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Der Geigenspieler

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11.09.21 23:14
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

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Wer hätte gedacht, dass ein solches Verbrechen in dem kleinen, verschlafenen Summer Resort von Greensville passieren könnte?

Definitiv nicht Timothy Shepherd.

Als einfacher Geigenspieler spielt er während der Saison auf den Bällen der reichen und mächtigen Adligen, die sich im Sommer 1890 ebenfalls aus der Stadt zurückziehen, um auf großen Festen nach Entspannung und Zerstreuung zu suchen.

Aber dieses Jahr ist etwas anders, Timothy spürt es sofort.

Und weniger als drei Stunden später findet er seine adelige Halbschwester Lysanne ertrunken und vergiftet im Teich auf; und um die Sache noch schlimmer zu machen, wird er von der störrischen Tochter des Hauses in die Ermittlungen hineingezogen ...

 Jeanne hat wie jedes Jahr gemeinsam mit ihrer Familie London verlassen, und während sie bereits ihre Rückkehr in die Londoner Bibliothek plant, wird die Leiche einer jungen Lady gefunden. Die junge Lady wirft alle Pläne über den Haufen, und stürzt sich in die Ermittlungen- mit einem Geigenspieler und Bastard, der zu allem Überfluss auch noch ein Motiv hat..."

 

Wie ihr vielleicht bereits dem Klappentext entnehmen konntet, handelt es sich hier um einen historischen Krimi, der im Frühsommer des Jahres 1890 im Nordosten Großbritanniens, in der Nähe von York, spielt. 

Der Kurort Greensville ist allerdings frei erfunden, und existiert nicht.

Wir haben ein klares Bild vom 19. Jahrhundert: rauschende Ballnächte, bauschige, wunderschöne Kleider, Reichtum, Adel, Schmuck und Soireen.

Bücher wie Animant Crumb oder dieses sind diesem Klischee auch ziemlich zuträglich.

Wobei... Hier muss ich mich rechtfertigen. Animant Crumb hätte man realistischer gestalten können. Aber wenn ich in diesem Krimi beginne, sämtliche politischen Umbrüche und Geschehnisse sowie andere gesellschaftswissenschaftliche Themen (was mich durchaus interessieren würde) zu erläutern, auseinander zu nehmen und einzubauen, wie ich es in allen historischen Romanen bisher getan habe, die je von meiner Hand geschrieben wurden, würde dazu neben dem ganzen Plotten ein extremer Zeitaufwand und ein sehr komplexes Erwähnen und Tüfteln hinzukommen.

Nein, danke. Vielleicht am Rande. Aber dann würdet ihr von Details und Feminismus sowie vielen Demonstrationen für das Frauenwahlrecht geradezu überschwemmt werden. Ihr würdet in den britisch- deutschen Konflikt um Helgoland und die indischen Kolonien hineingezogen werden, und wärt in der Zeit gefangen, in der Bismarck in Deutschland an die Macht kam.

Kurzum: Ich müsste zusätzlich auch noch auf die erste und zweite Weltkriegsproblematik zu steuern, was einen echten Balanceakt erfordert. 

Deshalb präsentiere ich euch kurz und knapp einige der wichtigsten Informationen:

-1890 entstanden die ersten Suffragetten in Großbritannien und den USA, die für das Frauenwahlrecht kämpften.

-1889 wurde der Eiffelturm in Paris für die Weltausstellung eingeweiht.

-1890 vollendete Nellie Bly ihre Weltreise in 77 Tagen

- Die US-Armee begeht 1890 einen Massenmord an den Angehörigen des Stammes der Dakota

-es entsteht der Sansibar-Helgolandvertrag zwischen England und dem Deutschen Reich. Während Deutschland auf Anspruch weiterer Kolonien verzichtet, bekommen sie im Gegenzug die Insel Helgoland zu gesprochen.

-der erste elektrische Stuhl wird genutzt. Durch die Problematik ist die angeblich ,,humanere" Methode jedoch eher eine Folter, als wenn man den Verurteilten geköpft hätte.

-Bismarck tritt zurück, und es kommt ein neuer Kanzler an die Macht, der sich mehr auf die Außenpolitik konzentriert.

-Frankreich hegt Rachegelüste gegen Deutschland, Deutschland versucht Bündnisse für einen eventuellen Krieg auch unter anderem mit England einzugehen.

 

Hier werden Grundsteine für den ersten Weltkrieg gelegt, und auch hier werdet ihr eine Judenfeindliche Haltung entdecken, sollte euch dieses Thema interessieren.

In diesem Buch wird es jedoch keine übermäßig viele politische Themen geben, und wenn, dann durch eine kurze Meinungsverschiedenheit oder einen skandalösen Zeitungsartikel. 

Hier präsentiere ich euch eine betrügerische und harte Art des Adels damals, ein Kampf, der in Sakkos und glitzernden Kleidern getragen wurde; mit Kugeln aus Silber und Messern aus purem Gold, versteckt hinter einer Maske, die sich der Welt zeigt.

Ich erzähle euch die Geschichte eines ärmlichen Bastards.

Und die Geschichte einer jungen Dame aus reichem Hause, deren Leben unterschiedlicher nicht sein könnten, wenn sie nicht eine Sache verbinden würde. 

 

 

Jeanne

Ja, eigentlich sind Bälle sterbenslangweilig. Man sitzt, und sitzt, und tanzt ab und zu mit einem jungen Mann, der einen zum Tanzen auffordert. Man selbst aber darf niemanden auffordern, was meiner Meinung nach alles noch langweiliger macht.

Ich stand also in der kleinen Gruppe einiger anderer Debütantinnen, die sich über die neueste Mode unterhielten, um mich nicht komplett zu langweilen.

 

Mich forderten nur selten Männer auf, was auch daran liegen konnte, dass ich die meisten direkt wieder verjagte; denn ich wollte keinen hirnrissigen Dummkopf, sondern einen, der meine Leidenschaft teilte.

Und vielleicht, auch nur ganz vielleicht, lag es an meiner Tollpatschigkeit.

Ich erinnerte mich nur ungern an mein zehnjähriges Ich, dass vor lauter Langeweile ein wenig hochprozentigen Champagner über einem roten Samtvorhang ausgekippt hatte, um anschließend eine Kerze daran zu halten.

Die Stichflamme war interessanterweise mehrere Meter hoch gewesen.

 

Ich hörte nur mit einem Ohr den Gesprächen der anderen Mädchen zu, denn es setzte eine neues Musik ein. Eine Geige. Ich drehte mich überrascht um, denn es war überhaupt nicht gewöhnlich, dass lediglich ein Instrument spielte.

,,Hey, du da!", zischte ich dem Mädchen neben mir zu, und rammte ihr meinen Zeigefinger in die Seite, ,,weißt du wer das ist?" Das Mädchen drehte mich genervt zu mir um, und verdrehte die Augen. Eigentlich war es mir peinlich, ihren Namen nicht zu kennen; immerhin verbrachte meine Familie ihre Sommerpause seit mehr als zehn Jahren in diesem kleinem Kurort, und da so gut wie nie neue Familien hinzuzogen, kannte ich die meisten schon seit meiner Kindheit.

Sollte ich die meisten bereits seit meiner Kindheit kennen.

,,Das ist doch der Bastard von den Hawtons!" ,antwortete sie pikiert, bevor sie sich von mir abwandte, und sich wieder ihren Freundinnen zu wandte. Die Hawtons. Skandalträchtige Familie, sogar ich hatte etwas davon mitbekommen. Und dabei setzte ich gar nichts auf diesen Tratsch, den ein paar alte, ledige, verbittert, gelangweilte Damen in die Welt setzten, und sich keine schönere Tätigkeit vorstellen konnten, als ihre Nasen in die peinlichen Angelegenheiten anderer zu stecken und herumzuposaunen.

 

Ich seufzte dramatisch, bevor ich den teuren Champagner in einem Zug herunterkippte und meinen Blick durch unseren stuckverzierten, barocken Ballsaal schweifen ließ.

Überall unterhielten sich Menschen in feinen Kleidern, die mir nicht weiter bekannt vorkamen, und mit denen ich nie näher als zu einer flüchtigen Bekanntschaft gekommen war. Helena und Lysanne, beste Freundinnen und zwei Debütantinnen in meinem Alter, steuerten auf einen Tisch in meiner Nähe zu. Die beiden hatten eine sinnvolle Entscheidung getroffen, und das Buffet geplündert.

 

Während beide einen Muffin verspeisten, beschloss ich es ihnen gleich zu tun, und verzog mich in Richtung Buffet. In einer Stunde, so rechnete ich es mir zumindest aus, konnte ich mich ohne Gefahr in mein Zimmer zurückziehen, und mich erneut in einem Roman über Sherlock Holmes verkriechen. Der Mann war ein Genie.

Nur zu schade, dass mein Leben so langweilig war. Ein wenig Aufregung hätte mir sicherlich ganz gut getan, anstatt mir von meiner Mutter auf die Nerven gehen zu lassen, dass ich mir endlich einen anständigen Verlobten angeln sollte. Als ob ich heiraten wollte.

 

Da hätte ich lieber einen Mordfall erlebt.

 

Hätte ich gewusst, wie bald ich das tun würde, hätte ich sicherlich nicht so darüber gedacht. Denn von einer Leiche zu lesen, ist etwas ganz anderes, als sie zu sehen.

 

Gelangweilt drehte ich mein Champagnerglas in meinen Fingern, und sehnte mich nach meinem Ohrensessel und einem neuen, spannendem Krimi.

 

Meinem Moment Ruhe wurde ein jähes Ende verpasst, als meine Mutter auf mich zukam. Mit der gesamten Brown'schen Familie im Schlepptau. Innerlich mich dafür verfluchend, nicht einfach hinter einer Säule abgetaucht zu sein, setzte ich ein höfliches Lächeln auf, und stellte mein Glas auf einem Tischchen ab.

Meine Mutter versuchte durchgängig, mich zu verkuppeln. So wohlhabend und mächtig wie nur irgendwie möglich. Zu schade, dass ich ihr da einen Strich durch die Rechnung machte, und im Gegensatz zu meinen beiden jüngeren Schwestern im Alter von einundzwanzig Jahren noch immer keinen Ehepartner gefunden hatte.

 

Umso bewundernswerter fand ich es, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, gleich zwei Söhne der wohl besten und begehrtesten Familie überhaupt aufzugabeln. Die beiden waren zweieiige Zwillinge, und die wohl nervigsten Junggesellen ganz Englands.

