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Kapitel: | 10 | |
Sätze: | 2.934 | |
Wörter: | 31.887 | |
Zeichen: | 192.163 |
Die Luft war schneeklar an jenem Dezembermorgen 1895, als mich auf den Weg zur Fellburn Street 16 machte. Bittere Kälte stach mir ins Gesicht und ließ jeden Atemhauch zu einer weißen Dunstwolke gefrieren. In meinen fröstelnden Händen hielt ich noch immer die Zeitungsanzeige:
Biete Zimmer zur Untermiete (nur Frauen). Dachgeschosswohnung. Bad und Küche vorhanden. Telegramm Miss Charlotte Montan.
‚Dies musste ein Wink des Schicksals sein‘, dachte ich, als ich die Annonce vor wenigen Tagen entdeckte. Die letzten vier Monate hatte ich in einer billigen, heruntergekommenen Pension zugebracht. Und allmählich war ich es wirklich leid. Der nächtliche Lärm einer Nachbarin, die sich als Freudenmädchen verdingte, die beständige Gefahr, von herabfallenden Ziegeln erschlagen zu werden und von Schmutz gebräuntes Waschwasser waren nicht wirklich das, was ich von einer guten Herberge erwartete. Die Aussicht auf eine angenehmere Bleibe und etwas Gesellschaft in dieser mir fremden Stadt waren mir daher sehr willkommen. So beschloss ich, mir die Wohnung einmal anzusehen.
Hätte ich damals nur geahnt, wie sehr mein Leben sich nach dem Schritt über jene Schwelle wandeln sollte, hätte ich nur gewusst, welche Abenteuer mir bevorstanden, ich hätte auf dem Absatz kehrt gemacht oder nicht gezögert, den Weg zur Fellburn Street sogar zu Fuß zurückzulegen. Ich hätte den Kutscher auf halber Strecke angewiesen umkehren oder ihm befohlen, den Pferden die Sporen zu geben, nur um schneller anzukommen. Was immer ich auch getan hätte: Ich hätte eine viel klarere Entscheidung getroffen. Eine, die einer existenziellen Situation angemessen gewesen wäre. So aber galten meine Gedanken einzig und allein der Aussicht auf ein neues Heim, als ich auf der ausgekühlten Kutschbank Platz nahm.
Mein heißer Atem benetze die Scheiben und ließ mich die Welt vor dem Kutschenfenster wie durch einen Schleier sehen. Die verschneiten Häuser und rauchenden Schornsteine rauschten flüchtig an mir vorüber, während ich die letzten Monate Revue passieren ließ. Ich sah das Gesicht John Normans wieder vor mir. Das liebevolle Gesicht meines Johns, der als Erster mein wahres Interesse wecken konnte, weil er mich nicht nur höflich wie eine Dame, sondern ebenbürtig wie einen Freund behandelte und mehr zu bieten hatte als einen schönen Körper und viel Geld. Und das hässliche Gesicht Mr. Normans, der mich mit dem Verlobungsring in diese Stadt gelockt und dann mit einem flüchtigen Abschiedsbrief sowie ein paar Banknoten hatte sitzen lassen für eine Dienstmagd eines Cousins dritten Grades. Ein Mädchen von 17 Jahren, vier Jahre jünger als ich. Das alles lag nun ein knappes halbes Jahr zurück. Kummer, Wut und Ärger auf meine eigene Naivität quälten mich seitdem abwechselnd. Wie oft dachte ich in an die Worte meiner Mutter zurück. Sie hatte mich vor John Norman gewarnt. Seinen Antrag sprach er in ihren Augen zu leichtfertig aus. Heute könnte ich mich ärgern, nicht auf sie gehört zu haben. Doch was würde es ändern? Ich wusste, dass ich einen Fehler begangen hatte und dennoch zuhause immer willkommen sein würde. Doch Zurückzukehren kam für mich nicht in Frage, selbst wenn die Einsamkeit an mir zehrte, die Wut mich allmählich zu verbittern drohte und ich finanzielle Sorgen hatte. Zu groß war mein Stolz, um reumütig zu Kreuze zu kriechen und das Damoklesschwert unausgesprochener Schuldsprüche über mir zu spüren. So blieb ich in der Stadt und begann, meinen eigenen Weg zu gehen. In mancher Hinsicht hatte meine Zwangslage nicht einmal nur negative Seiten. Freiheit und Unabhängigkeit, niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, waren Dinge, die ich nie gekannt hatte. Noch waren die Zeiten alles andere als rosig, doch ich glaubte fest daran, dass wenn ich nur lange genug ausharren würde, sich die Dinge zum Besseren ändern würden. Und tatsächlich schien es allmählich aufwärts zu gehen: Seit drei Wochen hatte ich meinen eigenen Broterwerb, der mir neben dem Erbe meines Vaters meine Existenz sichern würde. Ich illustrierte für einen Verlag Bücher und Wochenzeitschriften – unter männlichem Pseudonym.
Der Fluss meiner Gedanken brach augenblicklich ab, als das Straßenschild Fellburn Street in mein Sichtfeld trat. Sekundenschnell hatte mich die Gegenwart dieses kühlen Wintermorgens wieder. „Anhalten, bitte“ rief ich laut, drückte dem Kutscher der Mietkutsche das Fahrtgeld in die Hand und sprang auf die Straße. Die Hausnummer 16 war ein mehrstöckiges Mietshaus, wie es sie in England zuhauf gab. Ein hübsches, altes Gebäude mit schneebedeckten Giebeln, die im Sonnenlicht glänzten. Bald schon hatte ich die Eingangstüre hinter mir gelassen und blickte die hölzerne Wendeltreppe empor. Das oberste Stockwerk war das sechste. Ich strich meinen dunkelblauen Mantel glatt, schüttelte die blonden Locken aus und betrat das Treppenhaus. Auf halber Strecke ergriff mich plötzlich ein seltsames Gefühl von Einsamkeit. Aus keiner Türe drangen Stimmen auf den Flur; nicht ein Geräusch, außer meinen eigenen, schallte über die Dielen. Im aufgewirbelten Staub, der im Schein der Oberlichter aufglomm, lag etwas Gespenstisches über diesen Räumen. Es schien, als ob das gesamte Haus leer stünde. Tatsächlich konnte ich an vielen Türen kein Namensschild erkennen. Endlich hatte ich das Dachgeschoss erreicht und entzifferte auf einem angelaufenen Messingschild die Worte Charlotte Montan. Ich atmete kurz durch und klopfte an die Türe.
Es dauerte einige Minuten, bis ich Schritte auf dem Flur vernahm. Doch als endlich geöffnet wurde, staunte ich nicht schlecht. Ich war mit der Erwartung, eine ältere Dame anzutreffen, in die Fellburn Street gefahren. Doch die Frau, die nun vor mir stand, war im Vergleich dazu erschreckend jung. Ich schätzte sie auf Ende 20 bis Anfang 30. Älter als 35 konnte sie keinesfalls sein. Wie ich später erfuhr war Miss Montan genau 30 Jahre alt. Ihre Aufmachung wirkte recht eigenwillig auf mich. Weder trug sie Schmuck noch hatte sie ihr Gesicht gepudert, wie andere Frauen es zu tun pflegten. Sie war von sehr zierlicher Gestalt: klein und schlank, das genaue Gegenteil zu mir. Ihr offenes, symmetrisches Gesicht wurde umrandet von dünnen, dunkelbraunen Locken. In ihren schwarzen, schimmernden Augen schien sich ein großer Geist zu spiegeln, so klar und wach war ihr Blick. Auf ihre eigene Art besaß diese Frau eine gewisse Schönheit, obgleich ihre schlichte Erscheinung alles zu verpönen schien, was man unter weiblichem Liebreiz verstand. Plötzlich beschlich mich das merkwürdige Gefühl, dass ich ihr schon einmal begegnet war. Doch ich konnte mich beim besten Willen nicht entsinnen, wann und wo dies gewesen sein sollte.
Dies war mein erster Eindruck von Charlotte Montan und ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich dieser ungewöhnlichen Frau das erste Mal gegenüberstand und den Fuß über die Schwelle ihrer Wohnung setzte, noch unwissend, dass ich hier niemals wieder ausziehen würde, ohne einen Koffer voller Erinnerungen mitzunehmen, die für ein ganzes Leben ausreichen würden.
„Guten Tag, Elizabeth Whibby, ich komme wegen des Zimmers“, sagte ich eilig meinen Text auf.
Für einen Augenblick runzelte Miss Montan die Stirn. Konnte sie sich nicht an unsere Telegramme erinnern?
„Ach, Miss Whibby“ sprach sie schließlich, „das Mädchen aus dem East-End“. Ich nickte.
„Verzeihen Sie, Ich hatte Ihren Termin ganz vergessen. Kommen Sie doch herein“, bat mich die Frau mit einer einladenden Geste in die Wohnung. Es war die merkwürdigste, die ich je betreten hatte. Nicht nur die Unordnung stach mir sofort ins Auge, als mich Miss Montan durch die Räume führte. Immer wieder entdeckte ich Gegenstände, die ich überall, doch niemals in der Wohnung einer alleinstehenden Frau vermutet hätte. Ein Zimmer fiel mir besonders ins Auge, als Miss Montan die Türe öffnete und ich staunend im Türrahmen stehenblieb. Es war bis auf ihr eigenes Schlafzimmer der letzte Raum der Wohnung. In einer Ecke stand ein kleiner Tisch, auf dem ein Flammenwerfer, etliche Reagenzgläser und eine Kerze Platz fanden. Auf dem Boden daneben lagerte eine aufgeklappte Holzkiste, in der sich eine Lupe, eine Pipette und noch viele weitere Gerätschaften befanden. Ein schmales Regal voller Flakons mit merkwürdigen Flüssigkeiten und Pulvern hing darüber. Fast kam ich mir vor wie im Laboratorium eines Wissenschaftlers. Auf den Dielen waren noch die Reste halbverwischter Kreidespuren zu sehen, neben denen ein Zettel voller Notizen lag, die für mich keinen Sinn ergaben. Die Wand, von der bereits der Putz herab bröckelte, war regelrecht tapeziert mit Zeitungsausschnitten, die sich bei näherem Hinsehen als Berichte über Kriminalfälle erwiesen. Erpressungen, Diebstähle, ja sogar Morde waren darunter. Die Mitte dieses Wustes zierte eine Karte der Stadt, auf der mit Stecknadeln verschiedene Orte markiert waren. Nur eine grüne Couch auf der anderen Raumseite, auf der eine pummelige, graugescheckte Katze döste, war an diesem Zimmer gewöhnlich. Überrascht und unschlüssig, was ich von all diesen Dingen halten sollte, blieb ich für einige Sekunden still im Türrahmen stehen. Ein beklemmendes Gefühl schnürte mir die Kehle zu. Was hatte dies zu bedeuten?
Miss Montan war bereits eingetreten. „Dies wäre Ihr Zimmer, die Sachen werden natürlich noch heraus geräumt“, erklärte sie nüchtern, während sie sich langsam zu mir umdrehte.
„Mein Zimmer?!?“, antwortete ich geistesabwesend, „aber was ist…“
„Oh, nur eine kleine Schwäche meinerseits, nichts Weltbewegendes“, fiel sie mir ins Wort, „Sie haben selbst schon einmal Bekanntschaft damit gemacht“.
„Was?!?“, fuhr ich erschrocken zusammen und starrte ihr geradewegs in die dunklen, klaren Augen. Plötzlich wusste ich wieder, wo mir diese Frau schon einmal begegnet war.
Es war vielleicht ein paar Wochen her, als mir nicht weit von meiner Pension im East End meine Handtasche gestohlen wurde. Die Abenddämmerung war gerade hereingebrochen, als ich eine schmale, schattenverdunkelte Seitengasse betrat. Plötzlich tauchten wie aus dem Nichts zwei Männer hinter mir auf. Ich trug immer eine Waffe bei mir, wissend, dass ich in einer gefährlichen Gegend lebte. Doch der Angriff kam zu überraschend. Innerhalb weniger Sekunden hatten sie mir die Tasche entrissen. „Diebe, Diebe“ schrie ich so laut ich konnte durch die Dunkelheit. Doch die Gasse war leer. Niemand hörte mich. Eilig rannte ich dem Pack hinterher, doch meine Füße trugen mich nicht schnell genug voran. Bald schon würde ich die Bande verloren haben. Doch da plötzlich, ein Stolpern, ein unsichtbares Seil über die Gasse gespannt und die Männer lagen im Staub. Eine Sekunde, zwei Sekunden vergingen, dann bogen plötzlich drei Polizisten um die Ecke. Handschellen blitzen auf. Einer der Herren führte die beiden Diebe ab. Ich konnte meinen Augen nicht trauen.
„Ist das Ihre Tasche, Madam?“ rief mir einer der verbleibenden Wachmänner zu.
„Ja, ja“, antwortete ich, noch völlig durcheinander. Mir der Stolperfalle bewusst, trat ich den Polizisten langsam entgegen. Doch es war seltsam, mit keinem Schritt stieß ich dagegen.
„Das war ein sehr geschickter Zug mit dem Seil, woher…“, begann ich zu sprechen.
Da sah ich, wie die Männer einen fragenden Blick austauschten. Ungläubig starrte ich sie an und begann die Geschichte zu erzählen. Die Züge der Polizisten verwandelten sich in pures Erstaunen. „Miss, ich glaube Ihr Dank gilt nicht uns“, unterbrach mich einer der Herren schließlich, „Wir erhielten lediglich eine anonyme Nachricht durch einen Gassenbuben, dass hier ein Raubüberfall stattgefunden hätte und machten uns sofort auf den Weg. Das ist eine Viertelstunde her“.
Ich konnte nicht glauben, was ich hörte. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich davon ausgegangen, soeben Zeugin eines geschickten Polizeimanövers geworden zu sein. Blitzschnell wurde mir klar, dass wer auch immer jenen Gassenbuben losgeschickt hatte, über den Beutezug der beiden Taschenräuber genauestens Bescheid gewusst haben musste. Es schien an ein Wunder zu grenzen, dass sein Plan auf die Sekunde aufgegangen war. Vielleicht hatten wir es mit einem abtrünnigen Bandenmitglied zu tun? Am Gesichtsausdruck der beiden Polizisten erkannte ich, dass sie ähnliches dachten. Sofort begannen wir die Gasse abzusuchen. Doch nichts! Nichts war zu finden! An der Stelle, an der es über die Gasse verlaufen sein musste, befand sich auf einer Seite eine dunkle Nische zwischen zwei Häusern. Ein ideales Versteck für ein solches Manöver. Doch war der Boden dort von Schlamm bedeckt und kein einziger Fußabdruck war zu sehen. Eine andere Möglichkeit, unentdeckt ein Seil über den Weg zu spannen, gab es nicht. Keine Tür, kein Fenster zeigte zur Gasse. Vielleicht war das Seil schon vorher gespannt worden und die Wucht des Aufpralls hatte es zerrissen? Zumindest glaubte dies einer der Polizisten. Also suchten wir jeden Winkel nach Fetzen eines Seils ab – abermals vergebens. Vom Seil und vom geheimnisvollen Unbekannten fehlte jede Spur. Fast schien es so, als wäre es blitzschnell eingeholt worden – und all das innerhalb weniger Minuten. Ich erschauerte. Allmählich wurde die Sache wirklich unheimlich. Jagten wir ein Phantom? Da sich weder ich noch die Polizisten einen Reim auf die Vorkommnisse machen konnten, blieb mir letztendlich nichts übrig, als in der Freude, dass alles glimpflich ausgegangen war, den Heimweg anzutreten. So setzte ich also meinen Weg durch die Gasse fort. Als ich wenig später wieder an eine größere Straße kam, war es bereits dunkel geworden. Die Gegend war nun menschenleer und nur vereinzelt huschte hier und da eine Gestalt über die Bürgersteige. In Gedanken versunken ging ich hinaus auf den Gehweg und bog um die Ecke. Zeitgleich trat aus der Türe des ersten Haus eine Frau auf die Straße. Ihr Blick war starr auf eine silberne Taschenuhr in ihrer Hand gerichtet, ihr zierlicher Körper von einem dunklen Mantel umschlossen. Fast wären wir zusammengestoßen, da keine so die andere bemerkte. Sofort zuckte ich zusammen. Der Schreck saß mir noch im Nacken. Dann trafen sich plötzlich unsere Blicke. Und nun sah ich es zum ersten Mal, das tiefe, klare und durchdringende Schwarz, in das ich auch jetzt blickte.
Ein plötzliches Schwächegefühl schoss augenblicklich in meine Glieder. Bleich und atemlos sank ich auf die grüne Couch nieder.
„Dann sind Sie also meine rätselhafte Helferin?“ schlussfolgerte ich verblüfft.
„Wenn Sie es so nennen möchten, ja“, entgegnete die Geheimnisvolle, während sie einige Sachen auf dem Tisch ordnete. Plötzlich erinnerte ich mich, wie Charlotte Montan mich an der Türe empfangen hatte ‚Ach Miss Whibby, das Mädchen aus dem East-End.‘ Schlagartig wurde mir die wahre Bedeutung ihrer Worte bewusst. Zutiefst verunsichert und zugleich völlig überwältigt, starrte ich sie an.
„Wie haben Sie das gemacht, Miss Montan, ich meine, wie kann es sein, dass… ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet“, stammelte ich verwirrt, unfähig auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
„Keine Ursache, Miss Whibby, ich tat es gerne“, antwortete meine Retterin, blickte auf und lächelte. „Doch ich hoffe, Sie verstehen“, setzte Sie mit ernster Miene fort, „dass ich Ihre Frage nicht beantworten kann. Das Geheimnis ist wie ein schützender Mantel, den meine Arbeit immer erfordert“. Ich verstand nur die Hälfte von dem, was sie sagte. Doch beschlich mich auf einmal das unweigerliche Gefühl, dass sich hinter der kleinen Schwäche weit mehr verbarg, als ich zu begreifen fähig war. In was für eine seltsame Geschichte ich doch geraten war! Da wollte ich nur eine Wohnung besichtigen und stand auf einmal meinem geheimnisvollen Helfer gegenüber.
„Sollten Sie das Zimmer nehmen, hätten Sie natürlich vollkommen Ihre Ruhe vor mir.“, setzte Miss Montan unbeeindruckt fort, „Ich bin nicht auf der Suche nach einer Gesellschafterin. Wenn es meine finanzielle Lage nicht erfordern würde, würde ich das Zimmer nicht vermieten. Miss Bastet allerdings“, sie blickte zur Katze, die neben mir noch immer friedlich döste, „dürfte über ein wenig Gesellschaft sicherlich erfreut sein. Ich hoffe, Sie mögen Katzen.“
„Mögen, Miss Montan? Ich liebe Katzen!“ brach es aus mir hervor. Augenblicklich hatte ich die Merkwürdigkeiten unserer Begegnung vergessen. Als ob sie uns gehört hätte, begann sich die Katze plötzlich zu räkeln, kam ein Stück näher und kuschelte sich schnurrend an mich.
„Nun, wie ich sehe, scheint zumindest von Miss Bastets Seite aus einem Mietvertrag nichts im Wege zu stehen“, antwortete Miss Montan. Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Die Beklemmung, die ich in diesem Zimmer anfangs empfand war einem Gefühl bester Laune gewichen.
Da ich noch einige Fragen zur Wohnung hatte, bat Miss Montan mich ins Wohnzimmer, um bei einer Tasse Kaffee die Angelegenheiten in Ruhe zu besprechen. Es war ein schöner, großer Raum. Im Kamin prasselte und zischte das Feuer in allen Schattierungen und wohlige Wärme durchdrang das Zimmer. Vor den hohen Fenstern rieselten unablässig Schneeflocken zur Erde. Tief ließ ich mich in den bequemen Sessel sinken, den mir die Hausherrin anbot, und fühlte mich sofort geborgen. Das Gespräch neigte sich dem Ende, als Miss Montan mich fragte, ob ich mir vorstellen könne, hier einzuziehen.
„Die Lage und der Preis stimmen für mich“, antwortete ich wahrheitsgemäß, „ich werde es auf jeden Fall näher in Betracht ziehen“.
„Gut“, antwortete Miss Montan und trat ans Fenster. „Und es stört Sie auch nicht, dass einige Dinge hier sonderbar sind?“
„Nicht im Geringsten“, antwortete ich und fühlte mich ertappt. Miss Montan drehte sich um, ihre durchdringenden, schwarzen Augen musterten mich genau. Schamesröte trat mir ins Gesicht.
„Gibt es denn viele Interessenten für das Zimmer?“, fragte ich hastig.
„Nein, Sie sind die einzige“, antwortete Miss Montan mit einem vielsagendem Blick und schenkte mir Kaffee nach.
„Die einzige?“, fragte ich erstaunt. Die Lage war gut, die Wohnung hübsch und die Miete niedrig. Eigentlich hätten die Interessentinnen bei ihr Schlange stehen müssen. Doch dann fiel mir wieder jene merkwürdige Stille ein, die das Haus erfüllte.
„Das hier scheint ohnehin ein sehr ruhiger Ort zu sein“, sprach ich weiter, „als ich zu Ihnen heraufkam, herrschte im gesamten Treppenhaus eine andächtige Stille, ich fühlte mich fast wie in einer Kapelle. Ihre Nachbarn scheinen wohl auf Reisen zu sein oder ziemlich verschwiegen zu sein“ „Weder noch“, antwortete Miss Montan kühl, „Das Haus steht so gut wie leer und dies wird sich auch nicht ändern“.
„Wie das?“, fragte ich verwundert. Und nun begann Miss Montan mir die Geschichte des „Fellburn Fluchs“ zu erzählen.
