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Statistik
| Kapitel: | 3 | |
| Sätze: | 229 | |
| Wörter: | 2.250 | |
| Zeichen: | 13.292 |
Es regnete schon wieder und Leo hasste November in Berlin. Der Regen kam schräg von der Seite und traf ihn direkt ins Gesicht, während er durch die Straßen von Kreuzberg lief. Er war auf dem Weg zu diesem alten Lagerhaus, das er vor ein paar Monaten entdeckt hatte, als er sich mal wieder komplett verlaufen hatte. Seine Orientierung war beschissen, das musste er zugeben aber irgendwie war er immer wieder an diesem Ort gelandet. Das Gebäude stand zwischen einem türkischen Supermarkt und einer Autowerkstatt, deren Rolladen schon seit Jahren nicht mehr hochgegangen war. Leo war fünfundzwanzig Jahre alt, 1,55 Meter groß (was seine Mitbewohnerin Sabine gerne als “die perfekte Höhe für Flugzeugsitze und nichts anderes” bezeichnete) und er arbeitete in einem Plattenladen namens “Vinyl Dreams”. Niemand kaufte mehr Platten, das war offensichtlich, aber sein Chef Herbert glaubte immer noch daran, dass das Geschäft irgendwann wieder laufen würde. Herbert war siebzig, sah aus wie Einstein und ein mürrischer Gartenzwerg und jeden Abend sagte er beim Abschließen: “Vielleicht morgen.” Leo antwortete meistens nicht mehr darauf, weil er nicht das Herz hatte, ihm zu sagen, dass morgen wahrscheinlich genauso aussehen würde wie heute. Das Lagerhaus war meistens leer. Nur manchmal war diese Katze da, eine dreifarbige, die ihn immer auf diese besondere Art ansah. Leo hatte angefangen, sie Sensei zu nennen. Heute saß sie auf einem rostigen Metallregal und beobachtete ihn. “Du siehst heute besonders kritisch aus”, sagte Leo zu ihr. Die Katze blinzelte ihr Blick gleitete auf den Boden. Er folgte ihrem Blick. Dann sah er das Paket. Es lag einfach so da auf dem Boden, zwischen Glasscherben und einer alten Ausgabe der Bild-Zeitung von 1987. Klein, in Plastikfolie eingewickelt, und es sah aus, als hätte es schon ewig dort gelegen. Leo hob es auf. Die Katze miaute sofort, ein deutlicher Warnlaut ? “Ich weiß”, sagte Leo. “Aber mein Therapeut hat gesagt, ich soll mehr Risiken eingehen. Neue Erfahrungen machen.” Die Katze sah ihn an, als würde sie sagen wollen : Dein Therapeut meinte wahrscheinlich einen Tanzkurs, nicht das Öffnen suspekter Pakete in verlassenen Lagerhäusern. “Du hast wahrscheinlich Recht”, sagte Leo und öffnete es trotzdem. Drinnen waren Fotos von Menschen, die er nicht kannte und die alle aussahen, als hätten sie gerade schlechte Nachrichten bekommen. Eine Zahlenreihe, die viel zu lang für eine Telefonnummer war und eine kleine schwarze Pistole, die im schwachen Licht glänzte. Leo starrte die Waffe an und sagte laut: “Okay, das ist offiziell die seltsamste Woche meines Lebens, und letzte Woche bin ich in der U-Bahn in einen Mann gelaufen, der einen lebenden Hahn spazieren führte.” Die Katze sprang vom Regal und bewegte sich zur Tür. Dann verschwand sie durch ein Loch in der Wand. Leo stand allein da mit einem Paket, dass definitiv nicht ihm gehörten und das definitiv zu Problemen führen würden. Er tat das einzige, was ihm logisch erschien – er steckte es in seine Tasche und verließ das Lagerhaus. Draußen regnete es immer noch, natürlich.