 

Auch wenn ich zugeben musste, dass beide verdammt gut aussahen.

 

,,Wie reizend du heute Abend wieder aussiehst, Jeanne!", rief Lady Rianna Brown meiner Meinung nach etwas zu begeistert aus, und stürzte sich mit einem hungrigen Blick auf mich, als sei ich die Königin höchstpersönlich.

Was ich vermutlich ab heute und auf diesem Ball auch war. Nachdem Helena Lightwood nun fast bekanntermaßen bereits vergeben war, und es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie und William ihre Verlobung bekannt gaben, war ich nun die vermutlich beste Partie des gesamten Balles.

Und auch die angesehenste.

Seit Wochen lagen mir ständige Verehrer in den Ohren, die meisten ohne einen entsprechenden Titel und meistens die Söhne eines Manufaktur- oder Industriebesitzers, die mithilfe von neuem Geld reich geworden waren, und es jetzt auf einen Adelstitel abgesehen hatten- wie Helena, die nur zu gerne mit ihrem fehlenden Ladytitel aufgezogen wurde.

 

Auch wenn das Miststück das verdient hatte.

 

Was mir das Verschwinden von diesem Fest und das, in diesem Sommer, unverheiratete Genießen deutlich erschweren würde. Dabei wollte ich doch einfach nur meine Ruhe.

Aber das sagte ich natürlich nicht. Stattdessen lächelte ich sie bloß an, und lachte höflich. ,,Vielen Dank Mylady, aber dies ist wahrlich nichts besonderes!", winkte ich ab, und wedelte etwas planlos mit meinem Fächer herum.

,,Aber nein, Jeanne, kein Grund für falsche Bescheidenheit! Du siehst wirklich absolut fabelhaft aus! Ich habe sogar gerade Lady Victoria einen sehr neidischen Blick entlockt!", sie kicherte. Der Alkohol war ihr eindeutig zu Kopf gestiegen, was ich jedoch höflich ignorierte.

 

Mutter schien Potential zu wittern, und wechselte rasch das Thema: ,,Es sind Gerüchte in Verzug, das Lord William unserer Helena bald einen Antrag macht! Wir hoffen ja so sehr, dass meine Jeanne dies auch bald bekannt geben wird!" Sie zwinkerte mir zu.

Ich lächelte gezwungen, doch offensichtlich hatten sich hier zwei gefunden. ,,Oh, so reizend wie Ihre Tochter ist, müssen ihr die Verehrer doch nur so hinterher rennen!", rief sie aufgeregt, und wandte sich dann ihren Söhnen zu. ,,Wieso fordert ihr nicht Jeanne zum Tanz auf? Ich bin mir sicher, sie wird es lieben!", verschwörerisch lächelte sie mir zu und ihr Grinsen wurde noch breiter. ,,Als ich jung war, habe ich das Tanzen geliebt!", wisperte sie mir zu, und schlug ihrem Sohn mit dem Fächer auf die Finger, um ihn zur Eile anzutreiben.

Er bot mir galant den Arm an, und ich hakte mich gezwungenermaßen unter. Zumindest schien auch er nicht übertrieben begeistert, und somit zog er mich mit sich zur Tanzfläche, wo wir uns in die Reihe der Tanzenden einreihten.

Er schien mehr damit beschäftigt zu sein, mir nicht auf die Füße zu treten, als sich mit mir zu unterhalten, und mir wurde schnell langweilig. Während ich meine Füße elegant zur Musik bewegte, stolperte er mir hinterher, und trat das ein um das andere Mal auf meinen Kleidersaum. Während ich dies am Anfang höflich zur Kenntnis nahm, riss mir nach dem sechzigsten Mal irgendwann der Geduldsfaden.

Vielleicht auch, weil seine Hand tiefer wanderte als angemessen, und er mich immer näher zu sich zog. Ich biss die Zähne aufeinander, als seine Hand unsittlich über meine Brust wanderte, doch als er mich schließlich aus der Reihe der Tanzenden zog, und mit mir auf die Tür zu steuerte, sträubte sich alles in mir. Ich entzog ihm meine Hand, und wandte mich zum Gehen, doch er schlang einen Arm um meine Hüften, und hielt mich zurück. Genervt, doch zeitgleich ein wenig verunsichert löste ich mich aus seiner Umklammerung, doch er drückte mir einen Kuss auf den Mund.

Vollkommen entsetzt erstarrte ich, und stieß ihn von mir weg, doch er ließ seine Hand tiefer wandern und drückte mich gegen die Wand.

Wir standen im Schatten des Säulengangs, und auch wenn wir somit noch immer im Ballsaal waren, konnte uns niemand mehr erkennen. Ich keuchte erschrocken auf, und wollte mich von ihm befreien, aber seine Hände hielten mich an Ort und Stelle. ,,Sei doch nicht so, Jeanne!", murmelte er, und vergrub seinen Kopf an meiner Schulter.

Wut kochte in mir auf. ,,Lass mich in Ruhe, Brownie!", zischte ich und rammte ihm mein Knie zwischen die Beine.

 

Vermutlich rettete mir die vorbeikommende Ida das Leben. Nicht, dass ich nicht allein mit ihm klar gekommen wäre, doch der Moment, indem sie vorbeieilte genügte, damit ich schnell verschwinden konnte. Offensichtlich hatte sie geweint, doch ich ignorierte es, und verschwand. Wenn man keinen Ärger mit den anderen haben wollte, hielt man sich von Ida besser fern, und war auf gar keinen Fall freundlich zu ihr.

Sie tat mir leid, andererseits hätte uns beiden eine Freundschaft nicht genutzt. Ich war diejenige, die sich mit einem Buch hinter eine Säule verzog (vorzugsweise Miss Marple oder Sherlock Holmes), und in fremde Welten eintauchte, während sie sich meist mit jedem erdenklichen Mann auf der Tanzfläche herumtrieb. 

 

Ich hatte keine Ahnung, wieso sie jetzt plötzlich das Gebäude verließ. Aber letztendlich war es auch nicht meine Angelegenheit.

Hätte ich zuvor gewusst, wie sehr dies meine Angelegenheit geworden wäre, hätte ich Ida sicherlich aufgehalten. Oder wäre ihr gefolgt.

 

Doch so sah ich ihr nur kurz hinterher, und widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem Zeichen der Vier, die soeben den toten Leichnam identifizierten. Mit einem kurzem Blick stellte ich jedoch sicher, dass Brownie sich nicht näherte, und meine Mutter mich nicht entdecken konnte.

Gierig kramte ich das Buch aus meinem Retikül, schlug die entsprechende Seite auf und vertiefte mich in die Welt aus Mord und Vermögen, der Sherlock folgte.

 

Ich war noch nicht einmal zwanzig Seiten lang gekommen, als ich meine Mutter in meine Richtung eilen sah. noch bevor sie mich entdecken konnte, floh ich aus dem Gang und mischte mich unter die Mädchengruppe, die soeben den neuesten Tratsch und Klatsch erörterten. 

Sie plapperten fröhlich, und ich hakte mich kurzerhand bei einer Braunhaarigen ein, die ihre Haare zu einem wahren Turm zusammengesteckt hatte. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass ich plötzlich an ihr hing, doch ich beteiligte mich für die Minute fröhlich an ihrem Gespräch. 

Offensichtlich ging es gerade um das Kleid, dass Prinzessin Alexandra bei ihrem letzten öffentlichem Auftritt getragen hatte, und während ich, ohne den blassesten Schimmer wie das Kleid überhaupt ausgesehen hatte, mir ein grobes Urteil zurechtlegte, und mit ihnen über die Farbe Grün fachsimpelte, nickte meine Mutter mir nur kurz zu, während sie sich zum Buffet begab. 

 

Nachdem sie an mir vorbeigelaufen war, löste ich mich eilig, und wurde direkt vom ersten Mann, den ich auf Mitte zwanzig schätzte, zum Tanzen aufgefordert. Eher widerwillig nahm ich die Aufforderung an, doch da ich vermutete, dass meine Mutter mich ab jetzt nicht mehr aus den Augen lassen würde, blieb mir keine andere Wahl, als zuzustimmen.

 

In den nächsten zwei Stunden füllte sich meine Tanzkarte beträchtlich. Meine Füße brannten vom vielen Tanzen, und am liebsten hätte ich mich einfach in mein Zimmer verzogen, die Tür zu gemacht und es mir mit einem Buch gemütlich gemacht

 

Ich vermutete, dass meine Mitgift auch hier einen großen Anteil an dem plötzlichen Interesse hatte, und dementsprechend unsympathisch waren mir die Kandidaten, deren höflichen, falschen und immer gleich klingenden Komplimente mir langsam auf die Nerven gingen.

Als ich mich schließlich aus der letzten Pose des Menuetts löste, lächelte ich meinen Tanzpartner verbindlich an, und verschwand erneut in Richtung Buffet. 

 

Wachsam hielt ich nach Lysanne oder Helena Ausschau, da ich gerade nicht das geringste Interesse daran hatte, für ihre Schikanen herzuhalten, da Ida soeben verschwunden war. 

 

Zu meinem Glück entdeckte ich sie nicht, doch zur Sicherheit stach ich Edith, einem Mädchen, dass mir relativ sympathisch, allerdings auch die größte Klatschbase ganz Londons war, meinen Finger in die Rippen.

 

Edith war in Ordnung, stand jedoch in der Hackordnung der Debütantinnen im Gegensatz zu mir als Baroness ganz unten; und hatte es beeindruckenderweise geschafft, trotz des Vorteils, den ich dank meines Titels besaß, zu den beliebtesten und gesellschaftlich akzeptiertesten Mädchen des gesamten Londoner Adels zu gehören.

 

Wobei man mir zugute halten musste, dass Edith nicht das Mädchen war, dass sich vor jeder möglichen gesellschaftlichen Veranstaltung drückte, sondern sich geradezu begeistert in diese Aktivitäten einmischte.

 

Im Gegensatz zu der Zicke zuvor lächelte diese mich strahlend an. ,,Was gibt es, Jane?", fragte sie.

Jane, so nannten mich die meisten Menschen, die mich näher kannten; ein Name, der sich entwickelt hatte, nachdem ich mich als Kleinkind immer als Jane bezeichnet hatte. Ich hatte nichts dagegen, solange er nur von sympathischen Menschen in den Mund genommen wurde. 

