtete sich der Mann auf und straffte seine Schultern.

Ja er musste sich umschauen. Nur so konnte er sichergehen. Hinter ihm war nichts mehr! Er hatte alles längst hinter sich gelassen! Er war frei! Er hatte es geschafft! Ja… das hatte er… oder? Doch, er war sich sicher, er musste sich nur noch umschauen. Es durfte nichts mehr da sein! Es würde nichts mehr da sein! Aber... was sollte überhaupt da sein?!

Egal! Er musste sich umdrehen!

Wie in Trance spannte er seinen Körper und kämpfte gegen den ständigen Drang, einfach nur davon laufen zu wollen. Dann sprang er plötzlich herum und spähte in die dämmernde Düsternis des tiefen Waldes.

Da war nichts! Wie er es sich gedacht hatte. Schoss es dem Mann erleichtert durch den Kopf und nahezu jede Anspannung fiel von ihm ab.

Dem großen Licht sei Dank…

Ein Fauchen hallte durch den Wald, raubte dem Mann die gewonnene Ruhe der letzten Augenblicke und ließ ihn vor Angst erzittern. Es war ein Fauchen wie das eines Raubtieres, nur unglaublich viel bedrohlicher. Panik breitete sich in dem Mann aus und sein Blick sprang bei dem kleinsten Geraschel der Blätter von einer Seite zur Anderen, immer das Schlimmste befürchtend.

Er hatte sich geirrt! Es war doch da! Diese Dämonen hatten ihn verflucht! Das Grauen kam näher! Er musste hier weg!

Mit größter Willensanstrengung drehte er sich um und sprang durch die nächsten Büsche des erwachenden Waldes. Das Fauchen ertönte erneut und ließ ihn vor Schreck zusammenfahren. In völliger Verzweiflung beschleunigte er seine Schritte noch und stürmte so schnell ihn seine Beine trugen durch das nasse Geäst.

Es durfte ihn nicht kriegen! Nein! Niemals wieder! Oh großes Licht… bitte… es musste ihm helfen!

Aber es war keine Hilfe in Sicht. Tränen flossen ihm über die Wangen als er sich seiner körperlichen Erschöpfung näherte.

Er musste durchhalten. Er durfte jetzt nicht aufgeben… Nein, nicht heute… Nie wieder… Er war doch davon gekommen… Ziilen um Ziilen hatte er hinter sich gelassen… Hatte die größten Grausamkeiten überstanden… Nein! Er würde nicht aufgeben! Das Fauchen war doch verschwunden oder?

Gebannt von diesem kleinen Hoffnungsschimmer lauschte er zwischen jedem seiner Schritte in den Wald hinein. Hier und da fröhliches Vogelgezwitscher.

Die Tiere hatten doch keine Ahnung!

Und das permanente Wehen des Windes, der durch die zumeist blattlosen Äste der Bäume pfiff.

Wie die Natur doch täuschen konnte!

Aber da war kein Fauchen. Sonst herrschte Stille.

Täuschende Stille! …oder?

Währenddessen trugen ihn seine Beine voran und er kämpfte sich immer weiter.

Noch einmal würde er nicht halten. Nein, das war zu gefährlich!

Er preschte gerade zwischen zwei dicken Bäumen hindurch, als er vor sich ein dunkles, kehliges Brüllen vernahm und vor Schreck einen Satz nach hinten machte.

Nein! Das kann nicht sein… das furchtbare Grauen war doch immer hinter ihm gewesen…

Da ertönte noch ein spitzer, hoher Schrei und ließ seine angstvollen Gedanken verblüfft verstummen. Auf den ersten Schrei folgten Weitere und ließen die Verzweiflung des Wesens heraushören. Benommen stand er da und versuchte den Gefühlstumult in seinem Inneren unter Kontrolle zu bringen.

Er musste weiter… er konnte nicht helfen… auf ihn würde nur noch viel Schlimmeres warten… aber… vielleicht konnte er doch helfen… oder? Vielleicht…

Das laute Brüllen erschallte erneut und wandelte sich währenddessen zu einer Mischung aus Fauchen und Grölen, dem lautes Bersten von Holz folgte. Da war es um ihn geschehen. Für einen winzigen Bruchteil seines Lebens vergaß er jegliche Angst und stürmte voran. Ein jeder Schritt wurde von den spitzen, ängstlichen Schreien begleitet, die durch den Wald hallten.

Warum… warum tat er das? Was war los mit ihm?

Er wusste es selbst nicht. Irgendwas in ihm drängte ihn vorwärts und hin zu der Quelle der hohen, ängstlichen Schreie.

Er durchbrach ein letztes Dickicht von eng verwachsenen Büschen und stolperte auf eine kleine Lichtung. Trotz des schummrigen Lichtes musste er nicht lange suchen, auf seine guten Augen war immer noch Verlass. Ein wilder Bär hatte sich vor ein paar umgefallen und halb verfaulten Baumstämmen postiert und langte, stets begleitet von seinem bedrohlichen Gebrüll, zwischen den Baumstämmen hindurch.

Die spitzen Schreie wiederum schienen unter den Baumstämmen hervor zu kommen. Er lief ein wenig zur Seite und entdeckte eine menschliche Frau zwischen den Stämmen, ein junges Ding, das verzweifelt versuchte den Pranken des Bären auszuweichen. Anscheinend hatte sie sich in ihrer Angst dort unten versteckt.

Wie dumm die Menschen doch waren… Immer provozierten sie andere Wesen…

Aber er wollte sie auch nicht sterben lassen. Sie war noch jung, sie hatte noch viel Zeit zum Lernen.

Er suchte etwas um die Aufmerksamkeit des Bären auf sich zu ziehen, fand aber auf die Schnelle nur ein paar dünne Äste, nichts Brauchbares. Da schoss es ihm durch den Kopf, seine Stimme!

Ah… wie lange war es her, dass er zuletzt etwas gesagt oder gar gerufen hatte? So lange… beinahe zu lange…

Angestrengt kramte er in seiner Erinnerung und fand schließlich die Worte in der Sprache, die man auf ganz Remandor sprach: „He… ey…“, Bekam er zunächst nur als ein leises Krächzen raus. Er konzentrierte sich noch einmal und legte alle Kraft in die wenigen Worte: „Hey, schau hier hin! Hier bin ich!“

Dabei fuchtelte er Aufmerksamkeit erregend wild mit seinen Händen umher. Die spitzen Schreie verstummten und der Bär erstarrte und blickte zu ihm herüber. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen, dann stieß der Bär ein bedrohliches Brüllen aus und stürmte auf ihn zu.

Der Mann wusste genau, ein heranstürmender Bär war eine Naturgewalt. Dennoch überkam ihn in diesem Moment eine unglaubliche Ruhe und er besann sich auf sein wahres Wesen. Er blieb standhaft Stehen und hörte auf mit den Armen zu rudern. Stattdessen breitete er sie aus und hieß den Bären im Stillen willkommen, während er dem gewaltigen Tier in die Augen blickte. Der Bär stürmte weiter voran, bis sich sein Blick mit dem des Mannes traf. Ein goldenes Schimmern lag hinter den Augen des Bären, dass eine seltsame Verlockung auf den Mann ausübte.

Nein eine Verlockung war es nicht… Seine Sehnsucht nach ihm selbst, seiner Vergangenheit… die Sehnsucht danach, wie es einmal gewesen war… ob er jemals wieder ein normales Leben führen konnte…?

Da verlangsamte der Bär plötzlich seine Geschwindigkeit, kam wenige Zort vor ihm zum Stehen und erstarrte.

Ja, so war es gut… Er wollte ihm nichts tun… Keiner wollte ihm etwas tun…

Freudig machte der Mann einen Schritt auf den Bären zu, nur um zu erfahren wie sich der Bär mit einem Ruck verspannte, in Abwehrhaltung ging und laut zu knurren begann. Verwundert konzentrierte der Mann seine Gedanken auf sein Volk, an seine friedliche Natur und öffnete sich dem Bären ein zweites Mal, indem er zum nächsten Schritt ansetzte.

Der Bär musste sich ansehen wer er war. Sein Volk bemühte sich seit je her um die Wesen der Natur. Denn schließlich gehörten sie selbst dazu, wie alle Völker Remandors, ja… selbst die neuen Völker gehörten dazu… so war der Lauf der Dinge und es würde immer so sein. Er war in dieses weise Volk geboren worden, er war ein Teil davon… der Bär würde es schon noch erkennen… nein, er musste es erkennen…

Doch zu seinem Schrecken stellte der Bär keineswegs sein abwehrendes Gehabe ein. Stattdessen wurde sein Knurren noch lauter, bis er sich plötzlich mit einem lauten Fauchen abwandte und von der Lichtung in den Wald davon jagte.

Tränen stiegen dem Mann in die Augen, als er den Bären flüchten sah und quälende Verzweiflung machte sich in ihm breit.

Es war zu spät… Es war schon seit langer Zeit zu spät… Er war verflucht… Nein… noch viel schlimmer als das! Was ihm angetan worden war, entbehrte jeglicher Vorstellungskraft… es gab kein Zurück… er konnte nicht entkommen… er hätte es wissen müssen... Egal wie viele Ziilen er zwischen sich und seine Peiniger legte… er konnte dem Unfassbaren nicht entkommen. Es war vorbei! Sein Leben hatte den Sinn verloren…

Schluchzend brach er zusammen, fiel kniend zu Boden und hämmerte seinen Schädel in den matschigen Untergrund, während er seinen Tränen zum ersten Mal seit Jahren freien Lauf ließ und sich die Seele aus dem Leib schrie. Verzweiflung und unendliche Traurigkeit bahnten sich nun endlich, wie schon so lange ersehnt, einen Weg hinaus und ließen den Körper des Mannes erbeben. In einem steten Strom ergossen sich die Tränen auf die durchweichte Wiese der kleinen Lichtung und zogen all das Leid und die Verzweiflung allmählich aus dem Mann hinaus. Nach einem halben Tag wie es dem Mann schien, verebbte langsam das Schluchzen und die Tränen versiegten. Vollkommen geschafft lag er schließlich reglos am Boden und ließ die Kälte des Morgens in seine Gliedmaßen fließen.

„Ähm… geht es Ihnen gut?“

Die leise Frage ließ den Mann erschrocken zusammen fahren und brachte ihn mit Herzrasen im Nu wieder auf die Beine. Die Angst war zurückgekehrt. Panik schoss ihm augenblicklich in alle Glieder und verdrängte die tröstende Kälte, welcher er sich noch eben nur zu gerne hingeben hatte. Dann machte er die Quelle der zaghaften Worte aus und die Erinnerung kam zurück. Aber es war zu spät, die unterschwellige Angst ließ sich nicht erneut vertreiben. Sie blieb, wie ein boshaftes Geisterwesen, dessen Aufgabe noch nicht erfüllt schien.

Vor ihm stand das junge Ding, das junge menschliche Wesen. Die weichen Kurven und die Größe des Körpers ließen es als eine junge Menschenfrau erkennen. Die schlichte, braune Wollkleidung war zum Großteil von der nassen Wiese durchnässt worden und klebte nun an den sanften Rundungen ihres Körpers. Die Kälte hatte anscheinend schon Besitz von ihr ergriffen, wie sich an ihrem zitternden Körper erkennen ließ.

Ja… Menschenfrauen waren empfindliche Wesen… bemitleidenswerte Wesen…

Der Blick des Mannes wanderte zu ihrem Gesicht, über die schlanken, weiblichen Züge, die von einer Zerbrechlichkeit geprägt waren, die ihm den Atem raubte.

Was hatte sie hier draußen verloren? Sonst achteten die Menschen doch so sehr auf ihre Frauen. Alleine durften sie normalerweise noch nicht einmal einen Fuß vor die Tür setzen…

Sein Blick wanderte weiter und blieb an ihren Augen hängen, welche aufmerksam seine Gestalt begutachteten und sein erster Eindruck verflüchtigte sich sofort. So zarte Züge sie auch besaß, ihr Erscheinungsbild wies in Verbindung mit ihren forschenden Augen eine hintergründige Willenskraft auf, wie er sie noch nie zuvor bei einem Wesen wahrgenommen hatte.

Da begegnete sie seinem Blick und plötzlich war es um ihn geschehen! Ihre Braunen Augen bohrten sich durch den dicken Mantel der Angst hinein in sein Innerstes und ließen ihn wohlig erschaudern. Sein Atem stockte als eine Wärme in ihm aufstieg, ihn umspülte und in Besitz nahm, wie noch nie zuvor. Seine Angst ebbte ab, löste sich auf. Seine verkrampften Muskeln lockerten sich, nun nicht mehr absprungbereit. Und die Fröhlichkeit und Stärke, die sich hinter ihrem Blick verbarg, ergriffen von ihm Besitz und führten ihn aus seinem selbst errichteten Gefängnis an die Oberfläche seiner selbst.

Viel zu geschockt von der Heftigkeit seiner Reaktion auf die junge Menschenfrau, brachte er noch immer kein Wort heraus und schnappte stattdessen nach Luft. Als die junge Menschenfrau daraufhin misstrauisch die Augen zusammenkniff und ihre Haltung etwas versteifte, riss ihn das endlich aus seiner Lethargie.

„Ich… ich…“, stockte der Mann zunächst, brachte die nächsten Worte dann aber zusammenhängend, wenn auch mit brüchiger Stimmer hervor. „Ja, mir geht es gut.“

Prompt verwandelte sich auch schon das beginnende Misstrauen der jungen Menschenfrau in unverhohlene Neugier. Einzig ihr gesunder Überlebensinstinkt schien sie noch davon abzuhalten alle Spannung von sich abfallen zu lassen. Noch immer viel zu beschäftigt damit, seine verlorene Selbstbeherrschung wieder herzustellen, schwieg der Mann wieder und veranlasste so die Menschenfrau erneut die ersten Worte zu sagen: „Ich heiße Ajanelle. Ich schulde Euch wohl mein Leben. Dafür habt Ihr meinen Dank.“

Währenddessen musterte sie ihn weiter und versuchte scheinbar aus ihm schlau zu werden. Ihre dankbaren Worte brachten ihn nun endgültig wieder in die Wirklichkeit zurück und abwertend seiner eigenen Leistung gegenüber, setzte er zur Erwiderung an: „Ihr braucht Euch nicht bei mir zu bedanken. Nicht dafür. Ich habe schließlich gar nichts von großer Bedeutung getan.“

„Ach, der Bär hat also einfach so, von ganz allein, von mir abgelassen, ist vor Ihnen stehen geblieben und anschließend in den Wald geflüchtet?“, meinte die junge Ajanelle spöttisch.

„Nun, manchmal geschehen Wunder“, musste der Mann unwillkürlich lächeln.

„Hmmm… Ihr wollt anscheinend nicht drüber sprechen. Auch gut“, zuckte Ajanelle mit den Schultern. „Wie wäre es dann, wenn Ihr mir Euren Namen nennt? Nur damit ich mal erfahre wer mein Retter ist. Es sei denn, Ihr wollt den auch für Euch behalten?“, stellte sie ihm die nächste Frage und ihre Mundwinkel begannen verdächtig zu zucken.

Daraufhin musste er lauthals lachen und hatte das wunderbare Vergnügen zu beobachten, wie die junge Ajanelle von einem Ohr zum Anderen zu grinsen begann und ihr strahlendes Gesicht ihm erneut den Atem raubte.

Oh großes Licht! Was war nur los mit ihm?!

„Ähm… also wie ich heiße…“, versuchte er sich selbst abzulenken, „ich… ich heiße…“

Ja… wie hieß er eigentlich? Wann hatte er zuletzt seinen Namen vernommen? Hatte… hatte er überhaupt einen Namen? Vielleicht hatte er nie einen gehabt? Es war viel zu lange her…

„Sagt bloß, Ihr seid Euch nicht sicher?“, schoss es da auch schon wieder spöttisch aus der Frau hervor. Als sie seine Bestürzung jedoch bemerkte, verschwand das Grinsen und ihr Gesicht verzog sich zu einem nachdenklichen Ausdruck.

„Ihr habt feine Haare…“, redete sie im nächsten Moment offensichtlich auch schon mit sich selbst, „auch wenn sie zottelig sind…“

Mit ihrem Gerede konnte der Mann nichts anfangen, geschweige denn mit ihrem plötzlichen Gesinnungswechsel. Stattdessen wartete er gespannt, worauf sie wohl hinaus wollte.

„Feines Haar…“, überlegte sie weiter, „fei… Feinaar… Ja! Der Name ist schön! Was haltet ihr davon, wenn ich Euch Feinaar nenne?“

Verdutzt über ihren Ideenreichtum viel ihm die Kinnlade herab.

„Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, wenn ich das als ja deute“, lachte sie daraufhin und streckte ihm die Zunge heraus.

„Ihr seid ein ungewöhnliches Wesen, Ajanelle“, meinte der Mann sanft lächelnd.

„Ein Wesen? Sprecht Ihr immer so merkwürdig?“, kam prompt die kesse Antwort.

„Ich weiß nicht, was Ihr meint, Ajanelle.“

„Na, wer spricht denn schon von Wesen? Ich bin eine Frau! Es klingt ja fast so, als stammt Ihr von der anderen Seite der Welt. Nur die Esiew’ reden so!“, lachte Ajanelle vor sich hin, bis ihre Augen plötzlich groß wurden. „Es sei denn…“

Weiter kam sie nicht. Diesmal war es an ihm zu grinsen, als er langsam seine Haarmähne an der linken Seite anhob und sein nahezu fünfzackiges Ohr entblößte. Es hatte die gleiche Form, wie die Blätter des Amalaáchenbaumes. Drei große Zacken, mit jeweils einem Kleinen dazwischen, die sich am Ende allesamt leicht abrundeten. Selbst unter den Esiew’ war diese Form des Ohres äußerst selten und er war seit jeher stolz auf die eigenwillige Form seiner Ohren gewesen. Es hieß, dass junge Esiew’kinder, die mit solchen Ohren geboren wurden zu Großem bestimmt waren. Nicht umsonst stand der Amalaáchenbaum für die Verbindung der Esiew’ mit dem großen Licht und der allmächtigen Weisheit des Lebens.

Ajanelles Reaktion auf den Anblick seiner Ohren, ließ ihn dann doch auflachen. Sie war erst aschfahl geworden und anschließend puderrot angelaufen, während sie sich anscheinend verzweifelt bemühte irgendwelche Worte hervor zu bringen.

„Ich… ich… es tut mir Leid. Ich wollte Euch nicht beleidigen oder…“

„Ist schon gut, Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen“, unterbrach er sie sanft und wartete geduldig, bis sie sich etwas beruhigt hatte.

„Ihr… ihr seid also ein Esiew?“, fragte sie schließlich unsicher. Von ihrer früheren Selbstsicherheit fehlte jede Spur.

„Ja das bin ich. Anscheinend seid Ihr noch nie einem Esiew begegnet, nicht wahr junge Frau?“

„Nein. Es kommt anscheinend nicht gerade oft vor, dass sich Esiew’ in die Nähe der Grenze verirren“, versuchte die junge Ajanelle sich in einem Anflug von Ironie.

„In die Nähe von welcher Grenze?“

Hmmm… er wusste tatsächlich nicht, wo er sich momentan befand. Allein die Tatsache, dass er hier einer Menschenfrau begegnet war, grenzte die Möglichkeiten noch nicht zu sehr ein. Selbst wenn er ihr Aussehen und die unmittelbare Umgebung noch mit einbezog, gab es immer noch mehrere Möglichkeiten.

„Ihr müsst aber ganz schön lange umher geirrt sein, wenn Ihr das nicht wisst. Sagt man nicht von den Esiew’, dass sie sich in Wäldern nie verlaufen würden?“

Damit hatte sie eine empfindliche Stelle getroffen und er lenkte ihre Aufmerksamkeit lieber schnell wieder zurück auf seine Frage: „Man erzählt Vieles, wenn der Tag lang ist. Also, wo befinden wir uns?“

„Und ich bin ein ungewöhnliches Wesen, ja? Ihr seid hier die merkwürdige Person! Das hier ist Lamatas und wir befinden uns etwa einhundert Ziilen entfernt von der Grenze nach Wulvenien.“

An der Grenze von Lamatas zu Wulvenien also… eine Schande… Er hatte gehofft schon eine größere Strecke hinter sich gebracht zu haben. Wenigstens hatte er die Grenze passiert ohne entdeckt zu werden. Wurden die Grenztruppen langsam nachlässig?

Die fragenden Blicke der jungen Menschenfrau ließen seine Gedanken jedoch vorerst verstummen.

„Ich bin schon zu lange unterwegs… da… da kann so etwas selbst unter uns Esiew’ schon manchmal vorkommen“, versuchte er sich schnell eine Ausrede einfallen zu lassen.

„Schon gut. Wenn Ihr es nicht erzählen wollt, dann dränge ich Euch nicht.“

„Ihr seid wahrlich ein ungewöhnliches Wesen, Ajanelle. Auch wenn ihr nicht gerade gut lügen könnt“, meinte der Esiew mit einem Zwinkern und fing an zu Grinsen. „Ich sehe ja, wie Ihr vor Neugier schon fast platzt. Dennoch behalte ich einige Dinge wohl vorerst noch einmal für mich. Im Übrigen könnt Ihr mich aber gerne Feinaar nennen, es ist wirklich ein schöner Name, den Ihr Euch da ausgedacht habt.“

„Findet Ihr tatsächlich?!“, rief die junge Menschenfrau begeistert. „Ich dachte schon, Ihr würdet Euch beleidigt fühlen, dass ich so respektlos war… und… und…“, suchte sie nach Worten.

„Keineswegs, meine liebe Ajanelle. Glaubt Ihr denn ernsthaft ein Esiew würde wegen einer netten Geste… wie sagt ihr Menschen gleich… auf die Barrikaden gehen?“

„Also… Feinaar…“, betonte sie seinen neuen Namen bedeutungsvoll und lachte dann laut auf. „Ihr habt wirklich eine sehr eigentümliche Wortwahl!“

Ein leiser Schrei, aus weiter Ferne, unterbrach jedoch ihren Lachanfall.

„Oh nein. Ich habe meine Eltern ganz vergessen…“, teilte sie dem Esiew mit, während sich ihre Stimmung bemerkbar senkte.

„Ich nehme einfach mal stumm an, dass Ihr Euch nicht im Einvernehmen von euren Eltern entfernt habt?“

„Nein…“, der Esiew musste sich anstrengen ihre kleinlaute Antwort zu verstehen.

„Dachte es mir doch. Ich hatte mich schon gewundert was eine junge Frau so kurz vor der Grenze alleine im Wald zu suchen hat. Sollen wir ihnen entgegen gehen? Ich begleite Euch bis Ihr Euch in Sicherheit befindet.“

„Ich weiß nicht, ob man das wirklich Sicherheit nennen kann…“, murmelte sie, während die Schreie allmählich lauter wurden.

Das löste diesmal einen Lachanfall beim Esiew aus. Dieses kleine junge Menschending war wahrlich mit allen Wassern gewaschen!

„Da müsst Ihr wohl durch, meine Liebe. Aber Kopf hoch, so schlimm wird es schon nicht werden. Sie werden sich doch bestimmt freuen, dass Euch nichts passiert ist, oder?“

„Vielleicht den ersten Moment lang, aber danach werde ich einen Monat lang Hausarrest bekommen oder Ähnliches…“

„Habt Hoffnung, Ajanelle. Aber jetzt lasst uns ihnen erst einmal entgegen gehen. Ganz egal was vorgefallen ist, nichts kann schlimm genug sein, Eure Eltern Euren Tod befürchten zu lassen.“

„Ihr habt doch keine Ahnung. Bei den Esiew’ soll es so etwas ja nicht geben… Eine Zwangsheirat…“, sagte sie traurig, setzte sich aber dennoch in Bewegung und ließ ihn ohne ein weiteres Wort stehen.

Der Esiew rannte ihr sofort nach und ging schließlich auf gleicher Höhe neben ihr her.

Zwangsheirat… Er hatte wirklich keine Worte gefunden, um ihr Mut zuzusprechen. Zwangsheiraten waren eine Sache der Menschen. Er hatte noch nie verstanden, wo der Sinn hinter solch einer Verbindung stand…

Die junge Menschenfrau wollte sich anscheinend nicht mehr unterhalten und so blieb dem Esiew nichts anderes übrig, als schweigsam neben ihr herzugehen und sie sicher zu ihren Eltern zu begleiten.

Die Schreie wurden währenddessen lauter und wenig später verstand man auch schon die ersten Sätze.

„Ajanelle! Wo steckst du?!“

„Bitte, Ajanelle! Deine Mutter ist dem Tode nah vor Sorge um dich! Bitte sag doch was!“

„Ajanelle!“

„Wollt Ihr nicht etwas sagen?“, fragte der Esiew sanft.

„Ja… wäre wohl besser…“, murmelte die junge Ajanelle niedergeschlagen.

„Das wäre es wirklich“, versuchte sich der Esiew mit einem verschmitzten Lächeln und bemerkte freudig ihre zuckenden Mundwinkel.

„Ihr seid unmöglich!“, fuhr sie ihn streng an, konnte ihr Grinsen dann jedoch nicht mehr verbergen. „Tut mir nur einen Gefallen und redet mich nicht so höflich an. Da komme ich mir so merkwürdig vor. Als ob ich schon eine alte Schachtel wäre“, kichernd fuhr sie fort: „Ich heiße Ajanelle und das reicht. Ansonsten bleibt bitte beim Du.“

„Nun gut… Ajanelle. Das Gleiche gilt dann aber auch für mich“, zwinkerte der Esiew ihr zu.

„Mach ich!“, strahlte sie ihn nun wieder an. Holte dann tief Luft und schrie den Suchenden entgegen: „Hier bin ich Papa! Ich komme euch entgegen!“

Zusammen arbeitete sich der Esiew mit der jungen Ajanelle noch einige Zeit durch das dichte Unterholz des Waldes, bis schließlich mehrere Männer am vorderen Rand seines Sichtfeldes auftauchten.

„Ajanelle! Dem großen Licht sei Dank!“, rief ein stämmiger Mann mittleren Alters, während er seine letzten Schritte noch beschleunigte.

Das wird wohl ihr Vater sein.

„Ajanelle, geht es dir gut? Wo hast du…“, beim Anblick des Mannes neben seiner Tochter, verstummte ihr Vater und kam einige Zort vor ihnen zum Stehen.

„Wer seid Ihr?“, frage ihr Vater den Mann barsch und zeigte dabei mit seinem gezogenen Kurzschwert auf ihn. „Ajanelle komm her! Sofort!“

Der restliche Suchtrupp kam nun auch an und umringte Ajanelle und den Mann sofort in einem Halbkreis. Es waren insgesamt fünfzehn Männer im menschlichen Erwachsenenalter. Darunter auch drei ziemlich junge, welche wohl kaum älter waren als die junge Ajanelle selbst. Sie waren auch allesamt bewaffnet. Die meisten trugen Schwerter, zwei Männer waren mit Äxten und Schilden bewaffnet und Einer hielt sogar eine geladene Armbrust auf den Esiew gerichtet.

Für einfache Leute haben sie schon eine reiche Sammlung an Waffen, auch wenn die Qualität der Waffen arg zu wünschen übrig lässt…

„Wer seid Ihr?!“, riss Ajanelles Vater den Esiew aus seinen Gedanken.

„Papa, er hat mir geholfen, du brauchst nicht so vors…“

„Sei still, Ajanelle! Lass mich das machen und komme gefälligst an meine Seite!“, unterbrach ihr Vater Ajanelle, die der lauten Aufforderung lieber nachkam. „Also, ich frage zum letzten Mal! Wer seid Ihr?!“

Hmmm… es war wohl nicht ratsam ihn länger warten zu lassen.

„Herr, mein Name lautet Feinaar. Und ich hatte das Vergnügen Eure Tochter ein Stück des Weges begleiten zu dürfen. Ich bin lediglich ein einfacher Wanderer, der durch die Wälder Lamatas’ zieht“, stellte er sich vor.

„Feinaar? Was ist das für ein Name? Feinaar wer?“, wurde der Esiew von Ajanelles Vater angefahren.

„Ich heiße…“, setzte der Esiew an und murmelte vor sich hin, als er fieberhaft überlegte. „Feines Haar… zotteliges Haar… ah… ich heiße Feinaar Zottar, Herr…?“, ließ er seine Überlegungen in einer Frage ausklingen und hatte das Vergnügen Ajanelle kichern zu hören. Offensichtlich hatte sie sein Gemurmel wie beabsichtigt mitbekommen.

„Ich heiße Daton Traja“, stellte sich Ajanelles Vater vor, während er Ajanelles Kicheranfall missbilligend mit Blicken strafte. „Ich kann jedoch nicht umhin, es als seltsam zu erachten, dass ein Mann der vor Schlamm und Matsch trieft und ohne Gepäck oder Waffen reist, sich als einsamer Wanderer der Wälder vorstellt.“

Ah… das hatte er befürchtet. Ajanelles Vater war keinesfalls ein Dummkopf. Seine Ausrede musste also möglichst glaubwürdig klingen… In seinem momentanen Zustand keine leichte Aufgabe… Aber er hatte sich in den letzten Augenblicken bereits darauf vorbereitet. Ja, das hatte er.

„Herr Traja, ich möchte mich bei Ihnen für meine Unhöflichkeit entschuldigen. Wie Ihr sehr richtig festgestellt habt, bin ich keinesfalls ein einsamer Wanderer der Wälder. Auch wenn, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, mir dies sicherlich wesentlich lieber wäre.“

Mit einem tiefen Atemzug machte er eine kleine Pause und strich sich seine Haare hinter die ungewöhnlich geformten Ohren. Nahezu augenblicklich ging ein Raunen durch die Männer des Suchtrupps und der Esiew sprach lieber schnell weiter: „Ursprünglich bin ich ein einfacher Esiew aus Sheevon. Ich wollte nach langer Zeit mal wieder alte Freunde im Nordwesten von Findallien besuchen. Leider muss ich jedoch zugeben, dass es mir zu dem Zeitpunkt an Geld mangelte und ich mir eine Reise durch Zapeorire nicht leisten konnte. Daher zog ich mit einer Handelskarawane der Menschen los. Nun, um das Glück meiner Reise war es wahrlich nicht gut bestellt. Zunächst versagten uns die Zwerge unsere Durchreise durch Nendra, anscheinend hatte sich der Karawanenführer vor einiger Zeit einmal Ärger mit Zwergen eingehandelt. Worauf hin dann fast die Hälfte der Karawane zurück reiste, um sich einem anderen Führer anzuschließen. Bei dem großen Licht, ich wünschte ich hätte es auch getan. Aber ich bin geblieben. Da es für uns nun keinen anderen Weg mehr gab, zogen wir nun zur Grenze nach Wulvenien.“

Bei den Namen der schwarzen Esiew’! Seid Ihr wahnsinnig gewesen?!“, wurde der Esiew von einem der älteren Männer des Suchtrupps unterbrochen.

„Triad, lass den Esiew zu Ende sprechen!“, fuhr Daton den Mann mit mahnender Mine an. Streitlust blitze kurz in den Augen des etwas älteren Mannes auf, er hielt sich jedoch wieder geschlossen.

„Tja, ich schätze ich muss mir in dieser Hinsicht meine Torheit eingestehen… Zu glauben sich mit einer Karawane durch Wulvenien schleichen zu können, ist sicherlich mehr als nur große Dummheit“, seufzte der Esiew mit erschöpfter Miene. „Die Handelskarawane war inzwischen stark geschrumpft. Wir zählten nur noch knapp fünfhundert Köpfe. Frauen mit ihren Kindern, alte Leute… alles einfache Menschen, die sich keine teuren Zapeorire leisten konnten und verzweifelt eine Möglichkeit suchten wieder nach Hause zu kommen. Es gab nur fünfzig bewaffnete Männer, die den Tross schützen sollten. Tja, wie Ihr es Euch bestimmt schon gedacht haben mögt, wir wurden überfallen. Irgendwelche Banditen, aber bestimmt Hunderte an der Zahl.“

„Diese verfluchten Satzu! Das dreckige Pack hat dafür gesorgt, dass die Reisen durch Wulvenien, egal wie nah an der Grenze gelegen, beinahe genauso teuer geworden sind, wie durch die Zapeorire, worauf die arroganten Zauberer und Fürsten ihre Steuersätze hoch halten“, mischte sich Triad erneut ein.

Satzu? Und grad hatte er noch etwas Anderes erwähnt... Von wem sprach dieser Mensch? Für den Moment war es wohl besser nicht zu fragen, dass würde nur weitere Aufmerksamkeit auf ihn ziehen.

„Mensch Triad, jetzt halt deine Schnauze! Ich will wissen, ob ich dem Esiew trauen kann!“, machte sich Daton wütend Luft und richtete seine Aufmerksamkeit anschließend wieder auf Feinaar. Die wütenden Blicke von Triad ignorierte er gepflegt.

Dann soll ich wohl weitermachen.

„Wer es war weiß ich nicht, jedenfalls überrannten sie den Geleitschutz der Karawane, als ob es ihn nie gegeben hätte und machten sich daran zu morden und zu vergewaltigen… Ich erspare Euch die Einzelheiten… Ich… ich bin mit einer kleinen Gruppe von Überlebenden vorerst entkommen. Aber nun ja… Ihr Menschen seid nun mal Menschen… Esiew’ sind in Waldgebieten wesentlich ausdauernder als Ihr Menschen. Anfangs versuchte ich so viele wie möglich am Leben zu halten, aber wir wurden verfolgt. Zwei Tage schafften wir es die Distanz zu unseren Verfolgern zu halten, doch schließlich konnten die Menschen nicht mehr und brachen zusammen. Es dauerte keinen halben Tag, da hatten uns die Mörder eingeholt und fielen über die nun völlig erschöpften letzten Überlebenden her und metzelten sie nieder. Mir blieb nichts anderes über, als von da an alleine zu fliehen.“

„Und wie seid Ihr dann bis nach Lamatas gelangt?“, verlangte Daton noch zu wissen.

„Tja, der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Ihr kennt die Geschichten um Wulvenien. Auch wenn es für uns Esiew’ nahezu unmöglich ist, sich zu verirren, so musste ich dennoch ständig auf der Hut sein nicht erneut entdeckt zu werden. Leider hatte ich damit wesentlich weniger Erfolg, als ich gehofft habe. Wenn ich Glück hatte, verging mal eine Woche ehe ich erneut von irgendwelchen Wegelagerern aufgegriffen wurde und wieder Tage damit verbrachte sie abzuhängen. Leider führte mich dies stets weiter ins Landesinnere von Wulvenien. Es vergingen viele Monate und ich weiß auch nicht mehr genau ab welchem Zeitpunkt, aber irgendwann verlor ich vor Erschöpfung schlicht weg die Orientierung und stolperte schon fast blind vorwärts in der Hoffnung jemals wieder freundlichen Boden unter den Füßen zu haben. Ich habe nicht einmal bemerkt, wie ich die Grenze nach Lamatas überschritten habe und als ich Eure Tochter Ajanelle traf, war ich einfach unglaublich froh, nach so langer Zeit der Einsamkeit, wieder auf ein gut gesinntes Wesen zu treffen.“ Bedeutungsvoll pausierte der Esiew noch für einen Moment und fügte dann seine letzten Sätze mit trauriger Stimme hinzu: „Ich glaube es sind schon drei Jahre vergangen, seit ich mich aufmachte. Wahrscheinlich werde ich von meinen Freunden und meiner Familie schon längst für tot gehalten. Die Monate… nein Jahre, die ich in Wulvenien verbrachte werde ich nie vergessen. Die Zeit wird mir wie ein ewiger Albtraum stets im Gedächtnis bleiben. Aber Ihr könnt mir glauben Herr Traja, zu keinem Zeitpunkt habe ich Eurer Tochter je etwas Schlechtes oder… wie sagt ihr Menschen doch gleich… Unschickliches antun wollen.“

Die Geschichte war als Ausrede genial. Es stimmte alles… seine Kleider waren ruiniert, ließen ihre großartige Qualität aber noch erkennen. Einfache Menschen wussten in der Regel auch nichts über die Besonderheit seiner Esiew’ohren. Sein Status würde daher im Verborgenden bleiben. Sie mussten ihm einfach glauben. Ja, dessen war er sich sicher.

Daton musterte ihn währenddessen mit finsterer Mine. Nickte aber schließlich und lockerte seine Haltung.