„Vor etwa zwölf Jahren war das Haus noch vom Keller bis zum Dachboden vermietet. Zog eine Partei aus, standen die Nachmieter schon am nächsten Morgen mit gepackten Koffern vor der Türe. Doch dann ereignete sich eine schrecklich Tragödie Im vierten Stock wohnte ein junger, aufstrebender Geschäftsmann, der gute Chancen hatte, einen hohen Posten in der Firma eines entfernten Verwandten zu erwerben. Frisch verlobt war er im Begriff, ein Nest für seine zukünftige Familie einzurichten. Doch die Firma wurde durch die Misswirtschaft dieses unfähigen Industriellen in den Ruin getrieben und er verlor seine Anstellung. Das Mädchen, das er ehelichen wollte, stellte sich als Heiratsschwindlerin heraus und wurde eines Tages in Handschellen abgeführt. Vor den Scherben seines Lebenstraums stehend und mit der Mietkündigung in der Hand vergiftete sich der Unglückliche in einer Frühlingsnacht mit einer Überdosis Laudanum. Die Wohnung übergoss er mit Petroleum. Das ausgebrochene Feuer griff auf die Nachbarwohnung über und riss das schlafende Kind einer jungen Familie mit in den Tod. Seitdem geht im Hause das Gerücht um, dass nachts der Geist des jungen Mannes mit einem Baby auf dem Arm durch das Treppenhaus wandele um die Eltern des Kindes zu finden, das durch seine Tat umgekommen war, es ihnen zurückzubringen und die Sache somit rückgängig zu machen. Über die Jahre hinweg zog eine Partei nach der anderen aus und neue Mieter, die von dem Gerücht hörten, verließen das Haus quasi noch auf der Schwelle stehend.“
Der Ruf des Hauses hatte sich schon bald im Viertel herumgesprochen, berichtete Miss Montan weiterhin und es kamen erst gar keine neuen Interessenten mehr, um die leer stehenden Wohnungen zu besichtigen. Mr. Thomson, der Eigentümer, begann sie irgendwann zu einem Spottpreis als ungewöhnliche Lagerstätten an Fabriken zu vermieteten. Die Einzigen, die noch im Haus wohnten, waren entweder nicht in der Lage dazu, es zu verlassen oder aber in irgendeiner Weise an den Umgang mit Geistern gewöhnt. Da gab es Mr. Thomson selbst im Erdgeschoss, der aus nachvollziehbaren Gründen die Gerüchte herunterspielte, doch dem nicht selten Schweißperlen auf die Stirne traten, wenn in einer stürmischen Herbstnacht der Wind an den Fensterläden rüttelte. Da gab es die alte Mrs. Hallay im Souterrain, die nicht nur bezeugte, dass der Geist ein armer Junge sei, der von tiefen Schuldgefühlen geplagt wurde, sondern auch jede Nacht mit ihrem längst verstorbenem Ehegatten Schach spielte und gegen ein kleines Entgelt jungen Damen aus Spielkarten vorhersagte, wann sie heiraten würden. Da gab es im zweiten Stock Edgar Willow, den ehemaligen Totengräber, der angesprochen auf den Hausgeist immer nur antwortete, bei dem, was er in seinem Beruf erlebt hätte, könne ihn so ein Geist auch nicht mehr erschrecken und da gab es natürlich noch Miss Montan im Dachgeschoss.
„Haben Sie denn keine Angst, hier zu leben? Die Geschichte klingt ziemlich unheimlich“, fragte ich neugierig.
„Nein“, antwortete Miss Montan entschieden, „ich glaube nicht an solche Spukgeschichten. Es gibt für alles eine rationale Erklärung. Ich wählte die Fellburn Street bewusst wegen der Ruhe und Abgeschiedenheit hier oben. Nichts ist störender als neugierige Nachbarn“.
Ich spürte, dass Miss Montan mir nicht die ganze Wahrheit erzählte. Es musste noch einen wichtigeren Grund geben, warum sie sich genau für diese Wohnung entschieden hatte. Doch dieser Grund lag tief hinter den Schatten ihrer schwarzen Augen verborgen.
„Und Sie, Miss Whibby“, fragte sie plötzlich, „Würden Sie sich in einem Geisterhaus fürchten?“ Ich dachte kurz nach. Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus. Wie der Geist mit dem Kind auf dem Arm durchs Treppenaus irrte, es war gruselig. Doch irgendwo hatte die Vorstellung auch etwas schauderhaft Inspirierendes an sich. Ich liebte Geschichten, die mich in Spannung versetzen konnten. Und Trotz aller Angst hatten gefahrenvolle und unheimliche Orte ihren besonderen Reiz. Die großen Fenster, durch die das Sonnenlicht ins Zimmer strömte, boten zudem ideale Lichtverhältnisse zum Zeichnen.
„Nein, ich glaube nicht“, antwortete ich bestimmt. In diesem Moment fiel mein Blick auf eine hölzerne Uhr auf dem Kaminsims. Die goldenen Zeiger waren entsetzlich weit vorangekommen.
„Ich glaube, es wird Zeit für mich, zu gehen“, sagte ich ruhig und machte mich bereit zum Abschied, „Ich danke Ihnen sehr für Ihre Offenheit und nette Bewirtung, Miss Montan. Es hat mich sehr gefreut. Was das Zimmer angeht, würde ich gerne noch einmal in Ruhe darüber nachdenken und Ihnen dann meine Entscheidung telegraphieren, falls Sie sich mich als Untermieterin vorstellen könnten“.
„In Ordnung“, antwortete mir die Hausherrin und brachte mich zur Türe. Als ich im Begriff war ins Treppenhaus zu treten, fiel mir plötzlich auf, wie sonderbar gelassen sie auf die merkwürdigen Umstände unserer Begegnung reagierte. Es schien sie nicht im Geringsten irritiert zu haben, dass ausgerechnet ich ihre Interessentin war. Fast kam es mir so vor, als nähme sie den seltsamen Zufall als Alltäglichkeit hin.
„Ist es nicht erstaunlich, dass wir uns so wieder begegneten?“, bemerkte ich auf der Türschwelle, „welch merkwürdigen Zufälle es gibt. Hat Sie das nicht auch verwundert?“
„Nicht lange“, antwortete Miss Montan knapp. Ich warf ihr einen fragenden Blick zu. „Über Zufälle, wie Sie es nennen, wundert man sich nur, wenn man zu wenige Fakten bedenkt“, begann sie zu erklären, „Als ich mich auf die Suche nach einer Untermieterin begab, begann ich im HighPark Telegraph zu inserieren, wo ja auch Sie meine Annonce entdeckten. Die Zeitung ist vor allem bei bürgerlichen Frauen sehr beliebt. In Vierteln wie Morland, Westchurch und vor allem Highpark“, sie formte mit den Händen einen Kreis, der das Haus und seine Umgebung zu umfassen schien, „leben die meisten Leserinnen. Nun erhielt ich aber ein Telegramm von einer Poststation im East-End. Da nur wenige Arbeiterinnen den Highpark Telegraph lesen, konnte meine Interessentin eigentlich nur eine bürgerliche Frau sein, die aufgrund einer Notlage dort wohnte. Natürlich leben im East End nicht viele solcher Frauen. Und auch gibt es im Viertel nur drei Zeitungsstände, die den Highpark Telehgraph führen. Der größte von ihnen ist Mr. Pillows Corner in der Springbreak Street. Ich denke, Sie kennen ihn gut. Denn er liegt nur ein paar Schritte von der Gasse entfernt, in der die beiden Männer Sie überfielen. Sie, die mit ihrer eleganten Erscheinung nicht ins East End zu passen schienen und sich dennoch so sicher durch die Straßen bewegten, als würden Sie die Gegend gut kennen. So gut, wie jemand, der ganz in der Nähe wohnt. All diese Zusammenhänge erfassend, wusste ich augenblicklich, dass es eigentlich nur eine Frage der Zeit gewesen war, bis Sie vor meiner Türe stehen würden. Kommen Sie gut nach Hause, Miss Whibby und lassen Sie mich bald Ihre Entscheidung wissen“. Sie lachte, winkte mir freundlich zum Abschied und schloss die Türe.
Völlig überrumpelt und unfähig einen klaren Gedanken zu fassen blieb ich minutenlang im Treppenhaus stehen und starrte auf das Türschild. Charlotte Montan stand dort geschrieben. Doch in geisterhafter Schrift fügte eine Hand vor meinem inneren Auge diesen Worten noch zwei weitere hinzu: Charlotte Montan. Allwissendes Genie. Im Sonnenlicht, das durch das runde Dachfester fiel und sich mit der Dunkelheit zu bizarrem Zwielicht vermengte, wusste ich nicht mehr, ob es Illusion oder Wirklichkeit war, was ich dort las.
Endlich riss ich mich los und visierte zielstrebig die Treppe an. Der Staub im Treppenhaus raubte mir die Luft. Erst im Innenraum der Mietkutsche konnte ich tief durchatmen. Neben den Rädern flohen im Schnee noch immer meine Fußspuren die Straße herab. Meine Gedanken drehten sich wild im Kreis. Wer war diese erstaunliche Frau? Wie konnte sie mich so schnell durchschauen? Ich war fasziniert, beunruhigt, überwältigt. Die Erlebnisse mit Miss Montan hatten etwas in mir angestoßen. Stunden und Tage vergingen, in denen ich meine Gedanken zu ordnen versuchte.
Sollte ich tatsächlich in die Fellburn Street ziehen? Miss Montans schien mich als Untermieterin bereits akzeptiert zu haben. Es hing also nur noch von meiner eigenen Entscheidung ab. Die Befremdung, die jene zierliche Frau mit den durchdringenden Augen in mir auslöste, ließen mich zögern. Und auch der Fluch des Hauses stimmte mich nicht unbedingt willig, dort einzuziehen. Doch gab es auch noch die andere Seite in mir. Eine Seite voller Abenteuerlust, die sich nach dem Rätsel und dem Aufregenden sehnte. Das Geheimnisvolle, welches das Haus und seine Dachbewohnerin umgab, zog mich magisch an. Miss Montans sonderbare Aura und ihr scharfsinniger Verstand reizten mich auf ihre Weise. Jenseits aller Vorsicht war ich erfüllt von Neugier und Entdeckerfreude und der Gedanke, endlich etwas menschliche Gesellschaft zu haben, kam mir wie das Erwachen aus einem langen Alptraum vor. Im Schein dieser mächtigen Antriebe verblassten allmählich alle Schatten und Zweifel.
Nur wenige Tage später rauschte eine Kutsche beladen mit meiner Staffelei, mehreren Koffern und einer schweren, hölzerne Kiste, über das klirrende Eis die Straßen vom East End zum Highpark hinauf. Mister Thomson und Mister Willow halfen mir, meine Sachen in die Wohnung zu bringen. Der Staub, der zu diesem Treppenhaus zu gehören schien wie die hölzernen Stufen, zerfuhr im Sonnenlicht zu kleinen Wirbeln, als die beiden Männer die Kiste zum Dachgeschoss hinauf hievten.
„Sie ziehen also zu Miss Montan, Miss…“, fragte mich Mister Willow,
„Whibby“ ergänzte ich.
„Na da haben Sie sich ja ne schöne Bleibe ausgesucht. Ich hoffe, Sie haben starke Nerven. In dem Haus hier spukt es, sagt man sich zumindest auf der Straße“.
„Miss Montan hat mich schon vorgewarnt. Doch ich kann Sie beruhigen, Mister Willow, sollte ein Geist mich jemals nachts in meinem Zimmer aufsuchen… nun ja, ein Standspiegel ist doch immer ein nützliches Möbelstück“, antwortete ich feixend.
Mister Willow lachte laut auf.
„Oh ho, Miss Whibby, Sie haben wirklich Humor! Ich hoffe, Sie amüsieren uns noch öfter“
Mr. Thomson lachte ebenfalls. Der Vermieter war zwar zurückhaltender, doch nicht weniger sympathisch als Mr. Willow. Kurz nachdem auch die Staffelei heraufgebracht worden war, erschien auf der letzten Treppenstufe auf einmal die grauhaarige Mrs. Halley in ihrem dunklen Witwenkleid. Sie hatte durch das Kellerfenster gesehen, wie die Kiste ins Haus gebracht worden war und war heraufgekommen, um nachzusehen, was los sei. Als die Männer mich als neue Nachbarin vorstellten, schüttelte sie mir freundlich die Hände: „Herzlich Willkommen in der Fellburn Street, Miss Whibby, Mrs. Hallay mein Name, ich hoffe, Sie werden sich hier wohlfühlen. Wissen Sie, wir sind nicht allein in diesem Haus, manchmal…“
Ich warf Mr. Thomson und Mr. Willow einen kurzen Blick zu, den die beiden lächelnd erwiderten. „Ich weiß schon Bescheid, Mrs. Halley, vielen Dank für Ihre herzliche Begrüßung“, entgegnete ich dann.
Die alte Dame lächelte. „Wenn Sie einmal etwas mehr über Ihre Zukunft wissen möchten, so kommen Sie mich doch einfach besuchen. Ich freue mich immer über Besuch“.
„Das werde ich“, versprach ich. Und tatsächlich kam ich sie öfter besuchen. Ihre Dienste nahm ich jedoch nie in Anspruch. Bald trat die betagte Wahrsagerin ihren Rückweg an. Die beiden Männer schlossen sich ihr an. Ich schaute der Gruppe für einen Augenblick hinterher. Nun hatte ich alle Nachbarn an einem Tag kennengelernt und alle schienen sie recht nett zu sein. Gemeinsam trugen Charlotte Montan und ich unter dem aufmerksamen Blick leuchtender Katzenaugen noch die letzten Koffer in mein Zimmer. Dann folgte ein leises Knarren und mein Sichtfeld auf den Flur schloss sich. Nun war ich alleine.
Die ersten Wochen in der Fellburn Street waren nicht leicht für mich. An die Abgeschiedenheit meines neuen Domizils musste ich mich erst gewöhnen. In meinem Zimmer in East End gab es kaum eine ruhige Minute. Die Wände waren dünn wie Papier und das Haus völlig überfüllt gewesen. Lärm war dort mein ständiger Begleiter. Hier hingegen umgab mich Tag und Nacht jene gespenstische Stille eines fast unbewohnten Hauses. Vier Stockwerke trennten die Wohnung von dem nächsten Menschen, der unter dem Dach mit den schweren Giebeln lebte. Fast kam ich mir vor wie Rapunzel, das Mädchen aus dem deutschen Märchen, in ihrem hohen, einsamen Turm. Und wie zum Beweis flatterten jedes Mal zwei bis drei verwilderte Tauben auf, wenn ich das große Fenster in meinem Zimmer aufstieß, um die Morgenluft herein zu lassen.
Mit Miss Montan hatte ich in jenen Wochen recht wenig zu tun, doch gerade genug, um Zeugin ihrer Eigensinnigkeiten zu werden. Wie ich bald feststellte, hegte meine Mitbewohnerin sehr sonderbare Angewohnheiten. Vermutlich war sie der einzige Mensch, der sich zwischen Bücherstapeln auf den Tischen, Staubtürmen in den Regalen und Zettelozeanen auf dem Boden pudelwohl fühlte. Auch von einem geregelten Lebensrhythmus hielt sie offenkundig recht wenig. Obwohl wir Bad und Küche teilten, konnte es geschehen, dass ich sie tagelang nicht zu Gesicht bekam. Dann wachte ich mitten in der Nacht auf, weil die Türe ging und schnelle Schritte über die knarrenden Stufen hinweg ins Erdgeschoss eilten. Über den Hausgeist, den zumindest Mrs. Halley ab und an nachts im Treppenhaus hörte, hatte ich bald meine ganz eigene Theorie. Manchmal trat meinte Mitbewohnerin auch mittags im Nachthemd aus dem Bad und knallte die Türe zu, sobald sie mich sah. Anstehende Termine behandelte sie mit erstaunlicher Ignoranz. Egal, ob es der Milchmann war, der uns die Flaschen vorbei brachte oder Mr. Thomson, der etwas in der Wohnung überprüfen wollte, Miss Montan hatte es garantiert vergessen.
Es war keine große Kunst, zu erraten, dass ihr merkwürdiges Verhalten mit ihrer Schwäche für das Verbrechen zusammenhing. Kriminalfälle, das wusste ich schon bald, waren Charlotte Montans große Leidenschaft. Die Zettel, die im Wohnzimmer, in der Küche, ja überall in der Wohnung auf Böden, Tischen und Regalen herumlagen waren allesamt Zeitungsausschnitte oder handschriftliche Notizen zu Verbrechen. Miss Montan schien sich damit viel zu beschäftigten. Und sie konnte in dem, was sie tat, völlig aufgehen. Wenn sie mit einem solchen Fall beschäftigt war, waren Raum und Zeit vergessen. Sie schien förmlich für ihre Sache zu brennen. Hunger, Durst, Müdigkeit – nichts konnte sie davon abhalten, weiterzumachen. Ich wusste nicht, ob ich diese Eigenart mit Sorge oder mit Bewunderung betrachten sollte. Ein solcher Elan war sicher beeindruckend, doch nicht selten überschritt Charlotte Montan dabei ihre Grenzen. Allzu häufig fand ich sie eingeschlafen über irgendwelchen Notizen oder Experimenten. Als ich von den Weihnachtstagen bei meiner Mutter zurückkehrte, war sie sogar zu geschwächt, um aufzustehen. Zwei Tage hatte sie weder gegessen, noch geschlafen und gerade mal vier Gläser Wasser getrunken. Ich eilte zum Markt, um etwas Essbares aufzutreiben und die gute alte Mrs. Hallay gab mir eine aufbauende Kräutermischung für sie mit.
Auch ihre Methoden waren manchmal sehr gewöhnungsbedürftig. Es kam häufiger vor, dass ich am Rande ungewollte Zeugin ihrer Arbeit wurde. Eigentlich hatte ich keinen Grund mich zu beklagen, hatte mich Charlotte Montan bei unserem ersten Treffen doch vorgewarnt. Doch als ich damals sagte, es mache mir nicht das Geringste aus, ahnte nicht im Ansatz, was mich in der Fellburn Street erwarten sollte. Kreidestriche auf den Dielen und mit Zeitungsartikel tapezierte Wände waren nicht alles, womit diese sonderbare Frau hantierte. Immer wieder entdeckte ich in der Wohnung Hinterlassenschaften ihres Tuns. Sei es, dass ich in der Küche plötzlich ein Einmachglas in den Händen hielt, in dem ein undefinierbarer Gegenstand in einem Meer von Alkohol schwamm. Sei es, dass ich ins Wohnzimmer trat und von einem stechenden Lichtblitz aus einem Spiegel geblendet wurde. Oder sei es, dass ich aufpassen musste, wo ich hintrat, weil die Wohnung mit unsichtbaren Seilen durchzogen war. Einmal schreckte ich mitten in der Nacht hoch, weil ich plötzlich Schüsse in der Wohnung hörte. In heller Aufregung fuhr ich aus dem Bett. Wie wild raste ich durch die Räume. Dann kam ich zu Miss Montans Zimmer. In panischer Angst riss ich die Türe auf. Da stand meine Mitbewohnerin in einem schimmernd weißen Nachthemd, eine Pistole in der Hand haltend und sah mich mit überraschtem Gesichtsausdruck an. An der gegenüberliegenden Wand lehnte ein Brett, auf dem ein dickes Stück Speck befestigt war. Einschusslöcher klafften im Fleisch. Notizzettel bedeckten den Boden.
„Oh, Miss Whibby“, sprach meine Mitbewohnerin und lächelte irritiert, „ich hoffe, ich habe sie nicht geweckt“.
Meine Nerven lagen blank. Ich hätte wahnsinnig werden mögen, je länger ich mit dieser Frau unter einem Dach lebte. Und doch konnte ich mir beim besten Willen kein anderes Leben vorstellen. Es gab dafür keine Erklärung, doch lange konnte ich Charlotte Montan nie böse sein. Vielleicht war es der aufregende Hauch der Gefahr, der mich in diesem Haus immer umgab. Neugierde, Abenteuerlust und ein Lächeln ließen mich meinen Groll schnell vergessen. So nahm das Leben in der Fellburn Street seinen gewohnten Gang. Und je länger ich bei Charlotte wohnte, umso mehr gewöhnte ich mich an das Ungewöhnliche und lernte, das Unerwartete zu erwarten.
Nicht immer verlief unser Leben derart chaotisch. Es gab auch Phasen, in denen es schon fast die Normalität erreiche. Das waren Zeiten, in denen die Unterwelt schlummerte und es für Charlotte Montan nichts zu tun gab. Dann ging sie morgens aus dem Haus und kam abends heim, erinnerte sich an Termine, aß und trank und schlief. An vielen dieser ruhigen, kalten Winterabende feuerte sie den Kamin im Wohnzimmer an und setzte sich mit einer Petroleumlampe und einem Buch vor das prasselnde Feuer. Manchmal fand ich noch am Morgen eines dieser Bücher auf ihrem Sessel. Eines Tages lockte mich wunderschöne Musik ins Wohnzimmer. In den ersten Wochen in der Fellburn Street hielt ich das Klavier für ein Erbstück, das nicht benutzt würde. Denn zugegeben, traute ich einem Menschen mit einem solchen exakten, kühlen Verstand nicht zu, so kreativ und spielerisch sein zu können, wie es jede Form von Kunst erforderte. Dass sie Klavierspielen konnte, ja sogar selbst Stücke komponierte, gehörte zu den angenehmeren Überraschungen, die das Leben in der Fellburn Street für mich bereit hielt. Und es war nur der erste von vielen Widersprüchen in Miss Montans vielschichtigem Charakter, mit denen ich bald Bekanntschaft machen sollte.
Man könnte nun meinen, Charlotte Montan und ich hätten in jedem Winter viele gemütliche Abende miteinander verbracht. Doch dem war nicht so. Tatsächlich hatte Miss Montan keinesfalls gelogen, als sie mir erklärte, sie suche keine Gesellschafterin. Sie schien Einsamkeit jeder menschlichen Nähe vorzuziehen. Wir lebten Tür an Türe und doch wechselten wir kaum ein Wort miteinander. Allenfalls sprachen wir über Belanglosigkeiten. Zu gerne hätte ich ihrem Klavierspiel aus nächster Nähe gelauscht, hätte beobachtet, wie ihre schneeweißen Finger über die Klaviatur glitten. Oder mich still auf einem der Sessel niedergelassen, um im gleichen Feuerschein ein Buch zu lesen. Doch Miss Montan achtete penibel darauf, sich meiner Anwesenheit so gut zu entziehen, wie es die Wohnsituation nur zuließ. Hatte ich einen Raum betreten, zog sie sich alsbald zurück. Zuerst hielt es für eine nur anfängliche Scheu, doch die Monate veränderten nichts an ihrem Verhalten. Ihre kühle Unnahbarkeit ließ mich stets nur die Schatten, die vergessenen Reste ihrer Existenz erhaschen: Der verklungene Ton, der noch warme Sessel, das vergessene Buch, der verstohlene Blick auf ihre Silhouette in den Morgenmantel gehüllt am Ende des Flurs vor dem Badezimmer. Nicht einmal führten wir ein richtiges Gespräch. Dabei war sie nie unhöflich, doch sehr distanziert. Zu den Nachbarn hatte ebenfalls sie kaum Kontakt. Nur Bastet, die auch mir öfter Gesellschaft leistete, durfte sich ihr unbegrenzt nähern. Allmählich begann ich, mir tausend Fragen über diese rätselhafte Frau zu stellen. Was brachte sie nur dazu, Menschen so zu meiden? Irgendein geheimnisvoller, dunkler Kummer lag wie ein Schatten auf ihr. Zu oft wirkte sie abwesend, in Gedanken versunken, nahezu apathisch. Ihre Augen, die vor Feuer glühten, wenn sie mit einem Kriminalfall beschäftigt war, wurden nicht selten stumpf und leer, wenn es nichts zu tun gab. Manchmal glaubte ich fast, dass Miss Montan ganze Tage damit verbrachte, dazusitzen und nichts zu tun. Und doch schien die Einsamkeit sie kein bisschen zu stören, sie suchte sie ja regelrecht. Ihr ganzes Wesen gab mir Rätsel auf. Warum hatte sie sich an diesen Ort zurückgezogen? Und warum verwendete sie so viel Zeit und Energie darauf, sich mit Kriminalfällen zu beschäftigen? Dass Charlotte Montan ihren Lebensunterhalt als Detektivin verdiente, ahnte ich, doch verwarf ich diesen Gedanken immer wieder. Waren doch alle erwerbstätigen Frauen, denen ich bisher begegnet war, Gouvernanten, Lehrerinnen oder Dienstmägde gewesen. Oder Mädchen die dem ältesten Gewerbe der Welt nachgingen.
