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Sätze: | 231 | |
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Siegfried Hehn
Kriminalgeschichte
Nie wird Isabell Meinigrath – Freunde nennen sie Isa – den 3o. Oktober vor zwei Jahren vergessen, als sie spät abends – es war gegen 22 Uhr – durch lautes, schrilles Schreien, das durch das leicht geöffnete Fenster ins Zimmer drang, aus ihrem Schlaf gerissen wurde. Erschrocken war sie hochgefahren, doch dann erkannte sie im nächsten Moment: Es war nur der Schrei der Kraniche, die über ihrem Haus wohl in die tausende Kilometer entfernten wärmeren Gebiete zogen.
Beruhigt wollte sie sich wieder zurücklegen, doch da spürte sie einen unangenehm kalten Luftzug, der über ihr Bett hinweg strich. ‘Woher kommt denn dieser Zug?‘, dachte sie irritiert. Sie war sich sicher, alle Fenster – bis auf ihr Schlafzimmerfenster – am Abend zuvor geschlossen zu haben. Die vordere und hintere Haustür waren abgeschlossen. Ob sie vielleicht doch ein Fenster vergessen hatte zu schließen? Sie musste noch einmal aufstehen um nachzuschauen, vorher hatte sie ohnehin keine Ruhe, außerdem würde es ihr zu kalt werden im Zimmer.
Unwillig tastete sie nach der Lampe auf dem Schränkchen neben ihrem Bett, drückte den Schalter… doch nichts geschah. ‘Oh verdammt, jetzt ist auch noch die Birne kaputt‘, fluchte sie. Im fahlen Licht, das durch die mondhelle Nacht ins Zimmer fiel, tastete sie sich jetzt zum Wandschalter… doch auch hier keine Reaktion, dabei fiel ihr Blick unwillkürlich auf den Radiowecker mit seinen Leuchtziffern auf dem Schränkchen neben dem Bett ihres Mannes… auch er war dunkel – im ganzen Haus gab es keinen Strom! Sie blickte zum Fenster… gegenüber im Haus sah sie Licht – dort gab es also Strom, und warum… ? Mit einem mal beschlich sie das unerklärliche Gefühl einer drohenden Gefahr!
Sie war mit ihrem Baby, das in seinem Kinderzimmer nebenan schlief, allein im Haus. Ihr Mann war am Vortag zu einer Projektbesprechung nach Leipzig gefahren; sie würde ihn erst im Laufe des späten Nachmittags zurück erwarten. Ein kalter Schauer durchrieselte sie plötzlich… sie spürte, dass da noch jemand im Haus war – ein Fremder…
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, in aufkommender Panik dachte sie in diesem Moment nur an ihr Baby - sie musste es unbedingt zu sich holen… in Sicherheit! Langsam öffnete sie die Tür zum Kinderzimmer, vorsichtig tastete sie sich im Dunkel vor zu seinem Bettchen, beugte sich hinunter… eine eisige Hand griff nach ihrem Herzen… die Wiege war leer…, ihr Baby war verschwunden! Ein gellender, nicht mehr menschlicher Schrei brach aus ihr hervor… dann brach sie bewusstlos zusammen.
Wie lange Isa bewusstlos war, wusste sie nicht, doch schlagartig traf sie von Neuem die ganze, grauenhafte Wirklichkeit: Ihr Baby war nicht mehr da… es war entführt worden! Noch benommen richtete sie sich auf. Mühsam versuchte sie, sich zu konzentrieren… sie brauchte Hilfe. Sie musste ihren Mann anrufen, er musste kommen - sofort, sie brauchte ihn jetzt hier in ihrer Nähe, doch vorher musste sie die Polizei benachrichtigen, ging es ihr durch den Kopf. Vielleicht fanden sie irgendwelche Hinweise, irgendwelche verwertbare Spuren, die der Täter hinterlassen hatte, die man verfolgen konnte.