Marcus Wolff saß seit zwei Stunden in einem schwarzen Mercedes und versuchte wach zu bleiben. Er war fünfzig Jahre alt, 1,91 Meter groß und hatte in seinem Leben siebenunddreißig Menschen getötet. Zumindest dachte er dass es siebenunddreißig waren. Er hatte sich die Zahl vor drei Jahren aufgeschrieben als er betrunken gewesen war und sie in eine Schublade gelegt, aber seitdem weigerte er sich nachzuzählen. Es wäre peinlich gewesen, sich verzählt zu haben. Er saß da und wartete, obwohl er selbst nicht genau wusste worauf. Ein Zeichen vielleicht oder eine Eingebung oder vielleicht nur darauf, dass seine Thermoskanne mit Kaffee leer wurde. Er hatte zu viel Zucker reingemacht weil er vergessen hatte, dass er seit drei Jahren versuchte gesünder zu leben. Das funktionierte nicht besonders gut. Dann kam der Junge aus dem Lagerhaus. Klein, dunkle Kleidung, eine Tasche über der Schulter die zu groß für ihn aussah. Er bewegte sich schnell, hektisch wie er versuchte unsichtbar zu sein. Marcus beobachtete wie der Junge herauskam, schneller als er reingegangen war und die Tasche sah definitiv schwerer aus. "Oh nein", murmelte Marcus. "Er hat es gefunden." Das war nicht Teil des Plans gewesen. Der Plan war gewesen: Paket verstecken, Kontaktperson abholen lassen, Beweise an die richtigen Leute geben und dann vielleicht ins Zeugenschutzprogramm gehen. Irgendwo in Bayern Bienen züchten. Bienen waren einfach, Bienen stellten keine Fragen. Aber natürlich war die Kontaktperson nie angekommen weil sie vor zwei Wochen tot in einem Hotelzimmer gefunden worden war und jetzt hatte ein zufälliger kleiner Typ mit schlechtem Timing das Paket. Marcus startete den Motor und folgte ihm. Das war seine Spezialität gewesen. Leo spürte das Auto bevor er es sah. Das war eine Fähigkeit die er in Berlin entwickelt hatte, ein siebter Sinn für Dinge die ihm folgten und ihn wahrscheinlich umbringen wollten. Meistens waren es Straßenbahnen aber heute war es ein schwarzer Mercedes. Er drehte sich um und sah die Scheinwerfer durch den Regen. Sie sahen aus wie verschwommene Kreise aus Licht und blendeten ihn. Leo ging schneller, was bei seiner Größe eher wie aggressives Trippeln aussah aber er gab sein Bestes. Er bog in eine Gasse ein, die einfach nur nach Müll roch, ihm wurde schlecht von diesem Geruch. Das Auto hielt, eine Tür öffnete sich und Leo hörte Schritte. Er drehte sich um und dachte kurz daran zu rennen aber dann erinnerte er sich daran dass seine Kondition hauptsächlich aus "drei Treppen steigen und dann fünf Minuten schwer atmen" bestand. Der Mann war groß. Sehr groß.
"Du hast etwas gefunden", sagte der Mann und seine Stimme war tief aber ruhig. Leo überlegte kurz zu lügen aber er war ein schrecklicher Lügner. Einmal hatte er versucht Sabine zu sagen dass er ihre selbstgemachte Lasagne mochte und sie hatte sofort gewusst, dass er log weil seine linke Augenbraue angefangen hatte zu zucken. "Vielleicht", sagte Leo.
"Das Paket aus dem Lagerhaus."
"Okay, hypothetisch gesprochen – wenn ich zufällig über ein Paket gestolpert wäre und hypothetisch würde dieses Paket eine Waffe enthalten, würdest du mir dann erklären warum jemand Waffen in verlassenen Lagerhäusern versteckt ? Weil das erscheint mir als äußerst ineffiziente Lagermethode." Der Mann starrte ihn an und Leo starrte zurück während der Regen weiter fiel. "Wie heißt du ?", fragte der Mann schließlich.
"Leo. Und bevor du fragst: Ja wie das Sternzeichen. Nein ich identifiziere mich nicht damit, ich bin ein Skorpion."
"Ich hatte nicht vor nach deinem Sternzeichen zu fragen."
"Oh. Gut. Das wäre auch komisch gewesen." Der Mann rieb sich die Schläfen als hätte er plötzlich Kopfschmerzen. "Ich bin Marcus."