Meine ersten Monate in Highpark wurden so zu einem Wechselbad der Gefühle: Verstörung und Abenteuerlust, Ärger und Sorge, Rätseln, Neugierde – alles war darunter. Die Einsamkeit zehrte ebenfalls an mir und Einsamkeit ertrug ich im Gegensatz zu Charlotte Montan nur schwer. Meine Stimmung verdüsterte sich zunehmend. Nicht einmal der Lärm des East Ends konnte mich nun mehr trösten. Und doch dachte ich nicht ein einziges Mal daran, die Fellburn Street wieder zu verlassen. Ich weiß nicht, was mich hielt. War es vielleicht der Reiz des Rätsels? Denn trotz aller Widersprüche und Strapazen, faszinierte mich das Geheimnisvolle, das Miss Montan umgab. Obgleich ich einsam war, war ich doch niemals allein. Wie ein Geist verfolgte mich Charlotte Montan in diesen Räumen, umgab mich überall und bleib doch immer unsichtbar. Dabei wusste sie mehr, als ihre kargen Worte und ihre tiefen, schwarzen Augen preisgaben. Sie hatte mir einmal beweisen, dass sie mich durchschauen konnte und sie sollte es noch tausendfach beweisen. Ich wusste es damals noch nicht, doch Miss Montan hatte mich immer im Blick. Wenn ich mich umdrehte oder zur Türe ging, ruhten ihre durchdringenden Augen auf mir und registrierten jeden meiner Schritte. Wenn sie sich über ihre Notizen oder Experimente beugte und mich keines Blickes zu würdigen schien während ich bei ihr saß, so gab es immer irgendwo einen Löffel, ein geputztes Glas oder andere spiegelnde Oberflächen, durch die sie mich betrachtete. Sie war wie eine Katze, die aus der Dunkelheit heraus alle beobachtete, ohne sich selbst zu zeigen. Und es sollte Jahre dauern, bis ich hinter dieses Geheimnis kam.
Nur dass sie mich besser kannte, als ich ihr zutraute, das wusste ich, als ich eines Tages ein Glas meiner Lieblingsmarmelade auf meinem Schreibtisch fand. Nie hatte ich ihr davon erzählt, nie hatte ich sie verzehrt, seitdem ich in der Fellburn Street wohnte. Nur eine Visitenkarte des kleinen Feinkostladens von Madam Thunder, den ich vor ein paar Tagen verloren hatte und ihre Kombinationsgabe konnten mich verraten haben. Als ich mich bedanken wollte, zog Miss Montan sich zurück. Dieses geheime Wissen und ihre mysteriöse, dunkle Aura weckten in mir tiefe Faszination und Neugierde. Ich wusste, ich würde die Fellburn Street nicht verlassen wollen, ehe ich hinter den Schleier dieser geheimnisvollen Frau sehen durfte. Zu tief hatte Miss Montan mich in ihren Bann gezogen.
Mit dieser eigenartigen Mischung aus Faszination, Verstörung und geisterhafter Gemeinschaft gingen die Wintermonate ins Land. Der Kalender schüttelte seine letzten Blätter ab und füllte sich am ersten Januar mit 365 neuen Tagen. Die ersten beiden Monate des Jahres 1896 gingen ohne große Veränderungen dahin. Unter der Woche stand ich oft vor meiner Staffelei und tauchte den Pinsel in die Farben, während Bastet um meine Füße streifte. Mit Mrs. Hallay und Mr. Willow hatte ich inzwischen ein regelmäßiges Teekränzchen etabliert und auch mein Verhältnis zu Miss Montan schien sich allmählich zu verändern. Ich weiß nicht mehr genau, wann es begann. Doch es muss zu der Zeit gewesen sein, in der ich meine neuen Lieblingsbücher, ein Gedichtband von Sappho und Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray verlegte. Seitdem duldete Miss Montan meine Anwesenheit, obwohl sie persönlichen Fragen immer noch auswich.
Inzwischen war es April geworden und die perlmuttfarbenen Eisblumen auf dem Fenster eiferten mit ihren Schwestern im Garten um die Wette. Miss Montan hatte einmal wieder nichts zu tun und so saßen wir schweigend und lesend im Wohnzimmer, gemeinsam und doch jede für sich alleine. Eigentlich hätte ich meinen Roman lieber beiseitegelegt, denn mein Interesse galt viel mehr Miss Montan als dem Buch. Ich genoss ihre Nähe, genoss das Gefühl, in diesen dunklen Abendstunden nicht ganz alleine zu sein, auch wenn wir kein Wort sprachen. Miss Montan hingegen war in ihr Buch vertieft und würdigte mich keines Blickes. Es stimmte mich traurig, denn ich hätte mir so viel mehr gewünscht. Doch ich wusste, dass ich nicht mehr von ihr erwarten konnte. Zum Glück bot mir ihre Ignoranz auch Gelegenheit zu einigen unbemerkten Beobachtungen. Im Feuerschein studierte ich die schmale Figur, die vom sanften Flackern umrissen wurde, eingehend.
Wie ich abermals bemerkte, hatte Miss Montan wenig von dem, was man gemeinhin unter weiblichem Liebreiz verstand. Dass eine Frau wie sie erröten würde, war noch unwahrscheinlicher als ein Sonnenaufgang zur Mitternacht. So herzlich sachlich, so wunderbar ungeschönt war ihr Wesen, das alles Weibische ihr fremd war. Schmuck und Schminke kannte sie nicht, ihre Kleidung war schlicht und praktisch. Und doch war Miss Montan auf ihre Art sehr feminin und hübsch. Ihre schwarzen Augen blickten wach und klar und klug in die Welt. Ihre zierliche Figur lehnte locker gegen die Sessellehne und die feingliedrigen Finger blätterten flink und geschickt die Seiten um. Ihr Aussehen hatte seine ganz eigene Ästhetik und vielleicht waren es gerade die Kontraste, die ihr Schönheit verliehen. Der Kontrast zwischen ihrer Weiblichkeit und dem Fehlen jedes schmückenden Beiwerks. Der Kontrast zwischen ihrer zierlichen Gestalt und der Größe, die aus ihren Augen sprach. Ich weiß es nicht, aber so oder so war Miss Montan ein inspirierendes Objekt für das Auge einer Künstlerin.
Schon in meiner alten Heimat zeichnete ich gerne Menschen, die mich faszinierten. Das faltige Gesicht einer lachenden, alten Dame, die großen Augen eines Kindes, die Hände eines jungen Mädchens, von Spitzenhandschuhen umhüllt. Miss Montans außergewöhnliche Erscheinung passte gut in die Reihe dieser Bilder. Mich unbeobachtet glaubend zog ich zwischen den Seiten meines Buches heimlich ein Blatt Papier hervor und begann sie zu portraitieren. Ihren Körper studierte ich genau, um jedes Detail zu erfassen. Langsam wanderte mein Blick von den gekräuselten, dünnen, Locken, die sie locker hochgesteckt hatte über ihre bleiche Stirn zu den ebenmäßigen Gesichtszüge und den tiefen, schwarzen Wogen ihrer intelligenten Augen, weiter zum blassroten, schmalen Mund, über den schlanken Hals hinweg, der vom Kragen ihres roten Kleides verdeckt wurde, weiter zu den Knöpfen ihrer Bluse, der sanften, leichten Wölbung ihrer Brüste bis hin zu den Armen, die sich schließlich in elegante, schlanke Finger ergossen. Leise seufzte ich. Es war erstaunlich, wie unterschiedlich wir waren. Ich war groß, mollig, üppig und selten ungeschminkt, meine Augen waren blau und verklärt, meine Lippen voll, meine Haare blond.
„Ich hoffe, Sie haben mich gut getroffen“, erklang plötzlich eine Stimme. Erschrocken ließ ich den Stift fallen und blickte auf.
„Entschuldigen Sie, Miss Montan“, stammelte ich, „Ich wusste nicht, dass sie, ich meine, ich dachte, dass…“.
Charlotte Montan lächelte. „Gutes Kind, glauben Sie wirklich, ich hätte Sie nicht gesehen? Ich werde mein Handwerk wohl noch verstehen.“
Ich schwieg.
“Ich beobachte Sie schon eine Weile. Doch ich wollte Sie nicht stören. Es war recht amüsant, Ihnen zuzusehen. Ich werde nicht jeden Tag in meinem Wohnzimmer portraitiert.“
Sie sah auf und lächelte mich mit einem Zwinkern an. Ihre Stimme klang ungewohnt offen, vergnügt, fast schelmisch. Sofort verschwand die Röte aus meinem Gesicht. Ein lebendiges, frisches Gefühl ergriff mich. Noch nie hatte Miss Montan so herzlich mit mir gesprochen. Zu meiner Überraschung schlug sie im nächsten Augenblick auch noch das Buch zu und legte es beiseite.
„Ich habe genug gelesen für heute, mir ist mehr nach einem Gespräch zumute. Ich hoffe, Miss Whibby, Sie haben nichts dagegen mir ein wenig Gesellschaft zu leisten.“
Ich war noch zu verblüfft, um zu antworten, da sprang Miss Montan auch schon vom Sessel auf, lief zu einer der dunklen Vitrinen mit dem hübschen Glasfenstern und zauberte zwei Weingläser hervor. In den kleinen Kristallen der reichen Verzierung spiegelte sich das schummrige Licht des Feuers. Bastet, die auf einem Kissen nahe dem Kamin döste, sprang zu mir aufs Sofa. Sanft streichelte ich ihr den Kopf, bis das Knallen eines Weinflaschenkorkens sie verscheuchte. Dunkel wie Blut floss der Wein in die Gläser, während die Flammen im Kamin fortwährend an den Holzscheiten zehrten.
„Auf den Frühling“, stieß Miss Montan mit mir an, „Bald ist April“.
Ich begann gerade an meinem Weinglas zu nippen, als Miss Montan plötzlich meinte: „Sie wohnen schon so lange bei mir und doch kenne ich Sie kaum, Miss Whibby. Erzählen Sie mir doch ein wenig über ihre Arbeit“.
Ich verschluckte mich fast. War das wirklich Charlotte Montan, die da sprach? Jene stille Gestalt, die wie ein Phantom durch die Räume geisterte und vielleicht drei Worte am Tag mit mir wechselte? Ich erkannte meine Zimmergenossin nicht wieder. Halb abwesend vor Erstaunen begann ich von meiner Arbeit als Illustratorin zu berichten. Davon, dass meine Zeichungen unter männlichem Pseudonym veröffentlicht wurden, weil der Verlag es so wollte; davon, dass die Bezahlung vergleichsweise gut war und ich froh war, mein eigenes Auskommen zu haben; davon wie viel Spaß mir das Zeichnen machte, obgleich es manchmal einiges an Zeit in Anspruch nahm. Zunächst Heiterkeit, dann gespanntes Interesse und schließlich tiefe Nachdenklichkeit spiegelten sich in ihrem Gesicht, während ich sprach. Als ich ans Ende meiner Erzählung kam, wirkte Charlotte Montan auf einmal so abwesend, als sei sie nicht mehr bei der Sache. Ärger flammte in mir auf. Warum stellte sie mir Fragen, wenn sie nicht vorhatte, mir zuzuhören? Doch in diesem Moment blickte mir meine Zimmergenossin direkt in die Augen.
„Ihr Verlag scheint Ihre Arbeit sehr zu schätzen“, bemerkte sie, „Ich nehme an, Ihr Vertrag sieht es vor, dass sie ausschließlich für ihn arbeiten?“
„Nicht, dass ich wüsste“, antwortete ich knapp. Plötzlich beschlich mich das Gefühl, dass Miss Montan etwas im Schilde führte. Doch was?
„Gut“, kommentierte diese meine Auskunft und lächelte geheimnisvoll, „Sehr gut“.
„Hätten Sie vielleicht Interesse daran, eine kleine Auftragsarbeit für mich anzufertigen, Miss Whibby? Ich könnte Sie nicht in Bargeld bezahlen, würde Ihnen aber eine halbe Monatsmiete erlassen.“
Wieder verschluckte ich fast am Rotwein. Ich hatte mit vielem gerechnet, doch nicht mit einer solchen Anfrage. Wofür braucht, eine Frau wie Miss Montan wohl die Dienste einer zweitklassigen Illustratorin, fragte ich mich. Der Gedanke, für sie zu arbeiten gefiel mir allerdings. Eine bessere Chance, mehr über diese faszinierende Frau zu erfahren gab es kaum und der Verdienst war für meine Verhältnisse nahezu fürstlich. Auch wenn es mich etwas kränkte, dass sie nur deshalb interessiert an mir war, weil sie mich für ihre Zwecke brauchte, willigte ich ein.
„Prima“ antworte Miss Montan und sank zufrieden lächelnd in ihren Sessel. Der Schein der Flammen tanzte im Wechselspiel von Licht und Schatten über ihr Gesicht.
„Worum soll es denn gehen?“, fragte ich neugierig.
„Das werden Sie noch rechtzeitig erfahren, Miss Whibby“, antwortete Miss Montan knapp, „Wenn alles gut geht, werden wir Morgen Nachmittag Besuch bekommen, der ihnen die Einzelheiten erklären wird.“
Nun wurde es erst richtig spannend. Noch nie hatte Miss Montan Besucher empfangen. Welch wichtige Persönlichkeit musste es wohl sein, dass sie eine solche Ausnahme machte? Ich wollte noch mehr erfahren, doch Miss Montan hüllte sich wieder in Schweigen. Es nützte nichts, ich würde warten müssen.
Bald ging jeder von uns wieder seiner Beschäftigung nach. Miss Montan las, Bastet schlummerte auf ihrem Lieblingsplatz und ich lag auf dem Sofa und kritzelte unablässig vor mich hin, während ich meinen Gedanken nachhing. Neben unserem geheimnisvollen Besuch beschäftigte mich noch immer der Tag, an dem Miss Montan mir im East End das erste Mal begegnet war. Es verging wohl eine Stunde, bis ich mich aufsetzte und nach dem Weinglas griff, das ich nur halb geleert hatte. Löcher in die Luft starrend nippte ich daran und warf von Zeit zu Zeit verlegene Blicke in Miss Montans Richtung. Meinen Blick spürend klappte diese langsam ihr Buch zu und legte es beiseite. Ohne mich anzusehen griff sie nach der Flasche und schenkte sich Wein nach.
„Was möchten Sie mir sagen, Miss Whibby“, sprach sie schließlich, „denken sie immer noch über den Auftrag nach?“
Ihre Stimme klang fürsorglich. Geistesabwesend stellte ich mein Weinglas zu ihrem und ließ auch mir nachschenken. Ich nahm mein Glas auf, da wandte sie sich um und schaute mich direkt an. Ihre dunklen Augen glitzerten im warmen Licht des Feuers.
„Es ist…“ ich brach ab und blickte ins Glas. „Nein, es ist nicht der Auftrag“, begann ich erneut, „ich muss immer noch an damals denken, an die Sache mit der Tasche. Wie konnten Sie das tun, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Ich verstehe das alles einfach nicht.“
„Armes Kind“, antwortete Miss Montan neckisch „so ein Kopfzerbrechen zu so später Stunde“.
Das sanfte Kerzenlicht ließ das Rot ihres Kleides aufleuchten, ihre Augen blitzen vor Stolz. Schweigend und geheimnisvoll erhob sie das Glas. Da bemerkte ich, wie ihr Blick auf einmal zur schlafenden Bastet wanderte, so als wollte sie mir damit andeuten, ich solle ihren Blicken folgen. Ich tat es.
„Ist das nicht ein wunderbares Bild, Miss Whibby, selbst im Schlaf versteht die Dame es noch, elegant zu sein“, hauche mir meine Zimmergenossin zu. Ich nickte wortlos. Sie hatte Recht. Der Anblick der schlummernden Bastet hatte etwas Anheimelndes. Doch warum wechselte sie so schnell das Thema? Ich war ihr doch hoffentlich nicht zu nahe getreten?!
„Sie sollten öfter Katzen beobachten“, fuhr Miss Montan im Flüsterton fort und beugte sich zu mir vor, „nichts ist inspirierender als einer Katze zuzuschauen. Sehen Sie nur diese weichen Pfoten, auf denen sie sich lautlos anzuschleichen weiß. Es gibt kein Hindernis, an dem eine Katze sich nicht vorbeistehlen könnte. Als Räuber der Nacht sind sie klug genug, sich die Dunkelheit zunutze zu machen. Katzen sind wirklich die faszinierendsten Tiere, finden Sie nicht, Miss Whibby? Ihre Augen haben stets alles im Blick und fangen jeden Lichtstrahl auf, den sie erhaschen können. Keine Türe und kein Schloss begrenzt ihre Freiheit, ihre Geschicklichkeit öffnet ihnen alle Wege. Ob auf breiten Straßen oder schmalen Stegen, ob auf den Gassen oder den Dächern des East Ends im Dämmerlicht“.
Kaum hatte sie ausgesprochen, lehnte sich Miss Montan zurück in ihren Sessel. Ihre Augen, die direkt in meine blickten, funkelten feuriger und schelmischer als je zuvor. Ich wusste nicht recht, wie ich die Situation deuten sollte. In ihren Worten lag mehr, als sie aussprach und doch konnte ich es nicht greifen. Diese sonderbare Frau wurde mir immer rätselhafter. Je näher ich ihr kam, umso dichter schloss sich der Nebel des Geheimnisvollen um mich. Ich glich einer Fliege im Netz einer Spinne.
„Ich glaube, ich verstehe Sie nicht ganz, Miss Montan. Sie wissen, dass ich Katzen liebe, doch es ist mir schleierhaft, worauf Sie hinauswollen“, gestand ich ihr.
„Dann denken Sie noch einmal darüber nach“, antwortete meine Mitbewohnerin mit einem mütterlichen Lächeln, „Wir werden das Gespräch ohnehin zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen müssen. Es ist schon spät und wenn unser Besuch Morgen erscheint, sollten wir beide ausgeschlafen sein. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Miss Whibby“
Sie entzündete eine Öllampe und begab sich auf den Weg in ihr Zimmer. Bald schon war ihre schlanke Gestalt hinter der Türe verschwunden. Ich blieb noch eine Weile vor dem prasselnden Kamin sitzen und richtete meine Augen unablässig auf Bastet, die im Schlaf leise schnurrte. Zu was sie mich wohl inspirieren würde? In meinem Kopf hämmerte es beständig auf den Gassen oder den Dächern des East Ends.
Das erste Bild, das ich sah, als ich Augenlider hob, war der ausgekühlte Kamin und das helle Sonnenlicht, das durch die Ritzen der Jalousien brach. Eins von fünf Sofakissen presste sich hart in meinen Nacken. Dann bemerkte ich das Geräusch tropfenden Wassers. Schnell sprang ich von der Wohnzimmercouch und riss die Läden auf. Tatsächlich: Ein kleines Bächlein aus Tauwasser floss die Regenrinne herab. Eiszapfen, Schneedecke und Eisblumen, alles schwand unter der warmen Aprilsonne. Die frische, kühle Morgenluft stach mir in die Nase, plötzlich mischte sich der herbe Duft frisch gekochten Kaffees hinzu. Heimlich stahl ich mich auf mein Zimmer und legte meinen Morgenmantel um. Die Türe zur Küche war offen. Vor dem gedeckten Tisch stand Miss Montan mit der Kanne.
„Guten Morgen, Miss Whibby“, lachte sie mir entgegen, „Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen auf ihren fünf Kissen“.
Verblüfft von der ungewohnten Herzlichkeit verschlug es mir für einen Moment die Sprache. Beim gemeinsamen Frühstück erzählte sie mir, dass unser Gast sich gemeldet hätte. Um vier Uhr würde er vor unserer Türe stehen. Nun wusste ich, woher ihre ausgesprochen gute Laune kam. Und auch die Frage, wofür sie meine Dienste brauchte, erübrigte sich. Denn in einem Punkt kannte ich Miss Montan trotz aller Distanz sehr gut: Ihr merkwürdiges Hobby wirkte wie ein Aufputschmittel auf sie. Auch mich erfasste gespannte Neugierde. Doch ehe ich Miss Montan ausfragen konnte, hatte sie im Flur ihre Stiefel übergestreift, erklärte, dass sie rechtzeitig zum Essen zurück sein würde und war dann für den Rest des Vormittags verschwunden. Gott weiß, was sie in dieser Zeit tat.
Aufgeregt wie ein kleines Kind lief ich bereits eine Stunde vor der vereinbarten Uhrzeit im Wohnzimmer auf und ab und schielte fortwährend durchs Fenster, ob nicht eine Kutsche die Fellburn Street heraufkäme. Miss Montan machte es sich derweil mit Bleistift, Papier und einem ganzen Stapel voller Zeitungen und anderer Blätter am Tisch gemütlich. Bald war sie in ein angestrengtes Wechselspiel aus Lesen und dem Vermerken von Notizen vertieft und nicht mehr ansprechbar. Allein das Pfeifen des Teekessels ließ sie kurzzeitig zusammenfahren.
„Was war das? Haben Sie etwa Tee aufgesetzt, Miss Whibby?!“ rief meine beschäftigte Vermieterin erschrocken.