 

,,Sag mal, weißt du wo Lysanne oder Helena sind?", fragte ich möglichst unschuldig, um eventuelles Gekicher zu vermeiden.

 

Edith zuckte allerdings nur mit den Achseln, bevor dieser Ausdruck auf ihr Gesicht trat; ein hungriger, begeisterter Blick, der danach gierte, den nächsten Tratsch zu verbreiten, den sie zu verbergen gesuchte. Ich kannte diesen Blick, doch da Edith ansonsten recht nett zu sein schien, ignorierte ich ihn höflich. ,,Lysanne reihert sich den Hals aus dem Mund!", sie kicherte, ,,und wo Helena ist; keine Ahnung. Wahrscheinlich irgendwo auf der Tanzfläche- oder mit William irgendwo im Pavillion!"

 

Eigentlich hätte ich mir dies denken können.

Lysanne war bekannt dafür, sich auf Ballnächten um den Verstand zu trinken, um anschließend im wahllosen Bett eines Edelmannes zu landen.

Und Helena hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass sie William für sich beanspruchte; auf bisher jeder Soiree hatte man die beiden ausnahmslos zusammen gesichtet (die Instruktionen der beiden Familien waren also klar), und die finsteren, ausnahmslos für Adelstiteljägerinnen bestimmten Blicke waren ebenso aussagekräftig geblieben.

Ob die beiden sich wirklich so sehr liebten, dass sie diese arrangierte Ehe würden halten können, bezweifelte ich.

 

Und doch war ich über jede Minute froh, die ich ohne die beiden Meangirls verbringen durfte- und konnte.

 

Erleichtert, dass ich mich nicht mit den beiden Zicken würde herum schlagen müssen, lächelte ich sie an. Da ich nun einmal nicht in mein Zimmer konnte, würde ich mich einfach bei ihr und ihren Freundinnen bewegen. Nervig, aber harmlos.

Es war bereits nach Mitternacht, und noch immer saß ich neben Edith, und trank ein Glas Champagner. Würde ich jetzt stehen; ich wusste nicht, ob mein Magen diese Schwindelattacke überstehen würde. Also blieb ich sitzen, redete und hörte nur mit einem Ohr zu. Innerlich überlegte ich immer noch, wer im Zeichen der Vier der Mörder sein könnte.

 

Ich wünschte mir immer noch sehnlichst, dass ich einmal Doyle würde höchstpersönlich treffen können. Vielleicht sollte ich meinen Vater einmal fragen...

Meine Mutter würde sofort ablehnen. Sie hielt nichts davon, dass ich mich in meiner Freizeit mit Mord und Totschlag beschäftigte, und der Besuch eines Krimiautors; sie würde mir bei lebendigem Leib den Kopf abreißen. 

 

Zu meinem Vater hatte ich auch kein gutes Verhältnis. Wenn mein Mädchen Ryan erzählte, was sie früher alles mit ihrem Vater getan hatte, überkam mich immer ein wehmütiges Gefühl. Ich wollte auch einen solchen Vater haben, der mich als Kind auf den Schultern trug, in seiner freien Zeit mit zum Angeln nahm und mir das Pokern beibrachte.

 

Stattdessen war er eher ein Fremder für mich, den ich bei meinen Mahlzeiten zu Gesicht bekam, und derjenige, der mich außer meiner Mutter maßregelte. Mehr mein Lehrer, denn mein Vater.

Ein Fremder. Aber er unterstützte es, dass ich so viel las. 

Allerdings wusste er nicht, dass es keineswegs irgendwelche Lehrbücher waren.

 

Ich verwarf die Idee wieder, und nippte an meinem Champagner. 

Meine Gedanken waren müde, träge geworden, und ich sehnte mich danach, mich aus dem Korsett zu schnüren und in mein Bett zu fallen.

Doch scheinbar hatte mein Bruder da andere Pläne. 

Moment, mein Bruder? Der Mann, der sich sonst von mir fernhielt, erst recht auf Feierlichkeiten?

 

 

Er steuerte direkt auf mich zu, und packte mich am Arm. Edith und die anderen Mädchen ignorierte er völlig; was mich wunderte, denn sonst ließ er keine Gelegenheit aus, sich in dem Licht seiner Verehrerinnen zu sonnen. Stattdessen packte er mich am Arm, und lächelte ein Lächeln, dass mir die Haare zu Berge stehen ließ.

Eine unverkennbare Drohung, nur für mich sichtbar. 

Ich schluckte, stand auf und schwankte leicht. Sofort packte er mich an der Taille, und warf ein strahlendes Lächeln in die Runde: ,,Ich müsste meine Schwester einmal kurz entführen!", er lächelte charmant, ,,Ich bin mir sicher, sie ist in wenigen Momenten wieder bei euch."

Der kühle Blick aus den eisblauen Augen, den meinen so ähnlich, sprach Bände. Ich spielte mit.

,,Bis gleich!", lächelte ich, knickste unsicher, wobei sich die Welt einmal kurz um die eigene Achse drehte, und stakste, mich an meinen Bruder Alistair pressend, davon.

Kaum waren wir außer Hörweite, beugte er sich zu mir herunter.

 

,,Wie viel hast du bitte getrunken?", zischte er, und warf mir einen zornigen Blick zu. Ich schluckte, und zügelte meinen Zorn. Da ich davon ausging, dass es eh eine rethorische Frage gewesen war, faltete ich artig die Hände, senkte den Blick und antwortete nicht. Sein Griff wurde kurz fester, dann hakte er sich bei mir unter, und verbannte den Zorn aus seinen Augen.

 

Für Außenstehende mussten wir nun so aussehen, als seien wir ein perfektes Pärchen; Bruder und Schwester, die vermutlich für einen kurzen Moment miteinander reden mussten.

 

So war es immer, wenn ihm etwas nicht gefiel. Nach außen hin musste die Fassade aufrecht erhalten werden, und keines der Familienangelegenheiten nach außen dringen. Wozu auch?

Selbst wenn man sehen würde, wie er mir hier eine Ohrfeige geben würde; es würde nur meinem Ruf schaden, denn Alistair würde sicherlich Zuspruch dafür bekommen, seine unartige Schwester gezüchtigt zu haben.

Allerdings würde dies meiner Mitgift extrem schaden, weshalb wir beide die Fassade eisern wahrten. Um meinen Ruf, und er um das Ansehen der Familie willen. 

 

Es wunderte mich nicht, als wir den Garten ansteuerten, doch plötzlich wurde sein Griff wieder fester. Er ließ mich los, veränderte seinen Griff, bis er mich schließlich zum Stehen brachte.

,,Das, was du jetzt sehen wirst,", er nickte kurz in Richtung Teich, ,,ist eigentlich kein Anblick für eine junge Lady. Allerdings hat Vater ausdrücklich befohlen, dich dazu zu holen.", man hörte deutlich, dass er nicht einer Meinung mit der unseres Vaters war, doch sich zu beugen wusste. Zögerlich nickte ich, und nahm seinen angebotenen Arm wieder an. Innerlich jedoch platzte ich fast vor Neugierde.

Was war bloß geschehen?

 

Wir nahmen den Weg am Waldrand entlang, der ausgestorben vor uns lag. Nur das leise Plätschern des Baches verriet, dass wir uns in der Nähe der Klosetten befanden. Schweigend setzte ich Schritt vor Schritt, während die Welt einen Salto nach dem anderem machte. 

Champagner war eindeutig zu viel für mich.

 

Plötzlich wurden wir langsamer, und blieben oberhalb unseres Teiches stehen. Der Teich war ein bereits vorhandener, kleiner Stausee gewesen, den man nach der Übernahme des Grundstückes erweitert und für eine kleine Bootsfahrt restauriert hatte. Eine kleine Gondel schaukelte am Steg- und dort, am Steg, hatte sich eine kleine Menschenansammlung von etwa fünf Personen gebildet. Fragend blickte ich zu Alistair herüber, doch dessen Gesicht lag im Schatten, und machte es mir unmöglich, seinen Gesichtsausdruck zu kennen. 

Mit einer ruckartigen Bewegung löste er sich von mir, trat ein paar Schritte die Treppe herunter und wartete darauf, dass ich ihm folgte. Ich raffte meine Röcke, nahm seine helfende Hand an, und trat zögernd näher, die Stufen hinab.

Noch vor der letzten Stufe schwor ich mir, aus Langeweile nie mehr so viel zu trinken.

 

Die erste Person, die mir auffiel, war Mutter. Sie war leichenblass (aber nichts im Gegensatz zu Lysanne, wie ich hier an dieser Stelle vielleicht anmerken sollte- folglich ist leichenblass nicht der richtige Ausdruck, und umgangssprachlich einfach nicht korrekt) und klammerte sich stumm an meinen Vater, während dieser mit einer anderen Person sprach, und Anordnungen verteilte. 

Ein anderer Mann stand etwas abseits, stocksteif, und abgrundtief entsetzt. Sein Blick starrte auf etwas, dass ich durch den Rücken eines der Bediensteten nicht erkennen konnte, doch seine Reaktion löste in mir ein ungutes Gefühl aus. 

 

Bevor ich es mir anders überlegen konnte, trat ich die restlichen Stücke nach vorn. Respektvoll machten mir die beiden Dienstboten Platz, was ich ignorierte. Mein Blick konzentrierte sich allein auf das augedunsene, bleiche Gesichts Lysannes. Sie war unverkennbar tot.

Meine Eltern hatten sich mir zugewandt. Alistair hatte tröstend eine Hand auf meinen Unterarm gelegt, und hielt mich an der Hüfte fest, wie um mich zu stabilisieren, sollte ich plötzlich umfallen.

 

Was angesichts des Alkoholpegels, der inzwischen in meinem Blut herrschen musste, vielleicht keine schlechte Idee war.

 

Ich blickte kurz hoch in die panischen, entsetzten Gesichter der Anwesenden. Dann blickte ich wieder hinunter zu Lysanne. Auch wenn es eine Tragödie, und sicherlich vollkommen unangemessen war, wandte ich mich den Bediensteten zu.

,,Wo habt ihr sie gefunden?"

Timothy

Ihr Lachen war falsch, zu hoch, zu schrill. Es klingelte in meinen Ohren, und ich verzog schmerzhaft das Gesicht; würdigte die Musikerin vor mir keines Blickes.