Noch unsicher tastete sie sich zurück zur Tür… die Treppe hinunter. In der Küche war eine Taschenlampe – sie brauchte Licht. In ihrem Schein begab sie sich ins Wohnzimmer… und entdeckte die Ursache des kalten Luftzugs im Haus: Die Tür zur Gartenterrasse war nur angelehnt. Das erste, was ihr auffiel, war der fehlende Schlüssel, der normalerweise immer im Schloss steckte. Hatte sie ihn in Gedanken doch irgend wann mal abgezogen… hatte sie ihn dann anschließend vielleicht verlegt…?, sie bezweifelte es, aber sie würde sich nie abends bei offener Terrassentür nach oben zur Ruhe begeben. Wie also konnte jemand von außen die Tür öffnen, ohne sie zu beschädigen – nichts deutet auf ein gewaltsames Öffnen hin. Hundert Gedanken schwirrten Isa durch den Kopf… doch fand sie in diesem Moment noch keine Erklärung. Sie schob ihre Gedanken beiseite… das war jetzt alles Nebensache! Sie durfte keine Zeit verlieren, sie musste die Polizei anrufen. Sie suchte die Telefonnummer heraus… nahm den Hörer ab - doch die Leitung war tot; mit Entsetzen sah sie, dass die Schnur mit Gewalt aus der Wand gerissen worden war. Isa versuchte ihre erneut aufkommende Panik zu beherrschen – sie hatte ja noch das Handy in ihrer Handtasche. In ihrer Ungeduld schüttete sie den Inhalt auf den Tisch… suchte verzweifelt nach ihrem Handy… doch es war nicht da!
Hatte es der Fremde entwendet, um zu verhindern, dass sie die Polizei anrief…?
Fieberhaft überlegte sie – was sollte sie machen…? Sie hatte das beleuchtete Fenster gegenüber gesehen - da war noch jemand wach… dort konnte sie sicher telefonieren. Sie griff nach ihrem Mantel an der Garderobe, zog ihn über ihr Negligé… barfuß rannte sie auf die Straße zum Haus gegenüber… sie schellte. Ein junger Mann öffnete. In fliegender Hast schilderte sie ihm, was geschehen war, dass ihr Baby entführt worden war. „Darf ich meinen Mann und die Polizei anrufen?“, flehte sie. Ohne zu zögern bat Werner Lendrich sie herein und deutete auf das Telefon.
Ihr Mann hatte seine Mailbox eingeschaltet. „Micha… unser Baby ist weg“, schrie sie ins Telefon. „Sein Bettchen ist leer… man hat Ilona entführt – oh mein Gott, bitte komm… bitte komm sofort!“ Zitternd hielt sie den Hörer in der Hand, als warte sie auf eine Antwort ihres Mannes. Vorsichtig nahm Lendrich ihr den Hörer ab. „Kommen Sie“, sagte er in beruhigendem Ton, „ich werde die Polizei für Sie informieren“; sie versprach, sofort einen Streifenwagen zu schicken.
Lendrich begleitete Isa zurück zu ihrem Haus, führte sie fürsorglich ins Wohnzimmer zu einem Sessel… ließ sie sich setzen. Als das Martinshorn sich näherte, ging er zur Tür, empfing die Beamten und führte sie hinein zu Isa.
Kriminalhauptkommissar Farnholz ergriff als erster das Wort, nachdem er sich und seine Kollegin Ambrosi vorgestellt hatte.
„Wie fühlen Sie sich, Frau Meinigrath?“, fragte er einfühlsam, da er sah, wie sehr sie noch unter Schock stand.