„Ja, Miss Montan“, antwortete ich schulmädchenhaft, „Ich verstehe unter guten Manieren, Gästen etwas zu trinken anbieten zu können, auch wenn es noch nicht ganz Zeit für den Tee ist.“
„Ach so“, antwortete Miss Montan zerstreut, „daran habe ich ja gar nicht gedacht.“
Ich lachte in mich hinein. Es war so offensichtlich, dass Miss Montan vollauf mit einem neuen Verbrechen beschäftigt war. Und dass ich dieses Mal daran Teil haben durfte, erfüllte mich dem aufregenden Gefühl von Abenteuerlust.
Während wir warteten gingen mir tausend Fragen über unseren geheimnisvollen Besucher durch den Kopf. Ob es wohl ein Mann war oder eine Frau? Wie alt er wohl sein mochte? Und woher kannte er Miss Montan? Ich malte mir die tollsten Bilder aus. Doch meine Neugierde sollte nicht befriedigt werden ehe die Turmglocke vier Uhr schlug. Wie ich Miss Montan kannte, war in ihrem jetzigen Zustand keine Antwort von ihr zu erwarten. So begnügte ich mich damit, die Fellburn Street zu observieren. Vielleicht würde ich einen Blick auf unseren Besucher erhaschen können noch bevor er in der Türe stünde. Unerträglich lange zog sich die Zeit dahin. Minuten kamen mir vor wie Stunden. Meine gespannte Ungeduld ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Plötzlich sah ich etwas auf der Straße. Nicht die Kutsche, mit der ich rechnete, aber eine Gestalt, die sich verdächtig suchend umblickte, wie jemand, der Ausschau nach der richtigen Hausnummer hält. Wie schade: Unsere Wohnung lag zu hoch, um Näheres zu erkennen. Doch da – die Gestalt betrat den Vorhof. Nun hatte ich Gewissheit, dies war unser Gast.
„Er kommt“, rief ich Miss Montan aufgeregt zu. Augenblicklich fiel das Notizbuch auf die Tischplatte. In der Ferne schlug die Turmuhr zur vollen Stunde.
„Auf die Minute genau“, rief meine Zimmergenossin freudig, „das liebe ich“.
Von der Treppe her drang das Knarzen der alten Stufen in die Geräuschkulisse. Innerhalb weniger Sekunden ertönte das laute „Tock Tock“ des Türklopfers.
„Kommen Sie herein, Miss Mühlenknecht“, erklang Miss Montans Stimme auf dem Flur. Die Aufregung trieb meinen Puls hoch. Unser Besuch war also eine Dame und nach ihrer Stimme zu urteilen, nicht mehr die Jüngste. Ich strich mein Kleid glatt und wartete gespannt auf den Moment, in dem sich die Türe öffnen sollte. Und dann traf mich mit einem Schlag die Überraschung.
Ich hatte eine reiche, ältere Dame aus gutem Hause erwartet. Aus gutem Hause musste unser Gast zweifellos stammen, doch reich konnte sie keineswegs sein. Vor mir stand eine ältere Frau, das graue Haar unter der Haube eines Dienstmädchens verborgen.
„Darf ich vorstellen, Miss Whibby, die Künstlerin, von der ich Ihnen schrieb, Miss Whibby Miss Mühlenknecht“.
„Sehr erfreut“ reichte ich der betagten Dienstbotin meine Hand. Gleichzeitig rätselte ich darüber, was es mit ihr wohl auf sich hätte. Jenseits guter Häuser oder auf dem Markt, war mir bisher noch kein Dienstpersonal begegnet. Und woher kannte eigentlich Miss Montan diese Frau? Ich konnte mir schwerlich eine persönliche Verbindung zwischen ihnen vorstellen.
„Bevor wir zum eigentlichen Grund unseres Zusammentreffens kommen“, übernahm Miss Montan das Wort und klang dabei so distanziert wie ein Geschäftsmann bei einem Treffen mit Handelspartnern, „sollten wir Miss Whibby vielleicht erst einmal über die Hintergründe aufklären. Da ich dies ungern über Ihren Kopf hinweg tun würde“, sie blickte zu Miss Mühlenknecht, „hielte ich für besser, wenn Sie Ihre Geschichte selbst erzählen“.
Nun war ich aber gespannt.
„Wenn Sie meinen, Miss…“, fragte die alte Dame zögerlich und warf meiner Vermieterin einen unsicheren Blick zu.
„Montan“ ergänzte diese und setzte mit einer beruhigenden Stimme fort, „Sie können Miss Whibby vertrauen, ich halte sie für absolut integer“.
Ein Gefühl von Stolz erfüllte mich.
„Ich werde uns in der Zwischenzeit Tee holen.“, sprach meine Zimmergenossin, zwinkerte mir hinter dem Rücken unseres Besuchs zu und verschwand in die Küche.
„Setzen Sie sich doch“, wandte ich mich Miss Mühlenknecht zu und bot ihr den zweiten Sessel an. „Danke“, antwortete sie mir „Sie sind sehr freundlich“.
Tee, Milch und Zucker wanderten von Miss Montans Händen auf den Tisch.
Nachdem Miss Mühlenknecht einen Schluck getrunken hatte, begann sie mir ihre Geschichte zu erzählen. Ursprünglich aus Deutschland stammend, war sie lange Zeit Dienstmagd einer reichen Familie in einer weit entfernten Ecke Englands gewesen. Schließlich übertrugen ihre Herren ihr auch die Aufgabe eines Kindermädchens für ihre mittlere Tochter. Selbst kinderlos geblieben wuchs ihr das Mädchen wie eine eigene Tochter ans Herz. Vor einem halben Jahr verlobte sich die inzwischen Neunzehnjährige mit einem jungen Gentleman aus unserer Stadt. Weil es vor der Hochzeit noch einige Dinge vor Ort zu klären gab, siedelte die junge Dame vor wenigen Wochen in das Haus ihres zukünftigen Schwiegervaters über. Das Mädchen bestand darauf, von ihrer engsten Vertrauten begleitet zu werden und so ging Miss Mühlenknecht mit ihr. Im Haus brach zur selben Zeit unter dem Dienstpersonal eine schwere Grippewelle aus. Da zu wenige eigene Dienstboten verfügbar waren, übernahm Miss Mühlenknecht einige der Pflichten des Hauspersonals. Zu diesen Aufgaben zählte auch das Staubfegen im Arbeitszimmer des Schwiegervaters in Spe. Und hierbei machte Miss Mühlenkecht eine beunruhigende Entdeckung.
„Der alte Chapson hat ein richtig schönes Bild in dem Zimmer aufgehängt gehabt. Zufällig kam er grad rein, als ich‘s mir anschauen wollte. Das gab vielleicht ein Donnerwetter, sag ich Ihnen. Ich hab schon so viele Herren gesehen, die mit Dienstboten schimpften, wenn die faul waren. Aber wie der sich aufgeführt hat, das war nicht mehr normal. Der tat fast so, als hätte ich in den Schubladen gewühlt. Als ich am Abend noch mal am Arbeitszimmer vorbei kam, fiel Licht auf die Dielen. Hinter der Türe hört ich zwei flüstern. Der eine war Mr. Chapson, den andern kenn ich nicht. Das war alles sehr eigenartig. Und dann verbat er mir auch noch ins Zimmer zu gehen, obwohl er mir erst zwei Tage vorher gesagt hatte, ich solle dort Staub wischen. Auch von den anderen durfte niemand mehr rein. Er hat’s seitdem auch immer abgeschlossen. Doch ich hab durchs Schlüsselloch gelunzt. Und wissen Sie was: Das Gemälde war weg und es hing ein neues da. Und so geht’s seitdem jeden Tag. Immer tauchen neue Gemälde auf. Mal eines, mal zwei, sogar drei auf einmal und am nächsten Tag sind sie plötzlich wieder verschwunden. Ich mache mir wirklich große Sorgen, wirklich“, erzählte die alte Dame aufgeregt.
„Was glauben Sie denn, was mit den Gemälden geschieht?“, fragte ich verwundert. Miss Mühlenknecht warf Miss Montan abermals einen unsicheren Blick zu, setzte aber fort, nachdem diese ihr zunickte.
„Ich glaub, dass mit den Bildern was nicht stimmt, Miss…“
„Whibby“, ergänzte ich.
„Miss Whibby“, setzte unser Gast fort, „Vielleicht sind die ja gestohlen oder der andere Mann ist ein Fälscher. Ich weiß es nicht, aber irgendetwas stimmt da nicht. Ich hab so Angst um das Mädchen, ich möchte nicht, dass sie bei einem Ganoven lebt. Sie ist so ein gutes, liebes Kind“.
„Warum gehen Sie nicht zur Scotland Yard?“, fragte ich direkt. Miss Montan verschluckte sich fast an ihrem Tee.
„Ich habe doch keine Beweise, Miss Whibby“, erklärte mir Miss Mühlenkneckt ruhig, „und Angst vor dem Herrn hab ich auch. Er hasst uns Deutsche. Wenn ich zur Polizei gehe, er wird sofort wissen, dass ich das war. Dann werd ich das Haus nie wieder betreten können. Und was wird dann aus dem Mädchen? Wer soll auf das gute Kind aufpassen? Der junge Chapson ist nicht da, Geschäfte. Und die Hausherrin hat nichts zu melden. Ich habe Angst, dass der Alte sie vor die Türe setzt. Er willigte in die Ehe ohnehin nur ein, weil das Mädchen eine gute Partie ist. Der Sohn liebt sie wirklich und sie ihn auch. Aber dem Alten traue ich nicht und Ich muss doch für das Kind da sein können, wenn sie mich braucht“.
„Das verstehe ich“, antwortete ich betrübt, die Lage der alten Dame war wirklich nicht rosig.
„Zum Glück“, fuhr Miss Mühlenknecht fort und ihr Gesicht hellte sich auf, „hab ich Miss Montans Anzeige entdeckt. Eine Detektiv ist genau das was ich suchte. So gibt es vielleicht doch einen Weg, die Sache zu klären, ohne mich und meine Herrin in Gefahr zu bringen“.
Überrascht ließ ich fast meine Teetasse fallen. Da war es plötzlich, das Wort – Detektivin. Hatte ich mich auch nicht verhört? Nein, Miss Mühlenknecht hatte es tatsächlich gesagt. All die Monate hatte ich es immer geahnt. Und doch wagte ich nie, daran zu glauben, hielt es für ein Hirngespinst. Jetzt wusste ich, dass es keine fixe Idee war. Das also hatte es mit dem merkwürdigen Hobby auf sich, Charlotte Montan eine Detektivin. Ich war verblüfft. Nie hätte ich gedacht, dass es auch Frauen gibt, die einem solchen Beruf nachgehen.
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Miss Whibby?“, drang Miss Mühlenknechts warme Stimme an mein Ohr, „Sie wirken ein wenig abwesend“.
„Jaja“, antwortete ich knapp, „Ich war nur in Gedanken.“
Nun übernahm Miss Montan das Wort: „Da es unmöglich war, den Ort des Geschehens selbst zu besuchen, bat ich Miss Mühlenknecht, mir die Gemälde exakt zu beschreiben. Leider konnte ich mir kein genaues Bild davon machen. Wir hielten es daher für hilfreich, wenn Sie Skizzen der Gemälde nach Miss Mühlenknechts Anweisungen für uns anfertigen würden. Könnten Sie sich das vorstellen?“
„Gerne“, antwortete ich förmlich.
Der Auftrag versprach interessant zu werden. Vielleicht würde ich den Schlüssel zu einer Serie von Kunstraub liefern, wer weiß? Jedenfalls war ich neugierig, aufgeregt und auch ein klein wenig stolz darauf, dass Miss Montan an mich gedacht hatte. Nun galt es nur noch, einen Termin für die Arbeit zu finden. Leider gestaltete sich das nicht gerade einfach, denn die Chapsons gaben Miss Mühlenknecht nur sehr zu kurzfristig frei. Eine längerfristige Planung war so schwierig. Wir verblieben dabei, dass unsere Besucherin sofort ein Telegramm schicken würde, wenn Sie frei bekäme. Da ich meist zuhause arbeitete und nur selten in den Verlag musste, war ein spontanes Treffen für mich problemlos möglich.
„Wie kann ich Sie denn erreichen?“, fragte mich Miss Mühlenknecht bei der Verabschiedung. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich irritiert. Doch dann fiel mir ein, dass mein Namensschild noch immer nicht an der Türe hing. Miss Mühlenknecht wusste also nicht, dass ich Charlotte Montans Untermieterin war.
Gerade wollte ich die alte Dame über unsere Wohnsituation aufklären, da fiel mir meine Mitbewohnerin plötzlich ins Wort: „Das wird nicht nötig sein, Miss Mühlenknecht. Sie können einfach mir telegrafieren und ich werde Miss Whibby kontaktieren. Ich nehme an, dass Sie ohnehin lieber in meiner Nähe arbeiten möchte.“
Heimlich warf mir Miss Montan einen strengen Blick zu. Ich nickte wortlos. Nur wenige Minuten später waren die Schritte unseres Gastes im Treppenhaus verklungen. Teils verärgert, teils verwirrt warf ich meiner Mitbewohnerin einen scharfen Blick zu.
„Warum haben Sie mich ihr nicht sagen lassen, dass ich Ihre Untermieterin bin?“, fragte ich ernst. Miss Montan schaute streng zurück. „Es ist schon fatal genug, dass sie unsere Namen kennt und weiß, dass ich hier wohne. Sie muss nicht auch noch wissen, dass Sie das ebenfalls tun“.
„Warum nicht?“, keifte ich zurück, „Trauen Sie ihr etwa nicht, weil Sie eine Deutsche oder ein Dienstmädchen ist?“.
Miss Montan seufzte laut. „Nein“, antwortete sie, „Ob sie eine deutsche Dienstmagd oder die Königin Englands ist, ist mir relativ egal“.
Und wie ich das eigenartige Gemüt meiner Mitbewohnerin kannte, war sie einer der wenigen Menschen, dem ich tatsächlich abnahm, keine Unterschiede zwischen Dienstboten und Königen zu machen.
„Dann verstehe ich aber nicht, warum Sie so ein Geheimnis daraus machen“, setzte ich fort.
„Ich hoffe für Sie“, antwortete mir Miss Montan fast kummervoll, „dass Sie nie gezwungen sein mögen, es verstehen zu müssen. Manchmal ist es besser, weniger zu wissen“.
Ich hatte keine Ahnung, worauf Sie hinaus wollte, doch ich spürte, dass Sie es offensichtlich gut mit mir meinte. Darum ließ ich es darauf beruhen. Den Rest des Tages gingen wir wieder getrennte Wege.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war Charlotte Montan nirgends zu sehen. Dafür klopfte es plötzlich an der Wohnungstüre, während ich im Badezimmer stand. Als ich den Flur betrat, hatte jemand eilig einen kleinen Zettel unter dem Türschlitz hindurch geschoben. Es war ein Telegramm von Miss Mühlenknecht. Sie teilte mit, dass sie bereits um 14 Uhr in der Fellburn Street sein würde. Mich an Miss Montans Worte erinnernd, trug ich meinen Lederkoffer mit den Farben und Papieren ins Wohnzimmer, so dass es den Anschein hatte, ich sei nur zu Besuch hier. Auch beschloss ich, Farbstifte statt Bleistifte zu verwenden, um möglichst realistische Skizzen anzufertigen. Pünktlich um zwei Uhr nachmittags konnten wir beginnen.
Miss Montans Auftrag erwies sich als die merkwürdigste Arbeit, die ich jemals angefertigt hatte. Es brauchte nicht lange, um zu verstehen, warum meine Zimmergenossin Probleme mit den Beschreibungen der alten Dienstmagd hatte. Denn Miss Mühlenknecht fiel es schwer, ihre Beobachtungen in Worte zu fassen. So wusste sie zwar, wenn auf einem Bild ein Baum zu sehen war. Doch ob er realistisch oder abstrakt gezeichnet war, ob es sich um eine Eiche oder eine Erle handelte und ob er frisches Sommergrün oder buntes Herbstlaub trug, das konnte sie nicht sagen. Und so verhielt es sich mit allem: Menschen, Tiere, Gebäude und abstrakten Formen.
„Ich muss es sehen, um mich zu erinnern“, gestand mir Miss Mühlenknecht fast entschuldigend, als wir die Arbeit begannen. Und tatsächlich: Sobald sie etwas gezeichnet vor sich sah, konnte sie mich dirigieren. Nach vier Stunden und ebenso vielen verbrauchten Zeichenblöcken war es schließlich soweit. Auf dem Wohnzimmertisch lagen zehn klare Skizzen, die nach Miss Mühlenknecht exakt den Gemälden im Zimmer ihres Herrn entsprachen. Sechs davon waren Stadtansichten, offensichtlich lokale. Eine Skizze zumindest ähnelte einem mir bekannten Platz im East End, auch wenn der Künstler die Landschaft sehr verfremdet hatte. Der Rest war ein buntes Sammelsurium aus Stillleben, Tierzeichnungen und abstrakten Gemälden, alle im gleichen Stil gehalten.
„Wir sind fertig“, rief ich Miss Montan entgegen, als sie einmal wieder zu uns ins Wohnzimmer kam. „Sehr schön!“, nahm meine Mitbewohnerin die Neuigkeiten auf, ließ sich auf dem Sessel nieder und begann die Zeichnungen eingehend zu studieren. Ihre Blicke brannten sich nahezu ins Papier, als Miss Mühlenknecht beunruhigt zur Uhr auf dem Kaminsims schaute.
„Es ist schon sehr spät“, sagte sie, „ich fürchte, meine Herren werden mich bald vermissen“.
„Dann sollten wir keine Zeit verschwenden“, antwortete ich ihr.
„Miss Montan“, rief ich meiner Zimmergenossin zu, die augenblicklich zusammenzuckte.
„Was?!?“, antwortete diese erschrocken. Wie so oft war sie wieder einmal so sehr in ihr Tun versunken, dass die Welt für sie nicht mehr existierte.
„Ihr Gast möchte gehen“, setzte ich fort.
Schnell hatten wir Miss Mühlenknecht verabschiedet und ins Wohnzimmer kehrte Ruhe ein. Auch wenn es die Ruhe vor dem Sturm zu sein schien. Noch während ich Gebäck und Gläser abräumte, war Miss Montan nicht mehr ansprechbar. Unablässig wanderten ihre schwarzen, durchdringenden Augen über die Zeichnungen. Hochkonzentriert schien sie jedes Detail mit Argusaugen aufzusaugen. Über ihre Lippen kamen rätselhafte Worte, flüsternd in den Raum gesprochen. Immer wieder zerschnitt ein leises „interessant, sehr interessant“ die Stille. Nur zu gerne hätte ich hinter ihre klare Stirne geschaut. Nur zu gerne hätte ich gewusst, was sie in diesem Moment dachte. Doch in Miss Montan einzudringen war unmöglich. Die Luft kochte vor Spannung. Plötzlich sprang sie auf. Das zehnte Bild fiel ihr fast aus den Händen.
„Vielen Dank, Miss Whibby, Sie haben mir sehr geholfen“ rief sie mir energisch entgegen. Ein Wirbelwind sauste ins Schlafzimmer. Das letzte Glas noch in der Hand haltend, konnte ich ihr nur verdutzt hinterher sehen. Was war geschehen? Was hatte sie entdeckt?
Nicht eine Minute verging, da kehrte Miss Montan zurück. Die Skizzen mit einer Kordel zu einer Rolle verknotet, rauschte sie an mir vorbei zum Flur. Eilig flogen Mantel und Hut von der Stange. Mich keines Blickes würdigend, fegte ein Orkan zur Wohnungstüre hinaus. Ich ließ das Glas fahren. Ich riss den Mantel vom Haken und rannte ihr hinterher.
„Halt, wo wollen Sie denn hin, Miss Montan“, rief ich durchs Treppenhaus. Doch keine Reaktion. Rasend stürmte ich die Treppe hinab. Das sonst so ruhige Haus bebte wie vom Donner unter meinen Schritten. Kurz hinter dem Windfang, an einer Straßenlaterne, hatte ich sie endlich eingeholt. Atemlos brach ich neben ihr zusammen.
„Um Himmelswillen, Miss Whibby, Sie sind ja völlig aus der Puste“, rief Miss Montan halb überrascht, halb besorgt, als ich sie auf mich herabsah. Das trübe Licht der frisch entzündeten Gaslaternen umrahmte ihr Gesicht mit zwielichtigen Halbschatten.
„Was machen Sie eigentlich hier unten?!“, rief sie überrascht, „ist irgendetwas nicht in Ordnung?“ „Nein. Ich bin Ihnen nur gefolgt“, antwortete ich röchelnd.
„Warum?“, fragte sie verwundert.
„Ich wollte wissen, was sie mit meinen Skizzen nun anfangen werden“, keuchte ich. „Reicht es Ihnen nicht, dass Ihnen die halbe Miete erlasse, Miss Whibby?“
Ihre Stimme klang erstaunt und fast ein wenig vorwurfsvoll
„Nein“, gestand ich und konnte endlich wieder atmen, „ich bin von Natur aus ein neugieriger Mensch“.
Miss Montan lachte plötzlich laut auf.
„Eine wahre Tugend“, witzelte sie. Ihre Augen glänzten feurig, „na dann kommen Sie. Aber dass Sie mir ja keinen Ärger machen“.
„Das werde ich nicht“, versprach ich, „wo gehen wir denn hin?“.
„Wenn sie mich schon verfolgen, werden Sie es ertragen müssen, ein wenig im Ungewissen zu bleiben“, antwortete sie zwinkernd und setzte schweigend ihren Weg fort. In der feuchten Abendluft kräuselten sich ihre schönen, dunklen Haare zu wilden Locken. Die Luft roch nach Frühlingsblumen und nach Abenteuer. Ich folgte ihr.
Nachdem wir ein paar Straßenecken hinter uns gelassen hatten, kamen wir zum Kutschplatz. Schnell schob mich Miss Montan in das Innere einer Mietkutsche. Auf der kalten, harten Holzbank, drängten wir uns eng aneinander.
„Wohin soll es gehen?“, fragte der Kutscher rau.