Natürlich. Diese Wirkung auf Weiber habe ich immer. Kaum beginnt man ein Gespräch, stürzen sie sich in unwichtigen Kram, lachen viel zu hoch und schmeißen sich einem an den Hals.

Müde strich ich mir die dunklen Locken aus der Stirn. Soeben war ich noch auf der Bühne, im Orchester des Balls, und jetzt stand ich hier, neben einer Musikerin, bei der ich wetten würde, dass ich sie bereits vor ein paar Monaten im Haus meiner Mutter gesehen habe; gebärend.

Ich wandte mich wortlos ab, und machte mich auf in Richtung der Männerumkleiden, in denen ich meine Alltagssachen deponiert hatte, die ich im Alltag trug. Die Bediensteten, die an mir vorbeieilten, würdigte ich keines Blickes, sondern steuerte direkt an ihnen auf die nächste Tür zu. ,,Entschuldigung!", brüllte jemand, doch ich hastete weiter; wollte diesen Irrsinn abstreifen, der mich immer beim Anblick dieses Palastes überkam. Dem Sommersitz meines Vaters.

Zwei falsche Wörter in einem Satz. Ich presste die Lippen zusammen, und schmeckte Blut. ,,Verdammt!", fluchte ich. Ich musste mir auf die Wangen gebissen haben. ,,Entschuldigung, Mister!", rief die Stimme noch einmal. Unwillig lief ich weiter, bis mir jemand keuchend auf die Schulter tippte.

 Genervt drehte ich mich um; und blickte direkt in ein umwerfend schönes, grünes Augenpaar, das mich keuchend und leicht verwirrt musterte. Ihr misstrauischer Blick in Richtung meiner Taschen entging mir nicht, weder das zaghafte Lächeln, dass sich auf ihrem Gesicht ausbreitet, als sie mir meinen Geigenbogen überreichte. 

Wenn sie lächelte, bildeten sich in ihren Wangen kleine Grübchen, wie ich erstaunt bemerkte. Fasziniert beobachtete ich sie für einen Moment lang, bevor ich mich ihr zu wandte. ,,Vielen Dank, Misses...", ich ließ den Satz fragend ausklingen, da ich nicht die geringste Ahnung hatte, wer hier vor mir stand. Sie belohnte mich mit einem Lächeln, und ließ den Bogen los und strich sich die Haare zurück, wobei sie einen kleinen, zierlichen, goldenen Ohrring entblößte. ,,Ich bin nicht verheiratet!", lachte sie, ,,Ich bin Lucile. Lucile Lewis.", erklärte sie, knickste und versuchte zu entschwinden, doch ich hielt sie zurück. ,,Warten Sie, Miss Lucile!", erklärte ich, und sie blieb überrascht stehen, während sie ihre Schürze wieder zurechtzupfte, an der ich sie festgehalten hatte. ,,Ähm...", brachte ich hervor, und spürte, wie ich knallrot anlief, bevor ich den Satz herausbrachte. ,,Würden Sie gerne- Würden Sie sich vielleicht gerne im Flowers mit mir treffen?", fragte ich, und fühlte mich wie eine Tomate. Überrascht drehte sich das Dienstmädchen zu mir um, musterte mich kurz, bevor sich ein leises Lächeln auf ihre Lippen stahl. ,,Vielleicht.", antwortete sie mit einem leichten Lächeln, bevor ihr Gesicht wieder ernst wurde: ,,Aber ich habe kein Interesse an ihren- Eskapaden.", sagte sie scharf, bevor sie durch die Tür entschwand. ,,Am Sonntag hätte ich nach dem Gottesdienst Zeit, Mister Shepherd!", rief sie noch, bevor sie aus meinem Blickfeld entschwand. Ich konnte nicht verhindern, dass ich ihr wie ein verliebter Idiot hinterherschielte, und beglückwünschte mich innerlich dafür, mit ihr mehr als zwei Sätze gewechselt zu haben.

Ich beobachtete sie bereits seit fast einem Jahr, nach dem sie einmal in der Apotheke vor mir einige Heilmittel eingekauft hatte. Schon damals hatte mich ihr Lächeln verzaubert- und meine Eskapaden hatten sich ihrem Ende zu geneigt. Eskapaden. Ich schnaubte, und verschwand in der Umkleide der Männer, in der ich auf einem Holzschemel meine Kleider abgelegt hatte. Bei diesem Anblick wanderten meine Gedanken wieder zu dem Dienstmädchen. Lucile, korrigierte ich mich. 

Sonst war ich nie schüchtern gewesen, was Frauen anging, doch diese hatte mich direkt in einen kleinen Schuljungen zurück verwandelt, der sich schämte, eine Frau um ein Treffen zu bitten. Und der Geigenbogen, das war reiner Zufall gewesen. Nie würde ich diesen irgendwo liegen lassen, wo er kaputt gehen könnte, oder sich irgendein Langfinger an ihm bedienen konnte.

Auch nicht, wenn es darum ging, ein paar Worte mit diesem Mädchen zu wechseln.

Ich warf mir die Kleider über, knüpfte das Hemd zu, öffnete die Tür und entschwand über einen kleinen Hinterausgang, der gewöhnlich für das Personal reserviert war, aus der Tür. 

Die kühle Abendluft empfing mich, hüllte mich ein und beruhigte mich; kühlte mich ab. Der Kiesweg knirschte unter meinen Füßen, während ich auf den Hauptweg zu steuerte, um meine Violine fort zu bringen. Ich war erst in wenigen Stunden wieder dran, und bis dahin sollten die kostbaren Instrumente in einem anderem Raum gelagert werden. Das kleine Häuschen lag ein Stück entfernt vom See, der dunkel und still vor mir lag. Unter dem Steg spiegelte sich das Wasser grün. Eine kleine Gondel schaukelte auf dem Wasser, und ich wandte, angewidert von diesem Reichtum, den Blick ab. Während meine Mutter und ich Tag und Nacht schufteten, um Steuern und Lebensmittel zu bezahlen, hatte die Familie Lightwood nichts besseres zu tun, als einen gesamten See zu vergrößern, und der Ortsnahen Quelle so viel Wasser abzuziehen, dass aus unserem Wassersystem nur noch bedingt viel Wasser kam.

Ich presste die Lippen aufeinander, und versuchte, meinen Zorn auf die Lightwoods zu reduzieren- dabei hatte ich allen Grund dazu, nicht nur diese Familie zu hassen.

Das kleine, aus Sandstein gehauene Haus tauchte vor mir auf, und ich öffnete die Tür, froh darüber, etwas zu tun, was mich von meinem düsteren Gedankengang ablenkte. Wieso fielen einem auch immer bei Spaziergängen die schlimmsten Dinge ein, wiederholten sich, bis es einen fast in den Wahnsinn trieb? Er würde die Adeligen nie verstehen, die dies als ihren Zeitvertreib nutzten.

Allerdings mussten sich diese vermutlich auch nie um etwas Gedanken machen, außer welches Kleid sie tragen würden, wie sie ihre Tochter möglichst gewinnbringend verheiraten konnten, oder wie sie die anderen Familien beeindrucken würden.

Ein verbittertes Lachen entkam meinen Lippen, und mein Fuß prallte gegen den Sandstein. Meine Finger ballten sich zur Faust; der Drang etwas zu zerstören wurde übermächtig, doch ich hielt mich zurück. 

Eine Anklage wegen Diebstahl oder etwas ähnlichem fehlte mir gerade noch. 

Frustriert legte ich meinen Geigenkasten auf einen Tisch, räumte die nebenliegende Trompete ein wenig zur Seite, sodass genügend Platz vorhanden war, dass keine von beiden herunterfallen konnte, und verfluchte innerlich den Musiker, der so dumm gewesen war, das Instrument so zu platzieren, und schloss schlussendlich die Tür hinter mir. 

Für einen kurzen Moment ließ ich den Nachtwind durch mein Gesicht fahren, und spürte, wie ich mich beruhigte. Plötzlich war der Reichtum um mich herum zwar immer noch unfassbar protzig, doch ich sah ihn wieder mit anderen Augen; bestaunte erneut die bunte Gondel, die am Steg festgebunden war, und den Holzsteg, unter dem etwas unförmiges baumelte.

Neugierig trat ich näher ans Ufer, und betrachtete das Ding, dass darunter baumelte. Es sah aus wie ein Schuh- ein Damenschuh, der sich an einem Nagel verhangen hatte. Ein wenig erinnerte es mich an die Verstecke, die ich mir als kleines Kind ausgedacht hatte, und einmal die Schuhe aus meinem Fenster hatte baumeln lassen. Unwillkürlich musste ich lächeln, als ich an mein sechsjähriges Ich zurückdachte. Ein Schuh war verloren gegangen, und meine Mutter hatte mir eine saftige Ohrfeige verpasst. 

Das Lächeln verging mir jedoch schnell, als mir der helle Fleck auffiel, der daraus herausragte- wie ein Bein. Und das Grün, dass ich anfangs für eine Spiegelung gehalten hatte, sah ich nun mit ganz anderen Augen.

Ich tat das, was mir als erstes einfiel- ich beugte mich vornüber, und kotzte in das dunkle Seewasser. 

 

Timothy

Ich weiß nicht, wie lange ich über dem dunklen Seewasser lag, und mich übergab. Irgendwie hatte jemand den Lord des Hauses verständigt, und die Polizei alarmiert.

Ich stand noch immer unter Schock, vor allem dann, als man die Leiche der jungen Dame aus dem Wasser gezogen hatte. Die Erkenntnis, dass meine Halbschwester dort unten ertrunken war, ließ in mir nur noch erneut den Brechreiz hervorkommen.

Einige Dienstboten wirbelten um mich herum, und während eine Magd mir ein Taschentuch reichte, wirbelten die restlichen vier um die Lady des Hauses herum, die noch blasser als ich war- wenn man davon überhaupt sprechen konnte. Langsam richtete ich mich auf, den Schmerz in meinen Knien vom langen Bücken ignorierend. Die Diskussion neben mir verfolgte ich nicht weiter, sondern fixierte weiterhin das Mädchen, welches unter der Wasseroberfläche trieb.

Der grüne Stoff umwogte sie wie eine zweite Haut, und das beweglose Gesicht ließ sie wie eine Wassernixe erscheinen- wunderschön und grausam zu gleich.