Sie sah zu ihm empor… unendlicher Schmerz lag in ihren Augen – leise sagte sie: „Mir ist so kalt“. –
Farnholz sah, dass sie unter ihrem Mantel nur ein Negligé trug. „Möchten Sie sich vorher was Warmes anziehen?“
Sie nickte. Unsicher erhob sie sich. Auf dem Weg zur Treppe hielt sie sich immer wieder seitlich fest. Farnholz, der sie beobachtete, gab seiner Kollegin ein Zeichen. Sie ging hinüber zu Isa, nahm sie am Arm. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen“, und führte sie die Treppe hinauf zu ihrem Schlafzimmer.
Als Isa nach wenigen Minuten mit der Kommissarin wieder herunter kam, trug sie eine lange, schwarze Hose und einen hellgrauen Rollkragenpullover.
Kommissar Farnholz wartete, bis Isa auf der Couch Platz genommen hatte, bis er seine Frage an sie richtete:
„Können Sie uns bitte schildern, Frau Meinigrath, was sich in der Nacht ereignet hat – wann Sie das Fehlen Ihres Babys entdeckt haben?“
Isas Blick war in die Ferne… ins Leere gerichtet. Es war alles so unwirklich… so verschwommen… der Kommissar, seine Kollegin. Warum stellte er diese Frage…? Warum tat er das…? ihr Baby lag doch in seinem Bettchen… sie hatte es doch beschützt…
„Frau Meinigrath, haben Sie meine Frage verstanden?“
Wie durch eine dunkle Wolke drangen die Worte des Kommissars nur allmählich vor in ihr Bewusstsein… lösten ihre Starre – holten sie in die grausame Wirklichkeit zurück.
„Doch – ja, Verzeihung… es war so kalt im Zimmer als ich aufwachte - es war ein so kalter Luftzug“. Nur mühsam, stockend fand sie ihre Worte. „Ich wollte aufstehen… irgendwo musste ein Fenster offen sein – ich wollte es schließen, aber alles war so dunkel… ich hatte Angst… so furchtbare Angst… da war ein Fremder… ich musste zu meinem Baby… es lag doch nebenan im Kinderzimmer…“
„Was hat Sie aufgeweckt, Frau Meinigrath, haben Sie…?“
„Das Schreien hat mich geweckt“, unterbrach sie ihn. „Das Schreien der Kraniche, die über unser Haus hinweg flogen, hat mich geweckt. Oh mein Gott… ihr Schreien!“, brach es in plötzlicher Erkenntnis aus ihr hervor, „hätte ich ihr Schreien nicht gehört… ich schliefe vielleicht noch, dann hätte ich… oh mein Gott!“ Ihr Körper wurde plötzlich von heftigem Schluchzen erschüttert und sank nach vorne über. Der Kommissar und seine Kollegin sprangen gleichzeitig hinzu und fingen sie auf. Fürsorglich legten sie Isa zurück auf die Couch und breiteten die seitlich liegende Mohairdecke über sie.
Während Lucia Ambrosi (Anm.: Ihr Vater ist Venezianer, ihre Mutter ist Deutsche; Lucia wurde in Deutschland geboren.) sich um Isa kümmerte, begab sich Farnholz kurz in die Diele und forderte die Spurensicherung an.
Nach einer kleinen Weile beruhigte sich Isa wieder. Sie schlug die Decke zurück – sie richtet sich auf und lehnte sich in die Couchecke zurück. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass die beiden Kommissare noch immer standen. Sie entschuldigte sich für ihre Unaufmerksamkeit und bat sie Platz zu nehmen.
Farnholz dankte ihr – er fragte:
„War es denn ein offenes Fenster, das den kalten Luftzug verursacht hatte?“
„Nein“- ihre Antworten klangen jetzt gefasster… sie wirkte konzentrierter. „Es war diese Tür, die offen stand“, dabei deutete sie auf die Terrassentür, die vom Wohnzimmer hinausführte in den Garten. „Sie war nur angelehnt“.