„Zum Victoria Place“, antwortete Miss Montan kühl. Obgleich ich noch nicht lange in der Stadt war, kannte ich den Victoria Place recht gut. Er war ein Vorplatz des Victoria Parks, welcher den Stadtteil Westchurch von Queenstown trennte. Die Gegend galt als Künstlerviertel. Einige meiner Kollegen wohnten in diesem Gebiet. Hatte Miss Montan herausgefunden, von welchem Künstler die Gemälde stammten? Mein Puls raste bei diesem Gedanken. Mit einem heftigen Ruck setzte sich die Kutsche in Bewegung. Laut ratterten die Räder über die Pflastersteine hinweg. Wir würden eine ganze Weile unterwegs sein. Während sich die Kutsche in holpriger Fahrt unserem Ziel näherte, zog sich der Himmel zu. Dichte Wolken verschluckten das letzte Dämmerlicht. Bald war es um uns dunkel geworden. Miss Montan blickte nachdenklich zum Fenster hinaus. Plötzlich stand die Kutsche still. „Wir sind da“, ertönte eine Männerstimme auf dem Kutschbock.
Der Victoria Place war eingebettet in ein Gebiet von hübschen Häuserreihen. Viele Straßen führten in alle Richtungen ab. Große Platanen umzäunten den Platz, Statuen glänzten vor weißem Marmor und ein großer Springbrunnen, das Herzstück, plätscherte fröhlich vor sich hin. Hinter uns lagen die Eingangstore zum Victoria Park, vor uns das Victoria Viertel. Miss Montan blickte um sich, als ob sie nach etwas Bestimmten Ausschau hielt.
„Wonach suchen Sie?“, fragte ich aufgeregt. Keine Antwort.
„Ah, da ist sie“, rief Miss Montan plötzlich, „Folgen Sie mir, Miss Whibby“.
Trotz der eingebrochenen Dunkelheit war die Gegend mit Leben gefüllt. Kutschen hasteten über die Pflastersteine hinweg, Menschen mit Künstlermappen eilten in alle Richtungen davon und hier und da hatten sich Musiker oder Pantomimen niedergelassen. Hastig drängten wir uns an dem Trubel vorbei, bis wir eine schmale Seitenstraße erreichten.
Nach ein paar Metern tauchte vor uns auf einmal ein kleiner Laden auf, die Schaufenster über und über mit Gemälden gefüllt. Über der Türe entdeckte ich ein Schild mit der Aufschrift „Goldman’s regionale Kunsthandlung“.
Schnell war Miss Montan die schmale Treppe zur Eingangstüre hinaufgelaufen.
„Wir schließen gleich, Madame“, rief der Mann hinter der Kasse, noch ehe ich eingetreten war. Eine große Gaslampe an der Decke und eine Laterne am Verkaufstresen erfüllten den Raum spärlich mit Licht.
„Oh, das ist schade“, antworte Miss Montan freundlich, „aber vielleicht haben Sie doch noch ein wenig Zeit, uns zu helfen?“.
Ihre Stimme klang wie die eines jungen Gentlemans, nicht wie die einer Dame.
„Hmm“ räusperte sich der Mann.
Realisierend, dass hier andere Überzeugungstaktiken gefragt waren, setzte ich mein liebreizendstes Lächeln auf. Mr. Goldman blickte zu mir herüber und wandte sich dann wieder Miss Montan zu. „Worum geht es denn, Madame?“.
Nun übernahm Miss Montan das Wort: „Meine Cousine und ich sind auf der Suche nach einem Geschenk für unseren Onkel, der demnächst ein großes Jubiläum feiern wird. Er ist ein großer Kunstliebhaber und hat uns daher die Skizzen einiger Gemälde zukommen lassen, die ihm gut gefielen. Er nannte uns auch den Namen des Künstlers und der Galerie, doch dummerweise haben sowohl meine Cousine wie auch ich beides vergessen. Nun sind wir schon den ganzen Tag im Viktoria Viertel unterwegs, um eines dieser Gemälde zu finden“.
Ich wunderte mich, warum mich Miss Montan als ihre Cousine vorstellte, doch ich hatte mein Versprechen gegeben, mitzuspielen.
Der Mann blickte uns skeptisch an und schüttelte sich kurz: „Haben Sie denn zumindest noch die Skizzen zur Hand, Madame?“.
„Oh ja, natürlich. Sie sind hier“, antwortete Miss Montan, löste das Band von der Rolle und breitete die Skizzen auf dem Ladentisch aus.
„Ah“, sagte der Mann sofort, als er sich über die Papiere beugte, „Alice Wollstone“.
Miss Montans Gesicht hellte sich schlagartig auf. „Sie kennen die Künstlerin also?“.
„Ja“, antwortete der Mann, richtete sich auf und strich sich mit der Hand über den Bart, „allerdings wurden Wollstones Werke bisher nur einmal in einer Galerie ausgestellt und das ist viele Jahre her“. „Vielleicht hat unser Onkel sich auch geirrt“, klinkte ich mich nun ins Gespräch ein, „und meinte bei einem Kunsthändler“.
„Hm“, brummelte Mr. Goldman nachdenklich. „Sagen Sie, mit welchem Preis müssten meine Cousine und ich denn in etwa für ein Gemälde rechnen?“, setzte Miss Montan fort.
„Für Wollstone?“, antwortete der Mann gelassen, „Nun, in jedem anderen Laden bekämen Sie Wollstone vermutlich geschenkt.“
Verwunderung trat auf Miss Montans Gesicht.
„Sie trifft nicht den Geschmack der Zeit.“, fuhr Mr. Goldman erklärend fort, „Ich halte es ja eher mit Ihrem Onkel, aber auch ich muss aufs Geld achten. Wenn Sie mit dem Preis eines guten Buches zufrieden wären, stünde unser Geschäft.“.
„Das heißt, Sie haben die Gemälde hier? “, fragte Miss Montan erfreut.
„Einige ja“, antwortete Mr. Goldman ruhig, „und jetzt, wo Sie es sagen…“.
Mitten im Satz brach der Mann ab und blickte mit gehobenen Augenbrauen hinunter auf die Skizzen. Das schummrige Licht der Lampe ließ seine Denkfalten stärker hervortreten.
„Das ist eigenartig“, bemerkte er schließlich.
„Was ist eigenartig?“, fragte ich.
„Nichts, nur ein merkwürdiger Zufall“, wies er meine Frage ab und warf dabei einen kurzen Blick zur Seite. Miss Montan runzelte augenblicklich die Stirne. Nun betrachtete Mr. Goldman die Skizzen noch eingehender und blätterte sie sorgfältig durch,
„Erstaunlich“, setzte er fort,
„Diese“, er deutete auf die letzten drei Blätter, „habe ich noch nie gesehen“.
Am Rande nahm ich wahr, wie Miss Montan drei unauffällige Schritte rückwärts trat, leise und von Mr. Goldman unbemerkt.
„Wie schade“, sprach sie ein wenig zu bestimmt, „Gerade die gefielen unserem Onkel besonders gut. Vielleicht führt sie eine andere Kunsthandlung?“
„Sehr unwahrscheinlich“, antwortete Mr. Goldman und beugte sich wieder rätselnd über die Bilder. Miss Montan, die nun seitlich hinter mir stand, wurde mit einem Mal eigenartig still.
„Wie ich schon sagte, war Wollstone nie sehr erfolgreich. In ihrer Ausstellung wurden vielleicht drei Gemälde verkauft. Danach wollte kein Galerist sie mehr ausstellen. Und es würde mich wundern, wenn eine andere Kunsthandlung sich ihrer Gemälde angenommen hätte“.
„Vielleicht weiß jemand mehr darüber?“, fragte Charlotte Montan.
Die Stimme Charlotte Montans war eingefärbt von einen seltsamen Unterton. Hohl und monoton klangen ihre Worte mehr wie eine Feststellung denn eine Frage. Ein unauffälliger Blick nach hinten verriet mir, dass ihre Aufmerksamkeit längst nicht mehr dem Ladentisch galt. Schnell wanderten ihre Blicke von einer Ecke des Raums in die andere, als ob sie etwas suche.
„Spontan fällt mir da nur Miss Wollstone selbst ein“, antwortete Mr. Goldman, dem die sonderbare Situation offensichtlich entgangen war. Miss Montan reagierte nicht mehr.
„Könnten Sie Miss Wollstone denn ausrichten, dass wir Interesse an ihren Bildern hätten?“, sprang ich ein, um das Gespräch im Fluss zu halten.
„Das wird schwer möglich sein, Madame“, antwortete der Mann ernst, „Miss Wollstone ist vor über einem Jahr verstorben“.
„Oh“, rief ich überrascht aus – ohne ein Echo von Charlotte Montan.
„Aber ich kann Ihnen die Adresse Ihrer Nichte geben. Sie verwaltet ihren Nachlass“, bot mir Mr. Goldman an.
„Das wäre sehr nett von Ihnen“, bedankte ich mich und spürte meine Anspannung. Als der Mann sich umwande, um die Adresse aufzuschreiben, ging Charlotte Montan zielstrebig auf den Ladentisch zu und rollte die Skizzen zusammen. Zügig, doch ohne übertriebene Hast trat sie in den Schatten eines Regals und deutete mir mit einer versteckten Geste, ihr zu folgen.
„Was ist los? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ fragte ich leise.
„Psst“, herrschte sie mich an, die Lippen auf mein Ohr gepresst, „Kein Wort Miss Whibby. Verhalten Sie sich, als ob nichts wäre, aber bleiben Sie bloß hier im Schatten.“
Nervös warf sie einen Blick durchs Schaufenster auf die Straße und lächelte plötzlich auf. Als der Mann mit Schreiben fertig war, nahm sie ihm eilig den Zettel mit der Adresse aus der Hand.
„Vielen Dank für Ihre Mühen“, bedankte sie sich freundlich bei Mr. Goldman, „meine Cousine und ich werden es sich überlegen“.
„Wollen Sie nicht noch das eine oder andere von Wollstones Gemälden in Augenschein nehmen? So viel Zeit, Sie Ihnen schnell zu zeigen, hätte ich noch.“
„Vielen Dank für das Angebot, Mr. Goldman“, antwortete Miss Montan, „Aber wir sind beide sehr müde, ich denke, wir werden dies zu einem günstigeren Zeitpunkt nachholen“.
„Wie Sie meinen“, antwortete der Mann und wir verabschiedeten uns.
Insgeheim wunderte ich mich, warum Miss Montan die Bilder, die so wichtig für ihren Fall waren, nicht in Augenschein nehmen wollte. Doch noch ehe ich dazu kam, lange darüber nachzudenken, drängte Miss Montan mich sanft in Richtung Türe und gab mir durch einen strengen Blick zu verstehen, dass sie keinen Widerstand duldete.
Schnell waren wir aus dem Lichtkegel des Ladens herausgetreten und die Treppe zur schlecht beleuchteten Straße hinuntergegangen. Ich wollte gerade meinen Fuß auf den Bürgersteig setzen, da riss Miss Montan mich plötzlich in eine dunkle Nische neben der Treppe. Vor Schreck und Überraschung blieben mir die Worte im Halse stecken
„Hören Sie mir zu, Miss Whibby“, versuchte Miss Montan mir in ruhigem Ton zuzuflüstern, doch in ihrer Stimme lag ein fieberndes Zittern, „Sehen Sie die Frau dort vorne mit dem roten Kleid?“ Ich nickte wortlos.
„Sie werden jetzt zu dieser Frau gehen und sie ansprechen. Es ist mir egal, was Sie ihr sagen. Reden sie nur mit ihr und weichen Sie nicht von ihrer Seite, bis sie um eine Straßenecke biegt und dann nehmen Sie die nächste Droschke nachhause.“
Ich nickte abermals.
„Und schauen Sie auf gar keinen Fall zurück zu mir. Haben Sie das verstanden?“, fügte Miss Montan mit Nachdruck hinzu.
„Ja“, antwortete ich und nickte erneut, „aber…“
„Jetzt ist keine Zeit für Fragen“, fiel mir Miss Montan aufgeregt ins Wort, „Machen Sie schon und zwar schnell“.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was Miss Montan im Schilde führte. Doch der Hauch der Gefahr, der mich umnebelte, ließ mich schweigen. Mein Herz klopfte wie wild vor Aufregung und vor Angst. Es war schwer, nicht zurückzuschauen, doch ich zwang mich, durchzuführen, was Miss Montan mir aufgetragen hatte. Keine Fragen, keine Wünsche durften mich davon abbringen. Miss Montans Anweisungen waren ein Dogma, dem ich wortlos folgen musste. Der Plan ging auf. Bald schon hatte saß ich wieder auf einer hölzernen Kutschbank. Meine Gedanken aber kamen nicht zur Ruhe. Was hatte meine Mitbewohnerin nur entdeckt? Was tat sie wohl nun in dieser schmalen Straße am Victoria Place? Und was hätten meine Augen wohl erblickt, wenn ich meinem Drang nachgegeben und zurückgeschaut hätte?
Die Stunden in der Fellburn Street wollten nicht vergehen. Ich entzündete Feuer und Licht, versuchte zu zeichnen, versuchte zu lesen, versuchte mich sogar am Klavier, doch ich fand keine Ruhe. Erst gegen Mitternacht forderte die Müdigkeit ihren Tribut. Eng an Bastet gekuschelt schlief ich abermals auf der Wohnzimmercouch ein. Mitten in der Nacht schreckte ich aus dem Schlaf. Auf dem Flur war ein metallisches Klacken zu hören. Sofort saß ich kerzengerade. Doch als ich zu klaren Sinnen kam, erkannte ich, dass es nur Miss Montan war, die nachhause kam. Die Zeiger der Uhr standen auf kurz nach ein Uhr nachts. Tief atmete ich meinen Schrecken aus. Schon stand Miss Montan im Wohnzimmer.
„Oh Miss Whibby, Sie sind noch wach?“, fragte sie überrascht.
„Ja“, antworte ich, „ich konnte nicht schlafen, zu viele Gedanken“.
„Der Tag muss für Sie sehr aufregend gewesen sein“, bemerkte sie fürsorglich.
„Allerdings“, antwortete ich und stellte erstaunt fest, dass Miss Montan kein bisschen müde aussah. „Für Sie etwa nicht?“, fragte ich verwundert.
„Oh nein, ich fand es sehr entspannend“, lachte meine Mitbewohnerin auf. Bei allem, was ich von Miss Montan bisher mitbekommen hatte, wusste ich nur allzu gut, dass dies die absolute Wahrheit war. Umso erstaunlicher und bewundernswerter erschien mir diese sonderbare Frau.
„Haben Sie denn noch mehr über die Kunstwerke herausfinden können?“, fragte ich unverfroren. „Vielleicht“, lächelte Charlotte Montan geheimnisvoll und ließ sich zufrieden durchatmend auf ihrem Sesseln nieder. Ihre gute Laune war mir Antwort genug. Nun wurde ich neugierig.
„Was denn?“, fragte ich unverblümt. „Sie sind ganz schön neugierig, Miss Whibby“, bemerkte Miss Montan halb lächelnd, halb ärgerlich.
„Ich weiß“, antwortete ich schelmisch grinsend, „Vor wenigen Stunden noch nannten Sie es eine Tugend“.
Wieder lachte die Geheimnisvolle laut auf: „Sie sind wirklich gewitzt, Miss Whibby, das muss man Ihnen lassen.“
Ein halbe Minute verging in Stille. Dann begann Miss Montan sehr ernst zu werden: „Das war im Übrigen mein voller Ernst. Neugierde ist eine Tugend, zumindest die richtige. Die Welt wäre eine bessere, wenn Menschen sie nur ein bisschen mehr zu schätzen wüssten, anstatt neugierigen Kindern mit dem Rohrstock auf die Finger zu schlagen.“
Ihre Blicke wanderten hinüber zum Feuer. Ihre Augen wurden trübe und glasig. Fast war es so, als ob Miss Montan in weite Fernen oder längst vergangene Zeiten zurückblickte. Verwundert starrte ich sie an, denn ich hatte ihre Worte bis zu dieser Sekunde für einen Scherz gehalten.
„Wie meinen Sie das, Miss Mon..?“, fragte ich verblüfft.
Doch dann verstummte ich, von der gleichen Melancholie ergriffen. Langsam wandte ich meinen Blick den tanzenden Flammen zu. In diesem Moment sah ich, wie Charlotte Montan leise lächelte. „Sehen sie, wie hell das Feuer ist, Miss Whibby?“ flüsterte sie mir zu. Ich nickte schweigend. Mit einer geschickten Handbewegung warf meine Zimmergenossin altes Zeitungspapier in die Flammen. Funken stoben, verglühten. Das Licht leuchtete das ganze Zimmer aus. Alle Dinge wurden angestrahlt, traten klar aus der Dunkelheit hervor. Für eine Sekunde wich ich geblendet zurück. Und doch waren Licht und Wärme angenehm. Miss Montan beobachtete mich aus den Augenwinkeln genau.
„Was würde geschehen, würde man versuchen, das Feuer auszumerzen, Miss Whibby?“, fragte sie schließlich. Ich wusste keine Antwort, sah nur im Zimmer umher, ob meine Augen sich erholt hätten. Die Schatten hatten den Raum zurück erobert. Alles lag in Dunkelheit. Nur die Dinge, die dicht vor dem Kamin, nahe am Feuer standen, waren jetzt noch gut zu sehen. Verblüfft schaute ich in Miss Montans Gesicht und sah ein wissendes Lächeln auf ihren Lippen.
Auf einmal zerriss der Stundenschlag der Kaminsimsuhr das Band der Stille zwischen uns.
„Zwei Uhr“, rief Miss Montan vergnügt, „die ideale Zeit, um den Tag mit einem Brandy zu beschließen“.
Gut gelaunt sprang sie auf und holte die Flasche aus dem Barfach. Ich traute meinen Ohren nicht. Hatte es gerade wirklich zwei Uhr geschlagen? Noch nie in meinem Leben, mit Ausnahme einiger Silvesternächte, war ich zu so später Stunde noch auf den Beinen gewesen. Ich erkannte mich selbst nicht wieder. Lachend drückte mir Miss Montan ein Glas in die Hand. Entgeistert schaute ich sie an. „Um diese Uhrzeit?!? Ich war noch nie so lange wach“, rief ich überrascht. „Tja, Miss Whibby, wer mich begleitet, sollte eben mit allem rechnen“, zwinkerte mir meine Mitbewohnerin zu, „auf den Abend“.
Zögerlich stieß ich mein Glas an ihres. Trotz meiner Müdigkeit und meiner guten Erziehung blieb ich noch eine Weile bei ihr sitzen. Doch allmählich schien auch Miss Montan müde zu werden.
„Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse“, sagte sie schließlich mitten Gespräch, „wenn wir unseren kleinen Plausch für heute beenden. Ich habe Morgen einige wichtige Dinge zu erledigen und es ist schon spät. Gute Nacht, Miss Whibby“.
„Gut Nacht, Miss Montan“, antwortete ich überrascht und sah zu, wie Charlotte Montan vom Sessel aufstand. Die kleine, zierliche Gestalt, deren grau gestreifter Rock über den Boden schweifte, hatte die Türe fast erreicht, als ich leise „Miss Montan?“ rief.
Das Gesicht mit den klaren Zügen drehte sich noch einmal zu mir um. Schwaches Licht umspielte den schmalen Mund.
„Was ist, Miss Whibby?“, fragte sie ruhig.
„Werde ich… werde ich Sie begleiten dürfen?“, sprach ich leise. Miss Montan lächelte still
„Werde ich Sie denn davon abhalten können?“ antworte sie leise.
Ich senkte den Blick.
„Zehn Uhr Frühstück, danach müssen wir uns sputen, die Droschke ist bereits auf unsere Namen bestellt“, setzte sie zwinkernd hinzu und war durch die Türe verschwunden. Lächelnd blickte ich ihr nach, löschte das Feuer und ging zu Bett.
Der nächste Morgen kam zu plötzlich. Tosender Lärm auf dem Flur riss mich aus dem Schlaf. Grelles Sonnenlicht stach mir in die Augen. Irgendetwas rüttelte heftig an meiner Türe und schrie meinen Namen.
„Miss Whibby, beeilen Sie sich, wir haben nicht mehr viel Zeit!“
Ich schlug die Augen auf. Der Wecker auf meinem Nachttischschränkchen zeigte halb elf. Sofort sprang ich aus dem Bett. Mieder, Unterröcke und Kleider flogen aus dem Schrank. Blitzschnell riss ich, noch im Nachthemd, die Türe auf und raste an Miss Montan vorbei ins Badezimmer. Hastig tauchte ich meine Hände in den Waschtrog. Wie konnte ich nur verschlafen? Wie konnte mein Lebensrhythmus überhaupt so außer Kontrolle geraten wie in den letzten Tagen? Allmählich glich ich mehr Miss Montan als mir selbst. Nein, sie war in den letzten Tagen sogar routinierter als ich.
Eilig drängten wir zur Wohnungstüre hinaus, hasteten die Treppen hinunter auf die Fellburn Street und kamen erst wieder zu Atem, als sich das Räderwerk der Droschke unter uns in Bewegung setzte. Die Morgensonne blitzte in Miss Montans Augen und die frische Frühlingsluft fegte unsere Müdigkeit hinweg. Schnell drückte mir meine Mitbewohnerin einen in Zeitung gehüllten Gegenstand in die Hände.
„Was ist das?“, fragte ich.
„Ihr Frühstück.“, lachte Miss Montan, „Guter, englischer Speck, den sollten Sie sich nicht entgehen lassen“.
„Oh Danke!“, sprach ich und öffnete schnell das Päckchen.
„Wohin fahren wir?“, fragte ich neugierig.
„Ein kleiner Besuch bei Verwandten, wenn auch nicht den unsrigen“, antwortete Miss Montan geheimnisvoll und zwinkerte mir zu. Ich verstand nicht, was sie mir damit sagten wollte, doch ich ließ es dabei bewenden.
Während der Fahrt versuchte ich anhand der Straßen, Häuser und Plätze heraufzufinden, wohin die Kutsche uns brachte. Trotz meiner mangelnden Ortskenntnisse erkannte ich das eine oder andere Gebäude. Als wir endlich hielten, waren wir meinen Berechnungen nach am Rande des Victoria Viertels. Eine Häuserreihe, geschützt durch hohe Alleebäume, lag vor uns. Ein strahlend blauer Frühlingshimmel zog sich über uns hinweg.
„Eine schöne Gegend“, flüsterte ich Miss Montan zu. Meine Zimmergenossin nickte stumm und andächtig.
„Dort vorne ist es“, deutete sie auf ein Haus in etwa dreißig Metern Entfernung. Schnellen Schrittes liefen wir die Straße hinunter und kamen vor einem hohen, schmiedeeisernen Tor zum Stehen, an dem ein feines, goldenes Schild befestigt war: „Mr. & Mrs. Porters Pension für Künstler“.