Ich wandte mich erneut ab, nicht sicher, was ich tun sollte; wackelig auf den Beinen, und noch immer mit einem leichten Brechreiz.

,,Natürlich werden wir das arme Ding aus dem Teich holen!", schimpfte Lady Lightwood, doch ihr Sohn schüttelte den Kopf. ,,Mutter, wenn die Gesetzeshüter sich ansehen wollen, wie sie lag und wir sie ans Ufer geholt haben, dann-", die Lady unterbrach ihn erneut: ,,Genug, Alistair! Du redest schon genauso wie deine Schwester, die sich in ihre Kriminalromane vergräbt und dabei-", die ruhige Stimme ihres Gatten brachte sie zum Verstummen. ,,Alistair, hol Jeanne!", befahl er, und legte seiner Frau eine beruhigende Hand auf den Rücken. ,,Aber James!", protestierte diese, ,,dies ist doch wahrlich kein Anblick für eine junge Lady wie unsere Tochter!", warf sie ihm vor. Die Züge des Lords verhärteten sich, und für einen kurzen Moment fürchtete ich, nicht nur Zeuge eines Mordfalls, sondern auch noch der eines adeligen Familienstreits zu werden, wie er im Buche stand- doch zu meiner Verwunderung verlangte Lord Lightwood erneut nach seiner Tochter. 

Ich warf ihm einen überraschten Blick zu. Die meisten Männer hätten sich entschieden, ihre Tochter so gut es ging daraus hinaus zu halten; doch der Lord entschied sich direkt dafür; wieso? Was erhoffte er sich davon?

 Lord Alistair verschwand aus seinem Sichtfeld, und ließ mich grübelnd und mit tausenden Fragen zurück- auch wenn er diese nicht beantworten würde. Trotzdem war dies einfach nicht üblich, wo doch schon einfache Diebstähle geheim gehalten wurden- und ließ in mir einige Fragen aufkeimen. Für einen Unterstützer der Suffragetten hielt ich ihn nämlich nicht- dafür war sein Ruf zu konservativ. Wieso? Und wer hatte ein Interesse daran, seine Halbschwester tot zu sehen? 

Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass sie ermordet worden war; schon allein der Winkel, in dem sie gefallen war, ließ keinen anderen Zweifel zu. Denn wer lief bitte rückwärts über einen Steg? Eben, niemand. Und auch kein Betrunkener. 

Nachdenklich betrachtete ich Lysannes blasses Gesicht, doch wurde ich von einem lauten Platschen aus meinen Gedanken gerissen. 

Ein Bediensteter war ins Wasser gesprungen, und machte sich schwimmend daran, die Wasserleiche nach oben zu drücken, während zwei seiner Kollegen ihm dabei halfen. Ich zuckte angesichts der rauen Flüche zusammen, die sie von sich gaben, und warf einen nervösen Blick in die Richtung der Obrigkeiten. Würden diese mitbekommen, wie das einfache Volk sprach, wäre es vermutlich für sie alle das Ende ihrer Karriere. 

Als ich sah, wie die drei Männer sich abmühten, bedeutete ich ihnen mit einer kurzen Handbewegung, dass ich ihnen helfen würde; und bekam eine der nassen Beine in die Hand gedrückt. Ich schüttelte mich.

,,Vorsicht!", der Mann deutete auf den Schuh, ,,die Schnürsenkel haben sich an einem Nagel verfangen. Sie müssen ihn erst lösen." Ich schnaubte, wie um meinen Ekel zu verbergen, und machte mich mit spitzen Fingern daran, den Damenschuh zu lösen. Angewidert und mit bebenden Fingern hatte ich es schließlich geschafft, und hob sie an den Beinen hoch. 

Am liebsten hätte ich die Leiche wieder fallen gelassen- die Haut war glitschig, kalt, nass und irgendwie- glibberig.

Angeekelt zog ich den toten Körper auf den Steg, und floh anschließend zurück; weg vom Steg, zurück dorthin, wo ich hoffte, Lysanne nicht durchgehend sehen zu müssen. Mich durchlief ein Schauder; ob von der Vorstellung, ein Mörder musste hier sein Unwesen treiben, oder der, dass ich soeben eine Leiche angefasst hatte, vermochte ich nicht zu sagen. 

Schritte und das Rascheln eines Kleides rissen mich aus meinen Gedanken, und ich wandte den Kopf. Eine zierliche Gestalt, die in den bunten Röcken aus der dunklen Umgebung eindrucksvoll hervorstach, ließ sich soeben von Lord Alistair die Treppe hinuntergeleiten. Dies musste Lady Jeanne sein, die Tochter des Hauses, und zeitgleich die einzige.

Neugierig musterte ich sie; sie war eindeutig ziemlich hübsch; dünne Taille, schlanke Figur und eindeutig mit den richtigen Kurven an den richtigen Stellen. Die dunklen Haare bestätigten diesen Eindruck nur noch, und die hellbraunen Augen hatten etwas taxierendes, durchdringendes an sich, dass ich von der Meinung abrückte, sie mochte eines der Porzellanpüppchen sein, die man hier nur zu oft antraf. Gegen eine Nacht mit ihr hätte ich trotz allem nichts einzuwenden. 

Sie ließ den Blick über uns schweifen, schien die Gruppe genau zu untersuchen und zu zählen, ganz so, als würde sie erfahren wollen, was hier geschehen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Lord es ihr noch nicht erläutert hatte, und unwillkürlich wandte ich mich Lysanne zu; was ich sofort bereute, denn wieder packte mich das Entsetzen, plagte mich die Erinnerung an das Gefühl von toter Haut in meiner Hand. 

Das Gefühl von Ekel mischte sich unter die Angst.

Die Lady streifte im Vorübergehen mit ihrem weit ausschweifendem Rock mein Bein, und holte mich damit in die Wirklichkeit zurück.

Die klackernden Schritte verstummten allmählich, als Lady Jeanne vor Lysanne stehen blieb, und sich in der Runde umsah. Ihr Gesicht war eine undurchdringliche, gefasste Maske, die nicht einmal im Bruchteil einer Sekunde verrutschte. Somit hätten mich ihre Worte auch nicht mehr verblüffen sollen, doch diese kühle Art, eine Frage zu stellen, angesichts einer Leiche, war sogar für ihren Ruf zu viel.

,,Wo wurde sie aufgefunden?", wollte sie wissen. Ein Blick in die Runde zeigte mir, dass der Rest ebenso verblüfft war wie ich; mit Ausnahme Lady Lightwoods, die offenbar an sich halten musste, um die eigene Tochter für diese Unverschämtheit zu tadeln, und des Herrn des Hauses, dessen Mundwinkel für einen kurzen Augenblick zuckten, und dann wieder ernst wurden. So schnell, dass ich schwören könnte, ich hätte es mir eingebildet.

,,Mylady...", mischte sich nun ein Dienstbote ein, noch immer schockiert, doch offenbar darauf bedacht, die Frage der jungen Adeligen zu beantworten, ,,sie wurde im Wasser aufgefunden.", sagte er dümmlich. ,,Das sehe ich selbst!", fuhr sie ihn an, und ich war kurz davor, laut loszulachen. Der Rest schwieg, und plötzlich hatte ich das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Ich trat einen Schritt vor, nahm die Hand, die sie mir angeboten hatte, hauchte einen Kuss darauf und deutete mit einer kurzen Handbewegung auf meine Halbschwester. ,,Sie wurde im Teich aufgefunden, Mylady. Auf dem Rücken liegend, ein Schuh hatte sich an einem Nagel verhangen. Die Polizei wurde bereits verständigt.", klärte ich sie auf, und bemerkte, dass ich nun die ungeteilte Aufmerksamkeit besaß. Gut so. Ihre Mutter fand als erstes die Sprache wieder. ,,Und sie sind...?", fragte sie, und musterte mich wohlwollend. Natürlich. Ich trug die schlichten Kleider eines jungen Adeligen, da ich meine Robe, die mich als Musiker auswies, abgelegt hatte, um nicht unziemlich in Leinenhosen auf diesem Fest herumzulaufen. Sie musste mich für eine gute Parte halten- was ich jetzt allerdings auch war- denn durch den Tod Lysannes würde mir nun das gesamte Erbe der Hawtons zu fallen, und mich in die oberste Schicht katapultieren. 

Zumindest in einer Tatsache hatte dieses Biest einmal etwas gutes für mich getan. ,,Timothy Shepherd mein Name, Mylady", antwortete ich, neigte den Kopf und sank in eine kurze Verbeugung. Ihre Miene verhärtete sich, als ihr klar wurde, wer ich war. ,,Sie sind der Bastard der Hawtons?", fragte sie. Gott, sie nahm wirklich kein Blatt vor den Mund- und wurde unverschämt. ,,Ich bin der rechtmäßige Erbe der Hawtons, Mylady.", antwortete ich, bereit, ihr Grenzen aufzuzeigen; zu zeigen, dass ich ihr durchaus schaden konnte. 

 

,,Das wollen wir doch einmal sehen.", sagte mein Vater hinter mir.

 

Nicht auch das noch.

Nein.

Nicht schon wieder.

Da stand man vor einer Toten, und schon begannen zwei Menschen, sich um die Erbschaft zu streiten.

Vor der Toten, die noch nicht einmal unter der Erde lag, begann eine Diskussion über Vermögen, zu dem die Tote plötzlich einen Weg geöffnet hatte.

Ich selber hatte mich abgewandt, und widmete mich der Betrachtung Lysannes, während ich die zornigen Blicke um mich herum zu ignorieren versuchte.

Timothy Shepherd, wie sich der junge Mann vorgestellt hatte, durchbohrte seinen Vater, Lord Hawton, mit bösen Blicken, die dieser ebenfalls erwiderte. Meine Mutter durchbohrte abwechselnd mich, dann meinen Vater mit eben jenem Blick, die von Alistair ebenfalls zu mir gesendet wurden. Nebenbei warf Lord Hawton ebenfalls Lysanne einen bösen Blick zu, und ich fühlte mich, als würden um mich herum tausende Strahlen ausgesendet werden, denen ich ausweichen musste.

 

Das Unwohlsein der Dienstboten konnte man spüren, und ich und Vater schienen die einzigen zu sein, die keinerlei Partei ergriffen- möglichst neutral blieben.

Doch während mein Vater sich nun zu Lord Hawton gesellte, und ihm eine Zigarre anbot, machte ich mich auf den Weg in Richtung Haupttor, um die Gendarmen zu empfangen. Weiß Gott, wer und wie dieser Jemand diese bereits informiert hatte.