„Kann es nicht sein, dass Sie vergessen haben sie zu schließen?“
„Nein, ganz sicher nicht, nur…“ Isa stockte. Ihr fiel der fehlende Schlüssel ein… der Besuch gestern - sollte sie das dem Kommissar gegenüber erwähnen? Sicher war es völlig unwichtig… doch auf der anderen Seite: Es gab merkwürdigerweise keine Spuren eines gewaltsamen Öffnens, sollte sie…
„Sie wollten etwas sagen, Frau Meinigrath“, insistierte Farnholz.
„Ja, der Schlüssel hat gefehlt“, schilderte sie dann ausweichend. „Normalerweise steckt er immer im Schloss, aber vielleicht habe ich ihn in Gedanken einmal abgezogen und habe ihn anschließend wohl verlegt,- ich weiß es nicht.“ Isa hatte Angst, den Besuch dem Kommissar gegenüber zu erwähnen.
Farnholz erhob sich, um sich die Tür anzuschauen. „Die Tür ist völlig in Ordnung“, sagte er. „Es gibt keinen Anhalt einer Gewaltanwendung. Doch warten wir es ab, bis die Spurensicherung kommt – sie muss jeden Augenblick eintreffen. Sie soll sich die Tür noch einmal genau unter die Lupe nehmen“. Farnholz schien einen Moment zu überlegen, dann sagte er etwas versonnen: „Ich muss Sie etwas fragen, Frau Meinigrath, und ich möchte Sie bitten, sich das einmal genau zu überlegen: Haben Sie einen Verdacht - und wenn es nur ein vager Verdacht ist, wer ihr Baby eventuell… entführt haben könnte? Wissen Sie, mir gibt da etwas zu denken: Der Entführer ist doch offensichtlich, nachdem er die Tür unbeschädigt von außen geöffnet hat – wie auch immer – gezielt hinauf ins Kinderzimmer gegangen. Er muss also über die Begebenheiten hier im Haus informiert gewesen sein,- finden Sie nicht auch?“
Isa blickte ihn hilflos an: „Ich weiß es nicht, Herr Kommissar. Ich kenne niemand… nein, ich kenne niemand, dem ich so etwas zutrauen könnte… der mir mein Kind entführen würde“, erwiderte sie verzweifelt.
Dem Kommissar war ihr kurzes Zögern nicht entgangen - hatte sie doch einen Verdacht… was verschwieg sie? - Er sagte:
„Allem Anschein und meiner festen Überzeugung nach muss es jemand aus Ihrem Bekannten- oder gar Freundeskreis gewesen sein – sie sollten vielleicht doch noch einmal alle Erwägungen in Betracht ziehen, Frau Meinigrath. Rufen Sie uns einfach an, wenn Ihnen dazu noch etwa einfallen sollte, auch wenn es sich nur um einen vagen Verdacht handelt… wir wären Ihnen für den kleinsten Hinweis dankbar.“ Er reichte ihr ein Kärtchen mit der Telefonnummer.
„Wer war eigentlich dieser junge Mann, der uns hier hereingeführt hat“, schaltete sich jetzt die Kommissarin ein, „und wie kommt er so spät noch in Ihr Haus?