„Für den Anfang glaube ich Euch, Herr Zottar.“

Es hat geklappt! Ein Esiew der log… was hatte man bloß aus ihm gemacht...?Für den Moment war es egal…

„Ihr solltet stolz auf Euer Überleben dieser schrecklichen Jahre sein und zugleich möchte ich mich für mein Misstrauen entschuldigen. Nur werdet Ihr sicher verstehen, dass ich jeden Fremden der sich plötzlich in der Nähe meiner Tochter befindet, lieber einer genauen Prüfung unterziehe, ehe ich ihm mein Vertrauen schenke.“

„Selbstverständlich, Herr Traja.“

„Aber beim großen Licht höchst persönlich, du musst zäher als jedes verdammte Unkraut Remandors sein, damit du drei Jahre allein in Wulvenien überleben konntest!“, brüllte erneut der ältere Mann namens Triad, stapfte mit groben Schritten auf den Esiew zu und streckte ihm seine Hand entgegen. „Ich hoffe es macht dir nichts aus, wenn ich dich beim Vornamen anspreche, wir sind hier im Dorf alle beim Du. Ich bin Triad Jäger und wie mein Name tatsächlich sogar schon sagt, einer der Jäger des Dorfes. Freut mich einen Überlebenskünstler wie dich, ach was rede ich, einen Helden der Wulvenien überlebt hat, kennen zu lernen!“

Feinaar brauchte einen Augenblick den plötzlichen Redeschwall zu verarbeiten, nahm dann jedoch die angebotene Hand entgegen.

„Keine Sorge, wir Esiew’ halten von Titeln nicht viel und es freut mich gleichermaßen dich kennen zu lernen, Triad.“

Das zauberte ein Grinsen auf das Gesicht des älteren Mannes, was ihn gleich dazu bewog den Esiew an seine Brust zu ziehen ihm auf den Rücken zu klopfen und mit lauter Stimme fortzufahren: „Na, dann herzlich willkommen in Grenzwald! Wir sollten jetzt besser mal zusehen, dass wir zurückkommen. Du wirst auch neue Kleidung brauchen, in den nassen Fetzen würde bei dem Wetter ja selbst ein Ochse erkranken. Aber das wird bestimmt schon Daton übernehmen.“ Damit wandte Triad sich auch schon ab. „Dann lasst uns jetzt mal von hier verschwinden. Wir haben lange genug nichts für unser Essen getan. Abmarsch Männer!“

Und so ließ Triad, Feinaar ziemlich verdutzt stehen und marschierte scheinbar in Richtung Dorf davon. Tatsächlich folgte ihm auch der Trupp, für sie schien die Sache mit dem Esiew erledigt zu sein. Auch wenn vor allem die drei jungen Männer dem Neuankömmling noch ein paar neugierige Blicke zuwarfen.

Daton Traja war mit Ajanalle noch stehen geblieben und wandte sich nachdem Triad außer Hörweite war an Feinaar: „Ihr müsst Ihm sein Verhalten nachsehen. Im Großen und Ganzen ist er ein guter Mensch, nur ein bisschen hitzköpfig und… na ja, sagen wir mal einfach gestrickt. Das er gerne das Dorf herumkommandiert, obwohl ich der Dorfsprecher bin, macht unser Verhältnis nicht immer einfach.“

„Ihr braucht Euch nicht an seiner Statt bei mir entschuldigen und nennt mich bitte auch Feinaar. Von Titeln halte ich nun wirklich nicht viel und in meinem jetzigen Zustand komme ich mir eher elendig als nobel vor.“

„Nun denn, Feinaar, kommt erst mal mit uns ins Dorf. Zumindest trockene Kleidung sollten wir für dich auftreiben können“, winkte Daton den Esiew an seine Seite, als er sich auch schon in Bewegung setzte.

„Papa, ich muss dir jetzt aber wirklich etwas Wichtiges erzählen!“, begann Ajanelle, bis Daton ihr auch schon dazwischen fuhr, „Feinaar hat mich…“

„Du hast erst mal gar nichts Wichtiges zu erzählen Ajanelle! Was fällt dir überhaupt ein, einfach wegzulaufen? Bei den Namen der schwarzen Esiew’, du weißt welche gefährlichen Monster so nah an der Grenze durch die Wälder irren! Deine Mutter und ich haben Todesängste um dich ausgestanden!“, machte sich Daton wütend Luft.

Da war sie schon wieder... Diese äußerst seltsame Redensart der Menschen. Er hatte noch nie davon gehört…

„Aber Papa, ich…“

„Schluss jetzt, du kannst froh sein, wenn dich deine Mutter nicht zu Tode schuften lässt, als Strafe für dein ungehöriges Verhalten! Ich will vorläufig kein Wort mehr von dir hören Mädchen!“

Die Menschen…

Vorläufig blieb dem Esiew nichts anderes übrig, als dem jungen Menschending und ihrem Vater zu folgen. Ohne neue Kleidung wollte er nur ungern weiter. Auch wenn ihm insgeheim die Angst noch immer im Nacken saß.

Nein! Hier würde ihm nichts mehr passieren. Er war in Sicherheit… oder?

Ohne wirklich zu einem Schluss zu kommen, ging er letzten Endes weiter den beiden Menschen hinterher. Es gab viele Zufälle im Leben, aber die Wenigsten hatten keine Bedeutung. Auch wenn es die Esiew’ nicht allgemein taten, seine Familie hatte seit je her an diese Wahrheit geglaubt.

Oh Großes Licht, du hast für diesen Zufall gesorgt, nicht wahr? Und er war in Sicherheit, oder…? Oder…?

Er fing schon wieder damit an. Er musste damit aufhören!

Zumindest…

vorerst…

Es waren drei Monate vergangen, inzwischen war es Sommer. Es war der vierzigste Tag im Monat Junidas, ein Zulnar. Der einzige Ruhetag der zehntägigen Woche. Zumindest war es so weit er sich erinnern konnte immer so gewesen und er hatte nicht vor seine Gepflogenheiten zu ändern. Manchmal sehr zu dem Ärgernis der Menschen im Dorf, in dessen Obhut er sich befand.

Der Mann, der in Wirklichkeit ein Esiew war und inzwischen auf den Namen Feinaar hörte, saß auf dem Gipfel des kleinen Hügels der das Dorf Grenzwald südöstlich vom Wald und all dessen Gefahren abschirmte. Die Sonne schien schon seit zwei Wochen unermüdlich auf die unmittelbare Umgebung herab und die Bauern des Dorfes hatten allmählich Sorge um ihre Ernte. Über dem ganzen Dorf lag eine unglaubliche Hitze, welche kaum auszuhalten war und der Esiew war froh endlich eine Pause zu haben.

Die Menschen des Dorfes sahen es aber anscheinend anders. Sie waren selbst heute mit den Bewässerungsgräben ihrer Felder beschäftigt, die sie durch den niedrigen Wasserstand des angrenzenden Flusses noch um einiges tiefer ausheben mussten. Sogar die Frauen mussten teilweise mit anfassen. Das Leben weit abseits der großen Festungen und Städte verlangte den Menschen wahrlich einiges ab. Sollte die Ernte schlecht ausgehen, würde das Dorf hungern müssen. Das war auch Feinaar klar. Dennoch, gewisse Grundsätze mussten gewahrt bleiben. Das große Licht würde kein Wesen einen qualvollen Tod sterben lassen, nur weil man einen Tag für den eigenen inneren Frieden nutzte.

Innerer Frieden?

Die Ironie in dem Gedanken ließ den Esiew verächtlich schnauben. Von Frieden konnte keine Rede sein. Noch immer wurde er Nacht um Nacht stets von Albträumen geplagt. Der quälende Gedanke, dass die Monster seiner Vergangenheit ihn bald einholen würden, wurde immer drängender. Gleichzeitig musste Feinaar zugeben, sich von Woche zu Woche in diesem Dorf wohler zu fühlen. Woran das wohl lag…

Ja, an wem lag es wohl…Ajanelle…

Es war ja nicht so, dass er nicht schon genug Probleme hätte, aber dieses junge Menschending war ihm mit der Zeit sehr ans Herz gewachsen. Zu sehr, als dass er das Dorf bald verlassen würde, musste er sich eingestehen.

Was hatte das große Licht nur mit ihm vor…?

Feinaar konnte sich noch genau an den Tag vor drei Monaten erinnern, als er auf Ajanelle im Wald getroffen war. Ja, er hatte sie vor einem wilden Bären gerettet und aus Dank hatte man ihn in der Familie Traja willkommen geheißen.

Er wusste noch genau, wie geschockt Ajanelles Vater im Wald reagiert hatte, als Ajanelle sich ihm gegenüber endlich für einen Moment durchgesetzt hatte und ihm alles erzählte. Was Ajanelles Mutter betraf, so war sie regelrecht in Tränen ausgebrochen, als sie von ihrem Mann erfuhr, dass ihre Tochter nur um Haaresbreite einem Bären entkommen war. Letzten Endes hatte Ajanelle tatsächlich Recht behalten und sich einen Monat lang nicht aus dem Haus wagen dürfen. Das man ihr auch noch alle Reinigungsaufgaben des Hauses für den Monat zugewiesen hatte, setzte damals dem Ganzen die Krone auf. Feinaar musste schmunzeln, als er daran dachte, wie entsetzt sie damals geguckt hatte, bis sie ihren Blick auch schon nahezu strafend auf ihn gerichtet hatte.

Unter ihrem strafenden Blick hatte sich der Esiew doch tatsächlich äußerst unwohl in seiner Haut gefühlt. Das war etwas, dass noch nie zuvor ein Mensch bei ihm geschafft hatte. Ajanelle besaß irgendetwas, das ihn in ihren Bann schlug. Nun, sie war ein Wildfang und raubte mit ihrer unbekümmerten Art und ihren zugleich ständig zunehmenden weiblichen Reizen jedem jungen Mann im Dorf den Atem. Aber da war noch mehr. Etwas, dass selbst einem Esiew die Sprache verschlagen konnte. Dieses goldene Glitzern in ihren Augen. Die unglaubliche Ausstrahlung von Frieden und Wärme, die sie verströmte.

Ja, das war es. Danach sehnte er sich schon wer weiß wie lange… Aber würde so etwas gut gehen? Er war noch immer auf der Flucht, oder? War er vielleicht doch entkommen…?

In dem Wirrwarr aus unterdrückten Gefühlen spielte er unterdessen mit seinem wertvollsten und einzigen Besitz, den er stets mit seinem Leben beschützt hatte. Es war eine kleine hölzerne Flöte aus dem roten, mit bronzenen Strähnen durchzogenen, Holz eines Amalaáchenbaumes. In all den Jahren hatte er es dieser kleinen Flöte zu verdanken, dass er nicht wahnsinnig geworden war. Die kleine Flöte erinnerte den Esiew an seine Heimat und erfüllte ihn zugleich mit Stolz. Das Holz des Amalaáchenbaumes war von einem unschätzbaren Wert. Da die Amalaáchenbäume die Verbindung der Esiew’ mit dem großen Licht repräsentierten, standen sie sowohl unter dem Schutz des ganzen Esiew’volkes, als auch unter dem Schutz der mächtigsten Baumgeister ganz Remandors, den Schetala. Die wenigen Wesen, denen die Schetala über die Jahrtausende hinweg einen winzigen Teil ihres Baumes geschenkt hatten, konnte man an zwei Händen abzählen. Aber der Esiew war einer von ihnen.

Großes Licht, wozu hast du mir damals ein solches Geschenk gemacht…

„Feinaar!“, riss eine junge Männerstimme den Esiew aus seinen Gedanken.

Von hinten kam ein junger Mann mit freiem Oberkörper auf ihn zu, dem der Schweiß regelrecht in Strömen vom Körper lief. Er hatte die gleichen braunen Augen wie Ajanelle, einzig das goldene Schimmern fehlte ihnen. Sein Gesicht, oben vom braunen Haar der Trajas umrahmt, glänzte Schweiß getränkt im Licht der Sonne und offenbarte freundliche Züge, wenn auch etwas angespannt von der harten Arbeit auf den Feldern. Dennoch schien der junge Mann gute Laune zu haben.

„Hey Anton, macht ihr Pause?“, begrüßte Feinaar den Neuankömmling.

„Ja, ganz genau, zumindest über die Mittagszeit hinweg. Jetzt noch länger weiter zu arbeiten wäre Selbstmord“, streckte sich Anton bei ihm angekommen und pflanzte sich dann neben dem Esiew auf den Boden.

„Wo ist denn Ajanelle?“, versuchte sich Feinaar unschuldig und wünschte sich gleich darauf er hätte nicht gefragt.

„Ah, sieh mal einer an. Entwickelst du etwa plötzlich Interesse an meiner Schwester, he?“, grinste Anton den Esiew frech an, fuhr dann aber fort. „Sie wäscht sich gerade, sie kann dir ja schlecht mit Dreck im Gesicht gegenüber treten. Ajadaka übrigens auch.“

Bei Feinaars Gesichtsausdruck prustete Anton vor Lachen los und klatsche mit der Hand auf den Boden, was die Züge des Esiew nur noch mehr verdunkelte.

Na besser konnte es ja nicht mehr werden, fluchte Feinaar still in Gedanken. Das Ajanelle sich ihm gegenüber nur von ihrer besten Seite zeigen wollte, versetzte ihn nahezu in einen euphorischen Glückszustand, die Tatsache, dass es Ajadaka jedoch genauso ging, brachte Feinaar schnell wieder auf den Boden zurück. Ajadaka war Ajanelles jüngere Schwester und hatte einen absoluten Narren an ihm gefressen, wie so ziemlich jede andere noch freie Frau im Dorf. Dabei spielte es noch nicht einmal eine Rolle, ob sie sich schon im heiratsfähigen Alter befanden oder bereits darüber hinaus waren. Sehr zu seinem Leidwesen, weswegen er nahezu ständig von einer oder mehreren Frauen gleichzeitig umschwärmt wurde und noch dazu die neidischen und teilweise hasserfüllten Blicke der jungen Männer des Dorfes ertragen musste.

Anton bildete da eine Ausnahme, er war Ajanelles und Ajadakas älterer Bruder und hatte es sich viel mehr zum Ziel gesetzt, Feinaar mit seiner ungewöhnlichen Lage regelmäßig aufzuziehen.

Feinaar wusste selbst nicht wirklich wie er in diese unglückliche Situation hineingeraten war. Nach seiner Ankunft im Dorf war er zunächst misstrauisch beobachtet worden und nur nach und nach hatten die Dorfbewohner ihre Scheu vor ihm verloren. Auch die Tatsache, dass er zur Haltung eines jeden Tieres wunderbare Ratschläge geben konnte, sich die Tiere selbst, aber unter größten Anstrengungen möglichst vom ihm fern hielten, wurde mit der Zeit einfach hingenommen. Von dem Tage an hatte sich einige Zeit nichts getan, bis sich dem Esiew, außer Ajanelle, dann auch langsam einige andere Frauen genähert hatten. Von da an ging es Schlag auf Schlag und nun fand sich Feinaar in einem unachtsamen Moment nur zu schnell von den vielen weiblichen Menschendingern umringt und von Fragen durchlöchert. Der einzige Ausweg war die Gesellschaft eines männlichen Menschen, dass schien die Frauen davon abzuhalten sich ihm zu nähern. Bis auf Ajanelle, worüber er recht glücklich war, aber eben auch Ajadaka, was dazu führte, dass er Ajanelles Gesellschaft nicht vollends genießen konnte.

„Tja mein Freund, du siehst einfach zu gut aus für die normalen dörflichen Verhältnisse einfacher Menschen“, zwinkerte ihm Anton amüsiert zu, als er sich von seinem Lachanfall erholt hatte.

„Sehr witzig. Wirklich sehr witzig!“, antwortete Feinaar gereizt und Antons Mundwinkel zuckten verdächtig. Wirklich übel nehmen konnte er es ihm nicht. Anton war so ziemlich das, was am ehesten einem besten Freund gleichkam. Einzig seine lästigen Albträume und die bruchstückhaften Erinnerungen an seine qualvolle Vergangenheit ließen nicht zu, dass er den letzten Schritt machte und sich Ajanelle und Anton gegenüber vollends preisgab.

„Tarlas ist im Moment nicht gerade gut auf dich zu sprechen. Midra stellt ihm in letzter Zeit wohl nur noch Fragen über dich. Das treibt den armen Kerl in den Wahnsinn.“

„Auch das noch…“, seufzte Feinaar.

„Du sagst es!“, lachte Anton bereits wieder.

Tarlas war Triads Sohn und ein recht streitlustiger Geselle. Bisher hatten es die jungen Männer noch recht gut hingenommen, dass Feinaar vorerst die Hauptattraktion des Dorfes war. Aber nun hatte er Tarlas gegen sich...

Das werden wohl ein paar lästige Tage… So ein Mist, dachte Feinaar.

„Sag mal Anton, wieso hast du so augenscheinlich kein Problem mit mir? Ich meine, so ziemlich alle von euren Frauen fliegen im Moment auf mich und auch wenn ich nichts dafür kann… Gibt es Keine die dich interessiert? Ehrlich gesagt verwundert es mich, dass du noch nicht verheiratet bist.“

„Hmmm… wie soll ich sagen… Kennst du das Gefühl, dass du dich irgendwo nicht wirklich zu Hause fühlst? Irgendwie glaube ich, dass noch etwas ganz Anderes auf mich wartet. Ich kann mir einfach nicht vorstellen mein Leben als Bauer zu verbringen.“

Feinaar staunte nicht schlecht über die Tiefgründigkeit der Gedanken seines Freundes.

„Meinst du nicht, dass du dir so langsam darüber klar werden solltest? Ich hätte nie vermutet, dass du solche Gedanken hegst, was wird da erst deine Familie zu sagen?“

„Du sagst es Feinaar. Aber was soll ich machen, mein Vater wird mir dergleichen niemals erlauben. Er rechnet fest damit, dass ich Bauer werde und in seine Fußstapfen trete. Ach, was sage ich, dass ist für ihn längst beschlossene Sache.“

„Also lebst du lieber unglücklich in den Tag hinein?“, fragte ihn der Esiew bedeutungsvoll.

„Unglücklich? Nein… zumindest solange nicht, bis ich dich mit Ajanelle zusammengebracht habe. Solange werde ich schon noch meinen Spaß haben“, sagte Anton mit einem Grinsen im Gesicht.

„Was unterstellst du mir eigentlich ständig? Ich… ich habe überhaupt keine unlauteren Absichten deiner Schwester gegenüber“, versuchte sich der Esiew zu verteidigen.

„Ach was, und wieso wirst du dann knallrot im Gesicht? Wusste ja gar nicht das Esiew’ auch erröten“, lachte Anton aus vollem Hals.

„Von wegen, ich werde überhaupt nicht rot…“, sprach der Esiew zunächst, musste zu seiner Scham dann jedoch das Gegenteil an sich feststellen und brach lieber ab, was Anton einen weiteren Lachanfall bescherte. So kalt hatte es den Esiew zuletzt in seiner Kindheit erwischt, der in diesem Moment am liebsten im Boden versunken wäre.

„Keine… keine Sorge“, brachte Anton schließlich mit Mühe wieder heraus. „Ich werde es niemanden erzählen, du kannst mir vertrauen. Noch vor ein paar Monaten hätte ich nie gedacht, vielleicht mal einen Esiew als Schwager zu haben.“

„Schwager? Gehst du nicht langsam etwas zu weit?“, meinte der Esiew noch immer puderrot im Gesicht.

„Wieso? Ist der Gedanke so abstoßend mein Schwager zu sein?“, scherzte Anton, wurde bei der gequälten Miene des Esiew jedoch schnell wieder ernst. „Tut mir Leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

„Du bist mir nicht zu nahe getreten“, lächelte der Esiew halbherzig. „Es ist nur… Ich und eine Menschenfrau? So verrückt wie es klingt, seit dem zweiten Tag bei dem ich bei euch bin, denke ich darüber nach. Aber ich bin immer noch nicht zu einem Entschluss gekommen, ob so etwas wirklich für mich möglich ist.“

„Seit dem zweiten Tag?“, fragte Anton mit spöttischer Mine. „Und ich dachte, ich müsste für Ajanelles Glück kämpfen.“

Das brachte den Esiew nun doch zum Lachen.

„Manche Esiew’ spüren recht schnell, wenn sie ihrem Gegenstück begegnen…“, versuchte der Esiew sich zu erklären. „Du bist ein gutes Wesen, Anton… Ein guter Mensch… ein guter Mann und Ajanelle ist all das, was ich mir seit Ewigkeiten gewünscht habe. Ich mag eure Familie, wenn ich ehrlich bin, komme ich sogar mit eurer quirligen kleinen Schwester aus“, lächelte der Esiew sanft. „Es gibt nur ein paar Dinge aus meiner Vergangenheit, die… nun, ich bin mir nicht sicher, ob sie mich eines Tages einholen… Wenn sie es tun, dann will ich so weit wie nur irgend möglich von hier entfernt sein… Ich… ich könnte mir nicht verzeihen, wenn euch etwas zustoßen würde“, endete der Esiew schließlich, während Anton seinen Freund nachdenklich musterte.

„Weißt du Feinaar, bist du dann nicht genauso wie ich?“

„Was meinst du?“

„Na, gerade hast du mir noch zu denken gegeben, dass es langsam Zeit wird eine Entscheidung zu treffen. Irgendwann werde ich vielleicht nie mehr von hier wegkommen. Bei dir ist eher das Umgekehrte der Fall. Du bist so sehr mit deinen inneren Dämonen beschäftigt, dass du dich nie niederlassen wirst, wenn du ständig nur an deine Vergangenheit denkst. Ich weiß nicht was dir passiert ist, aber du hast mehrere Jahre in Wulvenien überlebt! Wofür, wenn du dir ein richtiges Leben nie wieder zugestehst? Wo würde da der Sinn deines Lebens bleiben? Glaubst du nicht an das große Licht? Das es einen Grund gibt, wieso du auf Ajanelle im Wald gestoßen bist? Ich, für meinen Teil, weiß nur, wie abgöttisch Ajanelle sich in dich verguckt hat und sobald man dich ein Bisschen besser kennt, ist es so offensichtlich, dass es dir nicht anders geht, dass man fast an ein schlechtes Gauklerstück denkt“, sagte Anton im vollem Ernst. „Ich kann dir deine Entscheidung nicht abnehmen und ich weiß auch nicht was dir zugestoßen ist, aber ist es nicht besser manchmal im Hier und Jetzt zu leben?“

Der Esiew schaute in Richtung des Waldes, über die vielen grünen Baumkronen hinweg und dachte über Antons Worte nach.

Anton meinte es gut, aber er wusste im Grunde nichts von ihm. Wenn es bloß so einfach wäre… Er selbst wusste bis heute nicht seinen eigenen Namen. Seine Erinnerung wollte einfach noch immer nicht zurückkommen. Er war gelaufen… Ja, daran erinnerte er sich. Er war gelaufen und gelaufen. Er war regelrecht um sein Leben gerannt, aber er hatte diese Monster die ihn jagten nie abhängen können. Doch dann war er auf Ajanelle getroffen… Ajanelle… liebte er sie? Oder hatte seine Zuneigung ihr gegenüber andere Gründe… Seit dem Moment ihrer ersten Begegnung, waren die Monster verschwunden. Sie jagten ihn nicht mehr. Aber was wenn sie plötzlich wieder auftauchen würden? Manchmal waren sie noch immer da, oder? Doch, er war sich sicher… manchmal spürte er noch immer ihre Gegenwart. Nur um ein Vielfaches abgestumpft. War er verrückt geworden? Hatte er einfach nur Angstzustände? Sicher war er sich auch dessen nicht. Aber was wenn Anton Recht hatte? Sollte er einen Versuch wagen? Ajanelle und den anderen Menschen könnte etwas passieren… Nein, so durfte er nicht denken… Ah… es war zum wahnsinnig Werden…

„Ab morgen werde ich wieder auf den Feldern mithelfen. Bis zum Erntefest treffe ich eine Entscheidung, dass scheint mir im Moment das Beste zu sein“, antwortete der Esiew schließlich.

„Bis zum Erntefest? Na das nenne ich doch mal den ersten Erfolg versprechenden Beschluss! Ich selbst hatte mir, trotz aller Probleme, vorgenommen im Frühjahr nächsten Jahres los zu ziehen. Wenn du sie heiraten solltest, werde ich natürlich bis zur Heirat noch bleiben. Mein Vater wird mich dann wahrscheinlich auch eher gehen lassen, wenn er einen neuen Sohn hat“, versuchte Anton den Esiew direkt wieder zu necken, was dieser jedoch diesmal direkt überging: „Also ist das doch schon beschlossene Sache? Das du eines Tages los ziehen wirst?“

„Ja, das ist es. Ich bin wahrscheinlich der Einzige, der so eigensüchtig ist und aus einem solchen Grund das Dorf verlassen wird“, seufzte Anton. „Ich bin wirklich froh, dass du aufgetaucht bist. Wenn nicht… vielleicht wäre mein Entschluss dann doch noch nicht so sicher.“

Auf seltsame Weise berührt lächelte der Esiew und blickte erneut über das Blätterdach des Waldes hinweg, als sich plötzlich mit einem Ruck ein paar Hände über seine Augen legten und Feinaar für einen Moment in Abwehrhaltung ging, ehe er merkte um wen es sich handelte.

„Ajanelle, du hast mich fast zu Tode erschreckt!“, rief er entrüstet.

„Ach man, woher wusstest du, dass ich es war?“, seufzte Ajanelle und tänzelte dabei um den Esiew herum, um in richtig ansehen zu können.

„Ich… ich…“, Feinaar versagte plötzlich die Sprache, als sich Ajanelle in sein Blickfeld schob.

Mein großes Licht, ist sie schön! Staunte Feinaar.

Sie trug ein einfaches weißes Kleid, welches im seichten Wind des Sommertages sich sanft an ihren Körper schmiegte und dem Esiew so einen Hauch ihrer langen Beine und ihrer wohlgeformten Hüfte preisgab. Oben war das Kleid um die Brust eng anliegend und deutete eine Oberweite an, die für ihre schlanke Figur fast schon zu groß erschien. Ihre langen glatten Haare fielen ihr sanft über die Schultern und das dunkle Braun ihrer Haare strahlte warm im Sonnenlicht. Dabei rahmte es sanft ihre weiblichen, zerbrechlichen Züge des Gesichts ein, die doch so im Gegensatz zu ihrem Naturell standen. Feinaars Blick wanderte über ihre sinnlichen Lippen, die zu einem eingeschnappten Schmollmund verzogen waren, über ihre zierliche Nase und blieb an ihren dunkelbraunen Augen hängen. Sie funkelten so vergnügt wie immer und manchmal ließ sich für den Bruchteil eines Lidschlags der goldene Schimmer erahnen, der sich stets dahinter zu verbergen schien. Wie in Trance suchte er verzweifelt nach Worten und schnappte doch mehr nach Luft, als dass er Worte heraus brachte: „Ich… ich hab es einfach gefühlt. Mein… mein Körper erinnert sich an deine Berührungen.“

Die wenigen Worte ließen sich leider nur zu gut missverstehen und sorgten dafür, dass Ajanelle rot wie eine Tomate anlief und sich verlegen abwandte, ehe Feinaar seinen Fehler bemerkte.

„Ah, ich meinte das nicht so… Also… ich… bei den Esiew’ ist das anders…“, suchte Feinaar erfolglos nach Worten. Was lediglich dafür sorgte, dass nun auch er rot anlief und Ajanelles Farbton gar noch ein etwas intensiveres Rot annahm.

„Tja, da ihr Beiden, ja nicht all zu lange gebraucht habt, um meine Anwesenheit komplett zu vergessen, verschwinde ich jetzt mal besser“, mischte sich Anton grinsend ein und ließ sowohl Ajanelle als auch Feinaar erschrocken zusammen fahren.

Feinaar wäre am liebsten im Boden versunken vor Scham. Er hatte Antons Anwesenheit tatsächlich vollständig verdrängt. Anton war inzwischen aufgestanden und machte schon die ersten Schritte in Richtung Dorf, als er sich noch ein letztes Mal umwandte: „Ach und Ajanelle, von wegen Berührungen, ich glaub es meinem Freund dem Esiew ja sofort, aber bitte halte dich ein Bisschen zurück, ja? Wir wollen ja nicht, dass du schwanger wirst bevor ihr Beiden geheiratet habt, nicht wahr?“, zwinkerte Anton Ajanelle zu und grinste von einem Ohr zum Anderen.

„Anton! Verschwinde gefälligst und behalte deine dreckigen Kommentare für dich, sonst erzähle ich Tarlas, dass du dich an Midra heran machst!“, rief Ajanelle empört.

Oh großes Licht, nein! Bin ja schon weg Schwesterherz!“, lachte Anton aus voller Brust und rannte bereits den Hügel herunter.

„Mein Bruder kann ein verdammter Mistkerl sein...“, murmelte Ajanelle, was Feinaar nur zu gerne aufnahm, um gleich darauf vom Thema abzulenken.

„Wie Recht du damit hast, Ajanelle! Aber sag mal, wo ist deine Schwester? Anton hatte angedeutet, dass ich mich eventuell verstecken müsste…“

„Oh, mein großes Licht, Ajadaka hab ich ganz vergessen!“, rief Ajanelle erschrocken und griff bereits nach seiner Hand. „Komm mit, wir müssen hier weg!“

Daraufhin ließ Ajanelle auch gar nicht mehr mit sich verhandeln, riss Feinaar auf die Füße und zog ihn hinter sich her in Richtung Wald. Vollkommen eingenommen von ihrer vor Leben sprühenden Natur, ließ sich Feinaar einfach treiben und rannte Ajanelle hinterher.

Was hatte er schon zu verlieren? Bis zum Erntefest war noch Zeit. Solange konnte er doch wenigstens die Gegenwart genießen, nicht wahr?

Oder…?

Doch… das konnte er…

Zumindest… noch ein paar Tage…

Dachte er im Stillen und tauchte hinter Ajanelle in den kühlen Schatten des Waldes ein.

Es war wirklich ein schöner Tag…

Der Sommer war vergangen, ebenso wie die unglaublich trockene Hitze, die über dem Dorf geherrscht hatte. Für die Bauern war der Herbst in diesem Jahr gar einer Erlösung gleichgekommen. Sie hatten die Ernte aufgrund der Wetterlage zum größten Teil schon früher einholen müssen als üblich. Die Sommermonate hatten jedoch trotz allem kein Erbarmen gezeigt. Die Hitze im Junidas und Julmas war nahezu unerträglich gewesen und hatte die Bauern, während ihrer Arbeit auf den Feldern, bis an ihre körperlichen Grenzen geführt.

Mit Beginn des Septemmas war das Wetter dann jedoch zunehmend unbeständiger und vor allem bedeutend kälter geworden. Inzwischen herrschte der Herbst mit aller Macht über dem Land und ließ momentan fast täglich unglaubliche Wassermassen auf die Erde nieder regnen. So auch heute am zweiten Oktomas. Es war ein Dinar, der zweite Tag der Woche und so langsam war die Freude für die tagtäglichen Regenfälle einem unbestimmten Murren der Bauern gewichen, die sich nahezu jeden einzelnen Tag den Wassermassen aussetzen mussten.

Der Esiew war gerade mit einer Gruppe von Dorfleuten unterwegs zum östlichen Ende des Dorfes, um die letzten Äpfel von den wenigen Obstbäumen des Dorfes zu pflücken. Allesamt hatten sie sich die Kapuzen ihrer gewachsten Arbeitskutten tief in die Stirn gezogen um sich vor dem Regen zu schützen. Einzig der Esiew zog es vor, die Wassermassen auf seiner Kopf- und Gesichtshaut zu spüren. Stattdessen hatte er sich lediglich den Kragen enger um den Hals geschnürt und ging den vor sich hin trottenden Dorfleuten in geringem Abstand hinterher.

Das kühle Nass half dem Esiew sich zu beruhigen und das gewaltige Gefühlschaos in seinem Inneren zu ordnen. Ein furchtbarer Albtraum hatte ihn in aller Frühe aus dem Schlaf schrecken lassen und nagte seitdem wie ein dunkler Schatten an seiner Seele. Die Monster die ihn jagten, hatten den Esiew in seinem Albtraum gefunden und waren über das Dorf hergefallen. In seinem Traum hatte der Esiew zusehen müssen, wie nach und nach die Dorfbewohner niedergemetzelt wurden, bis schließlich nur noch Ajanelle übrig geblieben war. Als sich die Monster letzten Endes auch auf sie stürzten war er mit einem qualvollen Schrei erwacht.

Es war nicht so sehr die Tatsache, dass ihm Monster im Traum erschienen waren, die ihn erschreckte und sein Herz klamm werden ließ. Es war viel mehr das Erkennen darüber, dass er in seinem Traum starr vor Angst gewesen war und sich vor Entsetzen nicht von der Stelle bewegt hatte. Hilflos hatte er angesehen wie einem Dorfbewohner nach dem Anderen das Leben verlassen hatte. Nicht einmal Ajanelle hatte er zu Hilfe eilen können.

Kaum erwacht hatte er sich zur Beruhigung noch vor dem Frühstück zu einem kleinen Morgenspaziergang aufmachen wollen. Gekommen war er aber nur bis zur Tür. Das ganze Dorf war am frühen Morgen in einen unglaublich dichten Nebel getaucht und obwohl er ein Esiew war, hatte er zunächst einige Zeit gebraucht, ehe er andere Häuser des Dorfes im dichten Nebel ausmachen konnte.

So kurz nach dem furchtbaren Albtraum war der Nebel dem Esiew wie ein schlechtes Omen vorgekommen, vor dem es sich zu schützen galt. Aber als wäre es trotz Albtraum und schlechtem Omen noch nicht genug, nahm der Esiew seit langer Zeit zum ersten Mal wieder einen unheilvollen Schatten am Rande seines Bewusstseins wahr. Es war wie ein Huschen am Rande seines Blickfeldes. Der Esiew wusste genau, dass jenes dunkle Wesen da war, doch es war jeden Moment in Bewegung und entzog sich ständig den verzweifelten Versuchen des Esiews seiner habhaft zu werden.

Zuletzt hatte er dieses Schattenwesen während seiner Flucht wahrgenommen und letzten Endes war es diese Tatsache, die die Ängste des Esiews am meisten schürte.

Unterdessen waren Sie an den Apfelbäumen angelangt. Die Ersten stellten bereits die Leitern auf und der Regen prasselte weiter auf ihre Häupter hernieder.

Der Esiew holte das letzte Stück auf und begann auch gleich damit eine der Leitern empor zu steigen. Seine Geschicklichkeit bei den einfachsten Dingen, war neben der einzigartigen Form seiner Ohren wohl der einzige Unterschied, der ihn nach außen hin von den Menschen unterschied. Während die Menschen bei dem nassen Wetter Vorsicht walten ließen und ihre Bewegungen stumpf und abgehakt wirkten, glitt der Esiew nahezu hinauf und befand sich bereits tief in einer der Baumkronen, als die Dorfbewohner gerade mal die Hälfte der Leitern mühsam erklommen hatten.

Als die Dorfbewohner dann auch endlich oben angekommen waren, wurden direkt die ersten Körbe hoch gereicht und die letzte Apfelernte begann. Während der Arbeit wurde so gut wie nicht gesprochen, jeder war in seine Arbeit vertieft oder hing seinen Gedanken nach.

Feinaar war gerade dabei einen weiteren Ast empor zu steigen, als seine Ohren zuckten. Für einen Moment hatte er geglaubt einen Schrei aus weiter Ferne vernommen zu haben. Er lauschte noch kurz, konnte jedoch nur das Prasseln des Regens und das Rauschen des Windes ausmachen. Oben, auf dem nächsten Ast angekommen, streckte er gerade die Hand nach dem ersten Apfel aus, als der Wind plötzlich aufheulte und der Esiew diesmal deutlich einen weiteren Schrei vernahm. Es war noch zu leise, um Worte verstehen zu können, aber der Schrei war in jedem Fall real gewesen. Angespannt versuchte der Esiew den Schreien eine Richtung zuzuordnen, als er diesmal mehrere Schreie deutlich vom südwestlichen Ende des Dorfes ausmachte. Worte konnte er noch immer nicht verstehen, die Schreie vermehrten sich jedoch zunehmend.