Seufzend stapfte ich weiter durch den Schlamm, darauf bedacht, durch keinerlei Fußspuren zu treten. Der Boden war vom letzten Regen noch aufgeweicht, und das Schmatzen, wenn sich ein Fuß vom Boden löste, war das einzige Geräusch, dass mich begleitete.

 

Die hohen Bäume neben mir rauschten im Nachtwind, und machten es mir unmöglich, durch ihre Schatten zu sehen. Schaudernd schlang ich das blaue Tuch enger um meine Schultern, und verdoppelte meinen Laufschritt.

 

Schon als Kind war mir dieser Park bei Dunkelheit nicht geheuer gewesen, und hatte mich immer an Monster erinnert, die unter den Bäumen lauerten, bereit, mich zu verschlingen, sobald ich einen unachtsamen Moment hatte.

 

Mittlerweile glaubte ich nicht mehr an Monster, doch trotzdem hatte sich offensichtlich diese Angst nicht gelegt; egal ob ich zwanzig, oder sechs Jahre alt war.

 

Als ich die Pförtnerloge sah, in der Licht leuchtete, verlangsamte ich meinen Schritt, und atmete tief ein. Walter war offensichtlich eingeschlafen- eine Zeitung und ein Glas Wasser neben sich, den Kopf schlafend auf den braunen Holztisch gelegt, während die Gendarmen-sechs an der Zahl-verzweifelt versuchten, mittels der Glocke seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

 

Ich grinste. Wie ich dank meiner häufigen nächtlichen Ausflüge durchaus wusste, würde nichts und niemand Walter aus seinem seligen Schlaf wecken- egal ob Gendarm, Klingel oder sonst jemand. Und das musste ich wohl am besten wissen- denn bei meiner ersten Rückkehr hatte ich das halbe Tor umgeworfen, als ich darüber geklettert war- der Lärm war ohrenbetäubend gewesen, und Walter war weiterhin im Land der Träume geblieben.

 

Langsam löste ich mich aus dem Schatten, öffnete die Tür und holte Walters Schlüsselbund hervor, den er, wie immer, an der Tür befestigt hatte. Ich hatte nicht lange gebraucht, um dies zu verstehen.

 

Leise, um Walter nicht doch zu wecken, verschwand ich wieder aus der Tür, und steckte den Schlüssel ins Schloss. Ein lautes Knacken war zu vernehmen, dann öffnete sich das Tor, und ich trat einen Schritt zurück, während die beiden Gesetzeshüter die Tore öffneten, und die Pferde an den Zügeln mit sich führten. Das erste, was mir an den beiden auffiel, war der Größenunterschied. Während der eine hochgewachsen und schlank war, war der ältere klein und füllig, was der riesenhafte Schnurrbart nur verstärkte.

,,Einen äußerst verschlafenen Portier haben sie da!", murmelte der größere der beiden, und innerlich verdrehte ich die Augen. Einen Gruß zu erwarten, dies wäre wohl zu viel gewesen. Schweigend nahm ich eine Laterne vom Haken, bevor ich lediglich mit dem Kopf nickte, und sie zuckersüß anlächelte.

,,Walter lässt geladene Gäste nie lange warten.", erklärte ich mit aufgesetzter Freundlichkeit, und lief stur weiter, während die beiden mir folgten. Innerlich beglückwünschte ich mich zu dieser so hübsch verpackten Beleidigung, die ich ihnen so gereicht hatte, dass sie nicht anders konnten, als diese anzunehmen. Zu gerne hätte ich die Reaktion der beiden gesehen, doch das Schnauben des einen genügte mir. Allerdings hätte jenes auch einfach von den beiden braunen Pferden stammen können, die ihren Besitzern brav folgten. So begnügte ich mich damit, den Kopf weit erhoben, unsere kleine Gruppe anzuführen, und verbat mir jegliche Anzeichen von Neugierde. Die Bäume allerdings schienen unter dem tanzenden Schein meiner Laterne lange nicht so gruselig, wie zuvor- was ich einerseits begrüßte, andererseits verfluchte, denn ich hätte zu gerne gesehen, wie beide Angesichts der Dunkelheit Schwäche gezeigt hätten.

 

Am Hauptgebäude angelangt, winkte ich einen der Stallburschen heran. ,,Bring doch bitte die Pferde der beiden Herren in den Stall und versorge sie, John!", befahl ich ihm, und er verbeugte sich. ,,Selbstverständlich, Mylady!", ich nickte zufrieden, würdigte John keines weiteren Blickes, sondern wandte mich nun doch plötzlich den beiden Herrschaften zu, die mir einen befremdeten Blick zuwarfen, den ich nur mit einem knappen Lächeln zur Kenntnis nahm. Sollten sie mich doch für unberechenbar, launisch und seltsam halten. ,,Folgen sie mir.", quittierte ich die fragenden Blicke, und setzte mich erneut in Bewegung.

 

Der Lichtschein der Laterne tanzte vor mir her, während ich mich in Richtung Bootshaus bewegte. Nach einigen Metern, in denen wir alle eisern geschwiegen hatten, erhob der ältere Gendarm schlussendlich das Wort: ,,Ist dies der Weg zum Fundort der Leiche?", fragte er, und ich konnte seine Klugheit nur bewundern. ,,Nein, dies ist der Weg zum Himmelreich.", erwiderte ich bissig, und schwieg weiterhin. Meine Abneigung stieg ob Cassys Erzählungen noch um einiges mehr, und der zungenlösende Alkohol tat sein übriges.

Ohne weiter auf die Anwesenheit der beiden Idioten einzugehen, traf ich schließlich am Steg ein, wo sich beide in Position begaben. Beinahe hätte ich die Augen verdreht, beherrschte mich jedoch noch rechtzeitig, um einem der dort aufgereihten Dienstboten die Laterne in die Hand zu drücken.

 

,,Guten Abend. Mein Name ist Comissioner Buts, und dies ist mein Assistent, Sergeant Johnson.", er räusperte sich, wurde jedoch von seinem Assistenten unterbrochen, dessen Blick entsetzt auf die Leiche vor sich fiel. ,,Ist... Ist... Ist das...", stotterte er entsetzt, und unterbrach damit die hochformelle Ansprache seines Vorgesetzten. All die Wichtigtuerei schien bei Lysannes Anblick von ihm abzufallen. Das ging ja schnell, dachte ich säuerlich, und begann ihm förmlich mit meinen Blicken aufzuspießen. Damit, wehrlose Frauen festzunehmen und sie einer Zwangsuntersuchung zu unterziehen schien ihn ja nicht im geringsten zu kümmern. Ich schnaubte leise und ballte die Hand zur Faust. Verfluchte Contagious Diseases Acts!

 

Der Gedanke an meine Zofe, wie sie dort vollkommen entblößt saß, reichte, um Mordfantasien in mir aufsteigen zu lassen. ,,Eine Leiche, Johnson, ja.", schnaubte Buts verächtlich, bevor er sich wieder der Gruppe zu wandte.

 

Als Johnson sich nun jedoch Lysanne nähern wollte, war es um mich geschehen. ,,Nehmen Sie gefälligst ihre dreckigen Finger von ihr!", schnaubte ich, und versperrte ihm den Weg. Die anderen nahmen keinerlei Notiz von mir, sondern waren damit beschäftigt, Buts mit Fragen zu bombadieren.

 

,,Wollen sie es wirklich wagen, einen Beamten aufzuhalten?", keifte er, was mich jedoch nicht im geringsten beeindruckte. Mir war jedes Mittel recht, um diesen Mann zu schlagen, egal ob verbal oder nicht. ,,Sie ist eine Dame von Stand!" ,fauchte ich, wütend wie eine Katze. Er ignorierte mich, doch wandte er sich nun seinem Vorgesetzten zu- ohne Lysanne anzurühren. Es fühlte sich wie ein Teilsieg an.

 

Trotzdem wollte meine Verachtung nicht verklingen, doch ich riss mich zusammen. Ärger mit der Polizei stand momentan nicht auf meinem Plan, wenn ich Lysannes Mörder finden wollte. Nein, da stand etwas ganz anderes auf meiner To-Do-Liste.

 

Und dafür benötigte ich einen gewissen Bastard.

Timothy

,,Nein!"

,,Doch!"

,,Nein, das ist doch Wahnsinn!", widersprach ich erneut, und verschränkte die Arme vor den Schultern.

Lady Jeanne tat es mir gleich, während sie mich mit ihren Blicken aufzuspießen versuchte.

,,Ich brauche einen Mittelsmann, der nicht sosehr auffällt.", hielt sie dagegen.

Ich schnaubte. ,,Ganz sicher werde ich nicht für die kleine Prinzessin auch noch Diener spielen!"

,,Doch, genau das wirst du!", fauchte sie zurück.

Ich seufzte angestrengt, und wandte mich ab. Ich war nicht mehr der kleine Junge von damals, der sich von den Damen herumkommandieren ließ. ,,Das ist Wahnsinn! Wenn das herauskommt, bekomme ich wirkliche Probleme! Die Polizei und mein Vater haben mich beide auf dem Schirm, und wenn ich jetzt auch noch beginne, mitzumischen, kann ich mich auch direkt ins Gefängnis setzen!", erklärte ich.

 

Sie öffnete den Mund, und schloss ihn wieder, wie, um Argumente zu sammeln. ,,Das wird nicht passieren.", antwortete sie lediglich. Ich verdrehte die Augen. ,,Träum weiter. Nur weil das in deiner schönen, heilen Welt so nicht abläuft, heißt das noch lange nicht, dass ich die selbe Art von Schutz habe!", zischte ich zurück, frustriert über ihre Gutgläubigkeit.

 

Aber die Lady verschränkte lediglich die Hände vor der Brust und zog eine Augenbraue nach oben.

,,Ach ja?", fragte sie.

Ich starrte sie an, bis die Schlussfolgerung bei mir einrastete. ,,Vergiss es! Ich brauche dein Mitleid nicht!", erklärte ich mit Nachdruck.

Sie schnaubte erneut auf. ,,Du bist der Erbe eines riesigen Vermögens, und erbst vermutlich sogar noch einen Adelstitel!", schnaubte sie, ,,Wenn ich keine Schwierigkeiten bekomme, dann du auch nicht!"