Isa berührte die zweite Frage der Kommissarin etwas merkwürdig – sie fand sie unangebracht, doch sie ließ sich nichts anmerken, als sie erwiderte:
„Das war Herr Lendrich von gegenüber. Im ganzen Haus brannte, als ich aufwachte, kein Licht – der Strom war abgeschaltet worden. Als ich meinen Mann anrufen und die Polizei benachrichtigen wollte, da war die Leitung tot – die Schnur war mit Gewalt aus der Wand gerissen worden… auch mein Handy war aus meiner Handtasche verschwunden. Man hatte wohl alles getan, um mich daran zu hindern, Hilfe zu holen und die Polizei zu benachrichtigen. Da fiel mir in meiner Verzweiflung ein… ich muss sagen - ich war kurz vor einer Panik, dass ich oben von meinem Schlafzimmer aus gegenüber noch ein beleuchtetes Fenster gesehen hatte - das war meine Rettung… dort konnte ich anrufen – hoffte ich. Ich lief hinüber, und von dort konnte ich dann auch meinen Mann anrufen… das heißt: Ich habe ihn nicht erreicht… ich habe auf seine Mailbox gesprochen und Herr Lendrich hat anschließend Sie… die Polizei benachrichtigt. Er hat mich dann nach hier begleitet… es ging mir nicht gut. Er hat auch die Sicherung im Keller wieder eingeschaltet.“
Nachdem die Spurensicherung eingetroffen war und ihre Tätigkeit aufgenommen hatte, und für die beiden Kommissare keine weiteren Informationen von Isa zu erwarten waren, erwähnte Kommissar Farnholz zum Schluss, dass nach seiner Erfahrung in ähnlichen Fällen mit einer Lösegeldforderung zu rechnen sei und bat sie, in dem Fall nicht selbst zu handeln, sondern die Polizei zu informieren - sie habe speziell ausgebildete Beamte. Dann verabschiedeten er und seine Kollegin sich mit dem Versprechen, alles zu unternehmen, dass sie ihr Baby wohlbehalten und hoffentlich schon bald wieder zurück bekam.
Und da war es… das schwarze Loche… in das sie glaubte abzustürzen… vor dem sie solche Angst gehabt hatte. Jetzt, nachdem sie alle verlassen hatten – die Kommissare, die Spurensicherung, wurde sie von Neuem vom Grauen erfasst… drohte die Leere des Hauses sie zu erdrücken. Sie fürchtete sich die Treppe hinauf zu gehen… in ihr Schlafzimmer… die Leere des Kinderzimmers. Sie glaubte noch immer die Bedrohung zu spüren… die Nähe des Fremden… Sie verkroch sich wie Schutz suchend in die Ecke der Couch… schlang die Arme um ihre angezogenen Beine. In ihre Decke eingehüllt war sie dann doch irgendwann eingenickt, und so traf ihr Mann sie an, als er kurz nach sieben bei ihr erschien; nach der Projektbesprechung hatten er und einige der Besprechungsteilnehmer noch eine Bar aufgesucht – als er später die Nachricht auf seiner Mailbox gelesen und er vergeblich versucht hatte, sie über Festnetz und über Handy zu erreichen, war er sofort in einem halsbrecherischen Tempo los gefahren.
Langsam näherte er sich Isa, vorsichtig berührte er ihre Schulter, trotzdem schrak sie mit einem kleinen Schrei empor. „Ist ja gut, Isa… ich bin‘s“, beruhigte er sie – er ließ sich neben ihr nieder und zog sie in seine Arme.
„Oh Gott, Micha… endlich… du bist hier – ich hab‘ so auf dich gewartet… unser Baby, Micha… was sollen wir machen… wo ist unser Baby…?,“ es war ein einziger Schrei ihrer gequälten Seele.-- Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, heftiges Schluchzen erschütterte ihren Körper.
Michael zog sie dichter zu sich heran. Verzweifelt suchte er nach Worten des Trostes. Doch wie kann man Trost spenden, wenn man selbst nach Trost sucht… und keinen findet…?
Trotz seiner eigenen aufgewühlten Verfassung versuchte er weiter, beruhigend auf sie einzuwirken… sie nicht zu bedrängen. Er ließ ihr Zeit, bis sie dann auch nach einer kleinen Weile die Kraft fand, ihm den ganzen Verlauf der vergangenen Nacht zu schildern – ihre Angst… das Grauen… ihre Verzweiflung. „Es schien alles nur wie ein böser Traum, Micha, aber es war ja kein Traum – es war ja alles Wirklichkeit… es war ein einziger grauenhafter Albtraum… und ist es immer noch!“, stieß sie verzweifelt hervor.