„Hört ihr das?“, fragte der Esiew in die Runde und ein paar Männer schauten verwirrt auf.

„Was meinst du?“, verlangte Anton von unten zu wissen, der gerade einen vollen Obstkorb annahm.

„Da schreit doch jemand. Hört ihr das nicht?“

„Also ich höre nichts“, meinte Ikat, ein Freund von Tarlas, ohne einen Augenblick zu zögern geringschätzig. Die Anderen schienen zu lauschen und hielten sich für den Moment geschlossen.

„Ich höre auch nichts, Feinaar. Aber sagt man euch Esiew’ nicht auch nach bessere Ohren als wir Menschen zu haben?“, bemerkte Anton.

„Pah! Bessere Ohren?! Das ich nicht lache! Der faule Esiew sucht doch bloß wieder eine Ausrede nicht arbeiten zu müssen, so wie an jedem Zulnar, an dem er sich ja um seinen inneren Frieden kümmern muss!“, schnaubte Ikat verächtlich.

Feinaar ließ sich von dem provozierenden Geschwätz Ikats jedoch nicht beirren.

Anton hatte Recht, wenn er wollte konnte er weit besser hören als die Menschen. Die Schreie hatte er sich auch mit Sicherheit nicht nur eingebildet.

Da vernahm Feinaar erneut die Schreie. Sie wurden jetzt stetig lauter, bald müssten sie auch an die menschlichen Ohren dringen.

„Da schreit wirklich jemand, hört noch mal genau hin“, bestand Feinaar auf seine Meinung.

„Kannst du nicht einfach mal deine Fresse halten und aufhören dich wichtig zu machen. Bis auf dich sind hier alle am Schuften!“, schnauzte Ikat aufgebracht.

Ikat hätte wahrscheinlich noch weiter seiner Wut Luft gemacht, hätten in diesem Moment nicht mehrere der Männer aufmerksam den Kopf gehoben.

„Hey, Feinaar hat recht, ich hab auch was gehört“, sagte einer der Männer.

„Da schreit wirklich einer“, stimmte ein weiterer Dorfbewohner zu.

„Feinaar, sieht so aus, als ob du wirklich bessere Ohren hättest“, meinte Anton vom Boden aus zögerlich. „Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert. Ich sehe mal nach. Bin gleich wieder zurück.“

Damit war Anton auch schon verschwunden und die restlichen Dorfbewohner gingen nahezu teilnahmslos wieder an ihre Arbeit. Feinaar hingegen lauschte noch immer angestrengt in die Ferne und so langsam schienen sich wenige Wörter aus den Schreien herauszubilden.

„Hi... wir brau... Hil...“, erklangen die ersten Silben von weit her, bis sich schließlich ein verständlicher Satz herausbildete. „Hilfe! Wir brauchen Hilfe!“

Feinaar erschauderte, als er den Satz in Panik erfüllten Schreien immer und immer wieder vernahm.

„Da stimmt wirklich was nicht. Irgendjemand schreit um Hilfe!“, wandte sich Feinaar aufgeregt an die Dorfbewohner, beachtete ihre Reaktionen jedoch nicht, sondern rauschte geradewegs an ihnen vorbei, den Baum hinunter und lief Anton zum südwestlichen Ende des Dorfes nach.

Derweil wurden die Schreie schnell lauter und Feinaar erkannte aufgebracht, dass es Tarlas war, der verzweifelt um Hilfe schrie. Tarlas mochte ein streitlustiger und jähzorniger Geselle sein, furchtsam war er jedoch keineswegs. Dennoch wollte es Feinaar erschreckender Weise nicht aus dem Kopf gehen, dass es die nackte Angst war, die er in Tarlas' Schreien heraus hörte.

Feinaar passierte gerade die Mitte des Dorfes, als die Schreie verstummten. Besorgt beschleunigte Feinaar seine Schritte und kam wenig später am südwestlichen Ende des Dorfes zum Stehen. Die letzten Ausläufe des Hügels auf der anderen Seite des Dorfes sorgten dafür, dass das Erdreich noch leicht gewölbt und abschüssig war, was die direkte Sicht in den Wald verhinderte. Er wollte gerade weitereilen, als er Ajanelles Vater durch den strömenden Regen näher kommen sah.

Ein gutes Dutzend Männer des Dorfes folgten Daton in geringem Abstand. Wie alle anderen auch, hatte sich Daton eine der gewachsten Arbeitskutten übergezogen. Während er rannte hielt er sich soweit wie möglich seine Kapuze fest, damit sie ihm nicht im Wind vom Kopf geweht wurde. Er war noch einige Schritte entfernt, als er sich auch schon zu Wort meldete: „Was bei den Namen der schwarzen Esiew’ ist denn los? Wer hat hier so geschrien?“

Feinaar blickte noch einmal kurz zum Wald, ehe er antwortete: „Soweit ich weiß, hat Tarlas um Hilfe gerufen. Anton ist bereits losgelaufen.“

„Was? Tarlas sagst du? Bist du dir sicher? Er ist so ziemlich der letzte bei dem ich mir vorstellen könnte, dass er um Hilfe schreit“, sagte Daton und kam bei ihm zum Stehen.

Wie Recht Daton nur hat.

Gerade das stärkte die innere Unruhe des Esiew am Meisten. Er wollte gerade etwas erwidern, als er das Knacken von Ästen vernahm. Feinaar fuhr herum und sah auch schon Antons Kopf über der Erdwölbung erscheinen. Sein Gesicht war vor Anstrengung verzehrt und einen Moment später erkannte man den Grund dafür. Anton und Tarlas hatten sich beide jeweils einen Arm von Tarlas Vater, Triad, über die Schultern geworfen und trugen Triad mehr, als dass sie ihn stützen. Triads Arbeitskutte war vorne zerrissen und gab den Blick auf Blut durchtränkte Kleidung frei.

Ein erschrockenes Keuchen trieb sich durch die Menge der Männer und Feinaar und ein paar der Dorfbewohner eilten sofort die kleine Erhöhung hinauf und lösten Anton und Tarlas ab.

„Bringt ihn sofort zu ihm nach Hause. Ich sorge dafür das Elda mit ihren Salben kommt“, befahl Daton ihnen und setzte sich bereits selbst in Bewegung.

„Warte, ihr müsst Bescheid wissen...“, krächzte Triad plötzlich mit schwacher Stimme.

„Vater, ich rede mit Daton, du lässt dich nach Hause bringen. Elda muss sich deine Wunde ansehen!“, mischte sich Tarlas ein.

„Verdammt, Sohn! Du hättest mich im Wald liegen lassen sollen, wie ich es dir gesagt habe! Jetzt wissen sie von unserem Dorf! Auch deine Mutter und Midra sind jetzt in Gefahr!“, brüllte Triad mit erstaunlich fester Stimme, ehe er stöhnend zusammensackte.

Daton hatte indes kehrt gemacht und sah Triad mit beunruhigter Mine an: „Tarlas, was bei den Namen der schwarzen Esiew’ ist hier los? Und wo sind die Jagads?“

„Wir... wir wurden im Wald überfallen. Wir haben Wild verfolgt und auf unsere Umgebung geachtet, ich habe keine Ahnung wie wir sie nicht bemerken konnten, aber... aber plötzlich sprangen vier Männer aus dem Dickicht und streckten mit einem Schlag den Vater der Jagads nieder. Jared und Patrick sind völlig ausgerastet, haben ihre Waffen gezogen und griffen die Männer blind vor Wut an. Wir wollten ihnen gerade zur Hilfe eilen, als ein fünfter Mann hinter uns aus den Büschen schoss und Vater sein Schwert in die Schulter rammte. Ich... ich habe den Bastard angegriffen und konnte ihm meinen Dolch in den Hals rammen, als... als Vater sich gegen ihn schmiss und ihn ablenkte.“ Er machte eine kurze Pause und leckte sich nervös über die Lippen, ehe er fortfuhr. „Als ich mich umdrehte, sah ich noch gerade wie einer der Männer sein Schwert gegen Patricks Knie schmetterte, Patrick auf die Knie fiel und... und ein anderer Mann ihm den Kopf spaltete! Etwa fünfzig Zort weiter weg, hab ich noch etwa ein Dutzend weiterer Männer heranstürmen sehen. Ich... ich bin kein Feigling, aber wir hatten keine Chance... Vater hat mich gepackt und wir sind so schnell es ging durch das Dickicht gerannt. Eine Weile konnten wir sie auf Abstand halten. Aber dann wurde Vater zunehmend schwächer... er hat zu viel Blut verloren... Kurz vor unserem Fluss der auch weiter südwestlich durch den Wald verläuft und sich dort tief in die Felsen eingegraben hat, ist er dann zusammengebrochen. Er... er meinte ich solle ihn liegen lassen und fliehen. Ich... ich konnte es aber nicht. Hinter uns tauchten diese Mörder wieder auf... ich habe Vater hochgerissen und bin mit ihm in den Fluss gesprungen, ans andere Flussufer geschwommen und habe uns irgendwie so schnell es ging weitergeschleppt... Diese Bastarde sind uns aus irgendeinem Grund nicht über den Fluss hinterher... und so... so hab ich Vater so schnell es ging hier her getragen und um Hilfe gerufen...“

„Tut mir Leid, Daton!“, entschuldigte sich Triad erschöpft. „Mein Junge hat die Mistkerle direkt hierher geführt! Ich wollte, dass er mich im Wald liegen lässt und flüchtet, aber... er wollte einfach nicht auf mich hören.“

Das Entsetzen stand den meisten Männern ins Gesicht geschrieben, Manche waren sichtlich um ihre Fassung bemüht und auch Anton schluckte. Feinaar konnte nicht umhin Daton zu bewundern, der sich ohne zu zögern an Tarlas wandte: „Keine Sorge, Tarlas, niemand kann seinen Vater einfach so dem sicheren Tod überlassen. Niemand nimmt dir das übel. Bring deinen Vater jetzt so schnell wie möglich nach Hause und bewaffne dich so gut es geht. Kastor, hilf ihm. Der Rest rennt so schnell er kann nach Hause und schickt seine Frauen und Kinder zum Haus der Jägers. Dann bewaffnet ihr euch mit allem was ihr habt und stellt euch im Kreis um das Haus der Jägers auf. Ihr Haus ist ziemlich in der Mitte des Dorfes. Man wird uns dort nicht so leicht überraschen können, wenn diese Mörder von mehreren Seiten angreifen. Und jetzt los! Feinaar, du kommst mit Anton und mir!“

Damit stoben die Männer auch schon regelrecht auseinander und Feinaar musste über die beherrschte Führungskraft von Daton staunen, während er ihm und Anton folgte.

Sie rannten geradewegs zurück zum Haus der Trajas am nördlichen Ende des Dorfes, als ein schriller Schrei durch die Luft hallte: „Feeinaaaaar!“

Keuchend kam er zum Stehen und suchte seine unmittelbare Umgebung ab. Doch da war nichts! Die Trajas hatten inzwischen einen großen Vorsprung und der Schrei wäre eh viel zu hoch und schrill für zwei erwachsene Männer gewesen. Verwirrt setzte sich Feinaar wieder in Bewegung als ihn das Vorbeihuschen mehrerer Gestalten am Rande seines Blickfeldes erneut erstarren ließ.

Über die plötzliche Erkenntnis wurde ihm eiskalt. Jenes Schattenwesen, das ihn schon seit Beginn seiner Flucht verfolgte, war zurückgekehrt. Doch abgesehen davon, dass es deutlicher und fassbarer um Feinaar herumhuschte als je zuvor, war es nicht mehr allein! Die Schatten mehrerer Gestalten schossen um ihn herum, verschmolzen und verschwammen in einander und ließen Feinaar vor Entsetzen erzittern.

Wie um seine Panik zu vollenden, erhoben sich klagend flüsternde Stimmen, von denen er glaubte sie nur in seinem Kopf zu vernehmen.

„Feeinaaaaar!“

„Feeinaaar, duuu… musst dich… an deeeine… alten Krääfte erinnern…“

„Feeinaaar… verdränge uns… nicht mehr…“

„Aaajaanelle… und die Aaandeeeren… werden sterben, wenn duuu… dich nicht erinnerst…“

 

Kaum dort angekommen, stürmte Daton auch schon ins Haus und verschaffte sich mit lauter Stimme Gehör: „Anka, schnapp dir Ajadaka und Ajanelle und renn sofort rüber zu den Jägers! Und wenn ich sofort sage, dann meine ich auch sofort!“

„Daton, was ist denn los?“, fragte Anka, Ajanelles Mutter, aufgebracht. Doch Daton beachtete sie bereits nicht mehr und machte sich stattdessen im Schlafzimmer an einem der Schränke zu schaffen.

„Mutter, wir werden angegriffen, ihr müsst wirklich so schnell ihr könnt zu den Jägers rüber laufen! Alle Männer des Dorfes werden sich drum herum versammeln. Dir, Ajadaka und Ajanelle wird dort nichts passieren“, versuchte Anton ihr die Lage zu erklären.

„Wir... wir werden angegrif...“, stotterte Anka leichenblass, bis sie von ihren Töchtern unterbrochen wurde.

„Was ist los?“ fragte Ajadaka neugierig, die Treppe von oben geradezu herunter springend.

„Wieso hat Vater so durch das Haus geschrieen? “, wollte auch Ajanelle wissen, die kurz auf Ajadaka folgte.

Feinaar wollte sich gerade zu Wort melden, da kam Daton ihm jedoch zuvor und unterbrach Anton, der zu einer weiteren Erklärung angesetzt hatte.

„Ajane...“

„Anka, ich hab dir gesagt, schnapp dir die Mädchen und renn rüber zu den Jägers!“, brüllte er durchs Haus. Einen Augenblick später trat er aus dem Schlafzimmer mit einem weißen, aufgerollten Lacken in den Armen, in dem etwas Hartes eingewickelt zu sein schien und wandte sich diesmal wütend an seine Töchter. „Und von euch will ich jetzt nichts hören, Ajadaka, Ajanelle, ihr geht jetzt sofort mit eurer Mutter. Los jetzt!“

Ajanelle und Ajadaka waren bei dem plötzlichen Wutausbruch ihres Vaters erschrocken etwas zurückgewichen und Feinaar fühlte sich in dem ganzen Geschehen plötzlich merkwürdig fehl am Platz.

„Ajanelle, Ajadaka, kommt schon, wir müssen jetzt erst mal rüber zu den Jägers“, sagte Anka, inzwischen wieder mit fester Stimme und packte ihre beiden Mädchen jeweils an einem Arm und zog sie hinaus in den Regen. Die Beiden protestierten zwar noch und verlangten zu wissen was los war, Anka schien den Ernst der Lage jedoch inzwischen begriffen zu haben und zog ihre Mädchen unerbittlich weiter.

Daton hatte das Laken inzwischen auf den Esstisch gelegt und begonnen es auszurollen. Feinaar richtete seine Aufmerksamkeit daraufhin wieder auf Ajanelles Vater. Auch Anton war hinzugetreten und gemeinsam sahen sie, wie Daton zunächst ein altes und gebrauchtes Kurzschwert auswickelte und anschließend noch zwei glänzend polierte und hochwertige Schwerter, die sich ein einfacher Bauer eigentlich niemals hätte leisten können.

Feinaar staunte nicht schlecht, über die Qualität der letzteren Waffen und blickte fragend auf.

„Das Schwert ist für dich, Anton“, meinte Daton und reichte Anton eins der hochwertigen Schwerter mit einem Nicken.

„Wo hast du die Schwerter her, Vater?“, fragte Anton ehrfürchtig, die Klinge seines Schwertes betrachtend.

„Das ist eine lange Geschichte, ich erkläre es dir später. Feinaar, ich habe für dich leider nur dieses Kurzschwert hier“, erklärte Daton mit entschuldigender Miene und reichte Feinaar das offensichtlich schon oft gebrauchte Kurzschwert. „Aber soweit ich weiß, sind die restlichen Familien des Dorfes eher noch schlechter bewaffnet als wir. Du wirst damit auskommen müssen.“

„Keine Sorge, es ist mehr als ich erwartet habe“, sagte Feinaar schlicht und musterte sein Kurzschwert. Es wies schon einige Einkerbungen an der beidseitigen Schneide auf, Rost lies sich jedoch nirgends ausmachen. Insgesamt schien es sich noch im guten Zustand zu befinden.

„Ich weiß ja, dass ihr Esiew’ euch allgemein hin auf euren Neutralitätsstatus beruft, aber so wie es aussieht wirst du kämpfen müssen, Feinaar. Hoffentlich stimmen die Legenden von früher, die euch als grandiose Kämpfer wider Willen bezeichnen“, sagte Daton, klopfte ihm auf die Schulter und packte das letzte Schwert. „Dann machen wir mal, dass wir rüber zu den Jägers kommen.“

Feinaar lächelte gequält über Datons Äußerungen, folgte Anton und seinem Vater dann jedoch zurück nach draußen, in den strömenden Regen, während sich seine Gedanken um die letzten Worte Datons drehten.

Neutralitätsstatus der Esiew’... das er sich das letzte Mal um Politik gekümmert hatte, war lange her... weit vor der Zeit, in der seine Erinnerungen bruchstückhaft wurden. Schon damals, hatte er manchmal erst Monate später von den neuen Beschlüssen gehört. Kein Wunder das die Neuigkeiten über sein Volk eigentlich gar keine mehr waren... Und was hatte Daton noch gleich gesagt...? Grandiose Kämpfer wider Willen... solch einer Wertschätzung konnte er wohl kaum gerecht werden... Aber dennoch, er musste kämpfen! Er würde nicht wie in seinem Traum vor Angst gelähmt sein! Nein! Niemals! Er würde nicht zulassen, dass Ajanelle etwas zustieß! Ajanelle durfte nichts...

Moment mal... dachte er schon wieder nur an Ajanelle?

Feinaar musste trotz der Situation über seine eigenen Gedanken schmunzeln. Allem Anschein nach, war es langsam unmöglich zu leugnen, was er für sie empfand.

Unterdessen rannten sie, so schnell ihre Beine sie trugen, zurück zum heimlichen Zentrum des Dorfes, dem Haus der Jägers. Der Regen fiel weiterhin erbarmungslos vom Himmel und schränkte, zusammen mit dem Zugwind an den Ohren, ihr Wahrnehmungsfeld enorm ein. Feinaar brachte sich gerade auf gleiche Höhe mit Daton und Anton, als gellende Schreckensschreie von mehreren Frauen ihre Aufmerksamkeit erregten.

 

 

Jeder Kommentar motivert mich sehr! Denkt drüber nach mir ein paar Worte da zu lassen, wenn euch das Kapitel gefallen hat. :)

RiBBoN

„Mutter!“, rief Anton erschrocken und sprintete fluchend los.

Feinaar heftete sich sofort an seine Fersen und gemeinsam ließen sie Daton zurück, der trotz der Anstrengung kreidebleich vor Sorge geworden war.

Wie die Wahnsinnigen hetzten sie vorwärts, als nicht weit vor ihnen mehrere Frauen hastig um ein Haus rannten, allesamt verzweifelt ihre schweren Röcke gerafft, um schneller vorwärts zu kommen. Feinaar erkannte gerade noch Ajanelle mit Schwester und Mutter unter ihnen, da preschten plötzlich drei unbekannte Männer, mit Schwertern und Schilden bewaffnet, schreiend ums Haus. Ihre Gesichter waren grimmig, vor Mordlust verzehrt und die kalten Augen jagten Feinaar einen Schauder über den Rücken.

Anton brüllte auf, beschleunigte seine Schritte ein letztes Mal und Feinaar folgte ihm entschlossen. Gemeinsam stoben sie zwischen den Frauen hindurch, hoben ihre Schwerter und liefen den drei Männern entgegen.

Feinaar registrierte noch wie die Männer grausam lächelten und einen Lidschlag später überschlugen sich die Ereignisse. Sowohl Feinaar als auch Anton ließen ihre Schwerter gegen jeweils einen der Angreifer niederfahren, welche die Hiebe erst noch parierten, bis sich beide mit all ihrem Schwung dagegen warfen. Die Unglaubliche Wucht des Aufpralls schleuderte die beiden Männer von den Füßen, ließ aber auch Feinaar und Anton das Gleichgewicht verlieren. Feinaar schaffte es gerade noch sich über die Schulter abzurollen. Er überschlug sich noch ein Mal, ehe keuchend auf dem Rücken zum Liegen kam.

Für einen Augenblick war Feinaar orientierungslos, bis er den Regen im Gesicht und den matschigen Untergrund mit seiner schwertfreien Hand erfühlte. Stöhnend rappelte er sich wieder auf und suchte nach Anton. Auch er kam gerade wieder auf die Beine. Leider aber auch die beiden Männer, die sie von den Füßen gehauen hatten. Das Klirren von aufeinander prallenden Metal erregte kurz seine Aufmerksamkeit und Feinaar stellte erleichtert fest, dass Daton, mit wutverzehrten Gesicht, den dritten Angreifer beschäftigte.

Ohne noch einen Augenblick zu warten, lief Feinaar auf einen der Männer zu und versuchte ihm das Schwert aus der Hand zu schlagen, als dieser sich gerade aufrappelte. Doch zu Feinaars Erstaunen parierte der Mann seinen Schwerthieb mit seinem Schildarm und versuchte, noch immer im Matsch kniend, unter seinem Schild hindurch nach ihm zu zustechen. Reflexartig warf sich Feinaar zur Seite und entging so nur um Haaresbreite der gefährlichen Schneide.

Den kurzen Moment den Feinaar brauchte, um sein Gleichgewicht wieder zu finden, hatte der Mann jedoch genutzt und sich vollends wieder aufgerichtet. Feinaar bemerkte zudem bestürzt, dass der Mann lächelte. Es war ein grausames Lächeln und ließ die Bosheit erahnen, die sich dahinter verbarg.

Dann ging der Mann auch schon in Kampfhaltung und Feinaar begriff, dass er plötzlich im Nachteil war. Der Mann vor ihm, war mit Schwert und Schild bewaffnet. Zudem war sein Schwert auch noch länger als Feinaars kleines Kurzschwert, was Feinaar fast augenblicklich zu spüren bekam, als der Mann sich mit wilden Hieben auf ihn warf. Die ersten Hiebe konnte er noch parieren und sogar einmal selbst zuschlagen, bis der Angreifer plötzlich seinen Schild einsetzte, um Feinaars Schwerthand zu blockieren und ihn mit seinem Schwert regelrecht hin und her jagte und ihn immer weiter zurückdrängte.

Verflucht! Er hätte wirklich seinen Schwung besser nutzen sollen!

Die Schwerthiebe des Mannes prasselten nun regelrecht auf seine einzige Verteidigung, das kleine Kurzschwert, hernieder, während der Mann versuchte, ihn in einem unaufmerksamen Moment mit einem Schwertstich zu überraschen. Feinaar musste immer weiter zurückweichen und näherte sich langsam dem anderen Angreifer, der noch mit Anton beschäftigt war. Noch ein paar Schritte und Feinaar würde sich genau zwischen zwei Feinden befinden.

Verdammt! Er musste sich etwas einfallen lassen! Wie konnte er sich bloß aus dieser Situation retten...

Verzweifelt überschlugen sich seine Gedanken während er stetig weiter zurück gedrängt wurde...

Da schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf! Ohne zu zögern machte er einen Satz nach hinten, was jedoch dafür sorgte, dass ein Schwerthieb seines Gegners geradewegs auf ihn zuraste. Er stieß sich vom Boden ab und sprang unter dem Hieb hinweg, weiter nach hinten. Noch im Flug holte er aus und schlug sein Kurzschwert mit aller Kraft, die er in der kurzen Zeit aufbringen konnte, Antons Gegner entgegen. Sein Schwert traf Antons überraschten Gegner von hinten am Oberschenkel und ließ ihn vor Schmerzen aufschreien. Feinaar musste sein Schwert daraufhin jedoch loslassen, um den Sturz wenigstens etwas mit der Schulter und den Händen abfangen zu können. Sofort nach dem Aufprall versuchte er sich wieder aufzurichten, sah jedoch schon seinen Gegner hinter ihm aufragen und dessen Schwert auf ihn hinunterrasen.

Im letzten Moment warf sich aber plötzlich Anton gegen den Mann, stieß ihn von Feinaar weg und setzte dem Angreifer mit wilden Schwerthieben nach. Erleichtert atmete Feinaar auf. Mit einem Blick zur Seite bestätigte sich seine Vermutung, sein Plan hatte funktioniert. Antons Gegner war für einen kurzen Moment abgelenkt gewesen und Anton hatte es eiskalt ausgenutzt, um dem Mann sein Schwert zwischen Hals und Schulter zu treiben. Sofort danach war er Feinaar auch schon zur Hilfe geeilt und hatte ihm regelrecht das Leben gerettet.

Ohne länger zu zögern, brachte Feinaar schnell sein Kurzschwert wieder an sich und griff sich noch das Schwert des einstigen Gegners, dessen Leiche nun im nassen Matsch des Dorfes lag. Anton schien sich in den letzten Augenblicken recht gut gegen Feinaars alten Gegner gehalten zu haben, wurde jetzt aber zunehmend unter heftigen Schlägen zurückgedrängt. Feinaar eilte sofort an seine Seite, schlug mit seinem Kurzschwert den Schild des Gegners nach oben und stach im nächsten Augenblick mit dem zweiten Schwert nach dem verhassten Widersacher.

Nun war es an ihrem Gegner auszuweichen und Schwerthiebe zu parieren, während Anton und Feinaar ihn stetig weiter in Richtung eines Hauses trieben. Bald würde er keinen Platz mehr zum Ausweichen haben.

Anton schaffte es gerade, das Schwert des Mannes zur Seite zu lenken, als Feinaar dessen Schildarm mit Körpereinsatz zur Seite drängte. Sofort hatte Feinaar auch schon mit seinem Kurzschwert zum Todesstoß ausgeholt, da schnellte ein drittes Schwert, zwischen Anton und Feinaar hindurch, in die Kehle des Mörders.

Daton hatte sich offensichtlich bereits seines Gegners entledigt und war ihnen zur Hilfe geeilt. Er drehte seine Klinge noch und zog sie anschließend mit einem Ekel erregenden, letzten Röcheln ihres Gegners hinaus, der daraufhin zusammen sackte.

Trotz der Situation, kam Feinaar nicht drum herum Bewunderung für diesen älteren Menschen zu empfinden, der ihn nicht nur mit offenen Armen aufgenommen hatte, sondern neben seinem Beruf auch noch ein Dorf anführte und sich anscheinend trotz seines Alters hervorragend zu verteidigen wusste.

„Kommt, wir müssen den Anderen zur Hilfe kommen“, sagte Daton schlicht, ohne näher auf die letzten Geschehnisse einzugehen.

Feinaar tauschte kurz einen flüchtigen Blick mit Anton aus, dessen Miene beinahe ausdruckslos erschien und machte sich dann mit den Trajas wieder auf zum Haus der Jägers. Sie liefen noch zwischen zwei Häusern hindurch und kamen schließlich in Sichtweite des Hauptgeschehens.

An die dreißig Dorfbewohner mühten sich gegen fünfzehn Angreifer ab. Wenn auch in der Überzahl, hatten sie aufgrund der schlechten Bewaffnung und wenigen Erfahrung, große Probleme sich der Angreifer zu erwehren.

Kaum aber, dass sie sich ein Bild von der Lage gemacht hatten, lösten sich schon zwei der Angreifer vom Rest ihrer Mannschaft und stürmten unter lautem Gebrüll auf Feinaar und die Trajas zu. In der kurzen Zeit die ihm blieb, wählte Feinaar den linken Angreifer aus, ein bulliger Kerl, der sich schwerfällig bewegte und mit Schwert und Streitaxt bewaffnet war. Erneut schmetterte Feinaar sein Schwert aus vollem Lauf einem herannahenden Gegner entgegen, nutzte seinen Schwung diesmal jedoch anders, indem er während des Aufpralls, links, um seinen Widersacher herumtänzelte und sein Kurzschwert auf das rechte Bein des Mannes niederfahren ließ.

Zu Feinaars Überraschung drehte sich sein bulliger Gegner aber behände zur Seite. Brachte so blitzschnell sein Bein in Sicherheit und verstärkte, mit einem Schlag seiner Streitaxt, den Schwung von Feinaars Kurzschwert noch so weit, dass Feinaar im verzweifelten Versuch sein Kurzschwert festzuhalten, sein Gleichgewicht verlor und seinem Gegner plötzlich mit dem verwundbaren Rücken entgegen Stand.

Feinaars Blut pochte ihm in den Ohren, als ihm klar wurde, welch fataler Fehler ihm unterlaufen war und Todesangst machte sich, wie eine gewaltige Wucht, in ihm breit. Der Angreifer hatte mit seinen Schwertarm schon ausgeholt und grinste ihn mit höhnischer Miene an, als er Feinaar sein Schwert entgegen schmetterte.

Es war vorbei...

War der einzige Gedanke, zu dem Feinaar in diesem Moment noch fähig war. Er wusste, dass sein eigenes Kurzschwert in der Aufwärtsbewegung zu spät kommen würde und eine Ausweichmöglichkeit besaß er nicht mehr. Ein letztes Mal blinzelte er sich den Regen aus den Augen und wartete auf den Aufprall.

Genau in diesem Moment kläfften plötzlich mehrere Hunde unglaublich laut und ließen Feinaar und seinen Gegner vor Schreck zusammenzucken. Während Feinaar mit seiner Situation schon abgeschlossen und seinen Stand gefestigt hatte, rutschte der bullige Angreifer vor Schreck mit einem Fuß im matschigen Untergrund aus und verlor das Gleichgewicht. Sein Schwert änderte leicht die Richtung und bewegte sich nun nahezu waagerecht auf Feinaar zu. Dieser reagierte sofort, warf sich bäuchlings in den Matsch und brachte jede Kraftreserve zum Einsatz, als er sein Kurzschwert, im schrecklich schmerzenden Winkel seines Handgelenks, unter die fast horizontal gleitende Klinge seines Gegners setzte und diese soweit aus der Flugbahn lenkte, dass sie gefahrlos über ihn hinweg glitt.

Keuchend vor Schmerzen im Handgelenk, schob Feinaar sich zunächst mit ein paar Fußstößen außer Reichweite seines Gegners und rappelte sich mit pochendem Herzen auf. Sein Puls dröhnte ihm in den Ohren, seine Atmung ging stoßweise und sein Körper zitterte beinahe unkontrolliert, im plötzlichen Begreifen, dass er nur haarscharf dem Tode entkommen war.

Das Gekläffe und Knurren von wütenden Hunden wurde noch lauter und kam jetzt beständiger. Feinaar dankte im Stillen dem großen Licht für sein Überleben. Einmal hatte er jetzt Glück gehabt, ein zweiter Ausrutscher seines Gegners wäre aber höchst unwahrscheinlich. Er durfte seinen Gegner nicht mehr unterschätzen. Auch wenn er eine bullige Statur besaß, war er dennoch ungewöhnlich flink auf den Beinen.

Feinaar konzentrierte sich wieder auf sein Gegenüber und wurde mit einem rätselhaften Grinsen konfrontiert. Der bullige Mann dachte nicht einmal daran erneut anzugreifen. Mit gelockerter Haltung und nahezu amüsiert, hatte er seinen Blick an Feinaar vorbei in die Ferne gerichtet. Feinaars Gedanken überschlugen sich, als er nach Möglichkeiten suchte, was die Aufmerksamkeit seines Gegners auf sich gezogen haben könnte. Letztlich brachte Feinaar vorsichtshalber ein paar Schritte Abstand zwischen sich und dem bulligen Mann, ehe er zurückschaute. Doch dort erregte nichts seine Aufmerksamkeit, hinter ihm lag einzig der matschige Weg der durch den nördlichen Teil des Dorfes führte. Der Regen behinderte zudem die Sicht und das Prasseln des herunter stürzenden Wassers, wie auch dass Gekläffe der Hunde übertönten alles andere. Verwirrt wandte er sich schnell wieder seinem Gegner zu. Dieser schenkte ihm jedoch nur einen kurzen höhnischen Blick, ehe er sich in aller Ruhe an seinen Kumpanen wandte, der noch immer mit spielerischer Leichtigkeit Anton und Daton auf Abstand hielt: „Es ist soweit, sie haben die Warmgaltz losgelassen.“

„Wurde auch Zeit“, lachte der Gegner der Trajas boshaft, während er sich mit einem letzen Hieb ein paar Schritte von den Trajas entfernte. „ich fing schon an mich zu langweilen.“

Feinaar kam währenddessen nicht umhin, das entsetzte Zusammenzucken Antons und Datons zu bemerken. Sie waren beide kreidebleich geworden und ihre Gesichtszüge waren sorgenvoll verzogen. Anton warf einen flüchtigen Blick zurück, schien sich jedoch nicht zu trauen länger den Blick von seinem Gegner abzuwenden.

Warmgaltz? Wovon redete der Mensch?

Dachte Feinaar verwirrt, bis plötzlich mehrere spitze Schreie aus dem nördlichen Teil des Dorfes erschallten. Ruckartig wandte er sich um und suchte nach dem Ursprung der Schreie. Keinen Lidschlag später rannte die Gruppe der Frauen, die Feinaar und die Trajas gerade noch vor den drei Angreifern gerettet hatten, unter lautem Panikgeschrei zurück zum Kampfgeschehen. Völlig verdutzt starrte Feinaar die Frauen an. Wieso um des großen Lichts Willen rannten die Frauen zurück zu den Feinden?

Da huschten auf einmal mehrere dunkle Schatten hinter ihnen umher und ihre Zahl schien sich stetig zu vermehren. Die Frauen waren inzwischen fast bei ihnen angelangt, während nahezu drei Dutzend dieser dunklen Schatten sie verfolgten. Zu dem Gekläffe mischte sich noch ein bedrohliches Fauchen und ließ den kommenden Schrecken erahnen.

Feinaar blinzelte und versuchte die Gestalten, trotz des dichten Regenschleiers, genauer zu erkennen. Bis ein Aufkeuchen der Trajas seine Aufmerksamkeit ruckartig zurück zu ihren eigentlichen Gegnern lenkte.

Ein grauer Dunst breitete sich von Angreifern aus, schien sich stetig zu vermehren, bis er schließlich nebelartig ihre ganzen Körper umhüllte. Kalt zischende Flüsterstimmen erhoben sich, furchteinflößend und doch kaum zu vernehmen. Der Nebel, unheilvoll in sich selbst, wie er stets nach etwas zu greifen suchte. Wabernd lösten sich kleine Fetzen grauen Dunstes und schossen auf die entsetzten Männer des Dorfes zu, ehe sie auf halber Strecke im Regen verpufften. Und über all dem, eine Aura der Boshaftigkeit, die der Nebel förmlich auszuspeien schien. Feinaar starrte gebannt der schwarzen Zauberei entgegen, beständig gegen den Drang kämpfend, davon laufen zu wollen. Die Gegner Feinaars und der Trajas, verschwanden letztlich in dem lebendig wirkenden, grau-schwarzen Dunst und waren nur noch schemenhaft zu erahnen.

Sie blieben jedoch nicht die Einzigen. Der dunkle Nebel breitete sich nach und nach um sämtliche Angreifer des Dorfes aus. Boshaft lachend zogen diese sich etwas zurück und schienen abzuwarten.

Die Ankunft der Frauen und die damit einhergehende Geräuschkulisse von platschenden Schritten und angsterfüllten Schreien, ließ Feinaar gerade rechtzeitig aufschrecken, um den plötzlichen Angriff seines Widersachers zu entgehen. Mit einem Satz zurück und seine Schwerter nach oben schwingend, parierte er im letzten Moment einen senkrecht geführten Schwertschlag und duckte sich unter der Streitaxt hinweg, die ihn horizontal den Kopf abzuschlagen drohte.

Sein Gegner setzte ihm nach, doch diesmal war Feinaar vorbereitet und wehrte ein ums andere Mal die fortwährenden Angriffe ab. Trotz allem hatte Feinaar große Probleme, dem Ansturm der Schläge die auf ihn einschlugen, standzuhalten. Der wabernde Nebel verschleierte die Bewegungen seines Gegenübers und machte es schwer die Angriffe vorauszusehen. Zudem musste er sich krampfhaft um sein Gleichgewicht bemühen und spürte schon jetzt wie seine Muskeln unter der ungewohnten Last zu ächzen begannen. Sein Gegner würde ihn über kurz oder lang, schlicht weg mit roher Gewalt und Ausdauer überwinden. Noch klarer traf ihn diese Tatsache, als die Schläge und Hiebe an Härte gewannen.