Es war ein Mietshaus, das mich fast ein wenig an die Fellburn Street erinnerte.
„Hier ist es“, deutete Miss Montan auf eines der Namensschilder.
„Familie Rivers. Zeichenunterricht und Auftragsarbeiten“ las ich.
Wir klingelten. Eine alte Dame ließ uns herein und zeigte die Treppe hinauf.
„Oberster Stock“, antwortete sie knapp. Langsam stiegen Miss Montan und ich die engen Treppenstufen hinauf. Die Luft war stickig, aus allen Wohnungen drang Lärm. Hier und da blätterte Putz von den Wänden ab. Im obersten Stock öffnete sich plötzlich eine Türe. Ein etwa vierjähriger Junge blickte schüchtern auf uns herab.
„Tom, du sollst doch nicht immer gleich zur Türe laufen“, rief ihm eine helle Frauenstimme hinterher. Schweigend drückte sich der Junge zurück in den Türrahmen. Kurze Zeit später erschien eine junge Frau auf den Dielen. Sie musste etwa Mitte 20 sein. Hochgewachsen, schlank und außergewöhnlich hübsch war sie. Ihr sanftes Gesicht wurde von den feurigen Wellen roter Locken umrahmt und ihre feingliedrige Gestalt umschloss ein schlichtes, doch elegant geschnittenes, blaues Kleid, das über eine zierliche Tonüre fiel. Die leichte Wölbung ihres Bauches verriet eine noch junge Schwangerschaft. Für einen Moment blieben Miss Montan und ich stumm stehen und blickten gebannt zu ihr herauf.
„Entschuldigen Sie bitte, mein Sohn ist einfach zu neugierig“, rief uns die Frau entgegen. „Kommen Sie wegen des Zeichenunterrichts? Derzeit sind leider alle Plätze belegt. Doch ab April gebe ich neue Kurse“.
Miss Montan rührte sich als Erste von uns. „Nein, Danke, Mrs. Rivers. Meine Cousine und ich kommen eigentlich wegen Alice Wollstone zu Ihnen. Wir interessieren uns für ihre Werke. Uns wurde mitgeteilt, Sie würden Ihren Nachlass verwalten?“
Nun verstand ich Miss Montans Anspielung in der Kutsche. Dies also war Alice Wollstones Nichte. „Das ist richtig“, antwortete die Frau verwundert, „ich nehme an, Mr. Goldman hat Ihnen meine Adresse gegeben?“ Wir nickten und bejahten dies.
„Kommen Sie doch bitte herein“, bat uns Mrs. Rivers in die Wohnung.
Der Flur war mit Gemälden regelrecht zugestellt. Viel zu kleine Zimmer schienen daran zu grenzen. Sich für die Unordnung entschuldigend, führte uns Mrs. Rivers in den wohl größten Raum der Wohnung. Es war eine eigenartige Mischung aus Büro, Wohnzimmer und Atelier. Und wie der Rest der Wohnung erschien das Zimmer fiel zu eng. Den meisten Platz benötigte ein großer, schwerer Schreibtisch, der vor einem zugigen Fenster stand. Ringsumher hingen zahllose Kinderporträts an den Wänden. Neben dem Schreibtisch stand ein durchgesessenes Kanapee, gegenüber rumpelte ein alter Kohlenofen. Zahllose Holzstühle und Staffellein versperrten den Weg in der Mitte. Mrs. Rivers bat uns, auf dem Kanapee Platz zu nehmen und trat hinter den Schreibtisch.
„Ihre Zeichenkurse scheinen gut besucht zu sein“, bemerkte Miss Montan freundlich, als wir uns setzten. Mrs. Rivers seufzte.
„Ja, das sind sie. Ich wünschte nur, die Herrschaften würden besser bezahlen, dann könnte ich mir vielleicht auch ein Atelier leisten. Doch kommen wir auf die Bilder zurück. Sie sagten, Sie interessierten sich für die Werke meiner verstorbenen Tante. Suchen Sie nach einem speziellen Gemälde?“.
„Nicht direkt“, antwortete Miss Montan, „Meine Cousine und ich suchen ein Geschenk für unseren Onkel und wollten uns die Gemälde erst einmal ansehen“.
Langsam und von unserer Gastgeberin unbemerkt ließ Miss Montan ihren Blick durch den Raum wandern, als ob sie nach etwas Bestimmten Ausschau hielt. Bei zwei der Kinderportraits stockte sie auf einmal. Falten erschienen auf ihrer Stirn. Es waren das Porträt eines Mädchen und eines Jungen, beide blond und blauäugig. Dann wanderten ihre Augen weiter über den Schreibtisch. Als ihr Blick auf einen Kasten mit Briefen fiel, hielt sie abermals kurz inne. Schließlich kehrten ihre Blicke zu unserer Gastgeberin zurück. Ich verfolgte Miss Montans merkwürdiges Verhalten in Schweigen.
„Die Gemälde meiner Tante bewahre ich auf dem Dachboden auf“, setzte Mrs. Rivers fort, „wenn Sie mir dorthin folgen möchten….“
„Sehr gerne“, antwortete Miss Montan schnell.
Bevor wir das Zimmer verlassen konnten, blieb sie plötzlich mit gespieltem Erstaunen vor den beiden Kinderportraits stehen.
„Oh! Welch hübsche Zeichnungen!“, rief sie mir mit gekünstelter Stimme zu „Sieh mal Sarah, sehen diese beiden Kinder nicht fast so aus wie Miles und Mary, die Kinder unseres Cousins Jack?“. Überrascht hob ich die Augenbrauen, doch dann erinnerte ich mich unseres Rollenspiels. Was immer Miss Montan bezweckte, es musste einen Sinn haben.
„Ja, du hast Recht, Rose“, antwortete ich, „die Ähnlichkeit ist verblüffend“.
„Und wie gut sie gezeichnet sind“, setzte Miss Montan fort. Mrs Rivers war zu uns gekommen.
„Die Arbeiten zweier Kinder aus meinem Kinderkurs“, erklärte sie stolz, „zwei Geschwister, wirklich talentiert.“
„Ach so ein Kinderzeichenkurs“, seufzte Charlotte Montan, „ich glaube das wäre auch etwas für Miles und Mary, was meinst du, Sarah?“.
„Absolut“, stimmte ich zu. Mrs. Rivers Gesicht hellte sich auf.
„Ab April gebe ich neue Kinderzeichenkurse, jeweils dienstags und donnerstags ab 14:00. Noch sind Plätze frei. Falls Ihr Cousin Interesse haben sollte, können Sie mich gerne weiterempfehlen“.
„Sehr gerne“, antwortete Miss Montan, „Unser Cousin sucht schon lange nach einer guten Zeichenschule für seine Kinder“.
Mrs. Rivers lächelte zufrieden. „Doch nun“, setzte Miss Montan fort, „würden wir gerne die Gemälde Ihrer Tante betrachten. Sie sagten, sie befänden sich auf dem Dachboden?“
„Das ist richtig. Wenn Sie mir bitte folgen würden“, antwortete Mrs. Rivers und wies uns mit einer Geste an, ihr auf den Gang zu folgen.
Mrs. Rivers führte uns über die knarrenden Dielen an eine schmucklose Holztür am anderen Ende des Flurs. Als die Türe sich öffnete, fiel unser Blick auf eine schmale, klapprige Holztreppe, die hinauf zum Dachboden führte. Schnell entzündete Mrs. Rivers eine Petroleumlampe, die hellbraune Schatten auf das dunkle Holz warf. Im Schein des fahlen Lichts folgten wir unserer Gastgeberin durch Staub und Spinnenweben den Aufgang hinauf. Unter den wuchtigen Balken des Dachstuhls erstreckte sich ein langer, niedriger Raum, in dem ein Sammelsurium der unterschiedlichsten Dinge lagerte: Kisten und Koffer, ein großer Spiegel, Möbel und Erbstücke aller Art sowie dutzende von Gemälden, alles bedeckt von einer dicken Staubschicht.
„Verzeihen Sie die Unordnung“, entschuldigte sich Mrs. Rivers, „Doch Sie sind die ersten Interessenten, die ich hier heraufführe. Dort hinten und hier drüben sind sie.“
Die eleganten Hände Mrs. Rivers deuteten auf unterschiedliche Ecken des Raumes, in denen einige bemalte Leinwände dicht beieinander standen. Sofort fielen Charlotte Montans und meine Blicke auf drei uns wohlbekannte Gemälde: Die Skizzen, die Mr. Goldman nicht zuordnen konnte.
„Einige der letzten Werke meiner Tante“, erklärte Mrs. Rivers, die unseren Blicken gefolgt war, „Ich habe es noch nicht übers Herz bringen können, sie zu verkaufen.“ Ihre Stimme verriet große Trauer.
„Sie haben Ihre Tante wohl sehr geliebt“, bemerkte ich mitfühlend.
„Sie war wie eine Mutter für mich. Wissen Sie, meine Eltern sind früh gestorben. Nach ihrem Tod zog sie mich groß. Alles, was ich weiß und kann, hat sie mir beigebracht. Bis ich meinen Gatten kennenlernte, lebte ich bei ihr. Es bricht mir das Herz, dass sie nicht mehr da ist.“, erklärte Mrs. Rivers traurig. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich musste an den Tod meines Vaters denken. Ohne meinen Bruder Daniel hätte ich diese Zeit wohl nicht überstanden.
„Haben Sie denn Geschwister oder einen Onkel, mit denen Sie reden können?“, versuchte ich sie zu trösten.
„Leider nicht“, schluchzte sie, „Meine Tante hat nie geheiratet. Ich war auch das einzige Kind meiner Eltern. Es gab immer nur uns beide.“
„Das tut mir sehr leid für Sie, Mrs. Rivers“, sprach ich ruhig und reichte ihr ein Taschentuch,
„Vielen Dank, Sie sind sehr nett“, sprach Mrs. Rivers und wischte ihre Tränen ab.
„Mein Mann ist immer für mich da“, ergänzte sie. Allmählich schien sie sich zu fangen.
„Diese Bilder übrigens sind auch in dieser Zeit entstanden. Es sollte wohl ein Zyklus werden.“
Mrs. Rivers deutete auf vier Gemälde, die neben den uns drei bekannten standen. Charlotte Montan war bereits herangetreten. Mit einem scharfen Blick schien sie die Bilder genauestens zu inspirieren und jedes noch so kleine Detail förmlich aufzusaugen. Langsam fuhr sie mit einem Finger die Oberfläche aller sieben Gemälde ab.
Ein leises „interessant“ entfuhr ihren Lippen, das so bedacht gesprochen wurde, dass es unsere Gastgeberin nicht hören konnte.
Kaum kam Mrs. Rivers näher, zog Miss Montan den Finger weg und trat einen Schritt zurück. „Die Spätwerke ihrer Tante sind wirklich sehr hübsch“, bemerkte sie ein wenig zu trocken, „Sagen Sie, gibt es denn noch andere Interessenten für die Bilder?“.
„Nein“, antwortete Mrs Rivers, „Ich sagte Ihnen ja bereits, dass Sie die Ersten sind, die ich hier heraufführe“.
Charlotte Montan warf Mrs, Rivers einen skeptischen Blick zu.
„Möchten Sie sie kaufen?“, fragte Mrs. Rivers erwartungsvoll.
„Eventuell“, antwortete Miss Montan, „doch zunächst möchten wir noch die anderen Werke Ihrer Tante sehen, nicht wahr Sarah?“
Ich nickte still.
Ein Gemälde, das Alice Wollstone anscheinend nicht mehr beenden konnte, zog sofort Miss Montans Aufmerksamkeit auf sich. Es war das Doppelportrait eines Ehepaares, das offenkundig nicht zur ärmsten Schicht Englands gehörte. Eine feine ältere Dame, die einen ausladenden, reich geschmückten Hut, einen feinen Pelz und ein wertvolles Amulett aus Gold und Rubin trug. Daneben ein älterer Herr, wohl genährt und nicht wirklich attraktiv, doch in einen Sakko von feinstem Stoff gekleidet. Das Bild eines wahren Gentleman und einer wahren Lady. Auf einem einfachen Holzschemel vor dem üppigen Ölgemälde lag halb geöffnet eine lederne Künstlermappe, die ausschnittweise den Blick auf einige Bleistiftskizzen preisgab.
„Ein ausgesprochen hübsches Gemälde“, bemerkte Miss Montan anerkennend, „Schade, dass es ihre Tante nicht fertigstellen konnte. Es hätte unserem Onkel sicher gefallen“
„Sir Charles und Lady Clarissa Hanford“, erklärte Mrs. Rivers das Motiv, „Meine Tante war so etwas wie ihre Hauskünstlerin. Die Herrschafften ließen sich oft von ihr portraitieren. Zwar hätte meine Tante lieber mit ihrer eigenen Kunst ihren Lebensunterhalt verdient, doch der Verdienst war gut. Kurzzeitig nahmen die Herrschaften uns sogar in ihrer Villa im Nordviertel von Queenstown auf, nachdem meine Tante ihre Wohnung verloren hatte. Die meisten ihrer Bilder sind noch im Besitzt der Witwe Lady Handford. Sir Handford ist vor wenigen Wochen verstorben..“
Mrs. Rivers räusperte sich kurz. „Das Portrait überließ mir Lady Hanford zur Erinnerung. Es ist unverkäuflich.“
„Oh!“, rief Miss Montan.
„Doch falls Sie eines der anderen Bilder kaufen möchten,…“, erklärte Mrs. Rivers hastig.
„Ich denke, meine Cousine und ich werden das in Ruhe besprechen.“, fiel ihr Miss Montan ins Wort. „Wie Sie wünschen“, antwortete Mrs Rivers, „Ich bin meist zuhause anzutreffen. Kommen Sie einfach vormittags vorbei, dann können wir die Einzelheiten besprechen“.
Nachdem Miss Montan sich für die Gastfreundschaft bedankt hatte, führte uns Mrs. Rivers wieder zurück zur Wohnung. Vorsichtig stieg ich die morschen Stufen hinab, dicht gefolgt von Miss Montan. Das spärliche Licht der Petroleumlampe leuchtete das Treppenhaus nur ungenügend aus. Plötzlich hörte ich hinter mir einen fürchterlichen Schrei. Mrs. Rivers und ich fuhren um. Am Boden kauerte Miss Montan mit einem schmerzverzerrten Gesicht und rieb sich das Bein.
„Um Gottes Willen, was ist passiert? Haben Sie sich verletzt?“, rief ich aufgebracht. Doch Miss Montan regte sich nicht. Mit erschrockenem Blick starrte Mrs. Rivers ihren Gast an.
„Ich hole sofort Hilfe“, rief sie und eilte zum Treppenhaus. Plötzlich ging irgendwo eine Türe auf. „Mami?“, rief eine Kinderstimme aufgeregt. Schnell sprang der Junge seiner Mutter nach.
„Passen Sie auf sich auf, Ihr Baby!“, rief ich beiden noch hinterher. Doch mehr als die Schatten, die durch die Wohnungstüre verschwanden, konnte ich nicht mehr erkennen.
Auf einmal spürte ich hinter mir einen Ruck. Ich drehte mich um, da stand Miss Montan aufrecht hinter mir. Nicht ein Hauch von Schmerz lag in ihrem Gesicht. Völlig entgeistert starrte ich sie an.
„Manchmal sind kleine Ablenkungsmanöver notwendig“, erklärte sie lapidar „Und nun hören Sie mir zu. In ihrem Zustand könnte es eine Weile dauern, bis Mrs. Rivers zurückkehrt. Wenn wir Glück haben, reicht die Zeit. Sobald Sie auch nur den kleinsten Schatten im Türrahmen sehen, schnippen sie drei Mal mit den Fingern. Haben Sie mich verstanden?“.
Ich nickte wortlos. Blitzschnell war Miss Montan auf dem Dachboden verschwunden. Insgeheim ärgerte ich mich. Wie konnte sie eine Schwangere durch das Treppenhaus hetzten? Und doch konnte ich Charlotte Montan nicht böse sein. Wie alles, was sie tat, musste auch dies einen Sinn haben. Mein Puls raste. Nun war ich also mitten drin im Abenteuer. Es dauerte nur wenige Minuten, da hörte ich Stimmen aus dem Treppenhaus. Schnell schnippte ich drei Mal mit den Fingern. Lautlos und geschwind wie eine Katze stand Miss Montan plötzlich wieder hinter mir. Gerade konnte ich noch erkennen, wie sie einen kleinen, weißen Gegenstand in ihr Strumpfband steckte und eilig die Röcke glattzog. Nur Sekunden später erschien Mrs. River in Begleitung Mrs. Porters und eines älteren Mannes, der offensichtlich Mr. Porter sein musste, im Türrahmen. Der Junge drückte sich eng an den Rock seiner Mutter. Die beiden älteren Herrschaften boten Miss Montan sofort ihre Hilfe an. Doch meine Zimmergenossin lehnte dankend ab. Der Schock sei schlimmer gewesen als die Verletzung. Unter den kritischen Blicken Mrs. Rivers, die uns mahnte, dass mit Zerrungen nicht zu spaßen sei, humpelte Miss Montan zur Türe und verabschiedete sich von unserer besorgten Gastgeberin. Kaum hatten wir die Straße erreicht, war Miss Montan wieder gänzlich „kuriert“.
„Eine äußerst hübsche Frau und offensichtlich auch begabte Künstlerin“, bemerkte ich bewundernd, als ich einen Blick zurück zum Haus warf.
„Ja, das ist wohl wahr“ stimmt mir Miss Montan zu. „Sind Sie neidisch, Miss Whibby?“, fragte sie leise.
„Ein wenig“, gestand ich. Miss Montan lächelte.
„Oh, seien Sie gewiss, es gibt Fälle, in denen helfen ein paar Skizzen mehr als die schönste Silhouette in Öl“.
Sie lachte, ich lachte und wir beiden rissen uns endlich vom Haus los und liefen hinunter zur nächsten Straßenecke, wo die Droschke auf uns wartete.
Die Stadt war nebelverhangen am nächsten Morgen. Dunstwolken stiegen in der Morgendämmerung empor, als ich die Läden öffnete. Meine Mitbewohnerin hatte ich seit den frühen Nachmittagsstunden nicht mehr gesehen. Auf dem Heimweg vom Victoria Viertel war sie tief in Gedanken versunken gewesen und sprach kein Wort. Von dem hektischen Treiben, das die Stadt zur Mittagszeit erfüllte, bekam sie nichts mehr mit. Nur einmal hielten wir kurz an einer Poststation. „Was haben Sie vor?“ hatte ich ihr hinterher gerufen. Doch die kleine Gestalt war bereits hinter den breiten Türen verschwunden. Hinter dem mit Metallbeschlägen versehenem Milchglas konnte ich gerade noch ihren Schatten erkennen.
„Nur ein kurzes Telegramm“, waren ihre einzigen Worte. Zuhause verschwand sie eilig auf ihr Zimmer und schlug mir, als ich ihr Tee bringen wollte, die Türe vor der Nase zu. Die Zeit dränge, sagte sie mir und ich stand vor verschlossener Pforte. Ärgerlich beschloss ich, mich nicht mehr um sie zu kümmern und ging zu Bett, ohne sie noch einmal gesehen zu haben.
Ich warf meinen Morgenmantel über, trat hinaus auf die kühlen Dielen und setzte in der Küche Kaffee auf. Nach einer halben Stunde erschien Miss Montan im Türrahmen, noch die Kleider des Vortags am Leib. Die schwarzen, sonst so klaren Pupillen, hatten sich verschleiert. Die großen Augen waren zu kleinen Schlitzen zusammengeschrumpft. Tiefe Ringe hingen darunter.
„Um Himmelswillen, Miss Montan“, rief ich vom Anblick überrascht, „haben Sie denn gar nicht geschlafen?“.
„Vielleicht eine halbe Stunde“, antwortete sie und setzte sich gähnend an den Frühstückstisch, „vielen Dank für den Kaffee“.
„Sie sollten mehr mit ihren Kräften haushalten. So etwas kann Ihnen schnell Ihre Gesundheit kosten. Mein Vater hätte Ihnen ans Herz gelegt, einen regelmäßigen Rhythmus einzuhalten“, begann ich zu referieren und bemerkte zu spät, dass ich wie meine Mutter klang, wenn sie mir unliebsame Ratschläge erteilte.
„Ihr Vater war Arzt?“, fragte Miss Montan desinteressiert und nippte an der silbernen Kaffeetasse. „Ja“, antwortete ich, „und er hat mir vieles beigebracht“.
Plötzlich klopfe es an der Wohnungstüre. Wir tauschten einen verwunderten Blick aus. Dann sprang Miss Montan auch schon in den Flur. Ich konnte gerade noch die Mütze eines Postboten erkennen, die hinter der Wohnungstür verschwand. Davor stand meine Zimmernachbarin lächelnd über ein Telegramm gebeugt. Aus ihrem Gesicht waren plötzlich alle Spuren der Müdigkeit gewichen.
„Perfekt“, rief sie freudig, verbarg den Zettel in der Hand und holte den Umhang vom Haken. Augenblicklich wusste ich, dass dieser Tag noch spannend werden würde.
„Wo wollen Sie hin, Miss Montan?“, rief ich ihr zu. „Nur ein paar Erledigungen“, antwortete sie hastig.
„Und das Frühstück?“, fragte ich verdutzt, als sie die Türe öffnete.
„Warten Sie nicht auf mich, Miss Whibby, ich werde eine Weile unterwegs sein. Bis später“. Sie lachte und war im Treppenhaus verschwunden.
„Halt!“, rief ich ihr noch hinterher, „Sie können doch nicht gehen, ohne etwas gegessen zu haben“.
Doch meine Worte prallten an der Türe ab, die vor mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.
Eine Weile dauerte in Charlotte Montans Welt offensichtlich drei Stunden. Erst um 11 Uhr hörte ich den Schlüssel im Schloss. Erschöpft, doch keinesfalls unzufrieden trat sie mir im Flur entgegen. „Und?“, fragte ich leise, „Haben Sie den Fall gelöst?“
„Nicht ganz“ antwortete sie geheimnisvoll, „Aber ich bin nah dran.“
„Miss Whibby, Ich brauche Ihre Hilfe.“, begann sie plötzlich zu flüstern. Ihre Stimme klang verheißungsvoll. „Heute um 16:00 habe ich einen wichtigen Termin. Und ich möchte, dass Sie mich begleiten… als meine Zeugin.“
Sofort war ich hellwach. Meine Spannung stieg. Mein Herz begann bei wie wild zu schlagen. Das Abenteuer stand vor der Türe, ich spürte es. Fünf Stunden später saßen Miss Montan und ich wieder einmal in einer Droschke. An der Seite fühlte ich die Wärme ihres Körpers, so eng saßen wir aneinandergedrängt.