„Aber wie war es möglich, dass der Entführer überhaupt ins Haus kam, Isa? Er muss sich doch irgendwo mit Gewalt Zutritt verschafft haben -, wieso hast du denn nichts gehört?“
„Ich konnte nichts hören, Micha, die Terrassentür stand offen, ich…“
„Aber Herr Gott, hattest du sie denn nicht abgeschlossen?“, brach es fassungslos aus ihm hervor. „Wie konntest du nur die Tür offen lassen und dich dann auch noch seelenruhig ins Bett legen und schlafen… ich fasse es nicht!“ Seine Worte klangen jetzt zunehmend ungehaltener.
„Nein, nein, so war es doch nicht… !“, rief sie verzweifelt
„Ja, wie war es denn dann… bitte erklär mir das mal.“ Für Michael war die Leichtsinnigkeit Isas unbegreiflich – er hätte mehr Verantwortungsgefühl und mehr Umsicht von ihr erwartet.
„Der Schlüssel hat gefehlt - er war nicht mehr da, als ich runter kam, ich….“
„Was heißt das… war nicht mehr da?“
Leise, zögernd sagte sie: „Josip…“
Bei dem Wort war Michael aufgesprungen.
„Josip… was ist mit dem Kerl?“
„Er war wieder hier…“
„Wann?“
„Gestern – gestern Nachmittag.“
Hier eine kurze Information zu Josip Marcovic:
Als Isa Josip – ein Kroate – kennengelernt hatte, war es die große Liebe und schon bald war sie bedenkenlos zu ihm gezogen. Doch schon nach kurzer Zeit bemerkte sie, dass sie ihm immer gleichgültiger wurde und dass zunehmend nur seine eigene Meinung galt. Und dann erfuhr sie durch Zufall von seinem Verhältnis zu einer wesentlich jüngeren Frau. Als sie ihn zur Rede stellte, stritt er die Beziehung gar nicht erst ab sondern verlangte von ihr in sehr rüder Form die Trennung.
Zu der Zeit stellt sie fest, dass sie schwanger war. Zuerst war sie einer Panik nahe, doch dann war sie entschlossen – es war mehr eine Trotzreaktion, das Baby zu bekommen und es allein aufzuziehen. Sie kehrte zu ihren Eltern zurück, die auch bereit waren, ihre Tochter zu unterstützen. Trotzdem wollte Isa auf eigenen Beinen stehen… sie wollte selbst für ihr Baby sorgen. Sie fand sehr rasch eine Stelle als Sekretärin in einem bekannten Bauunternehmen – und dort lernte sie auch Michael kennen. Sie nahmen einige Male in der Kantine am gleichen Tisch ihr Mittagessen ein, und so kamen sie natürlich auch miteinander ins Gespräch und schon bald kam es zur ersten Einladung von Seiten Michaels. Als Isa spürte, dass Michael ernsthaftes Interesse an ihr hatte, erzählte sie ihm von ihrer verunglückten Beziehung zu Josip und von ihrem Baby – sie wollte ihm nichts verheimlichen… und erlebte dann eine Überraschung, mit der sie nicht gerechnet hatte: Michael wollte nicht auf sie verzichten… auch mit Baby nicht. Sie hatten dann auch bald geheiratet und als das Baby kam, wurde es von ihm wie sein eigenes akzeptiert.
Vierzehn Tage nach der Geburt stand plötzlich und unangemeldet Josip vor der Tür. Er wolle das Baby sehen, verlangte er, denn es sei letzten Endes ja sein Baby und er habe das Recht, es zu sehen. Isa fühlte sich in dem Moment seiner Forderung gegenüber wehrlos – sie ließ ihn nur widerstrebend herein und zeigte ihm das Baby. Er wollte es auf den Arm nehmen, doch das hatte sie verhindert. Nach wenigen Minuten war er wieder gegangen mit der Ankündigung, wiederzukommen.