Mit jedem Moment in dem der Nebel dichter wurde, schien die Kraft seines Gegners anzuwachsen. Die Flüsterstimmen zischten zunehmend lauter, grauer Dunst griff nach ihm und hinterließ eisige Kälte wo er ihn berührte.

Da wurde er sich plötzlich anderer Wesenheiten bewusst. Dunklen Schemen huschten am Rande seines Bewusstseins entlang und ließen Feinaar vor Schreck ein paar Schritte zurück taumeln. Panik erfüllte ihn als sich die Schemen vermehrten und qualvolle Erinnerungen an seine Flucht neu aufleben ließen. Er vernahm ihre Stimmen in seinem Kopf, spürte wie sie einen unheilvollen Singsang anstimmten.

Monster!

Ja!

Monster!

Wir… können… helfen…

…musst… zuhören…

…helfen…

…zuhören…

Nein, dachte Feinaar. Er bildete sich diese Stimmen ein!

Ich… bin… Wirklichkeit…

Es konnte einfach nicht sein! Er war geflohen!

Und… ich… bin… Wahrheit…

Er war entkommen!

… brauchst… nicht mehr weglaufen…

… musst… zuhören…

Ein Schwertschlag kam von rechts oben. Feinaar blockte reflexartig ab und wich wie betäubt zurück. Er durfte nicht verrückt werden, sagte er sich. Er musste sich konzentrieren, sonst würde er die Angriffe seines Gegners nicht mehr lange überleben.

Du musst dich… wehren!

Bleib ruhig. Sagte er sich in Gedanken. Er durfte nicht die Fassung verlieren.

Erkenne uns… an! Wir können helfen!

Bediene dich unserer Kraft!

Nimm… unsere… Macht!

Die Stimmen wurden lauter, drängender. Während Feinaar verzweifelt versuchte, die Stimmen zu ignorieren und die entgegen kommenden Klingen abzuwehren.

Mit einem Blick über die Schulter sah er die Frauen, die sich inzwischen zurück zum Haus gerettet hatten. Sie pressten sich völlig verängstigt an die Hauswand und blickten an Feinaar vorbei zu den Kreaturen, deren Gestalten sich zum ersten Mal aus dem Regenschleier heraus bildeten.

Was Feinaar sah, ließ auch ihn erzittern. Es waren wolfsähnliche Wesen, jedoch größer, mit Fellen in grau-braunen Farbtönen bis hin zu tiefstem Schwarz. Schnauzen, zu Lefzen verzogen, zeigten gefährliche Ansammlungen scharfer Zähne. Die Wesen waren kräftig gebaut und wiesen scharfe Krallen an ihren Pranken auf, mit denen sie sich scheinbar mühelos an jeglichem Untergrund festhalten konnten. Denn einige der Tiere hingen tatsächlich seitlich an Bäumen oder auf den Dächern und Wänden der Dorfhäuser. Nur Wenige näherten sich ihnen in einem bedrohlichen Trott. Die meisten der Tiere bewegten sich blitzschnell springend vorwärts und nutzen dabei die Bäume und Häuser, um sich abzustoßen und immer schneller zu werden.

Ein Tier sprang hervor und landete mit ausgefahrenen Krallen an der Hauswand der Jägers. Frauen schrien auf und Feinaar bemerkte Ajanelles furchterfüllten Blick, an dem sich das Tier förmlich zu laben schien.

Für einen Bruchteil des Augenblicks war er abgelenkt und sein Gegner nutzte die Gelegenheit sofort. Für einen Schwert- oder Axthieb reichte die Zeit nicht, so hämmerte er stattdessen seinen Fuß seitlich unter Feinaars Rippen. Als Feinaar die Luft aus der Lunge gepresst wurde, glaubte er von der Wucht eines durchgegangenen Hengstes getroffen worden zu sein. Er verlor den Boden unter den Füßen und wirbelte durch die Luft, ehe er schmerzhaft auf den Boden platschte und im Matsch schlitternd vor den Frauen zum Halten kam.

Keuchend und um Atem ringend, mit dem Gesicht im Dreck, stemmte er mühsam seinen Oberkörper nach oben. War er gerade wirklich drei Manneslängen durch die Luft geschleudert worden? Woher nahm dieser Mensch auf einmal diese Kraft?

Beim Versuch den Kopf klar zu bekommen und seine Umgebung ins Auge nehmend, wurde er sich einer harten Wahrheit bewusst, während die Zeit nahezu still zu stehen schien.

Sein geraubtes Schwert lag einige Armlängen von im entfernt im Matsch. Es musste im Fall aus seinen Händen geglitten sein. Er hatte es nicht einmal bemerkt.

Hör auf nachzudenken! Nimm mich an!

Die grauenhaften Schemen schrien noch immer in seinem Kopf.

Und nimm auch mich an!

Und mich!…mich! …mich!…mich!

Ich helfe! Wir helfen!

…er hilft! Alle helfen!

Er wusste nicht, wie lange er das stetig lauter werdende Chaos in seinem Kopf noch ignorieren konnte.

Eins dieser wolfsähnlichen Wesen hing an der Wand des Hauses, wo die Frauen verzweifelt Schutz gesucht hatten. Wie hatten die angreifenden Menschen die Wesen gleich noch genannt? Warmgaltz?

Und dann war da noch der in magischen Nebel gehüllte Mensch. Feinaar glaubte, trotz des grauen Dunstes, ein hämisches Grinsen in seinem Gesicht zu erkennen. Es musste an diesem dunklen Nebel liegen. Der Kräftezuwachs war nicht natürlich… Oder hatte sein Gegner sich anfangs zurückgehalten?

Nein!

Magie!

Schwarze Magie!

Erinnere dich!

Du hast schon gegen dunkle Magie gekämpft!

Erinnere dich! Erinnere dich… Erinnere… Erinnere… Erinnere…

Diesmal glaubte er den Stimmen, der Nebel troff förmlich vor schwarzer Magie. Aber erinnern? Feinaar fiel keine Gegebenheit ein, zu der er gegen schwarze Zauberei gekämpft hatte.

Auf einmal verstummte das Stimmwirrwarr in seinem Kopf, um einer einzelnen, zögerlichen Frage Raum zu geben.

Du… hast uns gehört?

Feinaars Puls raste, als er sich seines entsetzlichen Fehlers bewusst wurde. Seine Gedanken überschlugen sich in der Hoffnung einen Ausweg zu finden. Doch es war längst zu spät…

Er hört mich! Er hört uns!

Er hört ihn! Er hört alle!

Schrien die Stimmen vor Freude jauchzend und mit einer Lautstärke, dass Feinaar Sorge hatte, sein Kopf würde zerspringen.

Im Versuch das innerliche Gekreische zu ignorieren, flogen seine Gedanken zurück zur gegenwärtigeren Bedrohung. Der bullige Mensch war im Begriff sich ihm zu nähern, während an anderer Stelle eins dieser wolfsähnlichen Wesen zum Sprung auf Ajanelle und die Frauen ansetzte. Er würde nicht gleichzeitig die Frauen vor dem Wolfswesen schützen und sich selbst verteidigen können. Was sollte er also tun?

Für Feinaar schien die Zeit noch immer still zu stehen, während seine Gedanken rasten und nach einer Lösung suchten. Mit nur seinem Kurzschwert bewaffnet würde er sich kaum gegen seinen Widersacher wehren können. Obendrein auch noch die Frauen zu retten, schien unmöglich.

Wenn er jedoch den Menschen ignorieren und seine volle Aufmerksamkeit dem Wolfswesen widmen würde, hätte sein Gegner alle Zeit der Welt ihn in einem unachtsamen Augenblick von hinten zu erschlagen. Es war keineswegs gegeben, dass Feinaar tatsächlich lange genug leben würde, um das Wesen töten zu können oder zumindest zu vertreiben.

Was konnte er also tun?!

Denk nach Feinaar! Schalt er sich selbst. Wie konnte er der Endgültigkeit der Situation entkommen?

Wir helfen!

Du bist ein Esiew! Wir sind Esiew’!

Wir sind du! Du bist wir!

Erinnere dich! Erinnere…

Wie eine Sturmflut, durchströmten plötzlich Bilder seinen Kopf. Sie formten Geschichten und Erinnerungen in denen er sich selbst sah. Mal kämpfte er gegen in Nebel gehüllte Menschen, dann gegen diese wolfsähnlichen Kreaturen und auch andere Monstrositäten. Er sah die Perfektion in seinen Bewegungen. Elegant wich er Hieben, Klauen und Stößen aus, tänzelte um sie herum und ließ währenddessen in tödlicher Präzision seine Schwerter niederfahren. Der Esiew, den er dort sah, war von einer inneren Kraft erfüllt, die man selbst als Beobachter noch spürte. Sie pulsierte wie das Leben, durchdrang den dunklen Nebel, zerstörte die bösartige Rüstung der Feinde. Wohin auch immer er sich bewegte, verpuffte der graue Dunst im Nichts und hinterließ die Feinde ungeschützt und ihrer Kampfeslust beraubt.

Ja…

Er erinnerte sich…

Ihm war die Flucht gelungen. Er hatte gekämpft, tagelang und ununterbrochen. Irgendwann war er losgerannt und hatte alles hinter sich gelassen, seine Feinde, das erlebte Grauen und auch… seine Erinnerungen.

Das warst du. Und das bist du noch!

Du bist ein Esiew! Kämpfe wie ein Esiew!

Nimm unsere Macht! Nimm deine Macht!

Du willst beschützen? Wir wollen beschützen!

Du willst töten? Wir wollen töten!

Erinnere dich an deine Kraft! Erinnere dich an deine Macht!

Benutze sie!

TÖTE!

VERNICHTE!

LEBE!

BEWAHRE!

Feinaar keuchte auf, von den scharfen Worten wie benommen. Die Stimmen waren kein Grauen. Waren es nie gewesen. Er erinnerte sich an die Kämpfe. Mit jedem Bild das seinen Kopf durchflutete, kamen die Erinnerungen schneller zurück.

Die Stimmen stellten eine Macht dar, die er beherrschen konnte. Er hatte sie schon oft eingesetzt, ihre Kräfte zum Guten genutzt. Feinaar spürte in sich hinein. Suchte nach dem Quell seiner Macht, dem Geburtsort der Stimmen und fand ihn schließlich tief in ihm verborgen. Pulsierend und strahlend, schlummerte die Macht vor sich hin. Sie lechzte nach Berührung und wartete dennoch ab.

Ja… Ja! Ja!

Da ist es!

Benutze die Macht!

Nimm sie an!

Lass dich durchströmen!

Feinaar tastete vorsichtig nach dieser versteckten Kraft in seinem Inneren, während sich die Schreie der Stimmen ins Euphorische steigerten.

Was hatte er schon zu verlieren? Er und ein paar Frauen des Dorfes würden gleich sterben. Vielleicht konnte er es mit dieser Macht verhindern… vielleicht auch nicht…

Sein Blick glitt ein letztes Mal aus seinem Innersten hinaus und suchte nach der Gestalt einer ganz speziellen Menschenfrau. Er fand sie und fing ihren verängstigten Blick ein. Das fröhlich goldene Funkeln in ihren Augen fehlte. Einzig Furcht und Panik zeichneten sich in ihnen ab.

Irgendwas hielt ihn noch immer von seiner früheren Kraft fern. Er wusste nicht was es war und er wusste auch nicht was aus ihm werden würde. In diesem Moment jedoch, wurde ihm klar, dass er das Risiko eingehen würde. Vielleicht nicht für ihn selbst, aber für die junge Menschenfrau, die sich einen Platz in seinem Herzen erobert hatte, allemal.

Feinaar zögerte nicht länger und griff in sich hinein. Es dauerte nicht lange, bis er die strahlende Macht in seinem Geiste gefunden hatte. Vorsichtig tastete er sich heran, verharrte für einen Moment kurz davor und schloss schließlich seine geistigen Fühler um dieses leuchtende, pulsierende Etwas.

Eine Schockwelle brandete durch ihn hindurch und Macht schoss in seinen Körper. Feinaar keuchte und rang nach Luft. Sein Körper vibrierte und sprühte vor Hitze. Doch vor allem fühlte er sich… ganz.

Ein Lachen entrang sich seiner Kehle und wandelte sich fast schon zu einem hysterischen Gackern. Sein Körper quoll vor Macht förmlich über und Feinaar spürte die neue Kraft in seinen beanspruchten Muskeln. Die Sinne geschärft, erkannte er das Platschen einzelner Regentropfen, während seinen Augen nichts mehr verborgen blieb. Der pulsierende Nebel vermochte nur noch einen hauchdünnen Schleier, wie die zartesten Amalintücher, um die Angreifer des Dorfes zu legen. Feinaar richtete sich auf und mit einem Mal schien der Stillstand der Zeit aufgehoben.

Hinter ihm stieß sich das wolfsähnliche Wesen von der Hauswand ab und sprang auf die Frauen zu. Ohne nachzudenken wirbelte Feinaar in einer Rückwärtsdrehung herum, hechtete zwischen die Frauengruppe und trieb der heran fliegenden Kreatur sein Kurzschwert in den Rachen.

Frauen kreischten und seine Finger schlossen sich fest um sein Kurzschwert als die Kreatur von seiner Klinge glitt und durch die Wucht des Hiebes tot zu Boden geschleudert wurde. Blitzschnell wandte sich Feinaar von dem erledigten Monstrum ab und sprang mit einem Satz, seinem herannahenden Feind entgegen. Feinaar stellte fest, dass sich seine Wahrnehmung noch auf andere Weise geändert hatte. Der dunkle Nebel, strahlte Macht aus, leuchtete in einer Art dunklem Schein. Pulsierend verdichtete sich die Finsternis an wechselnden Stellen, während sein Gegner sich auf ihn zu bewegte.

Ohne zu zögern, trat Feinaar an den bulligen Mensch heran und fing den ersten Schwerthieb mit Leichtigkeit durch sein Kurzschwert ab. Er sah die Streitaxt kommen, ließ blitzschnell seinen rechten Arm, samt Kurzschwert, kreisen und blockte die Axt nach unten weg. Sein Gegenüber sprang einen Schritt zurück und glotze ihn überrascht an. Feinaar fletschte nur die Zähne in einem mörderischen Lächeln.

Die Kraft seines Gegners stellte keine Bedrohung mehr für ihn dar. Der Nebel versperrte ihm nicht mehr die Sicht und in jedem Wimpernschlag strömten mehr Erinnerungen in ihn hinein, wie er sich zu bewegen hatte. Oh ja, er würde mit diesem mörderischen Gesindel abrechnen!

Bewahre! Töte!

Töte! Bewahre!

Wie Recht die Stimmen hatten! Keiner aus dem Dorf würde sterben, vorher müssten diese Mörder an ihm vorbei!

Der erstaunte Gesichtsausdruck des Angreifers verschwand, machte einem grimmigen Nicken Platz und verwandelte sich in ein gehässiges Grinsen. Feinaar folgte seinem Blick und wurde sich der übrigen Warmgaltz bewusst. Zwanzig Zort vor ihm, setzen gerade Einige zum Sprung auf die Frauen an.

Nein!

Das würde er nicht zulassen!

Siegessichere Gefühle und perverse Freude wallten von der dunklen Macht des Nebels zu ihm herüber und all die aufgestaute Wut brach an die Oberfläche Feinaars Bewusstseins. Eiskalter Zorn ließ ihn erzittern und er sprang.

Und Feinaar sprang mit einer Wucht, die ihresgleichen suchte. Er sah sich selbst durch die Luft fliegen, gleißende Lichter verschwammen zu seinen Seiten und im nächsten Augenblick prallte er keine zwei Zort vor den Bestien auf dem Boden auf. Eine Druckwelle aus Regen und Wind vermischt mit seiner Wut, löste sich von ihm und ließ die Monster in ihren Bewegungen inne halten.

Seine Arme zurückführend, bediente er sich im Zorn seiner Macht, füllte seine Lungen mit einem langen Atemzug und stieß einen Schrei aus den tiefsten Ebenen seines Bewusstseins hervor. Wie ein überirdisches Kreischen lösten sich die Laute von seinen Lippen, während sein Zorn in einer gewaltigen Woge über die Monster brandete.

Kaum verklang der Schrei, duckten sich die Warmgaltz geschockt, kniffen den Schwanz ein und machten winselnd ein paar Schritte rückwärts. Nur um daraufhin panisch und vor Angst jaulend in alle Richtungen davon zu laufen. Es dauerte keine zwei Sekunden und alle Warmgaltz waren außer Sichtweite.

Jetzt!

Es ist soweit!

Angreifer werden bluten!

Wir werden sie abschlachten!

Wir werden bewahren!

Oh ja, der Zeitpunkt war gekommen. Die Monster waren verjagt. Nun war es Zeit sich um diejenigen zu kümmern, die für ihr Erscheinen gesorgt hatten.

Feinaar fühlte wie die Macht in seinem Inneren aufloderte und ihn erschauern ließ. Er drehte sich um und sah die schockierten Gesichter der Angreifer. Allesamt waren sie einige Schritte zurückgewichen und wirkten nun nicht mehr so selbstsicher, wie zu Beginn des Angriffs.

Feinaars Gegner erlangte zuerst seine Fassung wieder und schrie seinen Kumpanen am Haus der Jägers zu: „Was steht ihr da noch rum?! Holt die Rasskass! Wir werden diesem Bastard zeigen, mit wem er sich hier anlegen will!“

Woraufhin sich einer der Menschen tatsächlich sofort zum südlichen Rande des Dorfes aufmachte.

Seine Schultern zuckten, er konnte einfach nicht anders. Trotz all seiner Wut musste Feinaar innerlich lachen. Doch letztlich kam ihm nur ein bösartiges Gackern über die Lippen. Rasskass? Wer oder was sollte das sein? Als ob Verstärkung irgendetwas ändern würde!

Es ist an der Zeit!

Ja, es war Zeit. Zeit sie zu vernichten!

Feinaar rief seine Macht und sprang erneut. Im nächsten Moment fand er sich neben seinem Gegner wieder, der ihn ungläubig anstarrte.

„Glaubst du wirklich, dass du noch lange genug lebst, um die Verstärkung kommen zu sehen?“, fragte er boshaft lachend seinen Gegenüber.

Der bullige Mensch verschwendete keine Sekunde und schmetterte Feinaar sofort sein Schwert entgegen. Doch Feinaar war darauf gefasst. Mit einem schwungvollen Hieb ließ er sein eigenes Schwert gegen das seines Gegners krachen und ließ seiner Macht freien Lauf den schwarzen Nebel zu zerreißen. Wie von einer Welle unsichtbarer Kraft wurde der Nebel um den bulligen Menschen zurückgetrieben und zerstob letztendlich in einem unheilvollen Kreischen.

Feinaars Gegner taumelte ein paar Schritte zurück und stammelte völlig verängstigt: „Was... was... geht hier vor?!“

„Jetzt wirst du sterben“, bemerkte Feinaar nur mit tödlicher Ruhe und begann auf ihn zu zugehen. Feinaar schwang ihm sein Schwert von unten entgegen und zwang seinen Gegner so zu parieren. Doch nun umgab ihn nicht mehr der dunkle Nebel und seine Kräfte waren nicht länger verstärkt. Mit Leichtigkeit schlug Feinaar seinem Gegner das Schwert aus der Hand, führte eine kreisende Bewegung aus, um den Schwung zu nutzen und ließ die tödliche Schneide auf das Schlüsselbein des Menschen niederfahren. Es lag solche Wucht in dem Schlag, dass sein Schwert Knochen, Sehen und Muskeln durchtrennte, bis es fast in der Mitte des Torsos seines Gegenübers stecken blieb.

Die Augen des Menschen flackerten bereits als er ungläubig an sich hinunter blickte. Feinaar riss sein Schwert heraus und der Mensch platschte nach hinten in den Schlamm.

Für einen Moment betrachtete Feinaar den Mann den er getötet hatte. Er verspürte keine Befriedigung. Da war nur Zorn. Zorn darüber, dass sie ihn gezwungen hatten zu töten. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer eiskalten Maske. Ja, er würde töten. Er würde sie alle töten. Er würde sie abschlachten. Sie hatten gewagt sich gegen die Dorfbewohner zu wenden, die ihn mit offenen Armen aufgenommen hatten. Dafür würden sie bezahlen!

Ja! Sie werden bezahlen!

Ja!

Sie werden büßen!

Oh, ja!

Wir werden sie nicht nur töten! Wir werden sie abschlachten!

Jetzt!

Bis keiner mehr übrig ist!

Eine grausige Euphorie ergriff von ihm Besitz und sein Blick wanderte zum Gegner der Trajas. Er würde der Nächste sein. Ein brutales Grinsen stahl sich in sein Gesicht.

Feinaar sprang erneut. Landete hinter dem Gegner der Trajas, schlitzte ihm die Kehle auf und drehte sich zu den restlichen Angreifen um. Hinter sich hörte er noch das Zusammensacken eines Körpers in den Matsch als er bereits auf die übrigen Mörder zu ging.

Die restlichen zwölf Männer schienen nicht mehr so angetan von der Idee, gegen ihn antreten zu müssen und suchten ihr Heil in der Flucht.

Feinaars Grinsen vertiefte sich noch. So wie es schien, konnte er durchaus noch Gefallen an der Sache finden. Er sammelte seine Kräfte und bereitete sich auf den nächsten Sprung vor. Sollten Sie ihn doch fürchten lernen. Ein Bisschen Theatralik konnte nicht schaden. Er hob sein Kurzschwert mit beiden Händen und sprang.

Im nächsten Augenblick tauchte er zwischen Drei der Flüchtlinge auf, bediente sich der neuen Kraft und rammte sein Schwert in den Boden. Dabei löste sich eine Druckwelle aus Wind und Macht von ihm. Ihre Wucht schleuderte die ehemaligen Angreifer von den Füßen und die Macht zerriss auch diesmal die Schleier aus dunklem Nebel.

Noch ehe einer von ihnen reagieren konnte, packte Feinaar den Haarschopf des Ersten, riss dessen Kopf zurück und durchtrennte auch hier die Kehle. Mit einer Rückwärtsdrehung überbrückte er die Entfernung zum zweiten Menschen und führte sein Schwert waagerecht zum Hals des Mannes. Der Mensch reagierte und wollte den Schlag parieren, doch Feinaar bediente sich bereits seiner Macht. Er verstärkte die Wucht des Schlags und schärfte die Schneide, dass sein Schwert samtweich, mit nur einem kleinen Funken, das blockierende Schwert durchtrennte und durch den Hals seines Gegner fuhr. Für einen kurzen Moment blickte er in das schockierte Gesicht des Mannes, ehe der Kopf sich plötzlich zu drehen begann, sich seitlich vom Rumpf löste und nach hinten fiel.

Der Rumpf schwankte gerade als auch schon der letzte der Drei mit lautem Kampfschrei und erhobenem Schwert auf ihn zu rannte. Feinaar duckte sich unter dem Verzweiflungsschlag seines Widersachers hinweg und rammte ihm währenddessen sein Kurzschwert in den Unterleib. Gleichzeitig stemmte er sich in den Matsch und stieß, die immer noch geschärfte Klinge, bis zum Halsansatz nach oben. Regelrecht aufgeschnitten quollen die ersten Gedärme des Menschen schon aus seinem Leib, noch ehe er auf den Boden prallte.

Feinaar suchte sich gerade die nächsten Opfer aus, als ein tiefes Brüllen seine Konzentration für sich beanspruchte. Von Süden kamen drei Gestalten in Sicht. Der Mensch, der für die Verstärkung losgerannt war, ging in der Mitte. Zu seinen Seiten befanden sich Kreaturen, wie Feinaar sie noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. An seiner Rechten bewegte sich eine Mischung aus Bär, Wolf und Katze, auf allen Vieren über den matschigen Boden, die den Menschen eine ganze Manneslänge überragte. Der Kopf war der eines Wolfs, nur unglaublich viel größer, so das er zu dem gigantischen Körper passte, auf dem er thronte. Mit den großen Muskelpaketen und dem dichten, dunkelbraunen Fell eines Bären, bewegte sich die Kreatur trotz allem geschmeidig wie eine Katze. Ein Schwanz wedelte hinter dem Körper langsam im Regen hin und her und die leuchtend, roten Augen waren unheilvoll auf ihn gerichtet.

Die Kreatur auf der anderen Seite, rechte dem Menschen gerade bis zum Kinn. Große Flügel in einem grün-braunen Federkleid rahmten den gleichfarbigen Körper und den Kopf einer Schlange. Sie bewegte sich beängstigend aufrecht. Der größte Teil ihres Körpers waberte senkrecht zum Boden vor sich hin, so dass ihr ganzes Gewicht auf der Schwanzspitze zu ruhen schien. Auf diese Weise sah man auch erst auf den zweiten Blick den gefährlich aussehenden Skorpionstachel, in den ihr Körper schließlich endete.

„Zerreißt ihn!“, befahl der Mensch in ihrer Mitte und deutete dabei auf Feinaar.

Das Fell überzogene Monstrum warf die riesigen Pranken in den Schlamm und stieß ein kehliges Brüllen aus. Daraufhin bewegte es sich zunächst pirschend auf ihn zu, nur um dann überraschend schnell auf ihn los zu stürmen.

Das Monster hatte gerade die Hälfte der Distanz zwischen ihnen zurückgelegt, als Feinaar im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Er wich ruckartig einen Schritt nach rechts aus und schlug mit seinem Schwert den Stachel des geflügelten Wesens zur Seite. Wie ein grün-brauner Blitz war das Schlangenungetüm an ihm vorbei geschossen und krachte gegen das Haus der Jägers. Die Dorfbewohner hatten sich und ihre Frauen, in weiser Voraussicht, weiter nördlich aus der Gefahrenzone gebracht.

Gut so, dachte Feinaar. Denn sonst hätte er bei seiner nächsten Aktion vermutlich einige Dorfbewohner umgebracht.

Sich seiner Macht bedienend, wich er der Pranke des gigantischen Wolfsgesichtes aus, ließ sein Schwert fallen und ergriff das, sich noch im Schwung befindende, Vorderbein der Kreatur. Seine Füße fest in den Boden stemmend und den Schwung nutzend, schleuderte er die Kreatur mit einem lauten Aufschrei über seine Schulter dem geflügelten Wesen entgegen.

Das geflügelte Monster stieß sich nach oben ab und entkam knapp dem heran fliegenden Fleischberg. Mit einem lauten Krachen und Bersten von Holz, durchbrach das Gewicht der fellhäutigen Monstrosität die Außenwand des Hauses und verschwand hinter zerborstenen Holzbalken.

Feinaar packte indes sein Kurzschwert und rannte dem geflügelten Schlangenwesen entgegen. Die Kreatur reagierte sofort, stieß mit einem Fauchen hinab und brachte ihren Stachel in Anschlag.

Sein Mund verzog sich zu einem brutalen Lächeln. Schließlich rannte er nicht umsonst auf das Monstrum zu. Im letzten Moment vor dem Aufprall, rief er seine Macht und sprang.

Fast im gleichen Augenblick tauchte er über dem Wesen auf und stieß sein Kurzschwert beidhändig tief in den Bereich, wo sich bei jedem Menschen oder Esiew’ der Nacken befunden hätte.

Nahezu augenblicklich erschlaffte die Kreatur und prallte nicht weit entfernt auf den Boden auf. Feinaar rollte sich ab und kam gerade rechtzeitig auf die Beine, um das Wolfsgesicht aus dem riesigen Loch, in der Hauswand der Jägers, steigen zu sehen. Wütend schüttelte sich das Monster und stieß erneut ein Ohren betäubendes Brüllen aus.

In diesem Moment wallte wieder der kalte Zorn in ihm auf. Er war es Leid sich mit diesen Monstern abzugeben. Die Menschen sollten büßen! Es war besser, wenn er es hier schnell zu Ende brachte. Er drehte sich vollends zum Wolfsgesicht um und sprang noch bevor das Brüllen geendet hatte.

Feinaar erschien auf Kopfhöhe des Monsters in der Luft, direkt vor dem weit geöffnetem Maul und stieß sein Kurzschwert mit aller Kraft durch eins der leuchtend roten Augen. Noch im Fallen entriss er es dem Leib der Kreatur und brachte sich mit zwei tänzelnden Schritten aus dem Gefahrbereich. Der Körper des riesigen Wesens zuckte noch ein, zwei Mal, ehe er schließlich zusammenbrach.

Feinaars kalter Zorn war noch lange nicht gestillt. Nun würde er sich seinen eigentlichen Feinden stellen. Jetzt waren die Menschen dran! Die Vorfreude die er bei dem Gedanken empfand, sie alle abzuschlachten, ließ ihm wohlige Schauer über den Rücken fahren.

Er drehte sich um und sah in ihre schockierten Gesichter. Bildete er sich das nur ein, oder wirkten sie alle um Einiges blasser als zuvor? Nein, dachte er vergnügt. Sie verspürten Angst. Und es war Zeit, dass er sie von ihrer Angst erlöste. Er kicherte in sich hinein, denn er wusste auch schon genau in welcher Reihenfolge.

Ein grausames Lachen entrang sich seiner Kehle als er sprang.

„...Feinaar!“

Er wusste nicht genau der Wievielte es war. Nicht, dass es von Bedeutung wäre, dachte er grinsend.

„Hör... Feinaar!“

Rief ihn da etwa jemand? Wohl eher nicht, er musste sich verhört haben, dachte Feinaar und trennte dem Menschen Stück für Stück die Gliedmaßen ab. Der Mensch lebte noch und schrie unter Qualen auf. Oh großes Licht, diese süßen Schreie! Feinaar lächelte erfreut und machte sich daran dem Menschen ganz behutsam den Bauch aufzuschneiden. Sein altes Kurzschwert war natürlich nicht gerade dazu ausgelegt und sorgte keineswegs für eine schnelle Prozedur. Aber das wahnsinnige Gekreische, das sein Gefangener daraufhin von sich gab, entlohnte ihn reichlich. Ja, es war es wirklich wert, sich Mühe beim Zerschneiden zu geben. So lebten...

„Hör... auf... Feinaar!“

Nanu? War da was? Hörte er jetzt schon Stimmen? Ach, als ob er verrückt werden würde, bei dem absurden Gedanken musste er grinsen.

Also, wo war er stehen geblieben? Ah ja, genau, so lebten sie länger und er konnte länger die süßen Laute des Todes vernehmen. Natürlich würde dieses verstümmelte Ding bald verbluten. Es war schon schade, dass er nichts zum Abbinden der Wunden hatte. Aber irgendwo lag da doch auch der Reiz nicht war? Wie viele der süßen Laute würde dieses Ding wohl noch von sich geben? Er konnte es kaum erwarten, es heraus zu finden!

„Bitte... Feinaar!“

„Bitte! Hör auf!“

„Feinaar!“

Ein wütendes Grollen löste sich aus seiner Kehle. Da rief tatsächlich jemand. Sah die entsprechende Person nicht, dass er gerade am Arbeiten war?

„Feinaar! Bitte hör auf! Du... darfst das nicht tun! Es ist genug... du... hast uns beschützt! Du... musst... nicht mehr kämpfen!“, hörte er eine schluchzende Stimme.

Also wirklich, eigentlich sollte er zutiefst genervt sein. Aber irgendwie kam ihm die Stimme seltsam vertraut vor...

Das verstümmelte Etwas zu seinen Füßen, gab noch ein letztes Röcheln von sich und verstummte schließlich. Na toll, dachte er. Jetzt hatte er nicht aufgepasst und prompt war der Spaß vorüber.

Er sah sich nach dem nächsten um und musste enttäuscht feststellen, dass kein weiteres Vergnügen in Sicht war.

„Feinaar! Hörst... du mich nicht? Bitte... Feinaar... hör auf damit...! So... bist du nicht...“, schluchzte die Stimme erneut.

Na gut, da ihm momentan eh die Vergnügungsobjekte ausgegangen waren, konnte er sich genauso gut um die Quelle der Stimme kümmern. Wer oder was auch immer etwas von ihm wollte.

Mit einem Seufzen drehte er sich um und suchte nach dem Ursprung.

„Feinaar, bitte!“, da war die Stimme wieder!

„Hör auf Ajanelle. Er ist völlig durchgedreht! Siehst du das nicht?!“, das war jemand anders. Die Stimme klang viel tiefer und... männlich?

Also suchte er nach einer Frau. Eine große Menschentraube hatte sich in recht großer Entfernung von ihm gebildet. Die Menschen blickten jedoch eher verschüchtert zu ihm hinüber und regten sich nicht. Etwa auf halber Strecke entdeckte er jedoch eine Menschenfrau, die sich eines Menschenmannes zu erwehren versuchte.

„Feinaar!“, schrie sie verzweifelt.

Sie war es! Es war ihre Stimme die er gehört hatte!

Sein Blick glitt von ihren Füßen empor nach oben. Über die Beine, den Unterleib, Oberkörper, hin zum Gesicht und plötzlich sah er Gold.

Gold hinter Braun.

Gold in Braun.

Ein warmes, goldenes Leuchten funkelte in ihren Augen, drang in ihn hinein und durchflutete sein Innerstes. Er keuchte überrascht auf und taumelte zurück. Seine Sicht verschwamm für einen Moment und klärte sich kurz darauf wieder.

Jetzt erkannte er auch Anton, wie er krampfhaft versuchte Ajanelle zu bändigen, die ohne Unterlass versuchte sich los zu reißen. Ab und an blickte er, ebenso wie die restlichen Dorfbewohner, ängstlich zu ihm hinüber. Wovor fürchteten sie sich?

Der Regen trieb ihm eine Haarsträhne ins Gesicht und Feinaar wollte sie sich gerade zurückstreichen, als er das Blut an seinen Händen bemerkte. Geschockt schaute er dem Regen dabei zu, wie er in unendlicher Langsamkeit das Blut von seinen Händen spülte.

Irgendwann wurde er sich bewusst, dass Ajanelles Schreie inzwischen ausblieben. Er wollte zu ihr gehen, als sein Fuß gegen etwas Weiches stieß. Feinaar blickte hinab, zog entsetzt die Luft ein und sprang reflexartig zurück.

Vor ihm zog sich eine blutige Spur aus körperlichen Einzelteilen bis hin zu Ajanelle und Anton. Es dauerte etwas, bis ihm klar wurde, dass es sich um die Menschen handelte, die das Dorf angegriffen hatten.

Wie konnte so etwas geschehen? Wer hatte das getan?

Fragte er sich verwirrt, bis plötzlich ein scheußlicher Verdacht in ihm reifte. War... es etwa... er selbst gewesen?

Er blickte auf und erkannte die Angst in den Augen der Dorfbewohner als das, was sie wirklich war. Sie fürchteten sich... vor ihm!

Er blickte erneut auf die Leichen zu seinen Füßen, unterdrückte ein Schaudern und plötzlich strömten die Erinnerungen auf ihn ein. Er sah sich selbst vor seinem inneren Auge... Wie er sie tötete... Wie er sie abschlachtete...

Ein Schluchzen entrang sich seiner Kehle, während er sich innerlich verkrampfte.

Was hatte er für entsetzliche Dinge getan?!

Doch das Schlimmste an allem... Das Furchtbarste war, sein eigenes Lachen zu hören. Die kranke Freude noch einmal zu fühlen, die er empfunden hatte als er ihre Leben auf qualvolle Art und Weise beendet hatte.

Tränen liefen im die Wangen runter und vermischten sich mit dem Regen. Seine Kehle war wie ausgetrocknet und ließ ihn schlucken. Wie hatte er so etwas tun können?!

„Feinaar?“, hörte er Ajanelle vorsichtig fragen.

Er hatte Angst aufzublicken. Was würde er in ihren Augen finden? Feinaar rang mit sich und tat es schließlich doch. Sie wehrte sich nicht mehr gegen ihren Bruder, der sie noch immer festhielt und ihn wie gebannt anstarrte.

Am ganzen Körper zitternd, blickte er sie an und blieb an ihren Augen hängen. Kummer spiegelte sich darin und etwas anderes... Mitleid? Für ihn?

Feinaar schluchzte erneut und machte unsicher einen Schritt auf sie zu.