,,Du hast ja auch kein Motiv!", schleuderte ich ihr entgegen.

,,Eben deshalb sollten wir ja beweisen, dass du es nicht warst!", schoss sie zurück.

 

,,Genau, weil es mir so viel hilft, wenn ich jetzt auch noch beginne, mich in den Augen der Polizei verdächtig zu verhalten!", knurrte ich, bevor ich mich dazu zwang, ruhig zu bleiben.

 

,,Du sagst, ich wäre Erbe eines riesigen Vermögens.", versuchte ich sachlich zu bleiben, während ich ihr finstere Blicke entgegenschoss. Mir gefiel es gar nicht, wie sie versuchte, mich für ihre Zwecke einzuspannen; noch immer hatte ich nicht vergessen, wie dies einmal ausgegangen war. ,,Aber du hast meinen Vater ja gehört. Lieber vermacht er das ganze Vermögen an irgendeine Wohltätigkeitsorganisation, als an den eigenen, ungeliebten Sohn.", ich kam nicht umhin, dass der letzte Satz gegen Ende hin ziemlich verbittert klang.

Lady Jeannes Blick blieb unergründlich auf mich gerichtet; die braunen Augen taxierten mich, doch es war mir unmöglich zu erkennen, was in ihrem Inneren vor sich ging.

 

,,Wenn das so ist...", antwortete sie langsam, und ihr Blick richtete sich nach innen, ,,Wieso helfe ich dir nicht, dein Erbe zu bekommen, und im Gegenzug hilfst du mir?", fragte sie.

 

Ich starrte sie mit offenem Mund an, während ich versuchte zu verarbeiten, was sie mir da soeben angeboten hatte; versuchte zu verstehen, ob sie lediglich bluffte, oder die Wahrheit sagte.

,,Wie willst du das anstellen?", fragte ich schließlich.

,,Ich- lass das mal meine Sorge sein.", wich sie aus, was ihr einen misstrauischen Blick meinerseits einbrachte.

 

,,Deal?", fragte sie, und hielt mir die Hand hin.

Eher zögerlich schlug ich ein; war mir noch immer nicht sicher, woran ich war.

 

Lady Jeannes feste, kühle Finger schlossen sich um meine Hand, bevor ich schnell wieder losließ, als hätte ich mich verbrannt.

 

Sie strahlte, und schien meine Reaktion gar nicht erst zu bemerken.

,,Das wird toll!", brachte sie zu meiner Verwirrung lediglich hervor, bevor sie sich mit einem Strahlen verabschiedete.

 

,,Ich werde dich über weitere Schritte in Kenntnis setzen, Partner!", zwitscherte sie, bevor sie aus dem Zimmer verschwand.

 

Perplex starrte ich hier hinterher, und vergaß dabei ganz, zu fragen, wie sie dies denn plante.

 

Kopfschüttelnd widmete ich mich wieder meiner Tasche.

 

Irgendetwas sagte mir, dass diese Zusammenarbeit vielleicht doch ganz interessant werden würde.

Jeanne

Innerlich verfluchte ich mich dafür, ein so leichtsinniges Angebot gemacht zu haben. 

Abgesehen davon, dass ich wirklich nicht den geringsten Schimmer hatte, wie ich dies in die Hand nehmen sollte- außer ich würde vor Gericht ziehen, was mir als Frau so oder so nicht erlaubt war- hatte ich keine Ahnung, wie ich beginnen sollte. 

Holmes hatte am Tatort immer bestimmte Dinge gefunden, die ihm mehr verrieten; über die Person, das Vermögen, er konnte sogar eine Leiche untersuchen und sofort feststellen, woran sie gestorben war. 

Das war mir nicht möglich. Und Timothy auch nicht.

 

Der Bastard von den Hawtons- als kleine Kinder hatten wir häufig gemeinsam gespielt, wenn Mutter mit mir auf unserem Sommeranwesen gewesen war. 

Timothy war ziemlich genau genauso alt wie ich, und zwei Monate vor mir auf die Welt gekommen. Seine damals hochschwangere Mutter war der meinen von Lord Hawton als Hebamme empfohlen worden, und Timothys Mutter hatte nur zu gerne erzählt, wie sie mit dem kleinen Kind auf dem Arm damals zu meiner Geburt gerufen worden war- und man Timothy als Spielgefährten für mich ausgesucht hatte.

 

Der seichte Sommerwind zerzauste meine strenge Frisur, während ich, beide Hände auf der Brüstung des Balkons liegend, nachdenklich auf das Gelände unter mir blickte.

Ich konnte den Seerosenteich hinter dem kleinen Waldstück nur erahnen, und trotzdem kreisten alle meine Gedanken um den Mord, der sich in meinem Zuhause abgespielt hatte. 

 

Ebenso konnte ich die Präsenz meines Vaters hinter mir spüren, während wir beide stumm auf den Garten blickten.

Mein weißes Kleid war ein Spielball des lauen Sommerabends, wehte leicht um meine Fußknöchel und ließ die Bänder spielen, die mir das Kammermädchen lediglich zu einer leichten Schleife gebunden hatte.

Vater trat einige Schritte näher, und legte mir eine Hand auf die Schulter. Noch immer sprach er kein Wort, doch ich spürte die Wärme seiner Hände durch den dünnen Stoff.

Dann brach er plötzlich das Schweigen: ,,Ich habe deine Mappe gefunden.", sagte er mit tiefer, sonorer Stimme.

Alles in mir erstarrte, und ich spannte jeden Muskel in mir an, bereit wie ein Reh zur Flucht, bevor ich mich langsam umdrehte. ,,Es gibt so viel schönere Ecken als Oxford.", erklärte er, und starrte in den Himmel, auf den sich bereits die Dunkelheit gesenkt hatte.

 

Ich wählte meine Worte mit Bedacht. ,,In Oxford existieren bereits drei Frauencolleges, Vater", erklärte ich. Er schaute mich noch immer nicht an, bevor er weitersprach, ganz so, als hätte er mich nicht gehört.

,,Ich habe in Oxford studiert, und anschließend mein Examen in Cambridge abgelegt. Oxford ist ein Ort voller Hochstapler und voller Pöbel. Der gemeine Pöbel hat sich bereits in unserer alten Universität ausgebreitet, die unsere Vorfahren seit Jahrhunderten besucht haben.", knurrte er verächtlich, während ich ihn vollkommen baff anstarrte.

,,Cambridge hat sich auch einiges gefallen lassen müssen, aber dort werden zumindest noch die alten Sitten geachtet. Noch am ehesten eine Stadt für eine junge Dame.", sprach er beinahe schon ausdruckslos. Mein Mund öffnete sich noch ein Stückchen mehr, mehr als verblüfft über das Geständnis meines Vaters. ,,Auch wenn dir sicherlich klar ist, dass sich ein solches Studium sich ganz und gar nicht für eine Lady deines Standes schickt, denke ich, dass es möglich wäre, dich in Cambridge auf eines dieser neuartigen Frauencolleges zu schicken."

 

Allein die Betonung des Wortes Frauencollege zeigte ziemlich deutlich was er davon hielt, dass sich nun solche Institute bildeten. 

Kein Wunder, Nellie Blys Weltreise hatte auch er als sinnlosen Quatsch abgetan, der ,,mehr Kosten verschlang als es sich lohnte und die Zeit besser zur Suche eines Ehemanns nutzen sollte", wie er sich ausgedrückt hatte. 

Umso mehr überraschte mich diese Erlaubnis, die ich nie und nimmer von ihm erwartet hatte.

 

,,Aber", führte er das einseitige Gespräch weiter, ,,Ich und deine Mutter erwarten, dass du im Gegenzug deines erfüllten Wunsches im nächsten Jahr dich ernsthaft auf die Suche nach einem Ehemann begibst, und spätestens im Frühjahr nach dem Abschluss deines Studiums eine Verlobung vorweisen kannst, die sowohl unserer Familie als auch unseren politischen Interessen nicht schadet."

,,Aber Vater, ich...", wollte ich protestieren, doch Vater hob die Hand.

,,Mir und Mutter ist durchaus bewusst, dass du nicht gewillt bist, zu heiraten, doch wir erwarten dies von dir, und du solltest es als Gnade sehen, dass wir dir dieses Studium finanzieren, das dich und unsere gesamte Familie ins gesellschaftliche Abseits stellen könnte.", erklärte er und drehte sich um, bereit zum Gehen. Ich starrte für einen kurzen Moment auf den Rücken meines Vaters, bevor ich ihm hinterherstürzte, mich vor ihm am Türrahmen abstützte und nickte. ,,Ich mach das.", sagte ich.

 

Selbst wenn ich heiraten würde, was mir zwar sehr ungelegen käme, mir jedoch angenehmer als ein illegales Studium war, da ich ja immerhin immer noch der Vormundschaft meines Vaters unterlag, blieb mir immer noch die Scheidung und mein eigener Besitz.

Noch immer war ich froh, dass ich vor acht Jahren noch nicht geheiratet hatte- denn so war es mir jetzt nach dem Überarbeiten der neuen Gesetze möglich, als Ehefrau eigenen Besitz zu behalten; und somit eine gewisse Absicherung besaß. 

Hätte ich hingegen wie meine Mutter zuvor geheiratet, war bereits aller Besitz miteinander verschmolzen, und alles eigene Vermögen verschwunden.

 

Das Nicken meines Vaters war fast zu übersehen, doch es reichte, um mich beinahe in eine quietschende Debütantin zurück zu verwandeln, die sich fast kindlich über ein neues Ballkleid freute. Doch ich beherrschte mich- immerhin war dies in gewissem Sinne immer noch Korruption- und neigte im stillen Einverständnis meinen Kopf.

Mehr konnte er nicht erwarten.

Das war Erpressung.

Den Brief des Girton Colleges fest an meine Brust gedrückt kehrte ich in mein Zimmer zurück.

In dieser Nacht wurden meine Träume immer wieder von Examensprüfungen, Studentenwohnheimen und Universitäten heimgesucht.

Darüber, wie ich Timothy zu seinem Erbe verhelfen sollte, dachte ich kein einziges Mal.

Der nächste Tag begann damit, dass die Polizei mit einem riesigen Aufgebot anrückte, und den Bereich um unseren Gartenteich großzügig absperrte. Plötzlich wimmelte es auf unserem Anwesen nur noch von Polizisten, die Fragen stellten, in unseren Sachen wühlten und unser Anwesen durchsuchten.