„Herr Gott, Isa, ich habe dir doch gesagt, du sollst den Kerl nicht wieder ins Haus lassen!“ Michael war wütend.
„Ja, ich weiß, aber gestern war er ganz anders als beim ersten Mal: Er hat sich sogar entschuldigt für sein unangemeldetes Erscheinen und mich gefragt, ob er nur einen kurzen Blick auf Ilona werfen dürfe. Und er war ganz begeistert von unserer Wohnung, vor allem vom Garten – er hat ihn sich sogar von außen betrachtet…“
„… und hat dabei den Schlüssel eingesteckt, Isa.“
„Ja – ich weiß“, sagte sie bedrückt, „und ich habe nichts bemerkt.“
„Wir sollten aber jetzt als erstes die Polizei anrufen“, entschied Michael, „und sie über die Entführung und über unseren Verdacht informieren, bevor es…“
„Die Polizei war schon hier, Micha, auch die Spurensicherung – sie haben schon alles aufgenommen. Außerdem – wir können nicht telefonieren, die Telefonschnur ist aus der Wand gerissen… kannst du sie wieder anschließen?“
„Das schaue ich mir später an. Aber hast du bei der Polizei deinen Verdacht erwähnt?“
„Nein, ich hatte…“
„Aber warum nicht, warum hast du das verheimlicht, das wäre doch wichtig für die Polizei gewesen.“
„Ich hatte Angst… ich hatte einfach Angst, wenn Josip erfahren sollte, dass ich ihn verraten habe, wie er sich verhalten würde… was er dann mit unserem Baby anstellt – ich kenne seinen Jähzorn, Micha, er ist dann unberechenbar“, und dann, nach kurzem Zögern meinte sie zaghaft: „Sollten wir nicht zu ihm hinfahren - vielleicht…?“, sie sprach den Satz nicht zu Ende.
Michael überlegte kurz, dann sagte er: „Du hast Recht. Vielleicht können wir feststellen, ob er das Baby wirklich hat, dann können wir die Polizei immer noch informieren – komm, lass uns hinfahren.“
Als sie nach einer knappen dreiviertel Stunde vor seiner Wohnung ankamen, stellten sie irritiert fest, dass sein Namensschild von der Türklingel entfernt worden war und sich an seiner Stelle ein fremder Name befand. Sie schellten trotzdem und erfuhren von dem neuen Mieter, dass Josip Marcovic bereits vor fünf Wochen ausgezogen war. Über seine neue Anschrift konnten sie leider keine Auskunft geben.
Um es kurz zu machen: Zwei Tage später erhielt Lisa von Kommissar Farnholz telefonisch die Mitteilung, dass sie einen vielversprechenden Hinweis über den wahrscheinlichen Verbleib ihres Babys bekommen hätten. Er erklärte, dass sie dem Hinweis unbedingt nachgehen würden und fragte, ob sie oder ihr Mann sich ihnen anschließen könnten zur eventuellen Identifikation. Sie vereinbarten, dass Isa unverzüglich ihren Mann anrufen und ihn bitten würde, sie abzuholen und sie anschließend zur Wache kommen würden, um sich ihnen dann gemeinsam anzuschließen.
„Können Sie mir sagen, Herr Kommissar, wo sich unser Baby befindet – wenn der Hinweis stimmt?“, fragte Isa – in ihrer Stimme schwang nun ein Hauch Hoffnung mit.