„Ajan...“, setzte er an. Doch seine Stimme brach als er ein Aufflackern der Angst in ihrem Blick entdeckte.

Es war nur für einen winzigen Augenblick gewesen. Aber er hatte die Panik gesehen. Ajanelle hatte Angst vor ihm! Sogar sie... Aber was hatte er auch erwartet?

Feinaar konnte nicht mehr. Er drehte sich um und rannte davon. Eine Zeit lang hörte er noch Ajanelles Rufe. Doch irgendwann verklangen auch diese. Er rannte nach Osten durch den Wald. Immer weiter und weiter.

Vollkommen erschöpft brach er schließlich verloren an einem Baumstamm zusammen und weinte sich die Seele aus dem Leib. Sein Schluchzen hallte durch den Wald und vermischte sich nach und nach mit den Geräuschen des Regens. Doch es sollte lange dauern, bis seine Trauer hinfort gespült worden war.

 

 

Feinaar legte die letzten großen Holzbündel an das zukünftige Lagerfeuer und atmete erschöpft auf. Es waren fast zwei Wochen seit dem Überfall vergangen. Seither flüchtete er sich in Arbeit und schuftete härter als alle anderen Dorfbewohner. Er stand früher auf und legte sich später schlafen. Seinen Schlafplatz hatte er auch gewechselt und war in einen Stall gezogen. Die Tiere drängten sich noch immer panisch nach hinten in ihre Boxen, sobald er das Gebäude betrat und ihre Reaktionen verletzen ihn stets auf ein Neues. Doch es war gut so, sagte er sich. Zumindest würde er dadurch nicht vergessen, welche Taten er begangen hatte.

Die Menschen hielten sich zum größten Teil von ihm fern. Einzig Daton und Anton sprachen ab und an mit ihm. Allerdings auch nur um ihm mitzuteilen, wo er sich als nächstes nützlich machen konnte.

Ajanelle hatte er seit dem Vorfall nicht mehr zu Gesicht bekommen. Vermutlich hatte Daton ihr untersagt, ihm zu nahe zu kommen. Nicht das Feinaar es ihm verübeln konnte.

Die Hände in die Hüfte stemmend, streckte er sich nach hinten und schloss für einen Moment seufzend die Augen. Es war ein überraschend angenehmer Herbsttag, nicht zu warm oder zu kalt. Der Himmel war locker bewölkt und ließ ab und an die Sonne durch die Wolken scheinen. Heute war der zweite Zulnar im Oktomas und damit der Erntedankfeiertag des Landes. Dafür hatte er auch den ganzen Morgen geschuftet und das Feuerholz herangetragen.

Die Festlichkeiten würden abends beginnen und bis spät in die Nacht reichen. Feinaar war froh darüber, dass die Dorfbewohner beschlossen hatten, die Feier zu halten. Offensichtlich waren sie bemüht wieder Normalität einkehren zu lassen.

„Feinaar, kann ich kurz mit dir sprechen?“, fragte ihn Daton. Er war bis auf zwei Schritte an ihn heran getreten, während in einigem Abstand noch andere Männer des Dorfes warteten.

„Sicher doch. Was gibt es, Daton?“

„Ich bin hier in meiner Funktion als Dorfsprecher, Feinaar. Wir haben uns lange beraten und sind letzten Endes zu dem Schluss gekommen, dass wir dich wieder in unserem Dorf willkommen heißen wollen“, sagte Daton ruhig.

Feinaar war sprachlos. Die Worte hatten ihn völlig überrumpelt, doch Daton sprach bereits weiter: „Du hast uns alle gerettet. Wir hätten uns niemals gegen einen Raubzug aus Wulvenien erfolgreich zur Wehr setzen können. Und auch wenn du dabei in eine Art Blutrausch gefallen bist... und... Dinge getan hast, die wir nicht gut heißen können, bleibt die Tatsache bestehen, dass ohne dich niemand von uns mehr am Leben wäre“, sagte Daton ernst und schaute ihm dabei in die Augen. „Wir haben dich fast zwei Wochen beobachtet und gesehen, wie du dich jeden Tag zu Tode geschuftet hast. In den letzten Tagen ist auch den letzten Zweiflern klar geworden, dass du für gewisse Zeit nicht Herr deiner selbst warst und dich die Geschehnisse selbst am Meisten quälen. Deshalb würden wir den heutigen Tag gerne nutzen und dich heute Abend zum Fest einladen.“

Tränen rannen ihm über die Wagen und er brachte nur ein Wort heraus: „Danke.“

Und er meinte es auch so. Erleichterung machte sich in ihm breit und vertrieb die stumme Hoffnungslosigkeit, die ihn nun schon Tage im Griff gehabt hatte.

Daton nickte stumm und winkte Tarlas heran. Tarlas trug ein verschnürtes Bündel und hielt es Feinaar hin, als er angekommen war.

„Du wirst kaum in diesen Fetzen von Arbeitskleidung heute Abend zum Fest erscheinen können“, meinte er schlicht, was Feinaar dazu veranlasste ihn mit offenen Mund anzustarren.

„Wir hatten zu Zweit oder zu Dritt Probleme auch nur mit Einen von ihnen fertig zu werden. Ich mache mir keine Illusionen, was passiert wäre, wenn du nicht hier bei uns gewesen wärst“, erklärte er sich. „Keine Ahnung was dir widerfahren ist, ich werde auch nicht fragen. Aber wenn ich dran denke, was diese Bastarde Midra angetan hätten... Du warst da und hast für uns gekämpft und letzten Endes ist das alles was zählt. Es hat nur etwas gedauert bis die Feiglinge im Dorf das erkannt haben“, dabei klopfte er Feinaar auf die Schulter und drehte sich zum Gehen. Doch Feinaar hielt ihn zurück, blickte ihm in die Augen und sagte: „Danke Tarlas, das bedeutet mir viel.“

Tarlas drehte sich noch einmal um und grinste ihn an: „Tu mir nur einen Gefallen, ja?“

„Alles was du willst“, antwortete Feinaar.

„Hör auf zu Heulen, ja? Das steht dir nicht.“

Zum ersten Mal seit Tagen konnte Feinaar aus tiefster Seele lachen und Tarlas ging mit einem grinsenden Kopfschütteln davon.

„Überraschenderweise haben sich die Jägers am Stärksten für deine Wiederaufnahme im Dorf eingesetzt. Letzten Endes hast du es also eher ihnen und nicht mir und Anton zu verdanken, dass ich jetzt hier stehe“, teilte ihm Daton nachdenklich mit.

„Ganz egal, wer sich für mich eingesetzt hat, ich bin wieder im Dorf willkommen und das ist alles, was für mich zählt, Daton.“

„Die Mehrheit heißt dich im Dorf wieder willkommen, Feinaar. Nicht alle. Vergiss das nicht“, erklärte ihm Daton nachdrücklich. „Anka und ich, möchten dich wieder bei uns willkommen heißen. Du musst nicht mehr in der Scheune schlafen und kannst wieder in unser Gästezimmer ziehen. Wir haben jedoch nicht vergessen, was du getan hast. Auch Ajanelles Blicke sind mir nicht entgangen, dass solltest du im Gedächtnis behalten“, sagte Daton und schaute ihm dabei tief in die Augen. Anschließend drehte er sich um und verschwand in Richtung seines Hauses.

Feinaar musste grinsen. Er wusste nicht recht, ob er gerade von einem Dorfsprecher oder einem aufgebrachten Menschenvater gewarnt worden war. Vermutlich war beides der Fall.

Lächelnd schaute Feinaar gen Himmel. Der Tag versprach immer schöner zu werden.

 

 

Bis kurz vor der Dämmerung hatte er an verschiedenen Stellen weiter gearbeitet und war froh, als sich die Dorfbewohner zurückzogen, um sich für die Festlichkeiten des Abends vorzubereiten.

Feinaar ließ sich beim Waschen Zeit und schlüpfte schließlich in die Kleider, die ihm Tarlas vermacht hatte. Das Hemd war beige und die Hose in einem dunklen Braunton gehalten. Beide Kleidungsstücke waren aus einfachem Material, jedoch sorgsam verarbeitet und im guten Zustand. Während die Hose sogar breitere Schlaufen für einen Gürtel bereit hielt und nicht nur die üblichen Schlupflöcher für eine Kordel, wies das Hemd einen V-Ausschnitt auf, den man mit einer Schnur, die in Zickzack-Form verlief, enger schnüren konnte.

Sogar ein Paar Schuhe und einen passenden Gürtel, hatte Tarlas ihm gegeben. Die Schuhe waren ein Bisschen zu groß und den Gürtel musste Feinaar im engsten Loch tragen, doch die Dankbarkeit, die er der Leihgabe gegenüber empfand, ließ ihn die kleinen Mängel schnell vergessen. Fertig angezogen überprüfte er noch einmal, ob alles richtig saß und machte sich im letzten Tageslicht auf den Weg zu den Feierlichkeiten.

Von Weitem hörte er bereits das fröhliche Gelächter der Menschen und wenig später sah er, dass das Fest bereits in vollem Gange war. Einige der Dorfbewohner musizierten etwas Abseits auf Trommeln, Flöten, Fideln und Lauten, während die Mehrzahl der Menschen um das große und inzwischen entzündete Lagerfeuer tanzte. Ein paar der Älteren saßen außerhalb des Tumults auf einfachen Holzbänken oder kümmerten sich um Speisen, die teilweise noch über einem separaten Feuer zubereitet wurden.

Feinaar näherte sich gemächlich den tanzenden Menschen und setzte sich zu den älteren Dorfbewohnern. Irgendwann setzte die Musik aus und Tarlas und einige der jungen Frauen zerrten ihn auf die Tanzfläche. Er hatte zunächst verneinen wollen, weil er insgeheim nach Ajanelle Ausschau hielt, als er sie jedoch nicht fand, hatte er nachgegeben.

So verbrachte er zunächst seine Zeit damit, beim Tanzen von einer Frau an die Nächste weitergereicht zu werden und musste zu seiner Überraschung feststellen, dass es ihm irgendwann tatsächlich Spaß machte. Die fröhliche Atmosphäre sprang auf ihn über und erlaubte ihm die Geschehnisse der vergangenen Tage hinter sich zu lassen.

Der Abend war schon weit fortgeschritten, als sich die eingenommenen Flüssigkeiten bemerkbar machten und Feinaar beschloss, das Fest kurz zu verlassen, um sich hinter ein paar abgelegenen Bäumen zu erleichtern. Er wollte gerade hinter den Bäumen hervortreten und zurückkehren, als er einen geflüsterten Befehl vernahm: „Stehen bleiben!“

Gleichzeitig bohrte sich eine harte Spitze in seinen Rücken und verlieh den Worten Nachdruck. Instinktiv versteifte sich Feinaar, während er versuchte zu erahnen, mit welcher Waffe er es in seinem Rücken zu tun hatte.

Man ließ ihm jedoch keine Zeit zu reagieren, denn die Stimme ertönte schon unmittelbar an seinem rechten Ohr: „Ich schätze mal, du hattest nie vor nach mir zu suchen. Ich sollte dich hier sofort abstechen, mich einfach zu ignorieren!“

Anfangs ergaben die Worte keinen Sinn, bis Feinaar der weibliche Unterton in dem Flüstern auffiel.

„Ajanelle?!“ rief er erregt und sprang mit einem Satz herum.

„Zu ihren Diensten, Herr Frauenschwarm und Schürzenjäger!“, sagte Ajanelle mit grimmigem Blick und vollführte, ein paar Schritte zurückweichend, dabei einen ziemlich unstimmigen Salut mit dem kleinen Stöckchen, das sie in der Hand hielt.

„Du hast mich zu Tode erschreckt, Ajanelle!“, entrüstete Feinaar sich. „Ich hätte dir etwas antun können!“

„Ach, hättest du das?“

„Natürlich, was soll die Fr…“, wollte Feinaar erwidern, brach jedoch ab als er Ajanelles Blick auffing.

„Ich habe alles gesehen, Feinaar“, sagte sie ruhig. „Nie habe ich weg geschaut. Du hast diese Mörder getötet, ja. Aber wie du sie umgebracht… abgeschlachtet hast… Und dabei wie wahnsinnig gekichert und gelacht hast…“

Feinaars Kehle war mit einem Male wie ausgetrocknet, doch es war wahr. Er hatte schreckliche Dinge getan.

„Gerade das sollte dir zu denken geben“, meinte er traurig. „Es ist besser, wenn du mir nicht mehr zu nahe kommst.“

„Glaubst du das wirklich?“, fragte sie und schaute ihm unbeirrt in die Augen.

„Es ist das Beste…“, rang sich Feinaar mehr schlecht als recht zu den Worten, die er nicht aussprechen wollte.

„Das glaube ich aber nicht, Feinaar“, sprach Ajanelle ruhig aber bestimmt und machte dabei einen Schritt auf ihn zu. „Denn ich habe auch gesehen, wie du auf meine Rufe reagiert hast. Ich habe gesehen, wie dein Blick wieder klar wurde. Wie entsetzt du warst und wie dich diese Dinge quälen.“

Sie machte noch einen Schritt.

„Und ich habe auch gesehen, wie du eine Entscheidung trafst. Als mein Tod und der vieler anderer Dorfbewohner bevor stand, hast du mir in die Augen gesehen und dich entschieden. Entschieden mich zu retten. All die Anderen zu retten. Du magst nicht mehr du selbst sein, wenn du dich deiner Kräfte bedienst, doch du hast es zum Guten getan“, sprach sie ruhig und machte einen letzten Schritt. Nun stand sie unmittelbar vor ihm und fixierte mit ihren braunen Augen sein Gesicht. „Du würdest dich dieser Kräfte niemals gegen mich bedienen. Du hörst auf mich, vielleicht nicht sofort, doch du nimmst mich wahr. Anders als die restlichen Dorfbewohner. Ich frage mich, wieso das so ist?“

„Ich…“, Feinaar stockte der Atem als er in diese braunen Augen sah und das goldene Funkeln erblickte, dass sich in seltenen Momenten in ihre Augen stahl.

„Du kannst diesem Dorf mit deinen Kräften Schutz gewähren und ich… ich werde dich beschützen. Hier und hier…“, sagte Ajanelle und legte dabei ihre Hände auf seine Brust und seine Stirn.

Ein wohliger Schauer lief ihm, bei ihren Berührungen, über den Rücken. Und ein Seufzer entriss sich ihm, als sie plötzlich ihre Hände entfernte und sich ein Stück zurückzog.

„Zumindest… na ja, wenn du das überhaupt willst, Feinaar.“

Wie vom Donner gerührt stand er da und beobachtete die junge Menschenfrau, die doch jetzt tatsächlich verlegen den Kopf gesenkt hatte und abwartete.

Er wollte sie!

Und wie er sie wollte… Aber durfte er es wirklich wagen, auf sein Glück zu hoffen? Er wusste, dass Ajanelle ihn nicht zurück halten würde. Doch gerade deswegen musste er standhaft bleiben! Irgendetwas Böses verfolgte ihn und mit jedem Moment seiner Gegenwart brachte er Ajanelle vermutlich in Gefahr. Und dennoch… er konnte schon lange nicht mehr ohne sie…

Hin und her gerissen flehte er, um ein Zeichen des großen Lichts und blieb doch mit seiner Entscheidung allein. Er hob seine rechte Hand, führte sie an Ajanelles Kinn und hielt sich wenige Fingerbreit vor der Berührung erneut zurück.

Nein! Er wollte nicht riskieren, dass ihr etwas zustoßen könnte.

Feinaar war gerade im Begriff einen Schritt Abstand zu nehmen als die kleine Flöte, die er stets um den Hals trug, plötzlich an Gewicht zu gewinnen schien und ihn seines Gleichgewichts beraubte. Überrascht machte er stattdessen einen Schritt nach vorn und die unerwartete Bewegung, ließ Ajanelles Kinn in seine Hand gleiten, ehe er sich anders besinnen konnte. Ajanelle zog scharf die Luft ein, hielt den Blick jedoch immer noch gesenkt.

Feinaar rauschte derweil das Blut in den Ohren als er fassungslos versuchte die Situation zu verarbeiten. Er hatte das große Licht, um einen Hinweis gebeten und er war ihm gewährt worden. Er hielt ihre weiche Haut in der Hand und es fühlte sich gut an. Es fühlte sich so richtig an. Und ab diesem Moment war ihm alles egal. Nur eines zählte, er liebte sie! Er würde keine weitere Sekunde mehr vergeuden.

Langsam hob er ihren Kopf und schob sich dicht an sie heran. Ihre Blicke trafen sich und als er diesmal zum Sprechen ansetzte, klang seine Stimme tief und fest: „Und ob ich es will, Ajanelle. Ich will dich und ich werde nicht länger zögern mir zu nehmen was ich will.“

Ajanelle öffnete geschockt den Mund, doch Feinaar bedeckte ihre Lippen bereits mit den Seinen und zog sie an sich, dass ihr nur noch ein heiseres Japsen entwich.

Der Kuss dauerte eine Unendlichkeit, ehe sie sich von einander lösten und keuchend nach Luft rangen.

Ajanelles Augen leuchteten als sie Feinaars Hand nahm. „Komm mit mir“, forderte sie ihn auf.

Sie schnappte sich eine Fackel, die ein paar Zort entfernt, hinter einem Baum im Boden gesteckt hatte und zog ihn fort vom Dorf in den Wald hinein. Es dauerte eine Weile bis sie schließlich auf eine Furt des kleinen Flusses südwestlich des Dorfes trafen. Die Bäume ragten hier bis zum Wasser heran, auf der anderen Seite aber grenzte eine kleine Wiese den Wald vom Fluss ab.

Ajanelle hatte sich umgedreht und schaute ihn mit Schalk in den Augen an: „Na, was meinst du? Kannst du mich da hinüber tragen?“

Feinaar grinste nur und hievte sie ohne Worte auf seine Arme, was ihr einen spitzen Schrei entlockte, ehe sie fröhlich zu kichern begann. Dann watete er mit ihr durch das kalte Wasser und legte sie, drüben angekommen, sanft auf der Wiese ab. Ajanelle zog ihn zu sich hinunter und diesmal war sie es, die ihn küsste.

Feinaar schwirrte der Kopf als sie sich ein Wenig von einander lösten und er bewunderte dieses zerbrechliche und wunderschöne Geschöpf in seinen Armen.

„Na, Herr Feinaar Zottar? Was wolltet ihr euch denn nun holen?“, sagte Ajanelle und bemühte sich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck.

„Oh, das wirst du gleich erfahren, gilane ejhanae.“

„Was heißt das?“, fragte Ajanelle.

„Meine Liebe…“, erklärte er ihr lächelnd und hatte das Vergnügen zu sehen, wie sie bei seinen Worten rot anlief.

Wie war noch gleich die Redewendung der Menschen? Er war doch kein… Unmensch. Ja, dass war es. Er konnte sie sich ja nicht ewig in ihrer Verlegenheit winden lassen.

Also zog er sie wieder an sich und küsste ihren Hals, wanderte zu ihrem Ohrläppchen und zog dann eine Spur heißer Küsse hinunter zu ihrem Schlüsselbein. Und er wurde für seine Bemühungen belohnt als Ajanelle immer wieder keuchend und japsend nach Atem rang.

Irgendwann wanderten seine Hände schließlich unter ihre Kleidung und sein Bewusstsein war nur von der jungen Menschenfrau erfüllt.

„Ajanelle…“

Eins war klar, er konnte sich angenehmere Situationen vorstellen als die, in der er sich gerade befand. Daton wollte am Fluss östlich des Dorfes fischen und hatte Feinaar angeboten mitzukommen. Auch, wenn an dieser Tatsache durchaus nichts auszusetzen war, so lag das Problem eher darin, was Feinaar sich vorgenommen hatte.

Er hatte Ajanelle in jener Nacht, vor gut zwei Wochen, sein Herz geschenkt und sie hatten sich daraufhin noch viele Male heimlich getroffen. Doch nagte diese Heimlichtuerei auch an ihnen und so hatten sie zusammen beschlossen, dass er Ajanelles Vater über ihre Liebe zu einander aufklärte.

Dies allein wäre keine solch große Barriere gewesen wie die eigentliche Frage, die ihm auf dem Herzen lag. Denn ein Esiew band sich nur einmal im Leben und er glaubte das passende Wesen endlich gefunden zu haben. In seiner Heimat vergingen manchmal Jahrzehnte, bis man sich zu diesem Schritt entschied. Aber nun war er in Lamatas, der Heimat der Menschen und wollte sich an deren Gepflogenheiten halten.

Dazu gehörte auch, dass man den Vater der Auserwählten, um seinen Segen bat, bevor man seiner Angebeteten den Antrag machte. Zumindest soweit Feinaar sich richtig zu erinnern vermochte. Und das war letztendlich der Grund dafür, weshalb ihm gar nicht wohl in seiner Haut war. Irgendwie war es schon merkwürdig, er hatte sämtliche Gefahren in Wulvenien überstanden und die Angreifer des Dorfes zurückgeschlagen, nur damit er beim Gedanken Daton eine Frage zu stellen, schon das dringende Bedürfnis verspürte reiß aus zu nehmen.

„Was macht dich so nachdenklich, Feinaar?“, fragte ihn Daton, als sie sich gerade daran machten durch die letzten Dickichte zu schlüpfen.

„Ajanelle wollte, dass ich mich unbedingt einer Sache annehme und ich bin bis jetzt einfach noch nicht dazu gekommen.“

Daraufhin musste Daton lachen und Feinaar atmete in dem Glauben auf, wenigstens einen kurzen Aufschub damit gewonnen zu haben.

Doch Daton schien nicht geneigt zu sein, ihm diesen Augenblick zu gewähren: „Also, was genau wollte meine Kleine denn von dir?“

Feinaar rutsche nun doch das Herz in die Hose, der Moment war gekommen.

„Das ist nicht ganz so einfach zu beantworten, fürchte ich“, rang sich Feinaar zu einer Antwort und brachte Daton damit prompt wieder zum Lachen.

Feinaar schwieg während sich der Mensch vor ihm lachend durch das Dickicht kämpfte.

„Nun Feinaar, dann lass mich dir eine andere Frage stellen. Wieso sind wir wohl nur zu zweit unterwegs?“

„Ich dachte Anton hat andere Dinge zu tun und du wolltest nicht alleine sein… deswegen…“, plapperte Feinaar drauflos und endete verhalten, als er Datons bedeutungsschweren Gesichtsausdruck bemerkte und ihm plötzlich etwas schwante.

Der Mensch weiß es!

Du musst  ihm die Wahrheit sagen!

Aber wird das genügen? Will er einen Esiew in der Familie haben?

Will er…? Will er… will er…

Vor Schreck über das plötzliche Ertönen der Stimmen stolperte er und konnte sich gerade noch rechtzeitig mit den Händen abfangen. Keuchend erhob er sich und hatte das zwiespältige Vergnügen in Datons grinsendes Gesicht zu schauen.

„Ich hätte ja nicht gedacht, dass dich ein Mensch so aus der Fassung bringen könnte“, meine er amüsiert.

„Du weißt es also“, meinte Feinaar leise.

„Was weiß ich?“

„Und einfacher wirst du es mir wohl auch nicht machen, was?“

„Ich denke nicht, dass ich dir das schuldig bin“, antwortete Daton ernst und sah ihn mit verschlossener Miene an.

Hier stand er also nun, mitten im Wald und musste einem Menschen Rede und Antwort stehen.

„Ich…“, setzte Feinaar an, als plötzlich ein Schatten am Rande seines Blickfelds durch die Büsche huschte.

Gefahr!

Du musst hier weg!

Lauf!

„Ähm… können wir erst mal weitergehen?“

Ohne Datons Antwort abzuwarten, setzte er sich bereits wieder in Bewegung und

stürmte regelrecht vorwärts durch das Dickicht des Waldes.

Daton folgte ihm kurze Zeit danach und Feinaar reduzierte seine Geschwindigkeit zu einem flotten Schritt in dem unwegsamen Gelände. Immer wieder blickte sich Feinaar um, doch der Schatten schien verschwunden.

Wenige Minuten später lichteten sich die Bäume und auch die Büsche und Sträucher wurden spärlicher und machten Platz für einen felsigen Untergrund. Feinaar kam zum Stehen und lauschte. Außer einem leisen Plätschern war nichts zu vernehmen. Der Fluss musste bereits in der Nähe sein und ein felsiger Abhang wenige Zort vor ihnen bestätigte diese Vermutung. Von dem Schatten fehlte jedoch jede Spur. Hinter ihm trat Daton näher. Ihm schuldete er wohl eine Erklärung.

„Höre mal, Daton. Ich…“, setzte Feinaar an, wurde jedoch von dem Menschen unterbrochen.

„Du musst dich nicht so quälen, Feinaar“, meinte Daton schlicht und ging an ihm vorbei. „Wir haben alle Zeit der Welt. Lass uns erst mal da vorne an den Felsen runter zum Fluss klettern. Alles Weitere können wir dann immer noch besprechen.“

„Nein, darum ging es nicht. Ich dachte ich hätte etwas gesehen…“

„Was gesehen?“, fragte Daton, ging jedoch weiter.

„Ich bin mir nicht sicher… vermutlich habe ich mich getäuscht“, meinte Feinaar unsicher und lief ihm hinterher. „Was aber die Situation von vorhin betrifft, da wollte ich dir nicht ausweichen. Bitte Daton, warte kurz.“

Daton drehte sich um, zog die Augenbrauen hoch und wartete auf eine Erklärung. Wahrlich, dachte Feinaar, dieser Mensch denkt wirklich nicht daran mir das Ganze leicht zu machen. Aber er hatte lange genug gewartet. Es war Zeit, dass er sich dazu aufraffte, wofür er mitgekommen war.

Bist du sicher?

Und wenn er dagegen ist?

Wir könnten das nicht ertragen…

Kannst du es ertragen?

Kannst du? Kannst du… kannst du…

Ruhe! Schrie er innerlich. Feinaar hatte die Stimmen seit dem Angriff auf das Dorf nicht mehr vernommen und ausgerechnet jetzt machten sie sich wieder bemerkbar. Doch er würde sich diesmal nicht davon beirren lassen.

„Ich liebe Ajanelle, Daton.“

„So? Tust du das?“, stellte Daton mit ausdrucksloser Miene fest.

Siehst du? Er ist dagegen!

Er ist verschlossen… abweisend…

Der Mensch will dich nicht!

Seid ruhig! Dachte Feinaar, während er sich bemühte die Stimmen zu ignorieren.

„Ja und Ajanelle empfindet nicht anders für mich.“

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, schien sich Datons Miene noch weiter zu verdüstern.

Da!

Ich habe es dir gesagt!

Wir haben es dir gesagt!

Er verachtet dich!

Er will dich nicht und macht sich lustig über dich. Warte nur ab, erst lässt er dich alles aussprechen, nur um anschließend deine Träume mit Füßen zu treten.

Du besitzt nichts. So Einen wollen die Menschen nicht. So Einen wollen…

Seid still! So ist Daton nicht.

Bist du dir da sicher?

Verzweifelt bemühte sich Feinaar seine Fassung zu bewahren, konzentrierte sich auf Daton und stellte die wichtigste Frage in seinem Leben: „Ich liebe sie mehr als mein Leben, Daton. Und um mich an die Gepflogenheiten der Menschen zu halten, bitte ich dich, würdest du uns deinen Segen geben? Darf ich deine Tochter zur Frau nehmen?“

„Ist dir klar was du mich da fragst, Feinaar? Du bist vollkommen mittellos und doch bittest du mich darum, dir meine Tochter anzuvertrauen?“, fragte Daton.

„Mir ist klar…“, setzte Feinaar an, um plötzlich geschockt inne zu halten. Er hatte den Schatten in seinem rechten Augenwinkel gesehen. Mit einem Satz sprang er herum und spähte in den Wald hinein.

„Feinaar, was ist los?“, hörte er Daton besorgt fragen, konzentrierte sich aber trotzdem auf die Suche nach dem Schattenwesen.

Es war da!

Ich habe es gesehen. Wir haben es gesehen.

Du hast es gesehen.

Es war da! Es war… da…

Diesmal war er sich sicher. Er hatte es gesehen. Die Flüsterstimmen waren auch seiner Meinung. Wie konnte dieses Wesen sich immer am Rande seines Blickfeldes herumtreiben? Und wo war es jetzt?

Angestrengt dachte er nach, er hatte sich rechts herum gedreht aber erst als das Wesen schon wieder verschwunden war. Es näherte sich immer von hinten aber da befand sich Daton, er würde es sehen. Wo könnte es nun aus dem Wald kommen?

Feinaars Blick huschte in alle Richtungen, als ein sanftes Flüstern ihn erstarren ließ.

Und wenn Daton das Schattenwesen ist?

Niemals! Er kannte ihn jetzt schon so lange, es wäre ihm aufgefallen.

Was wenn er erst vor Kurzem zu dem Wesen geworden ist? Was, wenn der Schatten Datons Körper übernommen hat?

Nein, das war nicht möglich. Er war die ganze Zeit bei ihm gewesen.

Warst du das wirklich? Bist du nicht kurzzeitig in deiner Panik voraus gestürmt?

Bilder durchströmten seine Gedanken. Er sah sich selbst wie er das Schattenwesen zum ersten Mal wahrnahm. Wie er durch den Wald rannte und Daton zurückließ. Beim großen Licht, was hatte er getan?

„Daton…“, tiefe Trauer schwang in seinem Flüstern mit als er in seiner Haltung zusammensackte.

Und genau in diesem Moment erklang ein leises Kichern hinter ihm und steigerte sich in grausames Gegacker.

Plötzlich brach es ab und machte der besorgten Stimme Datons Platz: „Feinaar… alles in Ordnung mit dir?“

Diesmal erkannte Feinaar den spöttischen Unterton und ein Schauder lief seinen Rücken hinab. Langsam drehte er sich um und blickte Daton ins Gesicht. Oder der äußeren Hülle die von Daton noch übrig war, dachte er traurig.

„Was ist, Feinaar?“, fragte das Wesen mit Datons Gesichtzügen besorgt und verhöhnte ihn zugleich damit.

Feinaar verkrampfte sich. Daton sah vollkommen unverändert aus. Die besorgte Haltung und die sanften Gesichtszüge… doch seine Augen… seine Augen waren kalt. Grausam und seelenlos blickten sie ihn an und verhöhnten ihn, es solange nicht bemerkt zu haben.

Wie ich es befürchtet habe… Wie wir es befürchtet haben…

Was sollen wir tun? Was wirst du tun?

Es ist gefährlich. Sei vorsichtig…

Das Flüstern der Stimmen erklang nun sanft, fast so als wollten sie ihn trösten. Doch das Wesen war zu weit gegangen, eine sengende Wut breitete sich in ihm aus. Es hatte Ajanelles Familie angegriffen, die Familie die bald seine werden sollte. Er würde nicht zulassen, dass es Daton weiterhin für seine Zwecke missbrauchte.

„Na, Feinaar? Wie gefällt dir mein neuer Körper?“, sprach das Wesen amüsiert und ließ jegliche Maskerade fallen. „Ich frage mich, wen deiner neuen Freunde ich als nächstes übernehmen soll. Es macht so einen Spaß ihre Seelen zu verschlingen. Wie wäre es mit Anka? Es wäre ja nur gerecht das sie ihrem Mann Gesellschaft leistet.“

„Das werde ich nicht zulassen!“, presste Feinaar zwischen den Zähnen hervor.

„Ach, ja? Und was genau willst du dagegen unternehmen? Mich töten? In Datons Körper?“ rief es herablassend und breitete auffordernd die Arme aus.

Feinaar zitterte vor Wut. Fieberhaft überlegte er wie er diesem Monstrum beikommen könnte.

„Aber vielleicht sollte ich mich lieber einem anderen kleinen Menschlein widmen… Wie wäre es mit Ajanelle?“

Niemals!

Das. Werden. Wir. Nicht. Zulassen.

Nie zuvor hatte er den Flüsterstimmen mehr zustimmen können.

„Ich könnte ihren Körper übernehmen und bei anderen Männern liegen. Oh und am besten zwinge ich dich dabei auch noch zuzusehen!“, redete das Wesen immer noch weiter und brach am Ende in schallendes Gelächter aus.

Das war endgültig zu viel für Feinaar. Er griff nach dem Quell seiner Macht und rannte auf das Wesen zu.

Er wird es vernichten! Wir werden es vernichten!

Er wird töten! Wir werden töten!

Das Böse muss vernichtet werden!

TÖTE!

VERNICHTE!

LEBE!

BEWAHRE!

Die Stimmen kreischten in seinem Kopf und trieben ihn an.

Das Wesen versuchte auszuweichen, doch Feinaar war schneller und packte es an Datons Kleidung. Den Schwung nutzend trieb er es vor sich her und stürzte sich mitsamt dem Wesen den Abhang hinunter.

Im Fallen wollte Feinaar gerade loslassen und sich seiner Macht bedienend retten, als das Wesen plötzlich nach seinen Handgelenken griff und ihn mit höhnischer Fratze angrinste.

Er riss sich los, doch der winzige Moment der Ablenkung genügte, um Feinaar das Ausweichen eines Felsvorsprungs unmöglich zu machen. Er versuchte noch sich wegzudrehen, prallte jedoch mit der Schulter auf und sein Kopf wurde gegen die Felswand geschleudert. Dann gab es nur noch schwarz und Feinaar fiel bewusstlos zu Boden.

Müde stapfte Anton durch das Dickicht. Am letzten Donar im Oktomas hatte er noch ordentlich schuften müssen, während sein Vater mit Feinaar fischen ging. Es war schon spät und das Tageslicht begann sich bereits zu verabschieden, während er hier durch das Gestrüpp latschen durfte. Und das alles nur, weil die Beiden scheinbar die Zeit vergessen hatten und noch immer nicht zum Abendessen zurück gekommen waren.

Wie lange konnte es schon dauern, bis Feinaar seinen Vater überzeugt hatte, Ajanelle zur Frau zu nehmen...

Beim großen Licht, in den letzten Tagen war es so offensichtlich gewesen, dass sich etwas zwischen Ajanelle und Feinaar verändert hatte.

Zufällig hatte er sogar mitbekommen, wie seine Mutter seinen Vater darum gebeten hatte, dass er sich Feinaar auf irgendeine Art und Weise zur Seite nehmen würde.

Anton musste grinsen, die Beiden dachten doch tatsächlich keiner wüsste irgendetwas und hatten ein schlechtes Gewissen, bisher noch keinem von ihrer Liebe erzählt zu haben.

Dabei wussten doch alle Bescheid. Na ja, Ajadaka vielleicht nicht. Wobei er sich nicht sicher war, ob sie es wirklich nicht wusste oder einfach nur ignorierte.

Ein knackender Ast ließ ihn herumfahren und er sah gerade noch wie eine Gestalt hinter einen Baum huschte. Eine Gestalt mit braunen Haaren und dem Gewand seiner Schwester Ajanelle, dachte er schmunzelnd.

Grinsend drehte er sich um und ging weiter, nur um zwei Schritte später wieder herum zu wirbeln und Ajanelle dabei zu ertappen, wie sie sich gerade wieder hervorgewagt hatte.

„Kannst es wohl nicht mehr abwarten zu erfahren, was Papa zu dir und Feinaar sagt, na Schwesterherz?“, meinte Anton belustigt über ihren geschockten Ausdruck so erwischt worden zu sein.

„Ich weiß nicht wovon du sprichst, Anton“, versuchte Ajanelle sich zu retten, während sie, mit bewusst gleichgültigem Gesichtsausdruck, zu ihm aufschloss.

„Ach, und wieso bist du dann hier?“

„Ich will nur sichergehen, dass du es dir nicht später nicht auch noch bequem beim Fischen machst und ihr Männer unter euch dann Mama und das Abendessen vergesst.“

„Tatsächlich?“, fragte Anton glucksend, wobei er sich kaum noch das Lachen verkneifen konnte.

„Was hast du denn gedacht?“, raunte Ajanelle und stellte eine wütende Miene zur Schau.

Das war dann doch zu viel des Guten und Anton musste lauthals loslachen. Ajanelles Miene wurde noch finsterer, bis sie es schließlich nicht mehr aushalten konnte, an ihm vorbei ging und voraus lief. Immer noch lachend folgte Anton ihr.

Sie waren kaum zwanzig Zort voran gekommen, als sie das erste Mal von einem unnatürlichen Rascheln aufgeschreckt wurden.