Sie waren noch nicht einmal seit einem Tag hier, und sie gingen mir bereits jetzt auf die Nerven. Die Bediensteten waren noch aufgeregter als sonst, und ich hatte bereits mehrmals die Zimmermädchen erwischt, wie sie aufgeregt quatschten und wie aufgescheuchte Hühner umher eilten, um den Beamten schöne Augen zu machen.

Über Nacht hatte sich mein zuvor zumindest einigermaßen ruhiges Zuhause in ein Chaos verwandelt, dem ich nicht entfliehen konnte. Und anhand dieser Unruhe vergaß ich sogar meine Freude über die erlaubte Collegebewerbung.

,,Lady Jeanne?", unsere Hauswirtschafterin betrat das Zimmer. ,,Die Herrn Kommissare erwarten euch im Salon", erklärte sie, und trat dann einen Schritt zurück um mich durch die Tür treten zu lassen.

Normalerweise trug ich auf unserem Anwesen kein eng geschnürtes Korsett, sondern beschränkte mich meist auf luftige, lange und ungezwungene Kleider, doch angesichts der vielen Menschen, die mich in eben jenen unpassenden Kleidern sehen konnten, hatte mein Mädchen diese für als unpassend erachtet, und mich kurzerhand in ein schlichtes grünes Kleid mit hohem Kragen geschnürt, und dabei noch nicht einmal die Gnade besessen, zumindest die weißen Bänder des Kleides locker zu binden; und ich hatte wieder einmal das Gefühl, einen Stock verschluckt zu haben.

Das war zwar auch die Absicht eines Korsetts, doch das änderte nichts daran, dass ich in jenem Moment seinen Erfinder verfluchte. Und die Mode, die diese grauenvolle Unterbekleidung überhaupt erst eingeführt hatte.

Und so machte ich mich, noch immer innerlich eine Schimpftirade schwingend, auf den Weg nach unten, um der Polizei Antworten zu geben, die sie anscheinend dringend gebrauchen konnten.

♛ 

,,Ihr seid Lady Jeanne Lightwood?", begann der Polizist, der rechts auf dem violetten Sessel Platz genommen hatte, auf dem sonst häufig meine Nanny gesessen hatte, wenn ich mit meinen Schwestern spielte. Zu meiner Erleichterung waren es nicht die beiden, mit denen ich gestern Abend Spitzfindigkeiten ausgetauscht hatte, sondern zwei mir völlig unbekannte Männer, die zahlreiche Abzeichen an den Uniformen trugen. Der Blick des einen Polizisten zuckte kurz herüber zu meiner Anstandsdame, die hinter mir Platz genommen hatte, und allem lauschte, ohne eine Miene zu verziehen.  

,,Die bin ich", bestätigte ich mit einem knappen Nicken. ,,Mein Name ist Commissar Hall und das ist mein Assistent Sergeant Cunningham", stellte er sich kurz vor. Sergeant Cunningham begann bereits wild zu protokollieren. ,,Wären Sie doch bitte so freundlich, und würden uns für einen Moment mit der jungen Dame allein lassen?", wandte sich der Commissar höflich an meine Anstandsdame, die den beiden Männern einen kurzen, prüfenden Blick zu warf, um dann im angrenzenden Nebenzimmer zu verschwinden.

Laut fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, doch ich war mir sicher, dass weiterhin an der Tür stehen würde, jedem Wort lauschend, dass wir von uns geben würden.

,,Lysanne Hawton ist vergangene Nacht an einem Tod durch Ertrinken gestorben", erläuterte Hall. ,,Ihr wart zu der angegebenen Zeit am Tatort anwesend, und ein gewisser Timothy Shepherd hat die Tote aufgefunden. Daraufhin wurde Ihre Familie informiert, und Ihr habt anschließend den Tatort für kurze Zeit verlassen, um die Beamten zu empfangen. Stimmt das soweit?", fragte er.

Ich nickte etwas überrumpelt, und strich mir meinen Rock glatt- eine Angewohnheit, die ich von meiner Mutter übernommen hatte. Weil ich mir nicht ganz sicher war, was er erwartete zu hören, und räusperte mich kurz: ,,Ja, das stimmt", bekräftigte ich. Ich hatte langsam mein Selbstvertrauen zurückgewonnen, und reckte nun stolz das Kinn.

,,Wo habt Ihr Lady Lysanne das letzte Mal lebend gesehen?", fragte er. 

Ich überlegte kurz, bevor ich antwortete: ,,Zuletzt habe ich Lysanne im Ballsaal gesehen." Hall nickte, während sein Assistent eilig einige Notizen auf den Block vor ihm kritzelte. ,,Was hat sie zuletzt getan, als Ihr sie gesehen habt? Wirkte sie nervös, oder etwas ähnliches?", hakte Hall nach. Ich schüttelte den Kopf. ,,Ich habe nicht mit ihr gesprochen und bin ihr auch nicht näher gekommen. Ich habe sie lediglich flüchtig mit Helena am Buffet gesehen", erklärte ich.

Hall hob alarmiert den Kopf. ,,Was hat sie gegessen?"

Ich zuckte mit den Achseln. ,,Ich weiß es nicht"

,,Wer ist Helena?" 

,,Helena Grownstown, eine gute Freundin von ihr", erläuterte ich bereitwillig. 

Commissar Hall flüsterte seinem Sergeant kurz etwas zu, und begann nun ebenfalls etwas in sein kleines Notizheft zu kritzeln. Unsicher, was er jetzt erwartete, stand ich auf, als unser Dienstmädchen Mary das Zimmer betrat- und auf einem Silbertablett Teekanne und Tassen balancierte. Wir tauschten einen kurzen Blick, während sie das Geschirr verteilte, Tee eingoss und Gebäck abstellte. ,,In welchem Verhältnis standet Ihr zu Lysanne Hawton?", fragte Hall plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung. 

Ich öffnete vollkommen perplex den Mund, bevor ich ihn wieder schloss. Fast hätte er mich drangekriegt- und das auf die selbe Art und Weise, wie sie in den Groschenromanen stand, die ich mir manchmal heimlich auf dem Markt kaufte, und regelrecht verschlang.

,, Unser gegenseitiges Verhältnis war kompliziert", wich ich aus, in der Hoffnung, der Commissar würde nicht noch weiter fragen. Was er jedoch sehr zu meinem Leidwesen tat.

,,Definieren Sie kompliziert."

,,Sie war sehr... speziell."

,,Inwiefern speziell?", fragte er nun doch etwas ungeduldiger. 

Ich schwieg kurz, während ich überlegte, was ich antworten sollte. Meine Beziehung zu Lysanne war kompliziert gewesen- und gleichzeitig auch so einfach. Ich zögerte kurz, bevor ich die Wahrheit herauspresste, die seit ihrer Geburt zu existieren schien.

,,Lysanne und Helena waren schon immer sehr- beliebt, und gleichzeitig gefürchtet, wenn Sie verstehen, was ich meine", Hall nickte, während er mich unverwandt anblickte. 

Nervös spielte ich mit meinen Fingern, bevor ich weiterzureden begann: ,,Schon zum Debütantinnenball haben sie sich zusammengerottet, und gemeinsam die Außenseiter schikaniert. Wie ein Rudel Wölfe", ich holte kurz Luft, ,,besonders häufig haben sie Ida schikaniert, aber auch häufig die jüngeren Debütantinnen."

,,Wissen Sie warum?", hakte Hall nach.

Ich zuckte mit den Schultern. ,,Meistens ging es vermutlich um Kontakte und um Gefallen. Wer klug war, hat sich da gar nicht erst mit hineinziehen lassen, sondern immer Abstand gehalten, wenn man dem weiblichen Geschlecht angehörte."

,,Das erklärt dann wohl auch, warum wir so wenige Zeuginnen haben", murmelte er leise, bevor er sich erhob.

,,Vielen Dank für ihre Gastfreundschaft, Lady Lightwood. Wenn Ihnen etwas ungewöhnliches auffallen oder noch etwas einfallen sollte, dann melden Sie sich doch bitte umgehend bei mir."

Ich nickte, während Hall und Cunningham sich kurz verbeugten, und zur Tür hinauseilten.

,,Ach, Eins noch", fragte Commissar Hall und hielt im Türrahmen inne. ,,Sie meinten, Lysanne und Helena hätten besonders oft eine Lady in ihrem Umfeld schikaniert?"

Ich nickte. ,,Lady Ida Stafford", beantwortete ich die unausgesprochene Frage die in dem Satz mitschwang.

Der Commissar nickte, verbeugte sich ein letztes Mal, und verschwand aus der Tür.

Ertrunken also.

Autorennotiz

Ich möchte mich ganz herzlich bei allen bedanken, die mir bei dem Schreiben dieses Buches eine große Hilfe sind, und waren.
Das wunderschöne Cover (das ich leider nicht hochladen kann) stammt von -wunschdenker- auf der Plattform Wattpad.
Ein weiterer Dank gebürt V., der mit mir an dieser Geschichte lange geplottet und geplant hat.

Über aktive Leser freue ich mich sehr, und freue mich über jede Art von Feedback!
Danke!
-Sanfte

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Miras Profilbild
Mira Am 25.12.2021 um 12:21 Uhr
Hallo Sanfte,
Ich finde deinen Schreibstil wirklich hervorragend! Ich konnte mich wirklich in die Geschichte reinlesen und hatte das Gefühl, komplett in dem Geschehen zu stecken. Auch ist die Sprache, angesichts der Tatsache, dass alles in der Vergangenheit spielt, angemessen und wirklich gut imitiert. Ich freue mich auf das weitere Lesen!
Viele Grüße
Mira

Autor

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Bewertung

Eine Bewertung

Statistik

Kapitel: 8
Sätze: 611
Wörter: 11.385
Zeichen: 68.678

Kurzbeschreibung

Wer hätte gedacht, dass in dem kleinen, verschlafenen Sommerkurort Greensville ein solches Verbrechen geschehen könnte? Definitiv nicht Timothy Shepherd. Als einfacher Geigenspieler spielt er während der Saison auf den Bällen der reichen und mächtigen Adeligen, die sich im Sommer 1890 aus der Stadt zurückziehen, um auf dem Land nach Ruhe und Zerstreuung zu suchen. Doch die Idylle wird getrübt, als eine junge Lady tot aufgefunden wird.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Krimi auch in den Genres Thriller und Historik gelistet.