„In einem kleinen Ort, laut GPS 174 Kilometer von hier entfernt.“
Als Isa und Michael auf der Wache ankamen, wurden sie bereits von Kommissar Farnholz und seiner Kollegin Ambrosi erwartet. Auf dem Weg hinaus zu ihren Wagen fragte Isa:
„Was ist das für ein Hinweis, Herr Kommissar, von dem Sie gesprochen haben?“
„Wir erhielten einen Anruf von einer Frau Burmeister. Ihr ist aufgefallen, dass seit zwei Tagen in der Etagennachbarwohnung Babygeschrei zu hören ist. Das sei ihr sehr merkwürdig vorgekommen, da sie bei der Inhaberin – einer Kroatin – nie etwas von einer Schwangerschaft bemerkt habe. Da sie in den Nachrichten von der Entführung des Babys erfahren habe, halte sie es für angebracht, die Polizei darüber zu informieren.“
„Mein Gott, das klingt ja wirklich vielversprechend, nicht wahr?“
„Ja, wir haben große Hoffnung, dass wir Ihr Baby dort finden werden.“
Als sie kurz vor 16 Uhr in die Straße der von Frau Burmeister angegebenen Adresse eingebogen waren, hielt der Einsatzwagen an. Kommissar Farnholz stieg aus und kam zu Isa und Michael, die ihnen in ihrem Wagen gefolgt waren.
„Bitte warten Sie hier. Wir werden erst feststellen, ob jemand zu Hause ist und die Lage sondieren. Warten Sie, bis wir Ihnen ein Zeichen geben, dann kommen Sie nach.“
Isa und Michael beobachteten, wie die beiden Beamten das Haus betraten. Gespannt warteten sie darauf, was die nächsten Minuten ihnen bringen würden. Würde sich ihre Hoffnung erfüllen… würden sie ihr Baby in den nächsten Minuten wieder in ihren Armen halten können…? Und da erschien auch schon die Kommissarin in der Haustür und winkte ihnen, zu kommen.
Mit klopfenden Herzen folgten Isa und Michael der Kommissarin die Treppe hinauf zur ersten Etage – die Tür stand offen. Unter fast schmerzhafter Anspannung betraten sie die fremde Wohnung – noch wenige Sekunden, und sie würden Gewissheit haben, ob sie ihr Baby vorfinden würden, oder…
Das erste, was sie erblickten, war Josip. Er stand mit den Händen auf dem Rücken gegen den Wohnzimmerschrank gelehnt – man hatte ihm Handschellen angelegt, nachdem er den Beamten gegenüber handgreiflich geworden war. Eine junge, weibliche Person – die Isa und Michael unbekannt war – saß weinend auf der Couch… und hielt ein Baby auf dem Arm. „Es ist mein Baby“, rief sie immer wieder, wobei sie das Baby fest an sich drückte. „Es ist mein Baby – sie können mir mein Baby nicht wegnehmen“, schrie sie Isa entgegen, die auf sie zugetreten war und ihr das Baby abnehmen wollte.
„Warten Sie, Frau Meinigrath“, hielt Kommissar Farnholz sie zurück. „Können Sie uns ein unverwechselbares Merkmal nennen, an dem wir Ihr Baby zweifelsfrei identifizieren können?“
„Ja… natürlich!“, rief Isa. „Es hat ein Muttermal hinter seinem linken Ohrläppchen… schauen Sie nach!“
Kommissar Farnholz trat jetzt auf die junge Frau – sie war Josips Schwester – zu und sagte in ruhigem Ton: „Geben Sie mir das Baby“, und streckte ihr die Hände entgegen. Nach kurzem Zögern überreichte ihm Slavica das Baby… es trug das Muttermal. –
Meine Leser werden hier nachempfinden können, wie glücklich Isabell und Michael in diesem Moment waren, ihr Baby endlich wieder wohlbehalten in ihren Armen halten zu können… ich glaube, dem ist wohl nichts mehr hinzuzufügen. –
Es sei nur noch erwähnt, dass Josip Marcovic wegen Kindesentführung und Widerstandes gegen die Vollstreckungsbeamten zu fünf Jahren und neun Monaten Haftstrafe verurteilt wurde. Seine Schwester Slavica dagegen kam mit einer einjährigen Bewährungsstrafe davon, da das Gericht ihr glaubte, dass sie unter dem Zwang ihres Bruders gehandelt hatte.
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