„Was war das?“, fragte Ajanelle

„Keine Ahnung“, antwortet Anton nur. Er war normaler Weise nicht all zu schreckhaft. Aber die Sonne verschwand nun immer schneller. Bald würde es komplett dunkel sein. Man sollte sich so nah an der Grenze nie zu lange im Dunkeln in den Wäldern aufhalten. Ganz zu Schweigen davon, dass er nun auch noch auf seine kleine Schwester aufpassen musste.

„Lass uns weitergehen“, forderte er seine Schwester auf und kämpfte sich weiter durch die dichten Sträucher.

Beim nächsten Rascheln erklärte er Ajanelle nur, sie solle weitergehen, während er sich immer schneller durch das Dickicht kämpfte.

Ein knackender Ast hinter ihnen, sorgte schließlich dafür, dass seine Schwester sich an seinem Mantel festhielt und ihm einen Schauder über den Rücken lief. Irgendwas war hinter ihnen, aber durch die dicht stehenden Sträucher und das schwindende Licht ließ sich nichts erkennen. Da kam ihm eine Idee. Er packte seine Schwester und hetzte vorwärts.

Sie waren inzwischen fast am Ende der Sträucher, er würde sich mit Ajanelle hinter einem der großen Bäume verstecken, die bald folgen würden.

Kaum aus dem Dickicht raus, zog er seine Schwester noch zehn Zort weiter und sprang dann hinter den nächststehenden Baum zu seiner Linken. Ohne Worte bedeutete er Ajanelle zu schweigen und gemeinsam warteten sie ab, ihre Blicke auf das Dickicht gerichtet.

Zunächst tat sich nichts. Bis plötzlich eine kleine Gestalt aus den Sträuchern sprang und sich hinter dem nächst besten Baum versteckte.

Beim großen Licht!“, flüsterte Ajanelle entrüstet.

Anton fasste sich nur ungläubig an den Kopf. Er wollte schon hervor treten, als seine Schwester ihn zurück hielt.

„Warte nur einen Moment. Sie soll mal zu spüren kriegen, was sie die ganze Zeit mit uns gemacht hat“, bat sie ihn und er musste schmunzeln.

Ja, wieso denn auch nicht? Dachte er im Stillen, als die Gestalt bereits an ihnen vorbei rannte.

Fast im gleichen Moment sprang Ajanelle hervor und schrie: „Hey!“

Anton und seine Schwester wurden durch ein lautes Aufkreischen belohnt und konnten sich zu ihrem Vergnügen noch anschauen, wie die Gestalt regelrecht in die Luft sprang.

„Bist du denn vollkommen verrückt? Weißt du eigentlich was du uns für einen Schrecken eingejagt hast, hinter uns durch die Büsche zu schleichen?“, schrie Ajanelle ihre jüngere Schwester an.

„Du bist doch nur neidisch, dass er dich vor mir entdeckt hat!“, meinte Ajadaka nachdem sie sich vom Schrecken erholt hatte und streckte die Zunge raus.

„Dir fehlt wohl gesunder Menschenverstand, um zu erkennen wie gruselig es ist, wenn irgendwas, dass du nicht sehen kannst, hinter dir im Wald herum schleicht!“, plusterte sich Ajanelle auf.

„Das sagt ja die Richtige! Wer ist denn bitte vor mir, im Wald, Anton hinterher geschlichen?!“, rechtfertigte sich Ajadaka.

Und da geht das Gezeter schon wieder los, dachte Anton. Konnten sich seine kleinen Schwestern denn nie vertragen?

Während sich seine Schwestern gegenseitig anschrieen, blickte er zur Sonne und musste zu seiner Besorgnis feststellen, dass sie schon beinahe vollständig verschwunden war. Ihnen würde nur noch etwa eine halbe Stunde bleiben, bis es stockfinster war.

„Du hast doch keine Ahnung, wie man am besten durch den Wald schleicht. Du willst dich ja...“

„Ach, halt doch die Klappe. Wir haben dich nur nicht gesehen, weil du so klein bist!“

„Ich werde auch noch größer werden!“

„Ruhe jetzt!“, rief Anton und brachte seine Schwestern damit zum Schweigen.

„Wir haben nur noch eine halbe Stunde, bis es ganz dunkel ist. Die brauchen wir auch in etwa, um zurückzukommen und wir sind noch immer nicht am Fluss. Also beeilen wir uns besser. Haltet die Klappe und versucht mit mir Schritt zu halten. Los jetzt!“, drängte Anton und lief schnellen Schritts voraus.

 

 

Plätscherndes Wasser, das mit donnernder Lautstärke an ihm vorbei floss, weckte ihn auf. Tageslicht fiel stechend in seine halb geöffneten Augen und sorgte zusammen mit seinem dröhnenden Schädel dafür, dass er sich stöhnend an den Kopf fasste. Nach und nach nahm das Plätschern des Flusses eine angenehmere Lautstärke an, was sein Kopf dankbar registrierte. Doch nicht nur sein Kopf, sondern sein ganzer Körper schmerzte. Vorsichtig drehte er sich von der Seite auf den Rücken und biss vor Schmerz die Zähne zusammen. Feinaar brauchte einen Moment ehe ihm klar wurde, wo er sich befand. Über ihm ragte die Felswand auf, von der er sich und diese bösartige Kreatur gestoßen hatte und dem gegenüber verlief der kleine Fluss, der eigentlich das Ziel ihres Ausflugs gewesen war. Es glich einem Wunder, dass er, trotz des vier Zort tiefen Falls, nahezu unversehrt geblieben war.

Ein Husten ließ ihn herumfahren. Daton lag mit dem Rücken auf einem großen Felsen und rührte sich nicht. Wenn er angestrengt lauschte, meinte Feinaar leisen, röchelnden Atem zu vernehmen. Er wollte zu ihm eilen, doch die Vorsicht ließ ihn innehalten und zunächst nach irgendeiner Art Waffe Ausschau halten.

Einen Zort vor ihm fand er einen spitz zulaufenden Splitter des Felsgesteins, hob ihn auf und näherte sich langsam Datons Körper.

Konnte Daton wieder er selbst sein? Unsicher ging Feinaar Schritt für Schritt näher heran.

„Feinaar?“, fragte Daton mit zittriger Stimme als Feinaar schließlich zu ihm trat.

„Ja“, antwortete er nur. Datons Blick war ungewöhnlich starr zum Himmel gerichtet. Vermutlich war sein Rückgrat gebrochen. Der rechte Arm lag im merkwürdigen Winkel auf dem Felsen und ein feines Blutrinnsaal lief ihm aus dem Mundwinkel.

„Wieso?“, fragte Daton und der tieftraurige Unterton ließ Feinaar erschaudern. Was konnte er sagen? Wie sollte er das jemals erklären...?

„Wieso... wolltest du mich umbringen?“, erklang seine Stimme erneut zunächst traurig, nur, um dann plötzlich spöttisch zu klingen.

Voller Entsetzen beobachtete Feinaar wie Datons Gesicht sich ihm zuwandte und zu einer schadenfrohen und grausamen Fratze verzog. Wie vom Donner gerührt stand er da und war keines klaren Gedankens fähig, während das Wesen aus grausiger Kehle lachte und gackerte. Er kam gerade wieder zu sich und wollte zurückweichen, doch da war es schon zu spät.

Blitzschnell riss das Monstrum plötzlich Datons Oberkörper hoch und ein Arm flog zu Feinaars Kehle, packte mit übermenschlicher Kraft zu und begann sie zu zerquetschen. Verzweifelt versuchte Feinaar sich zu befreien, konnte sich aber aus dem Griff nicht lösen.

In seiner Verzweiflung holte er aus und stieß den Felsensplitter in Datons ehemaligen Körper, doch das Monstrum hielt ihn noch immer gepackt. Hastig riss Feinaar den Splitter heraus. Er holte Schwung und ließ den Splitter erneut niederfahren als plötzlich ein helles weißes Licht aufleuchtete.

Die Hand an seiner Kehle verschwand und Feinaar wollte schon keuchend um Luft ringen, nur um plötzlich zu merken, dass er gar keine Schmerzen an seiner Kehle verspürte.

Verwirrt blinzelte er und versuchte die Situation zu begreifen. Vor ihm schwebte die kleine Flöte, die er sonst immer an einer Schnur um den Hals trug, in der Luft und strahlte ein pulsierendes, weißes Licht aus.

In seiner Rechten hielt Feinaar den Felssplitter, der nun in Rot getaucht war und Datons Körper lag auf dem Felsen in genau der gleichen Position, wie er ihn vorgefunden hatte.

Der einzige Unterschied war, dass jetzt ein breites Loch in Datons Bauch klaffte und sein Atem immer rasselnder klang.

„Was... ?“, setzte Feinaar verwirrt an und beobachtete wie das Blut langsam aber stetig aus Datons Wunde quoll.

Du musst töten! Wir müssen töten!

Feinaar zuckte regelrecht zusammen, als die Stimmen plötzlich in wildem Geschrei zurückkehrten.

Das Monster muss vernichtet werden! Es wird nicht weiter morden!

Wie zur Bestätigung huschte in genau diesem Moment wieder ein Schatten am Rande seines Bewusstseins vorbei.

Ja, er musste dieses Wesen vernichten. Aber wohin war es verschwunden?

Es liegt vor dir! Du musst töten! Wir müssen töten!

Du musst vernichten! Wir müssen vernichten!

Vor ihm? Dort lag nur Datons Körper... Feinaar wollte sich gerade umschauen als Datons Körper hochschnellte.

Er konnte nur zusehen, wie das Monstrum in Datons Körper ihn erneut an der Kehle packte und zu würgen begann.

Du musst töten! Wir müssen töten!

TÖTE!

VERNICHTE!

LEBE!

BEWAHRE!

Feinaar wollte schon seinem Instinkt folgen und erneut zustechen als alles vor ihm mit einem Mal zu flimmern begann. Geschockt nahm er wahr, wie er plötzlich wieder frei mit erhobenem Arm und der vor ihm schwebenden und leuchtenden Flöte vor Datons daliegendem Körper stand.

„Was passier hier?“, entfuhr es Feinaars Lippen.

Du musst töten! Wir müssen töten!

TÖTE!

VERNICHTE!

LE...

Erschallte es wieder in seinem Kopf, bis seine Flöte mit einem Mal heller erstrahlte und dann wieder in das schwächere, pulsierende Leuchten überging. Von da an blieben die Stimmen stumm und in Feinaar keimte ein schrecklicher Verdacht.

„Die Stimmen... sie gehören nicht zu mir...“, dachte er völlig fassungslos laut vor sich her. „Sie haben mir Dinge gezeigt, die nicht stimmen... Ich... Daton... Daton!“

Der Gedanke an Daton riss ihn aus seiner Schockstarre. Daton lag vor ihm. Mit einem Satz war er bei ihm, ließ den Felsensplitter zu Boden fallen und seine Flöte hörte auf zu leuchten und fiel ihm zurück auf die Brust.

„Daton, kannst du mich hören?“, verzweifelt nahm Feinaar die schreckliche Wirklichkeit in sich auf. Er hatte Daton, im Glauben das Monster zu bekämpfen, angegriffen und schwer verletzt. Die Bauchwunde blutete stark und auch seine panisch darauf gepressten Hände vermochten die Blutung nicht zu stoppen. Hilflos sah er zu, während sich jeder röchelnder Atemzug Datons wie ein Dolchstoß in sein Herz fraß.

Daton suchte Feinaars Blick, fand ihn und hielt ihn fest. Feinaar starrte in diese blauen Augen und fand dort keine Wut oder Angst. Was er sah, schockierte ihn weit mehr. Es war Mitleid.

Hörbar zog er den Atem ein, als er erkannte, dass ihm dieser Mensch noch immer nicht mit Hass auf sein Handeln antwortete.

Datons Brust hob und senkte sich im ungleichmäßigen Rhythmus. Während Datons Lebensfunke in seinen Augen in Erscheinung trat und zu verblassen begann.

Mit röchelndem Atem setzte Daton zu sprechen an: „Was... was hat man dir nur angetan?“

Feinaar wollte antworten. Doch die Anspannung in Datons Körper fiel bereits in sich zusammen. Ein letztes Mal atmete er aus, der Lebensfunke in seinen Augen erlosch und dann lag Daton still da.

Geschockt stand Feinaar vor dem Menschen, der selbst in seinen letzten Momenten noch Mitleid für seinen Mörder empfunden hatte. Der Esiew begann zu zittern.

Was sollte er Ajanelle erzählen?

Wie konnte er überhaupt jemanden erklären was hier geschehen war?

Er hatte Daton auf dem Gewissen. Die Tatsache ließ sich nicht leugnen. Was sollte er bloß tun?

Erzähle ihnen, dass ihr überfallen wurdet!

Die Stimmen hatten zu ihm zurückgefunden!

Mörder aus Wulvenien sind es gewesen!

Nein! Er musste hier weg!

Du bist unschuldig! Du wirst...

Das Gezeter der Stimmen wurde jäh beendet, als seine kleine Flöte erneut kurz aufleuchtete und das Licht dann langsam abebbte.

Behutsam zog sich Feinaar das Band mit seinem einzigen Schatz über den Kopf. Die kleine Flöte war ein Geschenk gewesen und hatte ihn gerettet, hatte seinen Verstand befreit. Nun lag sie warm in seiner Hand. Warm in seinen blutigen Händen. Nein, nicht warm. Warm war das Blut, dass ihm noch immer von den Händen troff.

Wir sind auf deiner Seite! Verbanne uns nicht!.

Er hatte die kleine Flöte nicht verdient.

Wir wollen dir nur helfen! Höre auf uns...

Wieder pulsierte die Flöte kurz im weißem Licht und die Stimmen verstummten wie zuvor.

Nein, bei Allem was er getan hatte, hatte er so einen Schatz wirklich nicht verdient. Von nun an würde er selbst gegen diese Stimmen ankämpfen. Wenigstens wusste er endlich, was er bekämpfen konnte.

Danke großes Licht, du hast mich wahrhaft gerettet, dachte er bedrückt und warf die hölzerne Flöte in den Fluss.

Feinaar blickte ihr noch kurz hinterher, wie sie von der Strömung erfasst wurde und wandte sich dann gegen die Fließrichtung nach Norden. Er hatte eine Entscheidung getroffen. Um Ajanelle zu beschützen, würde er alles tun. Er durfte nicht das Risiko eingehen, dass er die Kontrolle über sich selbst noch ein weiteres Mal verlor. Zu erst musste er sicher sein, dass er gegen die Stimmen in seinem Innern ankämpfen konnte.

Er liebte Ajanelle so sehr... Es tat ihm in der Seele weh, sich von ihr abzuwenden, doch es war nötig.

Feinaar wusste nicht wie Ajanelle eines Tages reagieren würde, wenn er zurück kam und ihr alles beichtete. Vielleicht war sie dann schon an einen anderen Mann vergeben...

Angewidert schüttelte er sich. So durfte er nicht denken. Aber selbst wenn sie noch immer auf seine Rückkehr warten sollte, würde sie ihm seine Taten vergeben können?

Die Schuldgefühle fraßen sich bereits immer tiefer in seine Seele und doch musste er sie ertragen. Das war er Daton schuldig.

Mit einem tiefen Atemzug straffte er sich und sammelte Entschlossenheit. Dann setzte er sich in Bewegung und rannte in den flachen Wassern des Flusses nach Norden.

Er würde meditieren und sich selbst wieder finden. Den Kampf um seinen Verstand würde er gewinnen. Und dann... dann würde er zurückkehren...

Er würde Ajanelle wieder sehen!

Ja, er würde zurück finden...

Tum Uert wusste lange bevor er durch das Fernrohr schaute, dass die Flöte ins Wasser geworfen wurde und der Esiew nach Norden davon rannte. Es war eine seiner Fähigkeiten, die ihm schon oft das Leben gerettet hatten. In Anbetracht seiner Gesellschaft verbannte er solche Gedanken jedoch lieber aus seinem Bewusstsein.

„Na, endlich!“, rief die zusammengesunkene Gestalt zu seiner Linken und schreckte Tum auf.

Angewidert hob er erneut das Fernrohr und schaute demonstrativ in die Ferne. Der Mann neben ihm, in dem weiten, braunen Mantel war ein Lusion.

Lusionen waren eine Gruppe der unterschiedlichsten Wesen, die sich auf Geistesmagie verstanden. Sie flüsterten ihren ahnungslosen Opfern Gedanken zu und konnten sie mitunter auch um den Verstand bringen.

Wulvenien beherbergte eine Menge grausiger Monster, doch für ihn waren diese Gedankenmanipulatoren die Schlimmsten. Gegen körperliche Gewalt konnte man sich wehren. Doch der Gedanke daran, unbewusst von einem dieser Wesen zu grausigen Taten getrieben zu werden, ließ ihn erschaudern.

„Na, läuft unser kleiner Esiew weg?“, fragte der Mann.

Tum schaute noch einen Augenblick länger durch das Fernglas, ehe er antwortete: „Ja, Zahir. Er rennt förmlich um sein Leben.“

Der zweite Satz brachte den Mann neben ihm zum Lachen. Es war ein kaltes, boshaftes Lachen.

Tum blieb sitzen und nahm das Fernglas herunter. Der Lusion war von schmächtiger Gestalt, spindeldürr und recht klein für einen Menschen. Doch keiner seiner Untergebenen würde es wagen sich gegen ihn zu erheben. Er hatte den Rang eines Hauptmannes inne und Tum war ihm unterstellt. Es war besser, wenn Tum ihn nicht verärgerte. Was wiederum bedeutete, dass er nur sprach und sich bewegte, wenn er dazu aufgefordert wurde.

„Dann sollten wir uns so langsam aufmachen. Dieser bescheuerte Auftrag hat länger gedauert als ich dachte. Der Bastard von einem Esiew hat doch tatsächlich ein Stück des Amalaáchenbaumes in seinem Besitz gehabt. Kein Wunder, dass der Fluch nicht wirkte“, meinte Tums Hauptmann Kopf schüttelnd.

Tum folgte ihm schweigend, als er sich in Bewegung setzte.

„Weißt du, wie man jemanden am Besten manipuliert, Tum?“

Tum erbleichte fast augenblicklich, da er die Worte vernahm. Sein Hauptmann begann erneut zu lachen.

„Keine Angst, Tum. Du wirst so schnell nicht mein Ziel werden“, rief er noch immer lachend. „Du hättest dich sehen sollen! Bist augenblicklich bleich wie eine Leiche geworden!“

Tum atmete erleichtert auf, bis sein Hauptmann erneut fragte: „Also, weißt du es?“

Er konnte nur den Kopf schütteln. Tatsächlich hatte er keine Ahnung, aber selbst wenn er es gewusst hätte, würde er es nicht wagen etwas zu sagen.

„Es ist eigentlich ganz einfach, Tum. Zuerst gibst du deinem Opfer einen Freund, einen Verbündeten und lässt ihm glauben, dass dieser ihm nichts Böses will. Im Besten Fall rettet dieser Verbündete sogar noch anfangs das Leben deines Ziels. Irgendwann vertraut dein Ziel dann blind diesem Verbündeten. Doch dann entlarvst du den Verbündeten als die Ursache allen Übels! Dein Ziel wird von dem Verrat geschockt sein und den ehemaligen Verbündeten bekämpfen wollen. Und dann kommt das Beste! Du lässt den ehemaligen Verbündeten deines Ziels all das sagen, was du gerade nicht willst! Dein Ziel wird sich abwenden wollen und in den meisten Fällen genau das Gegenteil von dem tun, was der ehemalige Verbündete ihm einzuflüstern versucht. Verstehst du was ich meine?“

„Ihr meint, dass das Opfer dadurch genau zu dem getrieben wird, was ihr von Anfang an wolltet, Zahir?“, überlegte Tum vorsichtig.

„Genau das. Das ist übrigens auch was ich an dir mag, Tum. Du bist nicht dumm. Du bist einer der Wenigen, die tatsächlich mal ihren Kopf benutzen.“

Tum musste sich anstrengen nicht vor Angst vor seinem Hauptmann zurückzuweichen, als dieser ihn darauf aufmerksam beobachtete.

„Aber nicht in allen Fällen ist das allein auch ausreichend“, fuhr sein Hauptmann schließlich fort. „Wenn das, wozu du dein Ziel treiben willst, grundsätzlich gegen die Natur deines Ziels geht, musst du manchmal noch ein Wenig nachhelfen. Erfreulicher Weise wird dir das jedoch keine großen Probleme bereiten, weil dein Ziel viel zu sehr mit dem offensichtlichen Gegner beschäftigt sein wird und so gar nicht bemerkt, wie sich etwas Anderes in sein Bewusstsein schleicht.“

Tum beschloss sich diese Details gut einzuprägen. Auch wenn er sich nicht auf Geistesmagie verstand, vielleicht würde ja eines Tages der Moment kommen, an dem ihm diese Erkenntnisse helfen könnten.

„Tja, Tum, ich weiß deine verschwiegene Art zu schätzen. Doch wozu erzähle ich dir das wohl alles?“, fragte ihn sein Hauptmann.

Ihm liefen durchaus einige Überlegungen durch den Kopf, doch wenn er die Falsche äußerte, drohte ihm mitunter Schlimmeres als nur zusätzliches Wachehalten. Also schwieg er lieber.

„Ich sehe schon. Du weißt durchaus, was es bedeuten könnte“, lachte sein Hauptmann. „Nun denn, ich sollte meinen Untergebenen wohl nicht weiter quälen, wenn ich will, dass er den Rang eines Hauptmanns in meinem Trupp übernimmt.“

„Hauptmann...? Unter euch?“, stotterte Tum vor Verblüffung.

„Genau. Ich werde dieses Vieh, dass sich unser Zahir nennen lässt, töten und dann wird mir seine Position zustehen.“

Das war blanker Selbstmord! War sein Hauptmann vollkommen übergeschnappt? War er selbst von dem Wahnsinn befallen, den er so stolz unter seinen Opfern verbreitete?

Niemand besiegte ein Illutira!

Seitdem sie vor Jahrtausenden das Licht der Welt erblickten, war es noch keinem Wesen je gelungen, ein Illutira zu verletzen oder gar zu töten.

„Mir ist durchaus bewusst, dass ich im direkten Kampf kein Gegner für das Illutira bin. Aber ich werde es in den Wahnsinn treiben können und letztlich dafür sorgen, dass es sich selbst umbringt“, klärte ihn sein Hauptmann auf. „Was hältst du davon? Wirst du unter mir dienen, Tum?“

Tum lief der Schweiß den Rücken hinunter, als er seinen Hauptmann antwortete: „Wenn ihr das Illutira vernichtet habt, wird es mir eine Ehre sein, euch zu dienen, mein Zahir.“

Was konnte er auch schon anderes von sich geben? Krampfhaft versuchte er alle Gedanken aus seinem Verstand zu verbannen und hielt seine erfreute Mine aufrecht, bis sich der Hauptmann, scheinbar zufrieden, mit einem Nicken abwandte.

Dem großen Licht sei Dank, dachte Tum erleichtert, als sein Hauptmann den restlichen Weg schweigsam fortsetzte. Tum tat es ihm gleich und hielt sich ebenfalls geschlossen, doch seine Gedanken rasten. Er musste die wenige Zeit nutzen, die ihm blieb, bis sie im Lager waren. Fieberhaft überlegte er, wie er sich am Besten auf das Ende seines Hauptmanns vorbereiten konnte. Fluchtgedanken kreuzten seinen Verstand und verschwanden ebenso schnell wieder, wie sie gekommen waren. Niemand entkam einem Illutira.

Wie sollte er erklären, dass er dem Hauptmann zugestimmt hatte? Würde das Illutira ihm glauben, wenn Wort gegen Wort stünde? Er bezweifelte, dass sich das Illutira überhaupt damit abgeben würde. Was war schon eine Leiche mehr?

Mühsam kämpfte er seine aufkommende Panik nieder, zwang sich ruhig zu atmen und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Er würde schon eine Lösung finden. Es war ihm bisher immer gelungen.

Ja, dachte er resigniert. Bisher...

 

 

Um Einiges schneller als zuvor, ließen sie nun die umgebenden Bäume hinter sich. Trotzdem achtete Anton darauf, dass Ajanelle und Ajadaka ihn nicht aus dem Blick verloren. Sie waren inzwischen schon aus der Puste und trotteten erschöpft hinter ihm her.

Geschieht euch recht, dachte Anton grinsend.

Wenig später kamen sie zu dem felsigen Bereich, der den Fluss ankündigte und Anton lief nach rechts. Er war schon ein paar Male mit seinem Vater hier gewesen und wusste noch, wo man am Besten hinunter zum Fluss kam.

Unten am Fluss angekommen wartete er auf seine Schwestern und schaute sich um. Feinaar und sein Vater waren nirgends zu sehen. Andererseits war er mit seinem Vater immer noch ein Bisschen stromaufwärts gegangen, wo sie sich auf ein paar dicke Felsblöcke gesetzt hatten. Höchst wahrscheinlich war sein Vater heute auch dort. Die Stelle konnte man durch die Biegungen des Flusses noch nicht sehen.

„Puh!“, stöhnte Ajanelle, als sie an ihm vorbei auf den erdig, felsigen Untergrund sprang, der wie eine Art Trampelpfad vor ihnen zwischen Fluss und Felsen lag.

„Und wo sind die Beiden jetzt?“, fragte Ajadaka nachdem sie ihrer Schwester gefolgt war.

„Wir müssen noch etwas flussaufwärts. Papa und ich haben es uns immer auf ein paar größeren Felsenbrocken bequem gemacht, die zur Hälfte im Wasser lagen“, erklärte Anton ihnen. „Könnt ihr wieder laufen?“

Seine Schwestern nickten. Also setzte er sich wieder in Bewegung und lief voraus.

Die Nacht brach bereits herein, als sie endlich die letzte Biegung nahmen und seinen Schwestern zu liebe, blieb Anton stehen, sobald er seinen Vater in der Ferne auszumachen glaubte.

Die beiden Mädchen nutzen die kurze Pause, um wieder zu Atem zu kommen und stützten sich auf ihren Knien ab. Anton machte sich derweil daran die Fackel anzuzünden, die er sich an den Gürtel gebunden hatte.

„Wieso bleiben wir stehen?“, fragte Ajadaka aufmüpfig, als sie wieder zu Atem gekommen war. Nur um kurz danach zu schreien: „Da ist Papa!“

„Wo?“, fragte Ajanelle.

„Da vorne auf dem Felsen“, antwortete Ajadaka. „Er liegt da doch tatsächlich einfach nur faul rum.“

„Bestimmt ist er eingeschlafen“, meinte Anton als er die Fackel endlich zum Brennen bekommen hatte. „Lasst uns die Beiden erst mal abholen. Wir sollten nicht zu lange im Dunkeln außerhalb des Dorfes unterwegs sein.“

„Aber wo ist Feinaar?, erkundigte sich Ajanelle.

Darauf wusste er allerdings auch keine Antwort. Von dem Esiew war nichts zu sehen.

„Papa, du kannst doch nicht einfach hier draußen einschlafen!“, versuchte Ajadaka auf sich aufmerksam zu machen und lief los.

„Feinaar!“, rief Ajanelle und rannte hinterher.

Anton blieb nichts anderes übrig, als seinen Schwestern zu folgen.

Als sie noch dreißig Zort entfernt waren, machte sich Anton langsam Sorgen. Sie waren längst in Hörweite und trotzdem rührte sich ihr Vater nicht. Von Feinaar war auch noch nichts zu sehen.

Es waren noch ein paar letzte Schritte, als Ajadaka plötzlich stehen blieb.

„Papa...?“, fragte sie in einem seltsamen Tonfall und Ajanelle, die neben ihr ankam, keuchte überrascht auf.

Anton kam knapp hinter ihnen zum Stehen. Sein Blick fiel auf seinen Vater und ihn packte das blanke Entsetzen.

„Papa, was ist...?“, setzte Ajadaka an, brach jedoch ab.

Nein, das durfte einfach nicht sein, dachte Anton verzweifelt. Vor seinen Augen lag ihr Vater mit seltsam verdrehtem Arm auf einem Felsen und rührte sich nicht. Nicht einmal der Brustkorb hob sich.

Geschockt stand er einfach nur da und war zu keiner Reaktion fähig.

Irgendwann begann Ajadaka langsam auf ihren Vater zu zugehen und riss Anton damit aus seiner Schockstarre.

„Warte!“, mit einem Satz war er bei ihr und hielt sie fest.

„Lasst mich nachsehen. Ihr wartet hier“, sagte er streng und übereichte Ajanelle die Fackel.

Entschlossenheit sammelnd, ging er vorsichtig auf seinen Vater zu. Mit jedem Schritt wurde er mehr Einzelheiten gewahr. Eine dunkelrote Spur zog sich vom Mundwinkel seines Vaters bis zum Felsen hinunter. Der rechte Arm war an mehreren Stellen gebrochen und im Bauch seines Vaters klaffte eine breite Wunde, die seine Kleidung dunkel gefärbt hatte. Der Blick war kalt und starr gen Himmel gerichtet und die Atmung blieb noch immer aus.

Dann war er bei ihm. Zitternd hielt er eine Hand vor Mund und Nase seines Vaters. Doch er wurde enttäuscht. Sein Vater atmete nicht mehr.

Vorsichtig griff er nach der linken Hand seines Vaters. Sie war noch warm. Sein Vater konnte noch nicht allzu lange tot sein.

Anton war zu kaum einen Gefühl fähig. Er war wie betäubt. Er konnte einfach nicht glauben, was schreckliche Gewissheit war.

Sanft schloss er die Augen seines Vaters und legte die Hand seines Vaters zurück.

„Anton...?“, fragte Ajadaka mit weinerlicher Stimme.

Mit versteinerter Miene drehte er sich um, sah seine Schwestern an und schüttelte den Kopf.

 „Nein!“, rief Ajadaka und stürzte schluchzend zu ihrem Vater.

Ajanelle brach an Ort und Stelle in Tränen aus und wimmerte leise vor sich hin.

Wie in Trance ging Anton zu seiner jüngsten Schwester und zog sie behutsam von ihrem Vater fort. Es konnte nicht gut für sie sein, länger bei der Leiche ihres Vaters zu verbleiben.

Sie krallte sich an ihm fest und schluchzte hemmungslos an seinem Bauch, während Anton nur da stand und die verzweifelten Schreie seiner kleinen Schwester in sich aufnahm.

Irgendwann ebbten Ajadakas Schluchzer langsam ab. Anton hatte keine Ahnung wie viel Zeit vergangen war. Es war längst stockdunkel geworden. Nur der sanfte Schein der Fackel brachte etwas Licht in die Welt.

Anton war im Grunde ganz froh darüber. Er wusste nicht, ob er es ertragen könnte, wenn die Welt um ihn herum einfach fröhlich weitermachte.

„An... Anton..?“, erklang Ajanelles Stimme zittrig.

Anton musste sich drehen, um seine Schwester ansehen zu können. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie sie sich von ihnen entfernt hatte.

Sie stand einige Zort flussabwärts direkt am Fluss und hielt etwas in der Hand, als sie näher kam.

Zunächst erkannte Anton nicht, was sie vor sich ausgestreckt in der Hand hielt. Doch dann traf ihn die Erkenntnis und raubte ihm den Atem.

In Ajanelles Hand lag die kleine, hölzerne Flöte, die Feinaar stets um den Hals getragen hatte. Anton glaubte dunkle Spuren auf dem Holz zu erkennen, war sich mit der Fackel als einzige Lichtquelle jedoch nicht sicher.

„Die hat Feinaar gehört...“, flüsterte Ajanelle bei ihnen angekommen.

Ja, dass wusste er. Aber was konnte er ihr sagen?

„Er hätte sie niemals abgelegt.“

Auch das wusste Anton.

„Ich glaube...“, schniefte Ajanelle. „Ich glaube, an der Flöte ist Blut.“

„Ajanelle...“, ihm versagte die Sprache.

„Aber... Aber es muss ja nicht sein Blut sein. Vielleicht ist er auch nur verletzt worden, in den Fluss gefallen und wurde mitgerissen.“

Sie brabbelte.

„Ajanelle, hör auf.“

„Wir müssen ihn suchen. Feinaar... Er liegt vielleicht irgendwo am Ufer und braucht Hilfe“, redete sie schnell weiter und blickte ihn gehetzt an.

„Ajanelle, beruhige dich“ sagte Anton sanft, löste sich von Ajadaka und ging Ajanelle entgegen.

„Er liegt bestimmt irgendwo in der Nähe. Er... Er braucht Hilfe. Wir müssen uns beeilen...“, stammelte sie vor sich hin.

Anton umfasste Ajanelles Hände und zog seine Schwester behutsam zu sich heran: „Hör auf, Ajanelle.“

„Aber Feinaar...“, schluchzte sie.

„Ist ja gut. Wir werden ihn suchen“, redete Anton beruhigend auf sie ein, umarmte seine Schwester und streichelte ihr sanft über den Kopf.

„Ihm darf nicht auch noch was passiert sein, Anton“, wimmerte sie leise an seiner Schulter. „Das ertrage ich nicht...“

„Ich weiß“, erklärte Anton. „Wir werden ihn suchen. Aber zuerst holen wir Hilfe aus dem Dorf. Irgendwie...“, Anton schluckte. „Irgendwie müssen wir schließlich auch Papa zurück ins Dorf bringen können.“

Ajanelle nickte schwach. Ajadaka trat hinzu und Anton bezog sie in die Umarmung mit ein.

Er stand noch eine Weile mit seinen Schwestern so da. Beide wurden hin und wieder von Schluchzern geschüttelt, waren ansonsten jedoch still. Auch Anton schwieg. Er hatte nichts zu sagen – konnte nichts sagen.

Irgendwann löste er sich schließlich von den Mädchen und sagte: „Wir müssen los. Mama wird sich auch schon Sorgen machen.“

Seine Schwestern nickten bekümmert und setzten sich in Bewegung. Anton nahm Ajanelle die Fackel ab und ging voran. Alle zusammen gingen sie schweigsam und zügigen Schritts am Fluss vorbei. Manchmal ertappte sich Anton dabei wie er nach Feinaar Ausschau hielt. Doch die Suche blieb vergebens.

Sie kletterten die Felsen empor und wandten sich Richtung Wald. Noch immer brachte keiner von ihnen ein Wort hervor. Alle waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Vorsichtig kämpfte sich Anton durch das Dickicht und wartete stets auf seine Schwestern, um auch ihnen möglichst gut leuchten zu können. Der Rückweg war in der Dunkelheit beschwerlich und dauerte wesentlich länger als der Hinweg. Doch Anton registrierte es kaum. Er funktionierte nur und setzte einen Fuß vor den Anderen. Alles andere verbannte er aus seinen Gedanken. So ganz wollte es jedoch nicht gelingen, die Erinnerung an den leblosen Körper seines Vaters war noch zu frisch.

Einige Zeit später meinte Anton zu seiner Erleichterung die ersten Büsche und Bäume wieder zu erkennen. Er hatte schon Sorge gehabt, in der Dunkelheit den Rückweg nicht zu finden.

Ein paar Schritte weiter, glaubte er dann Rufe zu vernehmen. Oder waren es Schreie? Anton war sich nicht sicher.

„Schreit da jemand?“, fragte Ajadaka.

„Ich weiß es nicht“, gestand Anton und lauschte angestrengt.

„Ich habe auch was gehört“, meinte Ajanelle zaghaft.

„Lasst uns erstmal weiter gehen“, sagte Anton und kämpfte sich voran.

Ein mulmiges Gefühl machte sich in Anton breit, als vermehrt laute Rufe und Schreie ertönten und zwischendurch sogar Waffengeklirr durch die Nacht hallte.

Nach der letzten Erhöhung sahen sie es dann. Durch die letzten Bäume und Büsche konnte man das Dorf brennen sehen. Verzweiflungsschreie füllten die Nacht. Wütendes Fauchen und Kläffen hallte über das Dorf hinweg, gefolgt von Schmerzensschreien, die sie frösteln ließen.

Anton zögerte keine Sekunde und löschte so schnell es ging die Fackel. In der Dunkelheit des Waldes wären sie ein leichtes Ziel gewesen. Währenddessen waren seine Schwestern wie in Trance auf den Waldrand zugegangen und traten gerade durch die letzten Büsche. In Panik rannte er schnell zu ihnen und riss sie hinter den Sträuchern zu Boden.