"Normalerweise treffe ich neue Leute in weniger bedrohlichen Kontexten zum Beispiel in Supermärkten oder Zahnarztwartezimmern."
"Ich habe das Paket vor drei Monaten dort versteckt", sagte Marcus mit dieser tiefen müden Stimme. "Jemand sollte es abholen aber diese Person ist tot."
"Oh." Leo schluckte. "Das tut mir leid."
"Mir auch. Sie schuldete mir noch zwanzig Euro."
War das ein Scherz ? Leo konnte es nicht sagen weil Marcus' Gesicht wie eine Steinmauer war.
"Was ist das alles in dem Paket ?", fragte Leo.
"Beweise gegen sehr böse Menschen."
"Wie böse ?"
"Menschenhandel."
"Ah. Das ist definitiv am oberen Ende der Skala." Marcus trat einen Schritt näher und Leo trat instinktiv einen Schritt zurück und stieß gegen die Wand. "Du bist klein", stellte Marcus fest. "Wow wirklich ? Ich hatte keine Ahnung. Danke dass du das erwähnst, mein ganzes Leben ist jetzt neu kontextualisiert."
Marcus blinzelte und dann – Leo hätte schwören können dass er es sich einbildete – zuckte sein Mundwinkel für nur eine Millisekunde. "Du hast Humor", sagte Marcus. "Es ist eine Abwehrstrategie. Wenn ich Witze mache kann ich nicht schreien."
"Funktioniert es ?"
"Nicht wirklich. Ich schreie innerlich die ganze Zeit."
Marcus seufzte, ein tiefes langes Seufzen. "Hör zu Leo. Ich brauche das Paket zurück aber wenn du es mir jetzt gibst werden die Leute die mich suchen dich trotzdem finden. Sie werden denken dass du mehr weißt als du tust."
"Und wenn ich es dir nicht gebe ?"
"Dann werden sie dich definitiv finden."
"Das sind beides schlechte Optionen."
"Willkommen in meinem Leben." Leo sah ihn an, wirklich an. Marcus hatte dunkle Augen mit goldenen Flecken drin wie kleine Funken in einem Feuer das fast ausgegangen war. Es gab Falten um seine Augen und Narben. "Was schlägst du vor ?", fragte Leo leise.
"Morgen früh zehn Uhr. Das Café mit den roten Stühlen in der Oranienstraße. Kennst du es ?"
"Ja und was machen wir dann ?"
"Dann entscheiden wir wie wir beide überleben."
Marcus drehte sich um und ging zurück zu seinem Auto aber dann rief Leo: "Marcus !" Marcus hielt inne und drehte sich um. "Die Katze im Lagerhaus die dreifarbige – kennst du sie ?" Marcus' Gesicht wurde weicher. "Sie war da als ich das Paket versteckt habe. Hat zugesehen, sehr kritisch als hätte sie bessere Verstecke vorschlagen können." Leo lachte, es kam überraschend. "Sie ist so."
"Hat sie einen Namen ?"
"Ich nenne sie Sensei weil sie aussieht als würde sie über die Geheimnisse des Universums nachdenken. Oder über Thunfisch, schwer zu sagen."
Marcus lächelte, wirklich lächelte und es verwandelte sein ganzes Gesicht. "Sensei", wiederholte er. "Das passt." Dann war er weg und Leo stand allein in der Gasse, durchnässt mit einem gestohlenen Paket und dem seltsamen Gefühl dass sein Leben gerade eine Richtung eingeschlagen hatte die definitiv nicht in seinem Fünfjahresplan stand. Sein Fünfjahresplan war hauptsächlich: "Nicht sterben, vielleicht eine Katze adoptieren." Das lief nicht gut.