„Wohin fahren wir diesmal“, fragte ich gespannt. „Queenstown“, antwortete mir die Detektivin knapp. Für einen Augenblick stocke mein Atem.
„Doch nicht etwa zur Villa der Hanfords?“, fragte ich atemlos.
„Abwarten, Miss Whibby“, antwortete Miss Montan geheimnisvoll. Ihr Tonfall ließ vermuten, dass sie keine weiteren Fragen beantworten würde. Ich schmollte und Miss Montan schmunzelte. Die Bilder der Stadt zogen an uns vorüber: Wägen, beladen mit Lebensmitteln, Körben und Fässern, die zum Marktplatz eilten, Gassenjungen, die rollenden Reifen hinterher jagten, Gentlemen, die ihre Hüte zum Gruß zogen und eine Dampflock, die schrill pfeifend über eine Eisenbahnbrücke rollte.
Endlich blieb die Kutsche in einer prachtvollen Gegend nahe des Victoria Parks stehen. Obgleich wir uns nur am Rande von Queenstown befanden, glänzte alles voll prunkvollen Schimmers. Straßen, Häuser und Plätze waren edler, als alles, was ich bisher in meinem Leben gesehen hatte. Direkt vor uns lag ein nobles Haus. Ein großes, weiß grundiertes Gebäude, mit vielen kleinen Türmen und verwinkelten Erkern, aus denen große Fenster hervorsprangen. Vor dem reichlich geschmückten Mauerwerk glänzten die schmiedeeisernen Gitter der zahlreichen Balkone im Sonnenlicht. Dann entdeckte ich die schwarz lackierte Eingangstüre mit ihren halbkreisförmigem Oberlicht und darüber der goldene Schriftzug:
VICOTIRA HOTEL
Charlotte Montans Augen funkelten. „Wir sind da“, sprach sie und nichts hielt uns mehr in der Kutsche. Schnell hatten wir den Eingang passiert. Aus dem Augenwinkel konnte ich gerade noch einen Blick auf das Schild mit der Aufschrift „Zimmer stundenweise zu vermieten“ erhaschen. Verwundert schüttelte ich den Kopf. Im Foyer tauchten die Gasbirnen eines Kronleuchters das blank geputzte Bodenmosaik in helles Licht. Edle Ledersessel und kleine Beistelltisch luden zum Verweilen ein. Doch Miss Montan lief direkt zur Rezeption. Zwischen Lampe und Klingel verlangte sie die Schlüssel zum Zimmer 25.
„Sind unsere Gäste inzwischen eingetroffen?“, fragte sie den Portier. Der Mann mit der schwarzen Fliege und dem strengen Schnurrbart schüttelte den Kopf.
„Sie erinnern sich an unsere Vereinbarung?“, drang meine Begleiterin auf ihn ein.
„Natürlich, Miss Montan“, antwortete er.
Verwundert lauschte ich dem Gespräch.
„Gut“, sagte Miss Montan zufrieden und warf einen letzten Blick auf ihre silberne Taschenuhr. Die Zeiger standen auf zehn vor vier. Schweiß trat auf meine Stirne.
Über eine breite Marmortreppe mit goldgestrichenem Geländer gelangten wir zum zweiten Stock. Das Zimmer Nummer 25 war ein hübscher, edler Raum mit einem auslandenden Kamin. Eine Reihe großer Fenster gab den Blick auf den Victoria Park frei. Schnell stieß Miss Montan hinter uns die Türe zu. Dann riss sie eine Zwischentür, die zu einem kleinen Schlafzimmer führte, auf.
„Was haben Sie vor?“, fragte ich aufgeregt.
„Keine Zeit für Fragen, die Männer könnten gleich hier sein“, rief sie mir zu. Ihr Atem ging schnell, die Worte klangen gehetzt. Ungeduldig drängte sie mich ins Schlafzimmer.
Plötzlich waren ihre Lippen so nah an meinem Ohr, das ich ihren Atem spüren konnte: „Verschließen Sie die Türe und warten Sie hier, bis ich Sie rufe. Das Schlüsselloch…“.
Die vibrierende Stimme erstarb. In der Ferne hörte ich auf einmal Schritte. Schritte wie von Herrenschuhen auf kaltem Stein. Mein Herz bebte.
„Schnell jetzt“, rief Miss Montan hastig.
„Versprochen“, antwortete ich knapp, schlug die Türe vor ihr zu und presste mein Auge ans Schlüsselloch. Mit einem Satz war auch sie hinter den Türen eines massiven Holzschranks verschwunden. Im Raum herrschte Totenstille. Nur die Schritte wurden immer lauter. Sie kamen näher. Plötzlich hörte ich zwei Stimmen.
„Hier ist es, Nummer 25“, rief eine helle, flache.
„Ja“, antwortete eine tiefe, volle.
Ein metallisches Klacken, dann sprang die Türe auf. Zwei Männer traten ins Zimmer. Sichtlich feine Herren. Der eine braunblond, hochgewachsen und hager, der andere klein und untersetzt, mit gepflegten Schnauzer und dunklem Haar.
„Schließ die Türe, Joseph! Wir dürfen keinen Lärm machen“, rief der Dunkelhaarige scharf.
„Was denkst du, wo es ist?“.
Wolken warfen graue Schatten ins Zimmer, als sich die Männer umblickten.
„Da, neben dem Kamin würde ich sagen“, antwortete der Dunkelhaarige und zeigte auf einem schmalen Streifen unverputzten Mauerwerks. Angestrengt begannen die Männer dort an den Steinen zu zerren, als wollten sie die Wand in Stücke reißen. Plötzlich gab ein Stein nach. Mit einem dumpfen Geräusch fiel er zu Boden.
Ich traute meinen Augen nicht! Aus dem Mauerloch ragte eine hölzerne Kiste hervor. Quietschend sprang das Scharnier auf. Geblendet wich ich zurück. Nichts Geringeres als Gold und Diamanten, Perlen und Rubine lagen in dem Kästchen. Ungläubig starrte ich auf die Schmuckstücke. Diese Dinge mussten ein Vermögen kosten!
„Nicht schlecht, das Geheimnis der guten Wollstone!“, rief der Dunkelhaarige. „Was meinst du wie viel die wert sind?“, fragte der Blonde ernst.
„Mehrere Tausend bestimmt“. Plötzlich begann sich die Schranktüre hinter den Männern zu öffnen. Nur einen Spalt, vorsichtig und still. Lautlos wie eine Katze schlich Charlotte Montan durchs Zimmer zur Türe. Würden die Männer sie bemerken? Mein Herz raste.
„Schnell! Lass uns Ordnung machen und verschwinden!“, rief der eine dem anderen zu. Im diesem Moment zog Miss Montan den Schlüssel und versenkte ihn blitzschnell im Dekolletee.
„Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, meine Herren, doch aus dem Verschwinden wird nichts werden!“ Mir stockte der Atem.
Erschrocken fuhren die beiden Männer um.
„Wer sind Sie? Gehen Sie sofort da weg!“, schrie der Blonde wütend.
„Oh, das würde ich gerne. Doch Diebe darf ich leider nicht entkommen lassen“, rief Miss Montan.
Das Gesicht des Mannes lief glutrot an. Gleich würde er auf sie losgehen. Ich konnte nicht hinsehen. Meine Kehle war wie ausgetrocknet. Schnell fuhr die Hand des Dunkelhaarigen auf die Schulter des Komplizen. Mit festem Druck zog er ihn zurück. Flüstern war im Raum zu hören.
„Sprechen Sie nur laut, meine Herren, ich bin ganz Ohr“, rief Miss Montan. Die beiden Männer schienen sie nicht wahrzunehmen.
„Mein liebes Fräulein“, begann der Dunkelhaarige zu sprechen. Seine Stimme klang wie die eines Gentlemans, der einer Dame zu schmeicheln versuchte. Ich wusste instinktiv, dass er eine Charlotte Montan damit nicht beeindrucken konnte. Doch wusste auch er es?
„Ich weiß ihren Mut zu schätzen“, setzte er fort, „Doch leider sind Sie einem schrecklichen Irrtum aufgesessen. Mein Freund hier und ich würden niemals etwas stehlen. Sehen Sie, meine Frau und ich nächtigten kürzlich in diesem Zimmer, da ging das Gerücht herum, dass sich unter den Dienstboten ein Dieb befände. Wir suchten also einen sicheren Ort für ihren Schmuck. Durch Zufall entdeckten wir die hohle Stelle in der Wand. Bei der Abreise dachten wir beide, der andere hätte den Schmuck eingepackt. Und so blieb das Kästchen im Zimmer zurück. Zum Glück erklärte sich mein Vetter bereit, mir behilflich zu sein, es heute zu holen. Sie sehen also, die Sache verhält sich anders, als es den Anschein hat.“.
Die Detektivin lachte laut auf. „Mein guter Herr“, antwortete sie amüsiert, „Sie müssen mich wirklich für sehr naiv halten. Sehen wir einmal von dem aufschlussreichen Gespräch ab, das Sie vor wenigen Minuten führten. Wäre ihre Frau tatsächlich die rechtmäßige Besitzerin dieser Schmuckstücke, so müssten Sie Mr. Rivers heißen. Ihr Name ist jedoch Edward Chapson ist und ihr Freund, Joseph Farmer, ist auch nicht Ihr Cousin, sondern Teilhaber Ihrer Firma. Leider bringt diese derzeit nicht genügend Gewinne ein, um Ihre Spielschulden zu begleichen. Der Verkauf einiger wertvoller Schmuckstücke käme Ihnen daher sehr gelegen. Natürlich weiß die echte Mrs. Rivers nichts von ihrem Glück. Sie kamen ihr ja zuvor. Doch ich versichere Ihnen, meine Herren, dies wird sich im Laufe des Tages noch ändern“.
Den beiden Herren entglitten die Gesichtszüge. Ratlosigkeit sprach aus ihren Augen, als sie verwunderte Blicke austauschten. Selbstzufrieden lächelnd lehnte Charlotte Montan gegen die Türe. Ich war verblüfft. Zutiefst erstaunt und höchst amüsiert verfolgte ich das Schauspiel. Diese Gewitztheit, diese Genialität, es war einfach zu köstlich! Ich wusste nicht, woher Miss Montan all diese Dinge wusste, doch ich hatte die tiefste Ehrfurcht vor dieser faszinierenden Frau.
Plötzlich begannen sich die leeren Blicken der Männer wieder zu füllen. Kein freundlicher Glanz, nein, etwas Gefährliches brodelte darin. Meine Stimmung kippte augenblicklich. Ich fuhr zurück. Charlotte Montan schien nichts zu bemerken.
„Pass auf! Pass auf!!!“, wollte ich schreien. Doch die Worte blieben mir im Halse stecken. Mir wurde bitterkalt vor Angst.
„Mein gutes Fräulein“, sprach der Dunkelhaarige nun abermals in falscher Freundlichkeit. Der Ton verriet nichts Gutes.
„Ich weiß nicht, woher Sie all dies wissen. Doch ich rate Ihnen, es schnellstens zu vergessen und den Schlüssel herzugeben. Sonst sehe ich mich gezwungen, andere Maßnahmen anzuwenden. Und ich werde höchst ungern handgreiflich gegenüber Damen“.
Ein eisiger Schauer lief meinen Rücken herab. Zittern ergriff meinen ganzen Körper. Ich hätte die Türe aufreißen und mit der Pistole, die ich auch heute mit mir trug, im Anschlag heraus springen mögen. Allein mein Versprechen, mich ruhig zu verhalten, hielt mich zurück. Es war schwer, sehr schwer. Tausend Stoßgebete sandte ich zum Himmel.
Miss Montan schien von all dem völlig unbeeindruckt. Ohne einen Hauch von Scheu blickte sie dem Mann direkt in die Augen.
„Mr. Chapson“, sprach Sie ruhig, „Warum machen Sie Versprechungen, die Sie nicht einzuhalten gedenken? Der Schlüssel befindet sich in meinem Dekolleté. In einer Stunde wird ein Dienstmädchen heraufkommen, um den Raum zu fegen und für den nächsten Gast vorzubereiten. Auf wen fiele wohl der Verdacht, wenn sie mich mit zerrissener Bluse fände? Der Portier kennt Ihre Gesichter. Ihre Namen stehen in den Buchungsbüchern. Eine Anzeige in einer solchen Sache wäre das Ende ihres guten Rufes. Erst Recht, wenn man das Etablissement bedenkt. Eine junge Frau unbemerkt um ihr Erbe zu bringen, ist eine Sache. Das hier eine ganz andere. Und das wissen Sie beide ganz genau. Denn dumm sind Sie ja nicht. Sonst hätten Sie den Weg hier her niemals gefunden, war die Wegbeschreibung doch alles andere als offensichtlich. Habe ich Recht, Mr. Chapson?“
Unglaublich wie viel Mut diese Frau besaß. Auch wenn mir nicht klar war, worauf Miss Montan anspielte. Ich hoffte nur, sie wusste, was sie tat. Innerlich starb ich tausend Tode vor Angst. Lange würde ich es nicht mehr hinter der Türe aushalten. Mr. Farmer begann plötzlich bitterböse zu grinsen. „Eine wirklich brillante Analyse“ sprach er eisig. In seiner Stimme lag Sarkasmus. „ Doch leider muss ich sie in einer Kleinigkeit korrigieren. Wie Sie ganz richtig bemerkten, haben WIR dieses Zimmer gemietet. Sie hingegen sind hier unberechtigterweise eingedrungen. Eine Diebin, die unser Hab und Gut stehlen wollte. Und ein kleiner Unfall beim Versuch, dies zu verhindern. Na, was sagen Sie nun?“. Sein hämisches Lachen klang fürchterlich.
„Nicht schlecht“, kommentierte Charlotte Montan seine Worte ruhig, „Ihr Talent, die Tatsachen zu verdrehen, ist nicht zu unterschätzen. Doch leider sind Sie falsch informiert, Mr. Farmer. Tatsächlich ist dieses Zimmer bereits seit den Morgenstunden an mich vermietet. Der Portier hatte natürlich die Anweisung, Sie in dem Glauben zu lassen, das Zimmer sei frei und die Zweitschlüssel auszuhändigen. Wie Sie sicherlich wissen, ist man in Etablissements wie diesem einige seltsame Arrangements gewöhnt und stellt keine Fragen.“
Ich traute meinen Ohren nicht. Sie hatte also alles von langer Hand geplant? Welch genialer Schachzug von ihr! Oh, welch Raffinesse! Charlotte Montan, du bist großartig, dachte ich überwältigt.
„Sie neunmalkluge Schnepfe, Sie haben gar keine Beweise, gar keine“, schrie Mr. Farmer plötzlich. Ich zuckte zusammen. Von dem Gentleman, den er vor wenigen Minuten noch spielte, war nichts mehr übrig. Sein Gesicht glühte feuerrot, die Hand erbost zur Faust geballt. Angstschweiß trat auf meine Stirn. Nein, ich konnte nicht hinsehen.
„Beruhig dich, Joseph“, rief Mr. Chapson.
„Mich beruhigen, mich beruhigen. Diese Dirne macht uns alles kaputt. Wir sitzen in der Falle und du schwingst große Reden!“, keifte Mr. Farmer ihn in den giftigsten Tönen an.
Ein wilder Streit entbrannte. Die Situation drohte zu eskalieren. Ich warf einen hastigen Blick zu Miss Montan hinüber. Mit Entsetzen sah ich, dass sie nervös zu werden begann. Ich zitterte. Ich zitterte am ganzen Körper. Was würde geschehen? Würden die Männer… Würden sie? Schweißperlen rannen über meine Stirne. Miss Montan zog die Taschenuhr. Ihr hektischer Blick fiel auf die Zeiger.
„Nun kommt schon“, rief sie angespannt. Auf einmal hielt sie inne. Etwas zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Dicht presste sie ihr Ohr an die Türe. Ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Ein leises „na endlich!“ auf ihren Lippen. Dann hörte ich etwas. Es kam aus dem Hotelflur. Schritte! Abermals Schritte von Männerschuhen! Und Stimmen. Wer mochte das sein? Angestrengt versuchte ich zu lauschen. Der Lärm machte es nicht leicht. Doch dann konnte ich etwas hören.
„Ich will nur wissen, wer uns das Telegramm geschickt hat. Hoffentlich kein schlechter Scherz.“, erklang eine helle, jungendliche Männerstimme.
„Abwarten, Junge. Was dahinter steckt, wissen wir erst, wenn wir dort sind“, antwortete eine raue, Ältere.
„Da ist es, Nr. 25“, bemerkte nun wieder die Jüngere.
Dann klopfte es bereits.
Im Zimmer herrschte augenblicklich Stille. Die beiden Diebe tauschten wieder einmal fragende Blicke aus.
„Voila! unsere ersten Gäste erscheinen“, lachte Miss Montan. Blitzschnell zog sie den Schlüssel hervor. Im Türrahmen erschienen zwei dunkelblau gekleidete Gestalten. Erschöpft sank ich hinter der Schlafzimmertüre zu Boden.
„Guten Tag, Scotland Yard“, riefen die beiden Männer, als sie eintraten.
Den Dieben war jede Farbe aus dem Gesicht gewichen. Zur Salzsäule erstarrt standen sie vor dem Kamin.
„Sie kommen einmal wieder reichlich spät, Inspector Dracon.“, begrüßte Charlotte Montan die Polizisten kühl. Es waren ein junger Bursche, vielleicht achtzehn Jahre alt und wohlbeleibter, bärtiger Mann gesetzteren Alters.
„Potz blitz, Miss Montan!“, rief der Ältere, als er die Frau erkannte, die ihm die Türe geöffnet hatte. „Ich hätte es mir denken können, bei diesem Telegramm. Ich hoffe, Sie warten nicht zu lange?“.
Die Detektivin lächelte. „Inspektor Dracon, Sie wissen, ich bedenke immer alle Eventualitäten, auch Ihre üblichen Verspätungen“.
Der Polizist lachte.
„Haben Sie dieses Telegramm verfasst“, sprach der Jüngere und hielt Miss Montan ein Stück Papier unter die Nase. Der Inspektor neben ihm schüttelte den Kopf.
„Natürlich hat Sie das, Junge. Stell nicht so dumme Fragen“.
„Ja, das habe ich, Herr Wachtmeister“, antwortete Charlotte Montan sachlich.
„Worum geht es denn diesmal?“, fragte Inspektor Dracon nun ernst.
„Um zwei Gentlemen, die eine junge Dame um ihr Erbe bringen wollten. Sie stehen dort drüben.“
Der Inspektor betrachtete zunächst ihre bleichen Gesichter der Männer, dann ließ er seinen Blick zur Holzkiste auf dem Boden schweifen. Augenblicklich sprach auch der jüngere Polizist zum Kästchen und beugte sich über den Schmuck.
„Ein Kette mit großem Rubinamulett, zwei Perlenkolliers, zwei Goldringe mit eingefassten Kristallen, ein Paar diamantbesetzte Ohrringe, diverser Goldschmuck“, zählte er den Inhalt auf. „
Sieh an“, sprach Inspektor Dracon, „klingt nach dem Besitz einer reichen Dame“.
„Alice Wollstone“, setzte Miss Montan fort, „Sie versteckte das Kästchen vor ihrem Tod in einem Hohlraum in der Wand. Ihre Nichte, Mrs. Rivers, ist ihre einzige Erbin“.
„Und was wollten Sie mit diesen Schmuckstücken anfangen, meine Herren?“, wandte der Polizist sich den Männern zu, „Ich vermute mal, tragen wollten Sie sie wohl kaum. Schämen Sie sich als Gentleman eigentlich nicht, eine junge Dame zu bestehlen?“
„Was diese Frau von sich gibt“, begann Mr. Chapson zu wüten und warf einen Blick auf Miss Montan, „ist eine unverschämte Lüge. SIE ist die Diebin. SIE ist hier eingedrungen und wollte UNS bestehlen! Sie sollten Sie festnehmen!“
„Ich wage zu bezweifeln, dass Miss Montan hier irgendetwas stehlen wollte“, antwortete ihm der Inspektor trocken, „Sie scheinen wohl nicht zu wissen, wer Ihnen in die Quere kam. Die junge Dame, welche Sie gerade als Diebin bezeichneten, ist nicht irgendwer, sie ist das größte detektivische Genie der Stadt.“
Ich staunte nicht schlecht über das, was ich hörte. Inspector Dracon schien wirklich große Stücke auf Charlotte Montan zu halten. An ihrer Stelle wäre ich sicherlich purpurrot angelaufen. Doch Miss Montan blieb ganz ruhig.
„Ich danke Ihnen für dieses Kompliment, Inspektor Dracon “, war alles, was über ihre Lippen kam. „Detektivisches Genie? Detektivisches Genie?!?“, platzte Mr. Farmer ins Gespräch, „dass ich nicht lache! Diese Dame führt Sie an der Nase herum, Inspector und Sie merken es nicht einmal. Sie sollten mal lieber ihre Arbeit machen, anstatt sich von einer Lügnerin bezirzen zu lassen.“
Miss Montans Augen begannen böse zu funkeln.
„Was Wahrheit und was Lüge ist, das lassen Sie mal meine Sorge sein“, antwortete Inspector Dracon kühl, „Wie ist eigentlich Ihr Name?“.
Noch ehe der Mann etwas sagen konnte, fiel ihm Charlotte Montan ins Wort.
„Er heißt Joseph Farmer und sein Komplize ist Edward Chapson. Ich versichere Ihnen, Inspector Dracon, dass ich mich völlig legitim in diesem Zimmer aufhalte. Sie können gerne den Portier fragen. Was die Lügengeschichte angeht, Mrs. Chapson sei die Besitzerin dieser Schatulle, so habe ich Zeugen, die Ihnen den wahren Hergang schildern können.“
„Zeugen?!?“, riefen die beiden Polizisten im Chor.
„Zeugen? Zeugen…“, lachte Mr. Chapson, „Das sind doch nichts als Lügenschichten“, fuhr er großspurig fort, „Die Dame versucht doch nur zu taktieren. Sie haben keinerlei Beweise für Ihre kruden Behauptungen, mein Fräulein. Sie sollten sich vielleicht ein wenig zurücknehmen“.