„Seid ihr vollkommen wahnsinnig geworden!“, zischte er aufgebracht.

Die Blicke seiner Schwestern waren entrückt und die Mädchen brauchten einen Moment ehe sie sich seiner Gegenwart bewusst wurden. Dann brach der Schrecken über sie herein.

„Aber Mama ist doch im Dorf!“, rief Ajadaka panisch.

„Anton, wir müssen Mama doch irgendwie helfen“, sagte Ajanelle verzweifelt.

„Wenn ihr da jetzt rausgeht, werdet ihr sterben… oder euch wird noch Schlimmeres zustoßen. Wollt ihr das?!“, herrschte Anton seine Schwestern an.

„Mama darf nicht auch noch was passieren, Anton…“, schluchzte Ajadaka. „Lass uns wenigstens schauen, ob wir sie unbemerkt retten können!“

„Wir können doch durch die Büsche spähen, Anton. Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit“, versuchte auch Ajanelle ihn zu überzeugen.

Anton wusste wie unwahrscheinlich es war und dennoch konnte auch er nicht einfach nur still sitzen. Er wollte selbst sehen, womit sie es zu tun hatten.

Mit einem grimmigen Nicken ließ er seine Schwestern los. „Kriecht über den Boden und steckt nur den Kopf durch die Büsche. Und sagt bloß kein Wort!“

Alle Drei schoben sich anschließend vorsichtig durch die Zweige und spähten in die Nacht hinaus zu dem Dorf, das ihre Heimat gewesen war. Denn diese Heimat war im Begriff sich aufzulösen. Häuser standen in Flammen und beleuchteten das Grauen, das sich im Dorf abspielte. Warmgaltz rissen Menschen zu Boden und zerfetzten ihre Leiber. Rasskass wüteten unter den letzten Dorfbewohnern, die sich verzweifelt zu wehren versuchten und dann gab es noch die Gestalten im dunklen Nebel. Das Kennzeichen der Raubzüge aus Wulvenien und der Menschen die dort lebten. Das lebendig wirkende Wabern des Nebels ließ die drei Geschwister selbst auf diese Entfernung erzittern.

Anton starrte entsetzt auf die Szenen die sich ihm boten. Überall starben Dorfbewohner. Er glaubte in weiter Entfernung Midra auszumachen, die zu fliehen versuchte und doch nur von einer Gestalt im finsteren Nebel brutal zu Boden geschleudert wurde. Der Mensch warf sich auf sie, zerriss Kleidung und begann an sich selbst zu nesteln.

Länger konnte Anton nicht hinsehen. Trauer und Hilflosigkeit erfüllte ihn. Geplagt wandte er den Blick ab und zuckte jedes Mal zusammen, wenn ein spitzer Schrei der Qual erklang.

Ein nahes Fauchen ließ ihn auffahren. Anton entdeckte zwei Warmgaltz, die sich am äußersten Ende des Dorfes befanden und ihre Schnauzen in die Luft hielten. Es konnte doch nicht sein, dass die Viecher ihn und seine Schwestern witterten oder? Trotz des Rauchs der brennenden Häuser und der Entfernung?

Nun, er hatte ganz sicher nicht vor es heraus zu finden. Er packte seine Schwestern am Kragen und zog sie zurück.

„Wir müssen hier weg, die Warmgaltz können uns vielleicht riechen!“, erklärte er sich. „Schleicht schnell zurück bis wir außer Sichtweite sind.“

Völlig verängstigt huschten die beiden Mädchen durch die Büsche zurück in den Wald hinein. Anton folgte ihnen und übernahm die Führung sobald das Dorf außer Sicht geriet. Er traute sich nicht die Fackel erneut zu entzünden und ohne Licht war der Marsch durch den Wald beschwerlich. Dennoch trieb er sie unermüdlich in der Dunkelheit an. Er wechselte immer wieder leicht die Richtung bis seine Schwestern schließlich erschöpft zu Boden sanken.

Vorsichtig kundschaftete er die nähere Umgebung aus und fand eine kleine Senke im Waldboden die von Büschen umrandet war. Er schlich zu seinen Schwestern zurück und führte sie zur Senke, damit sie dort die Nacht verbringen konnten.

Keiner von ihnen sagte ein Wort. Seine Schwestern zitterten, als sie sich an einander schmiegten. Ab und zu löste sich ein Wimmern oder unterdrücktes Schluchzen von ihnen, doch die meiste Zeit weinten sie stumm vor sich hin. Irgendwann siegte schließlich die Erschöpfung und die Mädchen schliefen ein. Anton wachte noch einige Zeit über ihnen, um seine Panik vor den Warmgaltz zu überwinden, doch letztlich übermannte auch ihn der Schlaf.

Tum trottete schweigend neben seinem Hauptmann her, als sie ihren Lagerplatz erreichten.

Der Abend war schon weit fortgeschritten und es waren nur wenige Männer zu sehen. Entweder spielten sie in der Nähe des Feuers Karten oder waren am Faulenzen. Das Illutira hatte scheinbar etwas zu erledigen und war im Wald verschwunden. Andernfalls würden sich die Männer nicht so entspannt verhalten. Der Rest ihres Raubzugs war wohl noch immer mit der Vernichtung des Dorfes beschäftigt.

Wie sich dieser brutale Haufen immer darauf freute… Es widerte ihn an, was diese Männer anderen Menschen antun konnten. Doch das Schlimmste war, dass sie es tatsächlich genossen! Teilweise prahlten sie richtig damit, wie sie die Frauen und kleinen Mädchen vergewaltigten und manchmal dabei aufschnitten, als wären sie der nächste Braten über dem Feuer…

Tum würde sich nie an diese Grausamkeiten gewöhnen. Doch zumindest hatte er mittlerweile die aufsteigende Übelkeit unter Kontrolle, wenn er an die Vergangenheit dachte.

„Na endlich wieder daheim!“, rief der Lusion erleichtert neben Tum und ließ sich in der Nähe des Feuers nieder. Dem Hauptmann fehlte wirklich jedes körperliche Durchhaltevermögen, dachte Tum abschätzig.

Tum setzte sich etwas weiter vom Feuer weg. Er suchte sich wie immer einen Platz der halb im Dunkeln lag. So bekam er zumindest noch ein Bisschen Wärme des Feuers ab und fiel doch nicht weiter auf. Er verschwand in der Unscheinbarkeit der Gruppe und war nur noch ein Mann unter Anderen, genauso wie es ihm gefiel.

 

Es dauerte Stunden bis sich zwischen den Bäumen der Umgebung die ersten Gestalten abzeichneten und das Gejohle der rückkehrenden Männer Tum abrupt aus dem Schlaf riss. Das erste Licht der Dämmerung vertrieb bereits die Finsternis der Nacht und ließ Tum die Ankömmlinge erkennen.

Die Soldaten bildeten die Vorhut, gefolgt von den Bestienhütern mit ihren Warmgaltz, die sich meistens nur um die Tiere kümmerten und nicht in den Kampf eingriffen. Rasskass liefen vereinzelt am Rande. Die Ätzangra sowie ein paar Telaren bildeten den Schluss.

Allen voran lief Hektor Bran, der Weibel des gesamten Trupps. Scheinbar hatte er den Angriff auf das Dorf befehligt und nicht das Illutira. Tum vermutete, dass es daher mehr Vergewaltigungen gegeben hatte als direkte Morde.

Der Weibel liebte es seinen Trieben freien Lauf zu lassen. Er war in der Heimat regelrecht berüchtigt dafür. Oft schändete er die Frauen äußerst brutal, nur um sie danach halb aufzuschnitzen und langsam verbluten zu lassen.

Ein Anflug von Übelkeit durchfuhr Tum als er an das arme Mädchen dachte, dass vor ein paar Monaten eine halbe Woche durchgehalten hatte. Dieser Bastard von Weibel hatte das Mädchen aufgeschnitten und die Wunden ausgebrannt, noch während er sich zwischen ihre Schenkel gequetscht hatte. Fünf Tage der reinsten Qual hatten das Mädchen erwartet, während sie am Bachufer lag. Ab und an hatte sie den Kopf gestreckt, etwas getrunken und ihren Tod damit nur noch in die Länge gezogen.

Grauen erfüllte ihn noch immer, wenn er daran dachte. Doch Hektors Benehmen war noch schwerer zu ertragen gewesen. Der Weibel hatte doch tatsächlich mit anderen Soldaten darum gewettet hattet, wann das Mädchen endlich aufgeben würde…

Tum hatte sich an Grausamkeiten gewöhnt, doch manche Fälle schockierten ihn noch immer. Zorn wallte in ihm auf, er besann sich aber eines Besseren. Zorn brachte ihn nicht weiter. Überleben konnte er nur, wenn er nicht auffiel und in Rage zu geraten würde eindeutig nicht dazu beitragen.

Eine halbe Stunde später brüstete sich der Weibel noch immer mit seinen Schandtaten. Tum hatte inzwischen aufgegeben wieder einzuschlafen und sich in eine halbwegs aufrechte Position sitzend an einen Baum gelehnt.

Als die Luft plötzlich kälter zu werden schien, verdüsterte sich Tums Stimmung. Das Illutira trat nicht weit hinter ihm aus dem Wald. Wie immer war es vom Kustu, dem wabernden Nebel mit den unzähligen Flüsterstimmen umgeben. Die Stimmen zischten kalt durch die Luft. Zu schnell und leise um etwas zu verstehen. Boshaftigkeit war das einzig Greifbare.

Tum erschauderte als das Illutira nah genug an ihm vorbeiging, dass sich ein Fetzen des grauen Dunstes löste, auf ihn zuschoss und kurz vor ihm in der Luft verpuffte. Er hasste diesen schwarzen Nebel. Sofern möglich verzichtete er immer darauf ihn zu nutzen. Dort wo er herkam war er zum Überleben notwendig, hier nicht.

Das Illutira war überall und jederzeit hinter diesem schwarzen Vorhang aus lebendigen Nebelschwaden verhüllt. Niemand wusste wie die Illutira darunter aussahen. Soweit es Tum anging, wollte er es auch gar nicht wissen.

Als es zu sprechen begann, erklang eine seltsam geschlechtsneutrale Stimme. Und egal wie oft er sie vernahm, Tum konnte sie bisher keinem Volk oder Geschlecht mit Sicherheit zuordnen.

„Habt ihr alles erledigt?“, fragte das Illutira seinen Hauptmann und den Weibel in einem Ton zwischen Flüstern und tiefem Grollen.

Der Weibel sprang bei den Worten des Illutiras sofort auf und beeilte sich Meldung zu machen: „Mein Zahir, wir haben das Dorf vollständig niedergebrannt und alle Bewohner niedergemetzelt. Ich kann euch nur sagen, dass es ein großes Vergnügen war und ich dankbar bin unter eurem Kommando zu stehen!“

„Nur niedergemetzelt…?“, horchte das Illutira auf.

„Selbstverständlich haben wir uns zuvor noch an dem angebotenem Fleisch ergötzt, mein Zahir“, erklärte sich der Weibel grinsend.

„Gut“, akzeptierte das Illutira die Antwort ohne eine erkennbare Gefühlsregung. „Was ist mit deinem Auftrag Hauptmann?“

Tum zog scharf die Luft ein als der Hauptmann nicht aufstand und im Sitzen erklärte: „Der erste Versuch unseres gemeinsamen Zahans war ein voller Erfolg. Irgendwie ist der Esiew an eine Flöte aus dem Holz des Amalachenbaumes gekommen. Ich habe dafür gesorgt, dass die Testperson die Flöte in den Fluss geschmissen hat. Der Fluch wirkt jetzt wieder ganz normal.“

Sich selbst mit dem Illutira auf eine Stufe zu stellen… War er wahnsinnig? Geschockt starrte Tum seinen Hauptmann an.

„Du hast was getan?“, fragte das Illutira mit unheilvoller Stimme.

„Was meint…?“, setzte der Hauptmann an, wurde aber vom Illutira unterbrochen.

„Du hattest ein Stück des Amalachenbaumes in deiner Reichweite und hast es nicht an dich genommen?!“, brüllte es regelrecht.

„Was ist daran so wichtig, dass…“

„Geh und finde es!“, fauchte das Illutira und drohte: „Und wage ja nicht ohne das Stück Holz vor mir zu erscheinen!“

Damit wandte sich das Illutira ab und ging auf den Rand des Lagers zu. Scheinbar war die Sache für Illutira erledigt. Nicht aber für den Hauptmann, seiner Miene nach zu urteilen.

In Tum stieg Panik auf. Er hatte diesen Blick schon bei vielen Anderen gesehen. Grauen erfüllte ihn an als er an das Gespräch mit dem Hauptmann vom Rückweg denken musste.

Er wird es wirklich versuchen. Er will das Illutira bezwingen. Und hat leider keine Chance, dachte er verbittert.

Vor seinen Augen breitete sich plötzlich der wabernde Nebel um den Hauptmann aus. Natürlich wollte dieser sich aller Macht bedienen der er habhaft werden konnte.

Die um ihn herum sitzenden Soldaten schauten ihren Hauptmann verwirrt an, schüttelten dann den Kopf und blieben sitzen.

Diese Narren! Lusionen hatten zwar manchmal merkwürdige Eigenarten, doch diesmal bereitete sich der Hauptmann unumstößlich auf einen Angriff vor.

Tum begann derweil schleichend etwas weiter zurückzuweichen. Er wollte sich so weit wie möglich von den baldigen Kontrahenten entfernen.

Mit einem Mal zuckte der Nebel des Hauptmanns zusammen und das Illutira blieb ruckartig stehen.

Die nichtmenschlichen Kreaturen des Trupps begriffen sofort. Die Rasskass verschwanden im Wald und die Telaren und Ätzangra wichen unauffällig an den Rand des Lagers zurück.

Von den Menschen merkte es der Weibel zuerst. Ein wissendes Lächeln stahl sich kurz auf sein Gesicht und verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. Mit unbeteiligter Miene stand er auf, sprach einen der weiter entfernten Soldaten an und begab sich so unauffällig aus der Gefahrenzone.

Tum kam nicht umhin, das Geschick des Weibels zu bewundern. Ein paar Männer folgten ihm. Wobei sich Tum nicht sicher war, ob sie die Situation begriffen hatten oder nur dem Weibel in den Arsch kriechen wollten. Wulvenienmanier zum Aufstieg in den Rängen… Er konnte bis heute nicht verstehen, welchen Nutzen es hatte eine Führungsposition anzustreben. Meistens war man dann nur schneller tot. Nein, er konnte wahrlich darauf verzichten.

Die Mehrheit der Soldaten blieb aber um ihren Hauptmann herum sitzen und war der Gewalt des Kampfes schutzlos ausgeliefert.

In den paar Sekunden, die der Weibel brauchte, um seinen Platz zu wechseln, tat sich nichts. Sowohl das Illutira als auch der Hauptmann verharrten bewegungslos an Ort und Stelle.

Dann begann das Illutira plötzlich grausam zu gackern. Die unheilvollen Laute steigerten sich weiter zu einem lauten Lachen, das über den Lagerplatz hinweg hallte.

Einige der Soldaten blickten verunsichert auf. Illutira lachten nicht. Sie lachten nie! Außer etwas sehr Grauenhaftes stand unmittelbar bevor.

Blitzschnell wirbelte das Illutira plötzlich herum und eine unsichtbare Kraft traf den Ort an dem der Hauptmann saß. Ein Knall wie der einer Explosion donnerte über das Lager und im nächsten Moment wurde der Hauptmann nach hinten durch die Luft geschleudert und prallte am Ende des Lagers gegen einen Baum. Die Soldaten, die unvorbereitet neben ihm gesessen hatten, erwischte es noch schlimmer.

Die Kraft war zu gewaltig und zerfetzte ihre Leiber. Gliedmaßen und Gedärme flogen durch die Luft. Blut spritzte und der Geruch von verschiedensten Körperflüssigkeiten trat in die Luft.

Tum wich angewidert zwei Schritte zurück als die Reste eines Oberkörpers vor ihm landeten und die letzten Zuckungen von sich gaben. Dort wo einmal das Lagerfeuer gebrannt hatte, befand sich nun eine weite Mulde im Erdreich. Die Kräfte des Illutira waren vernichtend gewesen.

Währenddessen ebbte das Lachen des Illutiras in sichtlicher Hochstimmung ab.

„Es hat mich so lange niemand mehr herausgefordert! Endlich ist mal wieder jemand wahnsinnig genug dafür!“, stieß es vor lauter Vergnügen aus.

Der Hauptmann regte sich noch leicht. Der Nebel hatte ihn vor dem größten Schaden bewart. Doch Tum wusste, dass er zumindest einige Knochenbrüche erlitten haben musste. Egal wozu der Nebel in der Lage war, auch diese dunkle Magie hatte Grenzen.

„Na, steh schon auf Menschlein!“, rief das Illutira.

Tum sah wie sein Hauptmann von unsichtbaren Kräften plötzlich hochgerissen wurde und über der Erde schwebte.

„Ich will doch noch ein Bisschen Spaß mit dir haben. Das kann doch noch nicht alles gewesen sein“, lachte das Illutira und schleuderte den Hauptmann einige Zort weit entfernt gegen den nächsten Baum.

Mit einem dumpfen Aufprall landete Tums Hauptmann an den Wurzeln des Baumes.

Diesmal regte er sich nicht mehr.

Das Illutira ging ein paar Schritte auf ihn zu, ehe es erneut zu sprechen ansetzte: „Ich sagte du sollst aufstehen!“

Da sich der Hauptmann danach immer noch nicht rührte, schien das Illutira die Geduld zu verlieren und ließ den verletzten Lusion in großem Abstand vor sich in die Luft schweben.

Für einen Moment herrschte Totenstille im Lager. Einzig der flüsternde Nebel der beiden Kontrahenten war zu vernehmen.

Dann streckte das Illutira einen Arm aus und der dunkle Nebel des Hauptmanns begann sich zu wandeln. Immer schneller begann er im Kreis zu wirbeln, bis plötzlich ein Sog entstand, der den Nebel in Form eines kleinen Tornados, vom Hauptmann zum Illutira wandern ließ.

Tum schaute gebannt zu. Es war selten eine solch offene Darbietung der Macht eines Illutiras zu sehen. Noch nie hatte er davon gehört, dass es möglich war den Nebel anderer Personen zu stehlen.

Als sich der letzte Fetzen Nebel vom Hauptmann löste, nahm der kleine Edelstein am Hals des Lusions eine milchig weiße Farbe an. Tum wusste, dass spätestens dies das Todesurteil seines Hauptmanns war. Der Stein würde keinen Nebel mehr hervor rufen können und ohne dessen Schutz konnten Menschen im Bereich um Zetan nicht überleben.

Kaum waren die letzten Nebelschwaden zum Illutira übergegangen, brach jäh lautes Geschrei im Lager los.

Bestürzt stellte Tum fest, dass er selbst schrie, während er sich wahnsinnig vor Schmerzen auf dem Boden wälzte. Unglaublich laut schallte die kreischende Stimme des Illutiras durch seinen Kopf: „Du wirst gefällig aufwachen, Mensch! Du hast doch nicht wirklich gedacht, ich lasse dir das Vergnügen bewusstlos zu bleiben, während ich dich bestrafe?!“

Sobald das Illutira zu Ende gesprochen hatte, ließen die Schmerzen nach und Tum versuchte fieberhaft einen klaren Kopf zu bekommen. Sein Sichtfeld war zunächst verschwommen, klärte sich aber langsam als das Illutira mit normaler Stimme zu sprechen begann: „Ein Lusion der versucht ein Illutira gedanklich zu manipulieren. Das du von dem Wahnsinn befallen warst, es könnte funktionieren!“

Es lachte boshaft.

Tums konnte endlich wieder etwas erkennen und sah wie der Hauptmann noch immer in der Luft hing und aus dumpfen Augen das Illutira anstarrte. Irgendwie hatte das Monstrum ihn tatsächlich mit seelischer Gewalt zu Bewusstsein gebracht. Die restlichen Soldaten im Lager sahen auch nicht besser aus als Tum sich fühlte. Scheinbar hatten die Kräfte des Illutiras auch allen anderen zugesetzt. Tum wollte sich noch nach den anderen Kreaturen ihres Trupps umsehen, als die verzweifelten Worte seines Hauptmanns seine Aufmerksamkeit auf sich zogen: „Bitte… Seid gnädig, Zahir. Was immer euer Wunsch ist… Ich werde euch dienen… Bitte verschont mein Leben.“

„Aber natürlich werde ich dein Leben verschonen!“, rief das Illutira gut gelaunt.

Der Hauptmann versteifte sich augenblicklich. Er wusste, dass das Illutira nicht alles sagte. Wie zur Bestätigung erhob sich der Nebel des Illutiras zu vier wabernden Armen und umschloss die Extremitäten des Hauptmanns.

„Ich werde dir sogar den Gefallen tun, dich in die Freiheit zu entlassen.“

Unmittelbar nach den Worten des Illutiras begann der Hauptmann an zu schreien. Tum starrte voller Entsetzen auf das Geschehen als sich der Nebel zurück zog und vier große Körperteile dumpf zu Boden fielen.

Blut strömte teilweise pulsierend aus den Arm- und Beinstümpfen, die den Blick bis auf die Knochen preisgaben.

Die wabernden Nebelarme des Illutiras griffen derweil zu den am Boden liegenden Schwertern der zerfetzen Soldaten. Die Klingen der Schwerter begannen in einem orange-gelben Licht zu leuchten, als die Nebelarme sie umschlossen.

Ohne ein weiteres Wort führte das Illutira die glühenden Schwerter an die blutenden Stümpfe und versiegelte unter lautem Geschrei des Lusions auf brutale Weise die Wunden des Hauptmanns.

Tums starrte wie gebannt auf das Geschehen. Das Illutira ließ die Schwerter fallen und hielt den Hauptmann noch immer in der Luft. Oder viel mehr das, was der Hauptmann mal gewesen war. Tum konnte nicht glauben, dass der Lusion immer noch am Leben war. Doch seine Brust hob und senkte sich noch hektisch.

„Weibel, ab sofort bist du der Hauptmann des Trupps. Wen empfiehlst du als deinen Weibel?“, herrschte das Illutira den Soldaten an.

„Kastos wäre eine gute Wahl, mein Zahir“, antwortete der neue Hauptmann.

„So sei es. Sorg dafür, dass dieser Dreck an den Baum gebunden wird und bringe einen Wasserschlauch in seiner Reichweite an.“

„Selbstverständlich, mein Zahir. Welchen…“

Bevor der Soldat zu Ende sprechen konnte, ließ das Illutira den Lusion zu einem Baum schweben und setzte ihn auf einem dicken Ast des nächsten Baumes ab.

Der neue Hauptmann nickte nur knapp und begann Befehle zu brüllen.

Als die Soldaten fertig waren, kicherte das Illutira kurz vor sich hin. Scheinbar fand es Vergnügen bei dem grausigen Anblick des verstümmelten Lusions.

„Wir kehren nach Wulvenien zurück. Nehmt die Schwerter und Rüstungen der Toten mit“, erklärte das Illutira und wandte sich nach Süden.

Die Männer beeilten sich den Anweisungen des Illutiras Folge zu leisten und ein paar Augenblicke später, rannte Tum mit dem restlichen Trupp dem Illutira hinterher. Es war nie gut dieses Monstrum warten zu lassen.

Tum… Tum, du musst mir helfen…

Tum stolperte fast vor Schreck, als er den Lusion in seinem Kopf vernahm.

Du hast gesagt du bist auf meiner Seite… Hilf mir Tum…

Keine Ahnung, wie du in meinen Kopf kommst aber ich habe gesagt, dass ich dir nur folge, wenn du das Illutira besiegst, dachte Tum panisch.

Ich kann dir nichts tun Tum… meine Kräfte reichen gerade noch dazu aus Kontakt mit dir aufzunehmen… Bitte…

Erleichterung machte sich in Tum breit als er diese Worte in seinem Kopf vernahm. Dann verschwinde aus meinen Gedanken! Brach es innerlich aus ihm hervor.

Egal wie Mitleid erregend sich sein ehemaliger Hauptmann anhörte, Tum wusste genau wie grausam er sein konnte. Sein Tod war kein Verlust für die Welt.

Bitte Tum… Lass mich nicht zurück…

Ich sagte, verschwinde!

Tum konzentrierte sich und dachte an das Einzige, was ihm seine Mutter je hatte beibringen können. Er stellte sich einen Wall vor, der ihn komplett umgab und von allen Eindringlingen abschirmte. Anfangs krachte etwas in regelmäßigen Abständen dagegen, doch mit der Zeit war nur noch ein Kratzen zu vernehmen, bis schließlich völlige Ruhe einkehrte.

Erleichtert seufzte Tum auf. Er hatte ihn aus seinem Kopf vertreiben können. Wäre der Lusion nicht so geschwächt gewesen, wäre es wahrscheinlich nicht so einfach gewesen.

Als Tum seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Umgebung richtete, sah er wie das Illutira sich umdrehte und ihn kurz anschaute, ehe es sich abwandte und seinen Weg fortsetzte.

In Tum machte sich das Gefühl breit, dass dem Illutira seine geistige Auseinandersetzung mit dem Lusion durchaus nicht entgangen war. Ein Schauder lief über seine Haut, als er daran dachte wie gefährlich knapp er wohl gerade dem Tod entgangen war.

Aber er hatte überlebt! Und er würde auch weiterhin überleben. Ja, leben… das war schon immer sein Antrieb gewesen. Er atmete einmal tief durch und straffte sich anschließend. Es war im Grunde ein Tag wie jeder andere gewesen. Grausamkeiten würde es immer geben.

Mit neuer Entschlossenheit folgte er schweigsam dem restlichen Trupp und bemühte sich, seine Gedanken neutral zu halten.

Angewidert und mit einem Gefühl der Verzweiflung schritt Anton durch die Überreste des Dorfes, das mal seine Heimat gewesen war. Seine beiden Schwestern im Schlepptau, hatte er sich früh am Morgen aufgemacht, den Zustand des Dorfes zu erkunden.

Überall lagen die Leichen der Dorfbewohner. In den seltensten Fällen waren die Körper unversehrt, geschweige denn an einem Stück. Es war furchtbar ständig über abgetrennte Körperteile stolpern zu müssen.

Anfangs hatte er seinen Schwestern noch den Anblick ersparen wollen. Doch die Mädchen hatten sich nicht abhalten lassen und sich an ihm vorbei ins Dorf gekämpft. Bei dem Anblick hatten sie sich übergeben und auch Anton hatte dem Grauen nicht standhalten können. Mit inzwischen leeren Magen wanderten sie nun voran und suchten ihre Mutter.

Oder zumindest das, was noch von ihr übrig war, dachte Anton verzweifelt.

Als sie an ihrem Haus ankamen, entdeckte Anton ein Paar Füße in der halb geschlossenen Tür.

In Windeseile rannte er zur Tür und entdeckte seine Mutter im Flur an die Wand gelehnt. Sie lebte noch!

Mit einem Satz war er bei ihr. Seine Schwestern folgten ihm auf den Schritt.

„Mama!“, riefen sie schluchzend als ihnen die Tränen über die Wangen liefen.

Antons Blick fiel auf ihren Unterleib, wo die Kleidung Blut durchtränkt war und wanderte mit dunkler Vorahnung zurück zu ihrem Gesicht. Die Augen seiner Mutter hielten seinen Blick fest und sie nickte stumm.

Nun liefen auch Anton Tränen über die Wangen. Nicht nur sein Vater, auch seine Mutter würde bald von ihnen gehen.

Dem großen Licht sei Dank“, stöhnte sie leise. „Das es euch gut geht und ich euch noch einmal sehen durfte…“

„Mama, du darfst nicht mehr reden“, meinte Ajanelle. „Du musst deine Kräfte sparen.“

„Wir suchen einen Heiler“, schloss sich Ajadaka an.

„Es ist zu spät, meine Kleinen“, sagte ihre Mutter leise.

„Aber…“, setzte Ajanelle an bis Anton die Schultern seiner Schwestern umfasste und sie zwang ihn anzusehen. Er schüttelte den Kopf und sah wie sie sich verzweifelt bemühten nicht laut zu schluchzen.

„Anton…“, sprach seine Mutter leise.

„Ja, Mama?“

„Was… was ist mit eurem Vater?“

Anton schüttelte stumm den Kopf und diesmal liefen auch seiner Mutter die Tränen über die Wangen.

„Es ist ja nicht so, dass ich es nicht erwartet habe…“, flüsterte sie. „Du musst auf deine Schwestern aufpassen, mein Sohn. Versprich mir das.“

„Natürlich, Mama. Ich werde mich um sie kümmern.“

„Gut. Ajadaka…“

„Ja, Mama?“

„Hör auf deinen Bruder und deine Schwester. Ihr habt nur noch euch. Kannst du das für mich tun?“

„Ja, Mama. Ich werde alles tun, was sie sagen. Aber bitte geh nicht…“, schluchzte Ajadaka.

„Meine Kleine… Jeder muss eines Tages gehen. Ich werde nur etwas früher gehen als gedacht. Sei tapfer, mein Schatz.“

Ein Husten schüttelte den Körper ihrer Mutter. „Nein… noch nicht…“, kämpfte ihre Mutter sich noch einmal zu Bewusstsein.

„Ajanelle… Ajanelle…“, hauchte sie panisch.

„Ich bin hier, Mama.“

„Dein Feinaar ist nicht hier…“, suchte sie Ajanelles Blick.

Ajanelle schüttelte den Kopf.

„Das tut mir leid, mein Schatz…“, keuchte sie angestrengt.

„Mama… ich…“, suchte Ajanelle nach Worten, als sie ihrer Mutter in die Augen blickte.

Ein Lächeln spielte um die Lippen ihrer Mutter als sie leise hauchte: „Es ist alles in Ordnung, mein Schatz. Wenigstens hast du etwas… was dich an ihn erinnern wird. Glaube an dich…“

Ein weiteres Husten rüttelte sie durch, ehe sie ein letztes Mal zu sprechen ansetzte: „Ich liebe euch alle, meine Kinder… Passt auf euch auf… Lebt ein gutes Leben… Ich werde jetzt… zu eurem Vater gehen…“

Sie blickte Anton und seine Schwestern noch einmal an und gab dann ein letztes leises Seufzen von sich, als sie in sich zusammensackte.

Anton blieb wie erstarrt an der Seite seiner Mutter sitzen. Seine Schwestern hatten sich an die Brust ihrer Mutter geworfen und schluchzten hemmungslos vor sich hin.

Anton stand draußen vor dem Haus, dass ihr zu Hause gewesen war. Es war eine kleine Ewigkeit vergangen, ehe er zu Sinnen gekommen war und danach, wie wahnsinnig, Vorbereitungen traf, um aufzubrechen. Er wollte keinen Moment länger als nötig auf diesem Friedhof verharren zu dem ihr Dorf geworden war.

Am nördlichen Rande des Dorfes hatte er im ersten Dickicht des Waldes zwei Pferde und einen Esel gefunden und einfangen können. Dem großen Licht sei Dank waren sie nicht zu weit davon gestürmt.

Danach hatte er seine Schwestern dazu bringen können, das Nötigste zusammen zu packen, während er die Reste des Dorfes nach Geld oder Vorräten durchsuchte.

Für die ersten Monate sollten sie genug haben. Was danach werden würde wusste Anton nicht.

Er hatte das Dorf immer verlassen wollen.

Nur nicht auf diese Weise…

Er stützte sich auf die Schaufel und wartete darauf, dass die Mädchen dazu kamen. Die letzte Stunde hatte er damit verbracht, das Grab für ihre Mutter auszuheben. Inzwischen ruhte sie in der weichen Erde und eine Decke verdeckte ihren Unterleib. Anton hatte ihre Hände aufeinander gelegt. Sie sah friedlich aus. Tief in sich drinnen, wusste er, dass sie friedlich gestorben war. Sie hatte ihn und seine Schwestern ein letztes Mal sehen können, bevor sie ihre letzte Reise angetreten hatte. Dennoch… die Trauer die ihn jedes Mal bei den Gedanken an seine Eltern erfasste, ließ sich nicht abschütteln…

Als er die Schritte seiner Schwestern hörte, wischte er sich schnell die Tränen weg und straffte sich. Er musste stark sein. Er hatte seiner Mutter versprochen auf die beiden Mädchen aufzupassen. Es war an der Zeit, dass er damit anfing.

Mit erneuten Tränenausbrüchen beerdigten sie ihre Mutter. Ajadaka hatte ihr ein paar gepresste Blumen mit ins Grab gelegt und Anton beeilte sich das Grab zu schließen. Es machte ihnen zu schaffen, dass sie ihren Vater nicht beisetzen konnten. Doch sie trauten sich nicht noch länger in der Gegend zu verweilen.

Sie nahmen so viel mit wie in die Satteltaschen und auf den Rücken des Esels passte. Ajanelle und Ajadaka teilten sich eine der Stuten, die Anton glücklicher Weise eingefangen hatte. Anton saß auf der anderen. Als sie am nördlichen Ende des Dorfes ankamen, fragte Ajanelle: „Wohin gehen wir, Anton?“

Anton schaute zu seinen beiden Schwestern und richtete dann den Blick auf den Wald der vor ihnen lag.

„Lamata“, sprach er bestimmt. „Wir reisen nach Lamata.“

Ajanelle nickte nur stumm und Anton spornte seine Stute an sich zu bewegen. Etwas nördlich von Lamata hatten sie noch ganz entfernte Verwandte. Es war besser als nichts und zumindest gab es ihnen vorläufig ein Ziel. Weit weg von all dem Grauen. Ein letztes Mal schaute er zurück und wandte sich dann grimmig nach vorne.

Ja, dachte er. Auf nach Lamata.

Otem schritt durch die dunklen der Gänge der Festung, die seit seiner Geburt sein zu Hause darstellte. Er musste seinen Zahan aufsuchen. Keine angenehme Tätigkeit. Erst recht nicht, wenn sein Zahan sich in den Kellergewölben aufhielt. Die Schreie der Folteropfer hallten durch die Gänge und ließen einem das Blut in den Adern gefrieren.

Der Schein der Fackel flackerte an den Wänden und gab ab und an den Blick auf eine der vielen Zellen des Kerkers frei. Fast jede Zelle war vergeben. Sie waren immer gefüllt. Es mangelte nie an Opfern, die sich sein Zahan zum Spaß hielt.

Der einzige Unterschied bestand in dem teilweise unterschiedlichen Material der Zellen. Nicht jedes Wesen konnte in der gleichen Art von Zelle gehalten werden.

Ein paar Menschen lugten teils durch die Gitterstäbe, ob der unerwarteten Lichtquelle und Otem erschauderte unwillkürlich. Dem großen Licht sei Dank, musste er nicht hier unten arbeiten. Jeden Tag auf ein Neues die ausgemergelten Gesichter sehen zu müssen, würde ihn fertig machen.

Mitleid, mein Sohn. Das musst du dir bewahren…

Otem nickte grimmig, als ihm die Worte seines verstorbenen Vaters in den Sinn kamen.

Ja, Mitleid war etwas, das ihn von allen Wesen, die in dieser Festung hausten, unterschied. Sofern man von den Gefangenen absah.

Nicht das er deswegen etwas an dem Schicksal der Gefangenen ändern könnte. Aber es machte für ihn selbst einen Unterschied. Er wollte sich seine Menschlichkeit bewahren. Auch wenn er sich am grauenvollsten Ort ganz Remandors befand, er würde nicht aufgeben. Es war der letzte Wunsch seines Vaters gewesen und für ihn hatte dieser Wunsch weit mehr Bedeutung als sein eigenes jämmerliches Leben.

Mit einem Seufzen schritt er weiter durch die schier endlosen Gänge. Die Kerkergewölbe reichten weit unter die Erde und heute musste Otem sich zur Mitte dieser Hölle vorkämpfen. Zentral gelegen befand sich eine große Folterhalle.

Sein Zahan war wahnsinnig, aber auch ein Genie. Er hatte die Gänge so herrichten lassen, dass sie die Schreie bis zu den äußersten Zellen trugen. Tag und Nacht wurden die Zelleninsassen von den Verzweiflungsschreien der Folteropfer gematert. Allein das Warten, bis man selbst an die Reihe kam, war Qual genug. Der Wille vieler Opfer brach, ehe sie überhaupt die Folterhalle von innen sahen.