Die Adresse führte Leo in einen Teil von Berlin den er nicht kannte. Neukölln, tief drin. Es war ein Mittwochmorgen. Leo hatte Herbert eine SMS geschickt: Bin krank. Komme nicht. Herbert hatte geantwortet: Gute Besserung. Die Rettung kann auch ohne dich kommen. Leo fragte sich ob Herbert jemals realisieren würde dass die Rettung nie kommen würde. Das Gebäude war ein alter Backsteinbau, vier Stockwerke, mit Efeu das die Wände hochkletterte. Die Haustür war angelehnt. Leo stieg die Treppen hoch. Dritter Stock. Die Wohnung hatte keine Nummer nur einen kleinen Aufkleber: ein stilisiertes Bienenbild. Leo klopfte. Nichts. Er klopfte noch einmal. Die Tür öffnete sich. Marcus stand da in Jogginghose und einem verwaschenen T-Shirt. Er sah anders aus. Kleiner irgendwie, menschlicher. Er war nur ein müder Mann in einer kleinen Wohnung. "Du bist gekommen", sagte Marcus. "Die Katze hat mich geschickt." Marcus lächelte. "Natürlich hat sie das. Komm rein."
Die Wohnung war überraschend ordentlich. Minimalistisch. Ein Sofa, ein Tisch, ein Bücherregal mit genau achtzehn Büchern, Leo zählte sie automatisch. Die Wände waren weiß bis auf eine die mit einer großen Karte bedeckt war. Rote Fäden verbanden Fotos, Namen und Orte. Es sah aus wie in einem Kriminalfilm.
"Kaffee ?", fragte Marcus. "Immer." Er verschwand in der Küche. Leo trat näher an die Wand. Die Fotos zeigten Menschen, manche in Anzügen, manche in teuren Autos, manche vor Gebäuden. Unter jedem Foto standen Notizen.
"Das sind sie", sagte Marcus, kam zurück mit zwei Tassen. "Die Leute die das Netzwerk kontrollieren." Leo nahm den Kaffee. Er war heiß und stark, perfekt, denn er konnte die halbe Nacht kein Auge zu machen. "Wie viele ?" "Zwölf. Im Kern. Aber das System ist größer, viel größer." Marcus stellte seine Tasse ab. "Das Paket das du gefunden hast, das sind nur die Beweise für die oberen Fünf. Die gefährlichsten." "Und was passiert jetzt ?" Marcus setzte sich aufs Sofa. "Jetzt müssen wir die Beweise zu jemandem bringen der sie nutzen kann. Eine Journalistin. Sie arbeitet für eine große Zeitung und ist spezialisiert auf investigativen Journalismus."
Leo setzte sich in den Sessel gegenüber. Der Kaffee wärmte seine Hände. Draußen hupte ein Auto. Irgendwo im Haus lief Wasser. "Warum du nicht selbst ?", fragte Leo. Marcus starrte auf seine Hände. Diese großen vernarbten Hände. "Weil ich ein gesuchter Mann bin. Mein Gesicht ist in Datenbanken. Aber du..." Er sah auf. "Du bist niemand. Kein Strafregister, kein Profil. Du bist unsichtbar." "Unsichtbar", wiederholte Leo. Das Wort fühlte sich seltsam an. Wahr und falsch zugleich. Sie saßen schweigend da.
"Warum tust du das ?", fragte Leo schließlich. "Du könntest einfach verschwinden. Irgendwohin wo niemand dich findet." Marcus starrte in seinen Kaffee als könnte er dort eine Antwort finden. "Ich habe versucht damit zu leben. Mit dem was ich gesehen habe. Drei Jahre lang." Er machte eine Pause. "Aber es geht nicht weg. Diese Gesichter, die Kinder." "Das ist nicht deine Schuld." "Doch. Ist es." Marcus sah ihn an. "Ich habe für diese Leute gearbeitet. Ich war Teil der Maschine. Die siebenunddreißig kann ich nicht rückgängig machen aber vielleicht kann ich das hier richtigstellen."
Leo nahm einen großen Schluck Kaffee. Er dachte an sein eigenes Leben. An die Jahre in denen er versucht hatte sich selbst zu finden, sich selbst zu werden. Wie viele falsche Entscheidungen, wie viele Umwege. Aber nichts davon vergleichbar mit dem Gewicht das Marcus trug. "Wann soll ich gehen ?", fragte er. "Morgen." Marcus stand auf und Leo wusste das Gespräch war vorbei.
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