Otem ließ die letzten Treppen hinter sich und kam schließlich im Gang an, der zum Herzen der Grausamkeit führte. Die Schmerzensschreie waren vor Kurzem abgebrochen. Scheinbar hatte sein Zahan wieder eins seiner Spielzeuge verloren.

Verdammt, dachte Otem. Er wird wieder eine Miese Laune haben.

Ohne zu klopfen trat Otem durch eine quietschende Stahltür und rümpfte die Nase. Er war sicherlich schon abgestumpft, doch dieser würgende Geruch aus abgestandener Pisse und anderen Exkrementen vermischt mit getrocknetem Blut und verfaulendem Fleisch setzte ihm noch immer zu.

An den Wänden und in Käfigen hingen eine Vielzahl von Opfern, mal mehr, mal weniger lebendig. Manche blickten ihn stumm an. Andere starrten stumpf ins Leere. Keiner bat ihn sein Leben zu beenden. Sie wussten, dass er das nicht tun würde. Gegen seinen Zahan konnte er sich nicht auflehnen.

Dieser beachtete ihn bisher jedoch nicht. Sein Zahan brabbelte vor sich hin und schien in seinen eigenen Gedanken vertieft.

„…mir merken, dass der Schnitt an der Schlagader sanfter und präziser sein muss. Verdammt, wie oft ich diesen Fehler schon gemacht habe… Aber das dieses Vieh auch nie still hält. Wie soll man sich denn so auf seine Kunst konzentrieren.“

Er lief dabei stetig hin und her und wusch seine Folterinstrumente in einer kleinen Wanne in der Mitte des Raums nahe eines großen Feuers, dass die ganze Halle beleuchtete.

„Mein Zahan“, machte sich Otem bemerkbar.

„Ich habe längst bemerkt, dass du hier bist, du Narr. Was willst du?“, herrschte dieser ihn an.

„Zwei Dinge, mein Zahan. Illutira Ri ist eingetroffen…“

„Ri, sagst du?!“, unterbrach ihn sein Zahan hellhörig. „Es ist und bleibt das Schnellste, was das erledigen meiner Aufträge betrifft.“

„Ja, mein Zahan.“

„Was ist die zweite Sache?“

„Eure Brüder im Geiste wurden gefunden.“

Abrupt hielt Otems Zahan inne. „Sagtest du, man hat sie gefunden, Otem?“, sprach er angespannt.

„Ja, mein Zahan“, erklärte Otem und zuckte zusammen als sein Zahan zu lachen begann. Otem kam nicht umhin, sich um die Zukunft zu sorgen, wenn sein Zahan von solch grausiger Freude erfüllt war.

„Endlich!“, rief dieser noch immer lachend. „Bald wird die Welt in Chaos und Tod versinken und diesmal wird es niemand aufhalten können!“

„Mein Zahan…“, begann Otem vorsichtig.

„Was ist Otem?“, fragte sein Zahan fröhlich.

„Eure Brüder, mein Zahan, wir haben sie zwar gefunden aber es wird noch lange Zeit dauern, bis wir sie im Gestein freilegen können. Vermutlich drei bis vier Jahrhunderte.“

„Wenn es nur das ist, Otem. Ich habe neuntausend Jahre auf den Tag der Rache gewartet. Ein paar Jahrhunderte machen da auch nichts mehr aus“, erklärte Otems Zahan in Hochstimmung. „Das ist ein Grund zu feiern! Lass uns nach oben gehen. Ich will wissen was Ri zu berichten hat.“

Otem verbeugte sich geflissentlich in Zustimmung und folgte seinem Zahan aus der Folterkammer.

Nach dem bedrückenden Kerker, kam die obere Festung einer Erlösung gleich. Obwohl es Nacht war und die Gänge nur teilweise von Fackeln oder magischen Steinen beleuchtet wurden, war es ein beruhigendes Gefühl den Gewölben der Qual entkommen zu sein.

Als sein Zahan die Empfangshalle betrat, folgte Otem schweigend. Auf der anderen Seite des Raums stand das Illutira Ri mit zweien seiner Männer. Wenn sich Otem nicht irrte, war der Weibel inzwischen zum Hauptmann aufgestiegen. Es passierte recht oft, dass die Illutira mit ihren Untergebenen nicht zufrieden waren. Das Illutira Ri schien in dieser Hinsicht aber eine besonders stark ausgeprägte Vorliebe zum meucheln zu haben. Er vermutete, dass dies der Grund war, warum sein Zahan diesem Illutira meist die wichtigsten Aufgaben übertrug.

„Ri!“, rief sein Zahan. „Lass hören, ist alles erledigt?“

„Mein Zahan“, verbeugte sich das Illutira. „Euer erster Versuch war ein voller Erfolg. Es besteht kein Grund zur Sorge.“

„Wie das?“, hörte Otem seinen Zahan fragen. „Dieser Bastard ist doch tatsächlich lange genug bei Verstand geblieben, um aus Wulvenien zu fliehen. Wie kommst du zu der Annahme, dass kein Problem besteht?“

„Scheinbar trug er ein Stück des Amaláchenbaumes bei sich, mein Zahan. Er verkroch sich in einem Dorf in Lamatas nahe der Grenze. Ich habe das Dorf vernichten lassen. Allerdings hat mein Dummkopf von Hauptmann nur dafür gesorgt, dass euer Versuch sich des Holzes entledigt und es nicht selbst an sich genommen.“

Bei der Erwähnung des Amaláchenholzes, bemerkte Otem wie sein Zahan in der Bewegung inne hielt. Kaum hatte das Illutira seine Ausführungen beendet, erfüllte ein lautes Zischen und Flüstern die Halle. Aus den Wänden quoll der wabernde Nebel, der bisher nur das Illutira verhüllt hatte.

„Du hast was getan, du Bastard!“, brüllte sein Zahan den Hauptmann des Illutiras an und schleuderte diesen mit unsichtbarer Macht durch die Halle. Der Hauptmann prallte mit dem Kopf voran gegen die nächste Wand. Ein stumpfes Knacken, gefolgt von einem eklig matschigen Geräusch war zu vernehmen, als der Schädel des Hauptmanns brach und die Wucht dafür sorgte, dass der Kopf an der Wand regelrecht zerquetscht wurde.

„Mein Zahan, eigentlich habe ich meinen ehemaligen Hauptmann schon bestraft. Das war der frühere Weibel“, klärte das Illutira belustigt Otem und seinen Zahan auf.

„Oh, was für ein Jammer. Wofür hab ich jetzt die Wand versaut?“, dachte Otems Zahan laut vor sich hin. „Otem, du machst mir die Wand bis Morgen früh wieder sauber. Hast du verstanden?“

„Selbstverständlich, mein Zahan“, stimmte Otem ihm schnell zu.

„Du kannst dir ruhig ein paar der Schweine aus dem Stall holen. Die werden die Sauerei schon von selbst auflecken. Ohnehin kamen mir die Viecher in letzter Zeit zu abgemagert vor. Um den Stallmeister muss ich mich ein Andermal auch noch kümmern.“

„Wie ihr wünscht, mein Zahan“, versicherte Otem ihm bedingungslos. Der Schock saß ihm immer noch in den Gliedern. Eine solch plötzliche Zurschaustellung seiner Kräfte hatte Otem von seinem Zahan nicht erwartet. Nicht das ihm der Anblick Übelkeit verursachte, er sah jeden Tag weit Schlimmeres.

„Tja, Weibel“, sprach Otems Zahan den letzten Untergebenen des Illutiras an. „Sieht so aus, als ob du gerade zum Hauptmann befördert wurdest. Du musst das Missverständnis entschuldigen. Normalerweise bin ich umgänglicher“, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

Otem bemerkte, wie der Weibel noch blasser wurde, sofern es überhaupt noch möglich war. Er konnte nur den Kopf schütteln. Das diese Idioten sich nie vorher Gedanken machten, wem sie dienten. Sie konnten es sich ja wenigstens aussuchen. Nicht so wie er selbst. Er würde sein ganzes Leben in dieser vom großen Licht verdammten Festung zubringen und den Diener für diesen Wahnsinnigen spielen müssen. Aber wer weiß? Vielleicht kam ja eines Tages eine Chance auf Freiheit?

Schnell verwarf er diesen Gedanken wieder. Solche Gedanken waren in der Anwesenheit seines Zahans und eines Illutiras Selbstmord.

„Das Holz vom Amalachenbaum…“, sinnierte sein Zahan vor sich her. „Nun, ich denke, das erklärt, wie der erste Versuch zeitweise wieder klare Gedanken fassen konnte. Da es jetzt aus dem Spiel ist, sollten bald alle Puzzleteile wieder an ihren Platz fallen.“

An das Illutira gewandt, fuhr er fort: „Ri, ich will, dass du dich für zwei Wochen ruhig verhältst. Ich muss zunächst auf eine weitere Nachricht warten. Komm in zwei Wochen wieder zu mir, dann bekommst du deinen nächsten Auftrag.“

„Wie ihr wünscht, mein Zahan“, sprach das Illutira und wandte sich zum gehen.

Kaum hatte die beiden übrig gebliebenen Gäste die Halle verlassen, lachte Otems Zahan erneut lauthals auf.

„Was für eine schöne Nacht!“, rief er freudig. „Bei so vielen guten Nachrichten kommen mir doch gleich wieder ein paar neue Ideen für den weiteren Ausbau meiner anderen Anwesen. Otem, kümmere dich hier um alles. Ich muss mir schnell was aufschreiben!“

Im nächsten Moment eilte Otems Zahan auch schon aus der Halle und ließ ihn mit der Leiche des Hauptmanns zurück.

Otem konnte nur erneut den Kopf schütteln. Dann sollte er wohl besser mal die Schweine holen. Wenn er sich ran hielt, würde er vielleicht noch ein Bisschen Schlaf bekommen.

Mal wieder ein Toter und er verschwendete gar keine Gedanken mehr an ihn, dachte er betrübt. Was war bloß aus ihm geworden…

Im 11. Zeitalter

im Jahr 10541

 

im Ferus

 

dem 29.

 

nach Beginn der Zeitrechnung

 

Anfänge bringen Hoffnungen in die Herzen und seien sie noch so klein, ihre Bedeutsamkeit liegt in deinem Handeln, ganz allein.

(Lebensweisheit der Atlanter, Auszug aus Seeniras Schriften)

 

 

Kapitel 1: Ein Anfang nimmt seinen Lauf

Fucaro war ein großer Mann, der mit etwas über eineinhalb Zort – einer allgemeingültigen Maßeinheit Remandors, die in etwa eineinhalb großen Schritten pro Zort entsprach – die meisten Menschen überragte. Breite Schultern und ein schlanker Körper ließen vermuten, dass er aus höheren Kreisen stammte, dafür fehlte jedoch die arrogante Ausstrahlung, die solchen Menschen zueigen war. Sein mittelblondes Haar fiel ihm in beiläufiger Eleganz in Nacken und Stirn, während der kurze Vollbart ihm eine männlichere Note verlieh. Die blaugrauen Augen zeugten von einem wachen Verstand, denen durch die Lachfältchen in den Augenwinkeln die Strenge genommen wurde.

Seine Kleidung war schlicht. Sie bestand aus einfacher Wolle. Eine braune Tunika verbarg seinen Oberkörper und überdeckte den Bund seiner gleichfarbigen Hose.

Er saß zusammen mit seiner Frau Emonia am Lagerfeuer und hielt sie eng umschlungen. Emonia hielt ein sich ab und an regendes Bündel sanft auf ihrem Schoß. Sie war mit einem Zort und einer Fußlänge eine recht große und schöne Frau in der Blütezeit ihrer Jahre. Sie hatte dunkelbraune Locken, die ihr hinten über die Schultern fielen. In ihrem herzförmigen Gesicht thronte eine wohlgeformte Nase unmittelbar unter den dunkelbraunen Augen, die von einer Weißheit geprägt waren, die für ihr Alter nicht zu passen schien.

Sie trug ebenfalls eine braune Hose, im Gegensatz zu Fucaro allerdings eine dunkelrote Tunika und hatte zum Schutz vor der Kälte ihren wollenen dunkelbraunen Reiseumhang auf ihrem Schoß zu einer Art Nest geformt, in der ihr neues Familienmitglied leise vor sich hin atmete.

Fucaro machte sich Sorgen um seine Frau. Sie waren den ganzen Tag gereist und manchmal hatte es so ausgesehen, als könnte sie sich kaum noch im Sattel halten. Doch immer, wenn er sie darauf ansprach und vorschlug eine Pause zu machen, winkte sie ab und meinte lediglich es gehe ihr bestens.

Inzwischen hatte Emonia ihren Kopf an Fucaros Schulter gelehnt und er hielt sie in inniger Umarmung, während sie den leisen Geräuschen der Nacht und dem Knistern des Feuers lauschten.

Ihr Sohn lag warm verpackt in dem Nest aus Decken und weichen Laken, das Emonia sorgsam in den Armen hielt und Fucaro musste schmunzeln, als er erkannte, dass seine Frau eingeschlafen war.

Vor zwei Tagen hatte ihr Sohn das Licht der Welt erblickt und sie waren schon heute wieder aufgebrochen, um das letzte Stück des Weges hinter sich zu bringen. Es war kein Wunder, dass sie vor Erschöpfung beinahe vom Pferd gefallen war.

Fucaro hielt sie weiterhin schweigend in den Armen, als sie aus ihrem Schlaf schreckte und lauernd fragte: „Sein Name stammt doch nicht wieder von irgendeinem deiner Verwandten ab, oder?“

„Nein, nein, ganz bestimmt nicht“, antwortete er lachend. „Hast du die Sache denn immer noch nicht vergessen?“

„Vergessen? Wie könnte ich denn vergessen, dass du tatsächlich erwogen hast unseren Sohn, nach einem deiner verrückten Onkel, Waldimiranunanus zu nennen!“, plusterte Emonia sich auf. „Die anderen Kinder hätten ihn ausgelacht! So einen Namen kann nur der Adel oder ein totales Landei tragen, ohne sich damit zum Gespött der Leute zu machen!“

„Na ja, genau genommen wohnen wir doch auf dem Land…“, wagte sich Fucaro vor.

„Du, du…“, stotterte Emonia fassungslos und drehte sich leicht, um ihn anschauen zu können.

„Schon gut, schon gut, ich hör auf“, rettete sich Fucaro mit einem Grinsen gerade noch rechtzeitig, während er sie wieder sanft an sich zog. „Was ist denn nun mit seinem Namen, wenn er dir nicht gefällt, dann sag du mir einen.“

„Nein, ich finde ihn schön“, teilte sie ihm mit und blickte auf ihren Sohn hinab. „Lian… du bist Lian Rondas, hörst du mein Schatz.“

Fucaro ging das Herz auf, als er Emonia strahlen sah wie sieh ihren Sohn betrachtete.

„Erinnerst du dich noch an meine Träume?“, fragte sie und Fucaro drückte sie nur in stummer Zustimmung.

„Ich habe mir ja den Kopf zerbrochen, wie sie mit Lian in Verbindung stehen könnten und dann kommst du und findest den idealen Namen. Ich frage mich, wann er sich der Bedeutung seines Namens bewusst werden wird.“

„Das weiß vermutlich nur das große Licht, mein Schatz.“

Danach blieb Emonia still und schlief mit Lian an die Brust gelehnt ein. Fucaro nutzte seine Fähigkeiten, um in Ruhe die Umgebung nach Gefahren abzusuchen. Erleichtert nichts entdeckt zu haben, wachte er anschließend über seine junge Familie und lächelte zufrieden vor sich hin.

Zwei Tage waren inzwischen vergangen. Sie ritten gerade die letzte Strecke durch den Wald und warteten darauf, dass sich die Bäume lichteten und den Blick auf ihr Dorf oder viel mehr, den Blick auf ihr zu Hause preisgaben. Es war Frühling der neunundzwanzigste Ferus, der zweite Monat im Jahr. Der Nachmittag war wunderschön, keine Wolken bedeckten den Himmel, die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, und ab und an konnte man hören wie sich Tiere durch das knackende und raschelnde Unterholz bewegten. Emonia hing mit Lian auf den Armen ihren Gedanken nach und Fucaro genoss es, sich in der strahlenden Sonne zu räkeln und sich von seiner braunen Stute namens Seldra dahin tragen zu lassen.

Sie ritten noch eine Weile schweigend nebeneinander her, bis sie schließlich um die letzte Biegung kamen und dann den Wald verließen. Zwei Ziilen vor ihnen waren die gut dreißig Häuser zu sehen, die ihr Dorf bildeten. Die Häuser waren kreuz und quer um den Waldweg herum gebaut worden, der durch das Dorf führte. Aus den ein oder anderen kam Qualm aus den Schornsteinen und es herrschte überall lautes Stimmengewirr. Draußen auf den Feldern konnte man die Bauern bei der Arbeit sehen und die meisten Handwerker gingen im geschäftigen Treiben von Haus zu Haus, um sich Materialien oder andere Dinge zu besorgen. Als sie sich dem Dorf näherten brüllten die Dorfbewohner überall freundliche Rufe und Begrüßungen und Fucaro und Emonia erwiderten sie lächelnd mindestens genauso laut.

„Die Rondas!“ Schrie ein beleibter Mann mit Schnauzbart und rannte ihnen entgegen. Es war Bommerton Hammer. Er hatte breite Schultern und Rabenschwarzes Haar. Von weitem sah er ziemlich finster aus und machte einen einschüchternden Anblick, aber als er näher herankam, verlor sich alle Einschüchternheit in der Freundlichkeit seiner Züge. Im ganzen Dorf war seine Familie für ihren einfachen Nachnamen bekannt, aber noch viel mehr wegen der Vornamen die sie ihren Kindern gaben. Es schien eine alte Tradition zu sein, dass sie die Einfachheit ihres Nachnamens immer mit der Verrücktheit und der Ausgefallenheit ihrer Vornamen überstrichen. Außerdem hatten sie meistens so viele Kinder, wie die Ehefrauen in ihrer Lebenszeit gebären konnten. Bevor sie abgereist waren, hatte er schon dreizehn Kinder, aber seine Frau, Viviana Hammer eine mollige und hübsche Frau mit aschblonden Haaren, war schon im siebten Monat schwanger gewesen und so war die Zahl ihrer Kinder wahrscheinlich schon auf vierzehn gestiegen.

„Schön das ihr wieder da seit!“ Rief er aus voller Kehle, als er bei ihnen angekommen war. Er trug Arbeitskleider, eine einfache, braune Hose aus Wolle und ein dazu passendes Hemd ebenfalls in braun, das schon mehrmals geflickt worden war und trotz der braunen Farbe schmutzig aussah.

„Jetzt kommt schon von den Pferden runter! Wie soll ich euch denn von hier unten willkommen heiß…“ Seine Begrüßung blieb ihm im Halse stecken als er Lian entdeckte. Einen Moment tat er nichts anderes als ihn anzustarren, doch dann brüllte er so laut, dass Fucaro und Emonia zusammenzuckten: „Viviana! Viviana komm her! Das musst du sehen! Ich fass es nicht, also habt ihr euch endlich entschlossen doch ein Kind zu kriegen. Herzlichen Glückwunsch! Na, ist es ein Junge oder ein Mädchen? Na jetzt las mich doch nicht so lange zappeln! Rückt schon raus mit der Sprache!“

Es war unglaublich wie viele Worte er in der kurzen Zeit aus seinem Mund sprudelten. Bei vielen anderen Menschen hätte es vielleicht beiläufig gewirkt, er zeigte jedoch so offen seine Freude und sein Gesicht strahlte als er sprach, dass Emonia ihm gar nicht schnell genug antworten konnte.

„Es ist ein Junge“, erklärte sie ihm. „Und sein Name ist Lian. Sieht er nicht hübsch aus.“

„Du hast vollkommen Recht. Er ist gut gebaut und kräftig. Wenn ich nicht aufpasse wird er noch ein echter Rivale für meinen Sohn!“, gab er lachend zurück.

„Also ist es ein Sohn geworden? Mal wieder kein Mädchen?“, fragte Emonia leicht enttäuscht.

„Ne, leider nicht“, dröhnte er wieder lachend. „Viviana und ich werden uns wohl noch mehr anstrengen müssen. Aber sagt mal ihr wart doch, wenn ich richtig gezählt habe, nur fünf Monate weg! Wie bei den Namen der schwarzen Esiew’ habt ihr es so schnell geschafft ein Kind zu kriegen? Auch wenn ich von Schwangerschaft nicht viel verstehe, so weiß ich doch, dass es mindestens gute sieben Monate dauert. Also, wie habt ihr das angestellt?“, verlangte er zu wissen.

„Ach Bommerton! Ich war doch schon im dritten Monat schwanger, als wir gingen.“ Sagte Emonia und musste lachen.

Bommertons Gesichtsausdruck wechselte innerhalb kürzester Zeit von reinem Erstaunen zu schierer Fassungslosigkeit und sorgte für einen regelrechten Lachanfall Emonias. Danach machte Bommerton erst ein leicht gequältes und beschämtes Gesicht, lachte dann aber auch wieder laut und rief: „Und ich hab tatsächlich gedacht du hättest nur etwas zugenommen Emonia!“

Nun sah Emonia leicht beleidigt drein, musste dann aber wieder grinsen. Als sie kurz zu Fucaro blickte, sah sie, dass auch er lächelte.

Bommerton war so ziemlich der gutmütigste Mann den Fucaro kannte, aber er schien manchmal etwas langsam im Denken zu sein. Fucaro konnte nur noch den Kopf schütteln.

Dann sah er wie eine leicht mollige Frau mit aschblonden Haaren aus einem Haus in der Nähe gerannt kam. Sie hatte eine hellblaue Bluse an und einen so hellbraunen Rock der schon fast ins Beige ging. Auf den Arm hatte sie ein Baby das erst ein paar Monate alt zu seien schien. Es war Viviana Hammer. Sie war wie immer hübsch, mit hüftlangen glatten Haaren die ihr über die Schultern fielen, mit weichen und warmherzigen Gesichtszügen und mit so strahlend hellblauen Augen, dass ein Unterschied zwischen ihnen und dem Himmel nicht vorhanden schien. Doch sie sah nicht so aus wie er sie in Erinnerung hatte. Sie war schlank. Von ihrer Schwangerschaft als sie abreisten war nichts mehr zu sehen. Zwar hatten die vielen Geburten ihrer Figur etwas zugesetzt, aber man konnte sie beim besten Willen höchstens als mollig bezeichnen und ihr einst großartiges Aussehen war noch lange nicht verschwunden. Fucaro konnte sich nur zu gut noch daran erinnern, wie groß die Enttäuschung der vielen jungen Männer im Dorf gewesen war, als sie Bommertons Heiratsantrag zugestimmt hatte.

„Ah, da seid ihr ja endlich!“ Rief Viviana im näher kommen. Ein paar Meter vor ihnen blieb sie stehen und strich sich eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht.

„Na, ist es ein Junge oder ein Mädchen geworden?“ Fragte sie.

„Ein Junge“, teilte Emonia nun auch Viviana mit. „Wir haben ihn Lian genannt, Lian Rondas. Klingt doch gut, oder? Und wie heißt euer jüngster?“

„Er heißt Munak Jaranna Vidoron Doklen Hammer.“ verkündete Bommerton voller Stolz. „Zumindest ist das sein vollständiger Name. Wir nennen ihn immer Munak oder Doklen. Na ja, mich nennen ja auch nur alle Bomm oder Bommerton. Mein ganzer Name lautet ja eigentlich Bommerton Omenani Memmtor Hammer, aber das interessiert wohl keinen. Hmmm, was soll’s.“

„Ich kann euch wohl nicht dazu zu bringen ihn anders zu nennen, oder? Selbst nicht, wenn ich euch sage das er sein Leben lang deswegen ausgelacht wird?“, fragte Emonia zaghaft. Fucaro musste schmunzeln, dass hatte sie schon die letzten Male versucht, als sie Kinder kriegten. Aber ihre felsenfest entschlossenen und empörten Mienen schienen sie doch zum Aufgeben zu bewegen, denn sie sagte nichts mehr.

Auf einmal schreckte Viviana wie aus einem Tiefschlaf auf und sagte: „Meine Güte, was machen wir hier eigentlich, ihr müsst doch tot müde und hungrig sein, los, kommt gefälligst von den Pferden runter! Bei uns wartet leckerer Hirschbraten, Brot und Kartoffeln auf euch und heute Abend gibt es endlich mal wieder ein Begrüßungsfest. „Bomm, teilst du es bitte den Anderen mit. Sie sollen alles an Essen mitbringen was sie haben. Also beeil dich!“ Rief sie Bommerton noch nachdrücklich hinterher, der schon auf halben Weg zu den Feldern war.

„Na, jetzt kommt doch endlich von den Pferden runter, wie soll ich euch denn sonst anständig begrüßen?“ Sagte sie zu Emonia und Fucaro gewand. Fucaro stieg erst selbst ab und half dann Emonia beim absteigen, die Lian auf dem Arm hatte. Kaum standen sie dann beide auf festen Boden, schloss Viviana sie überschwänglich in die Arme und rief dann wieder in ihrem organisatorischen Tonfall nach einem ihrer Söhne: „Planym komm her und bring ihre Pferde in ihren Stall und trommel dann deine Brüder und Schwestern zusammen. Iksniper, May, Leneeara, Relenndra und Staryn sollen mir beim Essen machen helfen und du und Uschtar helft den Männern beim aufschichten des Feuers Girondo soll mit Umurahn Holz hacken und pass mir ja auf Letieran, Metieran und Emieran auf, sie sind erst drei und laufen in letzter Zeit immer weiter in den Wald hinein!“ Planym, der Älteste, der gerade dabei gewesen war Holz zu hacken, ließ alles stehen und liegen und beeilte sich den Forderungen seiner Mutter nachzukommen und verschwand schon kurz darauf mit den Pferden um die nächste Ecke eines Hauses in Richtung Ställe.

„Klingt als würden die Drillinge euch ne Menge Probleme bereiten. Nicht war?“ Fragte Fucaro.

„Ach, so schlimm ist es nun auch wieder nicht.“ Antwortete Viviana. „Sie machen sich in letzter Zeit nur einen Jux daraus wer am weitesten in den Wald rennen kann, ohne sich erwischen zu lassen. Sie wissen nun mal noch nicht wie gefährlich das sein kann. Aber was sag ich denn da schon wieder, los jetzt kommt aber.“ Wechselte sie rasend schnell wieder das Thema und drängte sie in Richtung Haus. Fucaro und Emonia wollten abwinken: „Wir sind langsam gereist und daher nicht müde und wir haben auch keinen Hunger.“ Versuchte Emonia. „Wirklich, nun lass uns....“

Sie wurde aber blitzschnell unterbrochen: „Nix da. Ich lass euch erst wieder gehen wenn ihr eine anständige Mahlzeit hinter euch habt. Den Fraß den man auf Reisen mitnimmt, kann man nun wirklich nicht als Essen bezeichnen. Also kommt jetzt.“ Fiel ihr Viviana ins Wort.

Nun setzte Fucaro an: „Wir haben doch erst vor zwei Stunden Mittag gegessen, also...“

„Nein, nein und noch mal nein!“ Unterbrach sie jetzt auch ihn. „Und jetzt keine Widerrede mehr.“

Emonia und Fucaro gaben es auf und folgten ihr zum Haus. Das Dach bestand aus roten Tonziegeln und zwei Dachfenstern, die jeweils vorne und hinten, an den senkrechten Wänden des Daches herausschauten. Das Haus an sich war nicht besonders groß. Die Grundfläche maß gerade sechs mal acht Zort mitsamt Küche, Essensraum und den Schlafräumen. Es bestand aus insgesamt zwei Stockwerken, von denen der Dachboden den zweiten Stock bildete. Welcher gleichzeitig auch den größten Schlafraum darstellte. Die Wände wiesen an jeder Seite vier Fenster auf und auf der ihnen zugewanden Seite war noch eine Tür zu sehen. Aber wie die Rondas schon wussten wohnten hier nur Bommerton, Viviana und die Mädchen. Die Jungen schliefen in dem großen Gebäude neben an. Es war ein riesiger Stall, von achtzig mal hundert Zort, der unten den Tieren genug Platz bot und oben mit dem Dachboden die Schlafräume der Jungen bildete. Die Hammers hatten schon vor zwei Jahrhunderten mit der Viehzucht begonnen und besaßen außerdem noch zwei weitere Viehställe mit den gleichen Ausmaßen. Außerdem schien es als hätten sie auf der ganzen Welt Verwandte. Jedes halbe Jahr wenn der Dorfhändler ins Dorf kam, brachte er immer ganze Pakete von Briefen aus den unterschiedlichsten Ländern mit. Die Tür war aus Undoholz, dem härtesten und widerstandfähigsten Holz auf ganz Remandor, das immer an seiner tief dunkelbraunen Farbe zu erkennen ist. Die Hauswände bestanden aus roten Tonbacksteinen und waren innen noch mal mit Gogenholz verkleidet. Gogenholz wurde oft zum Bau oder für die Verkleidung eines Hauses genommen. Es war vielleicht nicht so widerstandsfähig wie Undoholz, aber es reflektierte die Wärme anstatt sie durchzulassen, wodurch das Haus im Winter warm blieb und im Sommer kühl. Abgesehen davon war es im Normalfall von einem sanften Beige, aber im Haus der Hammers war es noch leicht orange-rötlich angestrichen worden, um besser zur Gesamtgestaltung des Hauses zu passen. Vivianna führte sie durch die Tür in einen schmalen Flur, dessen dunklen hölzernen Wände über und über mit Gemälden von ihren Vorfahren behangen waren und anschließend in das Esszimmer, dessen einzige Möbelstücke aus einem riesigen, bestimmt schon Jahrzehnte alten Tisch und mittlerweile fünfzehn hölzernen Stühlen bestanden, die um ihn herum gestellt waren. Zwar glaubten Emonia und Fucaro nicht das der kleine Munak schon alleine auf einen Stuhl saß, aber Vivianna sorgte schon früh dafür, dass die Möbel für das kommende Kind hergestellt oder gekauft wurden. In einer Ecke hockten die beiden siebenjährigen Mädchenzwillinge, Leneeara und Relenndra mit Staryn, dem fünfjährigen und jüngsten Mädchen der Hammers, zusammen und spielten Senda, ein einfaches Würfelspiel, bei dem es lediglich darum ging, seine Figur so schnell wie möglich über die Ziellinie zu bringen.

„Hey, ihr drei. Schaut mal wer wieder da ist.“ Rief Vivianna als sie den Raum betraten. Kaum das Vivianna den Satz zu Ende gebracht hatte, rissen die beiden siebenjährigen Zwillinge und die fünfjährige Staryn die Köpfe hoch und liefen unter lauten Begrüßungen auf die Neuankömmlinge zu. Emonia und Fucaro hatten Mühe sich aus den Umarmungen der Kleinen zu befreien, die einfach nicht loslassen wollten.

„Wer ist das?“ Wollte Staryn wissen, als sie den kleinen Lian in Emonias Armen sah.

„Unser Sohn. Er heißt Lian.“ Antwortete Emonia sofort.

„Der ist aber klein.“ Sagte Staryn.

„Ja, genauso klein wie Munak.“ Meinten auch ihre Schwestern.

„Ich glaub nicht, dass die beiden Mal groß werden. Die beiden sind viel zu klein.“ Fing Staryn wieder an. „Ist sowieso besser, groß werden ist total blöd!“

„Und weshalb ist groß werden so blöd?“ Fragte Fucaro liebevoll, in einem sanften Ton und schon gespannt darauf, was das gesprächige Mädchen diesmal von sich geben würde. In solchen Fällen kannte er sie nur zu gut. Sie war zwar erst fünf, aber sie erschien wenn sie erst einmal anfing zu reden, ziemlich erwachsen.

„Ist doch klar.“ Begann Staryn sofort wieder. „Ihr habt nie Zeit, immer müsst ihr irgendetwas machen und kannt nicht...“

„Das heißt könnt.“ Unterbrach Emonia sie.

„Ist doch egal. Aber ihr habt nie Zeit und spielt nicht mit uns. Deshalb ist groß werden blöd. Mhm.“ Endete sie schließlich mit einem selbstzufriedenen Kopfnicken.

„Das ist ja alles schön und gut, aber jetzt hört ihr drei mir mal gut zu.“ Sprach Vivianna ihre Töchter an. „Emonia und Fucaro sind gerade erst zurückgekommen und sollen jetzt erst einmal was essen. Ihr drei passt auf, dass sie mindestens einen Teller essen, wenn sie fertig sind kommt ihr zu mir und sagt mir bescheit. Danach helft ihr mir in der Küche für das Abendessen. Verstanden?“ Fragte Vivianna am Ende ihrer Anweisungen noch mal streng nach.

Die Mädchen bejahten, aber der Tonfall mit dem sie es sagten, zeigte allen, dass sie es nicht gerade begeisterte. Vivianna schien noch nicht fertig zu sein. Dann sagte sie in einem ganz beiläufigen Ton: „Wenn ihr drei mir nicht beim Essen machen helft wird es auch kein Willkommensfest geben. Es ist eure Entscheidung.“

„Willkommensfest?“ Fragten die Drei wie im Chor.

„Gibt es ein Willkommensfest?“ Wollte Relenndra, eine der Zwillinge jetzt genau wissen.

„Ja, gibt es wirklich eins?“ Verlanngte auch Leneeara zu wissen und drängelte weiter: „Nun sag schon!“

„Ja es gibt eins, aber wie gesagt, nur wenn ihr mithilft.“ Bestätigte Vivianna ihre Hoffnungen.

„Toll!“ Freuten sich alle gleichzeitig und begannen anschließend wie verrückt umher zu tanzen und sangen dabei im Chor: „Heute gibt es ein Willkommensfest! Heute gibt es ein Willkommensfest! Heute gibt es ein Willkommensfest!“

Die Zwillinge und Staryn hätten wohl gar nicht mehr aufgehört, wäre Vivianna nicht dazwischen gegangen: „Jetzt ist aber Schluss!“ Rief sie laut und verschaffte sich damit Gehör. „Ich habe euch gesagt das es nur dann eins gibt, wenn ihr mithilft, also fangt endlich an!“

Das reichte um die Kinder zur Vernunft zu bringen. Sie hörten sofort mit dem Singen und Tanzen auf, nahmen Emonia und Fucaro an den Armen und führten sie zum Essenstisch, wo sie sorgfältig darauf achteten das die beiden auch genug aßen. Anschließend verschwanden sie in der Küche um ihrer Mutter zu helfen. Der Rest des Tages verlief für Emonia und Fucaro eher ruhig. Das Willkommensfest war Vivianna und den Anderen wirklich gelungen. Es wurde um ein großes Feuer getanzt, es wurde gelacht und gesungen, bis sich Emonia und Fucaro, weil sie müde waren und Lian schon eingeschlafen war, verabschiedeten und ihr Haus aufsuchten. Zu Hause angekommen, schaute Fucaro noch mal nach den Pferden, musste aber feststellen das Planym gute Arbeit geleistet hatte. Sie standen in den Ställen und waren mit allem versorgt. Danach ging er im Haus ins Schlafzimmer wo Emonia bereits wartete, zog seine Kleider aus, legte sich neben sie auf das Bett, rückte den kleinen Lian in ihre Mitte und war schon bald mit Emonia zusammen eingeschlafen.

Autorennotiz

High-Fantasy

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

Autor

-RiBBoN-s Profilbild -RiBBoN-

Bewertung

Noch keine Bewertungen

Statistik

Kapitel: 13
Sätze: 2.719
Wörter: 42.189
Zeichen: 247.590

Kurzbeschreibung

Ein neugieriger Junge wird in ein scheinbar idyllisches Dorf am Rande Lamatas hinein geboren. Träumt er zu Beginn noch davon als strahlender Ritter durch die Länder zu ziehen, so muss er schon früh feststellen, dass die Realität anders aussieht und seine Eltern von mehr als nur ein paar Geheimnisse umgeben sind. Wird er das Rätsel um seine Eltern lösen können? Wie können sich einfache Dorfbewohner brutaler Angriffe von Wulveniens Kreaturen erwehren? Nie hätte er gedacht, dass seine Kindheit nur der Beginn einer Lebensreise sein sollte, die das Schicksal des Planeten für immer verändern würde.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Liebe auch in den Genres Fantasy, Entwicklung gelistet.