Miss Montan lächelte müde. „Mr. Chapson, diesen Ratschlag darf ich gerne zurückgeben. Sie irren sich nämlich schon wieder“.
Und schon im nächsten Augenblick erschallte ein lautes „Miss Whibby!“ im Zimmer.
Das war mein Stichwort. Aufgeregt drehte ich den Schlüssel um. Lampenfieber ergriff mich, als ich ins Zimmer trat. Fünf Augenpaare waren sofort auf mich gerichtet. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie die Diebe abermals kreidebleich anliefen und wie angewurzelt stehen blieben.
„Meine Herren, Elizabeth Whibby“, stellte mich Miss Montan den Polizisten vor. Schüchtern reichte ich ihnen die Hand. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit der Polizei zu tun hatte. „Miss Whibby assistiert mir in diesem Fall. Sie hat das gesamte Geschehen durchs Schlüsselloch beobachtet.“
„Nun, fürs Protokoll ist eine Zeugin immer gut“ antwortete Inspector Dracon. „Würden Sie uns denn ein paar Fragen beantworten“, fragte er mich einfühlsam. Ich nickte stumm.
„Assistentin?!?“, platzte Mr. Farmer ins Gespräch. Ich konnte sehen, dass Schweißperlen auf seiner Stirne standen.
„Komplizin wohl eher!“, schrie er laut „meine Herren, ich bitte Sie, diese ‚Augenzeugin‘ steckt doch mit ihr unter einer Decke. Lauter Lügen wird Sie Ihnen auftischen“
„Ich sagte Ihnen bereits, dass Sie es meine Sorge sein lassen sollten, die Wahrheit herauszufinden Ich möchte keine Zwischenrufe mehr von Ihnen hören. Haben Sie mich verstanden?“, fuhr ihn der Inspektor scharf an.
Sein Tonfall verriet, dass seine Geduld allmählich am Ende war.
„Aber…“, rief Mr. Farmer, doch Mr. Chapson hielt ihn zurück: „Mein Freund, ich glaube, es ist klüger, erst einmal abzuwarten“.
“Sehr weise“, kommentierte der Inspektor die Entscheidung des Querulanten und ging mit mir ins Nebenzimmer. Ich erzählte Mr. Dracon alles, was ich gesehen und gehört hatte und schwor, dass es der Wahrheit entsprach.
„Interessant meine Herren“, rief Inspector Dracon, als er das Wohnzimmer wieder betrat.
„Wieso hatten Sie es eigentlich so eilig, zu gehen?“, sprach er süffisant. Ich ließ mich schweigend auf einem Sessel an der Seitenwand nieder. Mr. Chapson sprang vom Sofa auf.
„Sie mögen von diesen beiden Damen noch so viel halten, Inspektor“, sprach er ruhig und warf einen Blick auf Miss Montan und mich, „Es steht Aussage gegen Aussage. Für einen Beweis wäre noch die Aussage einer neutralen Partei von Nöten. Wie Sie sehen sind wir jedoch nur zu viert. Ich denke, damit können wir gehen.“
Die beiden Männer traten auf die Hotelzimmertüre zu.
„Nicht so schnell!“, rief Charlotte Montan ihnen hinterher.
„In dieser Sache muss ich Mr. Chapson zwar Recht geben“, wandte sie sich Inspector Dracon zu.
„Allerdings“, sie zog abermals ihre Taschenuhr hervor und blickte auf die Zeiger, „dürfte sich dies innerhalb der nächsten fünf Minuten ändern“.
Neugierig schaute ich von meinem Sessel auf. Die beiden Polizisten tauschten verwunderte Blicke aus. „Erwarten Sie jemanden?“, fragte der Inspektor erstaunt.
„Ja“, antwortete Miss Montan lächelnd, „Eine weitere Zeugin, die den strengen Kriterien Mr. Chapsons sicher genügen dürfte. Und wie ich höre, ist sie bereits auf dem Weg hierher“.
Im Raum herrschte augenblicklich Stille.
Nur vom Flur her drang das stelzende Geräusch von Damenschuhen auf Marmor ins Zimmer, das sich schnellen Schrittes näherte.
Plötzlich erschien ein Gesicht in der Türe. Mr. Farmer, der geradewegs dort hin blickte, blieb wie angewurzelt stehen.
„Sie? Was machen Sie denn hier?!? Und warum ist die Polizei hier?“, erklang eine irritierte Frauenstimme.
„Jetzt ist es aus!“, rief Mr. Farmer und sank zu Boden. Miss Montan lächelte wissend und zufrieden. In der Türe stand niemand Geringeres als Mrs. Rivers.
„Was ist denn hier los?“, fragte die junge Frau verwirrt. Verängstigt suchte sie nach Miss Montans Blicken.
„Miss Hanson, was machen diese Leute hier und wer ist dieser Mann? Ich verstehe gar nichts mehr.“
„Kommen Sie erst einmal herein, Mrs. Rivers“, sprach Miss Montan sanftmütig, „Die Sache wird sich bald aufklären“.
„Wenn Sie meinen“, antwortete Mrs. Rivers schüchtern und trat in den Raum.
In ihrer linken Hand, hielt sie ein flaches, großflächiges Bündel, das in Packpapier geschlagen und mit Kordeln verknotet war. Es hatte die Form eines Gemäldes. Die Künstlermappe ihrer Tante klemmte unter ihrem Arm. Langsam führte Charlotte Montan sie zur Couch. Außer mir warf Mrs. Rivers allen skeptische Blicke zu. Es war ihr deutlich anzumerken, wie sie unwohl sich fühlte. Dicht presste sie die Ärmel ihres eleganten, blauen Kostüms gegen an ihren schlanken Körper. Schweigen herrschte im Raum.
„Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen“, ergriff Miss Montan schließlich das Wort, „ich habe Sie belogen. Doch es war eine Lüge zu ihrem Besten“.
„Was soll das heißen, Sie haben mich belogen, Miss Hanson? Möchten Sie das Bild gar nicht kaufen? Warum haben Sie mich dann herbestellt?“, fragte sie verwundert.
Plötzlich fiel ihr Blick auf die Juwelen am Boden. Mit angstgeweiteten Augen starrte sie zunächst Miss Montan, dann mich, dann die beiden Diebe an. Mr. Farmer wich ihrem Blick aus.
„Was geht hier vor?“, drehte sie hilfesuchend zu den Polizisten um, die sie ebenso erst jetzt wirklich zu bemerken schien.
„Seien sie unbesorgt, die junge Dame wird Ihnen alles erklären“, versuchte Inspector Dracon Sie zu beruhigen und warf Charlotte Montan selbst einen fragenden Blick zu.
Mrs. Rivers sank zurück auf die Couch.
„Nein“, fuhr Miss Montan ruhig fort, „Ich bin an den Gemälden Ihrer Tante nicht interessiert. Und mein Name ist auch nicht Rose Hanson, ich heiße Charlotte Montan. Es tut mir leid, dass ich Sie unter einem falschen Vorwand hier her gelockt habe. Doch die Umstände ließen es nicht anders zu. Ich will es kurz machen: Die Juwelen, die Sie dort sehen“, sie warf einen Blick auf das Schmuckkästchen, „Sind ein geheimes Erbe ihrer verstorbenen Tante an Sie“.
Mrs. Rivers hielt sich vor Überraschung die Hand vor den Mund. „Ein Erbe? Meiner Tante?!?“, rief sie verwundert.
„So unglaublich es klingt, aber ja“, sprach Miss Montan weiter.
„Mr. Farmer und sein Geschäftsfreund Mr. Chapson erfuhren davon und wollten Sie bestehlen. Miss Whibby und ich“, sie warf mir einen Blick zu, „versuchten dies zu verhindern..“
„Ist das wahr? Ist das wirklich wahr?“, rief Mrs. Rivers ungläubig in die Runde, noch ehe Miss Montan ausgesprochen hatte.
„Mr. Farmer?“, fuhr sie zu der hageren Gestalt um, die am Boden kauerte. Doch der Mann gab keine Antwort.
„Herr Wachtmeister?“, blickte Sie Inspektor Dracon fragend an.
„Wir können es noch abschließend sagen, doch vieles spricht dafür“, antwortete ihr der Polizist ruhig. „Aber wie kann das sein? Und warum weiß ich davon nichts?“.
Noch immer wirkte Mrs. Rivers sehr verwirrt.
„Möchten Sie Sie aufklären oder soll ich das tun?“, ging Miss Montan Mr. Farmer scharf an.
„Ich sage gar nichts mehr!“, zischte dieser zurück.
„Wie Sie meinen“, antwortete die Detektivin trocken, „Dann werden Sie wohl mit meiner Aussage Vorlieb nehmen müssen“.
Schnell war sie vor den Kamin getreten, wo jeder sie gut sehen konnte. Mrs. Rivers Blicke folgten ihr skeptisch, doch ruhig. Vor den Fenstern senkte sich allmählich die Abenddämmerung auf die Stadt herab. Mr. Farmer und sein Komplize drängten sich tief in eine dunkle Ecke des Raumes, die Gesichter versteinert. Immer ein Auge auf die beiden gerichtet, lehnte der junge Polizist an der Wand daneben. Fahles Dämmerlicht fuhr mit düsteren Fingern über Charlotte Montans Gesicht. Der Raum füllte sich mit Schatten. Ich suchte ihre Augen. Ein grauer Schimmer glänzte mir entgegen, durchsichtig, doch real. Dann wandte sie sich ab.
„So wie ich es sehe, starb Miss Wollestone keines plötzlichen Todes“, begann sie in kühlem Ton. „Was bitte?!? Woher wissen Sie das?“, rief Mrs. Rivers entrüstet.
„Eine logische Schlussfolgerung, nicht mehr“, antwortete Miss Montan knapp.
Mrs. Rivers Körper bebte. Sie war kurz davor, aufzuspringen.
„Beruhigen Sie sich“, sprach Inspector Dracon auf sie ein, „Alle Aufregung nützt nichts. Hören Sie lieber Miss Montan zu.“
Dankend nickte die Dedektivin dem Inspector zu. Mr. Chapson verfolgte sie derweil mit dunklen Blicken. Doch Charlotte Montan schien dies nicht bemerkt zu haben oder lies sich davon zumindet nicht stören.
„Basierend auf dem Brief, der Sie am Donnerstag, den 7. März 1895, erreichte, gehe ich davon aus, Miss Rivers, dass Ihnen ein stattliches Erbe zuteilwurde“, nahm sie das Wort wieder auf.
Verwundert blickte nun auch Inspector Dracon sie an.
„Welcher Brief denn?“, fragte er.
Mrs. Rivers war indessen in tiefes Schweigen verfallen. Ihre Haut hatte die Farbe von Schnee angenommen und ihr entgeisterter Blick haftete an Miss Montan.
„Ein höchst rätselhafter Brief, Inspector Dracon. Mrs. Rivers muss ein eiskalter Schauer gepackt haben, als sie den Absender entdeckte. Es war die Handschrift ihrer Tante. Ihrer Tante, die vor über einem Jahr verstorben war.“, antwortete Miss Montan.
„Woher wissen Sie von dem Brief?“, hauchte Mrs Rivers ungläubig.
„Das ist unwichtig“, überging die Detektivin ihre Frage, „Interessiert es Sie denn nicht, was mit ihm geschehen ist?“
„Ich dachte, ich hätte ihn verlegt.“, antworte Mrs. Rivers leise.
Inspector Dracon verfolgte das Gespräch mit dem Gesichtsausdruck eines Kindes, das der Konversation zwischen Erwachsenen lauschte.
„Das haben Sie nicht“, setzte Charlotte Montan fort, „Erinnern Sie sich, was geschah, als sie ihn lesen wollten. Sie brauchten vermutlich nach dem Schrecken Zeit, um den Mut dazu aufzubringen. Erst am frühen Nachmittag wagten Sie, ihn zu öffnen. Doch unglücklicherweise klopfte es genau in diesem Augenblick an ihrer Wohnungstüre, nicht wahr?“.
Ich verstand nicht, worauf sie hinaus wollte.
„Ja“, antworte Mrs. Rivers nach einer Denkpause, „Ja! Jetzt, wo Sie es sagen, erinnere ich mich. Eines meiner Kinder für den Zeichenkurs an diesem Nachmittag kam etwas verfrüht. Woher…“
Miss Montan warf ihr einen eindringlichen Blick zu. Die junge Frau verstummte augenblicklich.
„Es war nicht irgendein Kind, Mrs. Rivers es waren die Geschwister Farmer“, stellte sie kühl fest. Mrs. Rivers errötete.
„Celine Farmer“, gab sie kleinlaut zu, „Der Bruder war an diesem Tage erkrankt.“
Miss Montan ließ sich davon nicht aufhalten.
„Sie brachten das Mädchen ins Wohnzimmer, wo Sie die Kinder gewöhnlich unterrichten. Dort wollten Sie sich in Ruhe auf alles vorbereiten und auf das Eintreffen der anderen warten. Doch sie wurden abermals gestört.“
„Ja!“, rief Mrs. Rivers, „Um Himmelswillen, ich weiß es wieder. Mein Sohn schrie plötzlich wie am Spieß. Ich stürmte sofort aus dem Zimmer. Er war in der Küche hingefallen. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er daliegt. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn beruhigt hatte. Und dann kamen auch schon die Kinder“
„Zu viel Trubel, um an den Brief zu denken, der noch auf dem Schreibtisch lag, nehme ich an?“, fragte Miss Montan scharf.
„Und ob!“, antwortete Mrs. Rivers, „Ich hatte ihn völlig vergessen bei der Hektik und am Abend…“ Plötzlich hielt sie inne. „Moment einmal, was wollen Sie damit andeuten, Miss Montan? Sie meinen doch nicht etwa, dass Celine…“
Charlotte Montan lächelte leise, ein Lächeln so fein, dass niemand außer mir es zu bemerken schien. „Doch, genau das meine ich, Mrs. Rivers.“, erklärte sie mit Nachdruck.
Allmählich begann ich zu begreifen. „
Das glaube ich nicht!“, rief Mrs. Rivers empört, „Celine ist so ein kluges, liebes Ding. So etwas würde sie nie tun! Und überhaupt, welchem Grund sollte sie haben?“
„Eine gute Frage, Mrs. Rivers“, bemerkte Charlotte Montan bedeutungsvoll, „Sie nannten Celine Farmer soeben klug und lieb. Beides sind Eigenschaften einer guten Tochter. Sicher würde Celine ihrem Vater immer helfen, auch bei finanziellen Schwier…“
„Ich weiß nicht, worauf Sie nun wieder hinaus wollen, Miss Montan“, fiel Mrs. Rivers ihr zornig ins Wort, „Doch falls Sie Mr. Farmer irgendetwas unterstellen möchten, muss ich Sie enttäuschen. Richard und Celine nehmen schon seit Jahren Zeichenunterricht bei mir. Ich kenne die Familie gut. Mr. Farmer ist absolut integer.“
„Da hören Sie es selbst, Herr Inspector, diese Frau lügt!“, drang plötzlich eine Stimme aus dem Schatten an der Wand.
„Abwarten, Mr. Farmer, noch bin ich nicht fertig“, konterte Miss Montan die Worte des Mannes und wandte sich dann wieder Mrs. Rivers zu.
„Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, Mrs. Rivers, doch Ihre Einschätzung des feinen Mr. Farmer ist leider falsch. Er und auch Mr. Chapson haben gute Gründe, Sie um Ihr Erbe zu bringen. Und Celina wusste davon. Noch mögen Sie mir nicht glauben. Doch ich bin mir sicher, dies wird sich innerhalb der nächsten halben Stunde ändern.“
Mrs. Rivers warf ihr einen tiefen, skeptischen Blick zu. Doch Miss Montan ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Haben Sie eigentlich eine Idee, warum ein Brief Ihrer Tante Sie erst ein Jahr nach deren Tod erreichte?“, fragte sie eindringlich.
Die Gesichtszüge der jungen Frau gingen von Skepsis in Nachdenklichkeit über.
„Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen“, antwortete sie ruhig, „Doch ich finde keine Antwort. Sie muss ihn wohl für mich hinterlegt haben. Mehr weiß ich nicht. Sie war immer für eine Überraschung gut, immer….“
Für einen Moment schwieg die junge Frau und ein Hauch von Trauer spiegelte sich in ihren Augen.
„Vermutlich wissen Sie einmal wieder mehr als ich“, bemerkte sie schließlich lakonisch.
Ein kurzer Glanz von Stolz trat in Miss Montans Augen, loderte auf und verglühte.
„Vielleicht“, antwortete sie trocken, „Denken Sie an das Datum, an dem der Brief Sie erreichte. Und beachten Sie die Zeit, die Briefe gewöhnlich vom Postamt zum Empfänger brauchen. Jedem, der regelmäßig die Zeitung liest und Ihnen im Besonderen, müsste hierbei eine seltsame Gleichzeitigkeit auffallen“
„Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen, Miss Montan“, gestand die junge Frau leise. Fragenzeichen spiegelten sich in ihren Augen.
„Denken Sie an die Todesanzeigen “, half die Detektivin ihr auf die Sprünge.
Plötzlich lief Mrs. Rivers kreidebleich an. Mit der Hand schlug sie sich vor die Stirne.
„Hanford, Oh mein Gott Sir Hanford,!“ stammelte sie.
Mrs. Montan lächelte, „Genau darauf wollte ich hinaus“.
Nun verstand ich gar nichts mehr.
„Sie meinen also, dieser Brief sollte mich erst nach seinem Tod erreichen?“, fragte Mrs. Rivers ungläubig.
Miss Montan nickte: „Sir Hanford verstarb am 5. März 1895. Vermutlich am späten Abend. Der Brief wurde daher erst am 6. März abgeschickt.“
„Dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin.“, wunderte sich Mrs. Rivers. Dann hielt sie inne. „Aber eines verstehe ich nicht. Wieso sollte meine Tante dies getan haben? Es ergibt keinen Sinn“.
„Ist das nicht offensichtlich, wenn sie einen Blick in dieses Schmuckkästchen werfen, Mrs Rivers?“, fragte Miss Montan, „Von wem könnte ihre Tante wohl derartige Juwelen haben, wenn nicht von den Hanfords? Sie wird ihre Gründe gehabt haben, das hier geheim zu halten.“
Miss Rivers starrte Charlotte Montan plötzlich entgeistert und voller Empörung an. Was mochte sie wohl denken? Miss Montan jedenfalls sah ihre Blicke nicht, sie wandte sich soeben dem jungen Polizisten zu, der gerade die Stimme erhob.
„Sie meinen also, Miss Wollstone schrieb ihrer Nichte, dass sie ein Kästchen voller Juwelen hier versteckt hat?“, fragte der Bursche.
„Ja und nein“, antwortete die Detektivin. Der junge Mann quittierte es mit irritierten Blicken. „Großartig! Erst nicht die geringsten Beweise für Ihre abstrusen Brieftheorien und nun sprechen Sie lauter wirres Zeug. Es wäre wohl besser, wenn Sie sich etwas zurückalten, Madame. Man könnte sonst meinen, Sie seien nicht ganz klar im Kopf“, verlautbarte Mr. Farmer großspurig.
„Zumindest bin klar genug, nicht lautstark auf meiner Unschuld zu beharren, während ein Indiz nach dem anderen gegen mich spricht“, konterte Miss Montan lässig.
Das hatte gesessen! Die Männer verfielen erneut ins Schweigen.
„Gewiss gab es in Miss Wollstones Brief einen Hinweis auf die Juwelen, doch dieser sah anders aus, als Sie es vermuten mögen“, beantwortete Charlotte Montan die Frage und wandte sich wieder Mrs. Rivers zu, „Würden Sie bitte das Gemälde und die Skizzen auspacken, Mrs Rivers?“.
Die junge Frau blickte irritiert auf. Wortlos tat sie, worum sie gebeten worden war. Mit Erstaunen erkannte ich in dem Gemälde eines der Bilder wieder, das ich für Miss Mühlenknecht skizziert hatte. Die anderen Zeichnungen erwiesen sich als Stadtansichten, teils mir fremd, teils bekannt, sechszehn an der Zahl. Mrs. Rivers verteilte sie auf dem Boden, sorgfältig eine neben der anderen.
„Was haben Sie vor, Miss Montan?“, fragte der ältere der beiden Polizisten neugierig.
„Abwarten, Inspector Dracon“, antwortete Charlotte Montan geheimnisvoll, „Es gibt Menschen, die der Ansicht sind, Kunst drücke mehr aus, als auf den ersten Blick sichtbar ist. In diesem Fall dürfen Sie das ruhig wörtlich nehmen“.
Mit einem schelmischen Funkeln in den Augen warf sie Mr. Farmer und Mr. Chapson einen vielsagenden Seitenblick zu. Ich konnte erkennen, wie die beiden Männer fast unermklich zusammenzuckten. Versteinerten Blickes starrten sie auf die Bilder.
„Worauf ich hinaus will, Inspector Dracon“, setzte Miss Montan fort, als Mrs. Rivers ihr Werk vollendet hatte“, „ist, dass dies keine gewöhnlichen Bilder sind. Sie bergen ein Geheimnis: Den Standort des Schmuckkästchens. Verschlüsselt in einer symbolischen Geheimschrift, einem Code“.
Ich traute meinen Ohren nicht!
Schnell entzündete Inspector Dracon eine Petroleumlampe, um die Gemälde besser sehen zu können. Ein warmer Lichtkegel huschte über die Zeichnungen. Stumm vor Erstaunen beugten sich fünf Köpfe darüber.
„Er ist gut versteckt“, flüstere Miss Montan leise, „Doch jemand, der sich in der Stadt auskennt, kann ihn entschlüsseln. Es sind die Fehler in den Zeichnungen. Sehen Sie hier“.
Sie deutete auf das große Gemälde. Vier Augenpaare folgten ihr stumm.
„Der Brunnen auf dem Victoria Place. Wer ihn kennt, weiß, dass dort fünf Statuen stehen. Eine arme Familie, die an die Hungersnot erinnern soll. Vater, Mutter, zwei Töchter, ein Sohn. Wie Sie sehen, sind es hier drei Mädchen. Der erste Fehler. Dann das Bündel, das die Mutter in den Armen hält. Ein Laib Brot auf dem Bild. In Wirklichkeit jedoch…“
„….In Wirklichkeit jedoch ein Baby“, fiel ihr Mrs. Rivers ins Wort, die Augen vor Überraschung geweitet.
„Das ist ja unglaublich! Wirklich unglaublich!“, flüsterte sie, „Da sehen Sie nur, der Mann trägt ja einen Hut. Einen Hut, wo sein Kopf doch eigentlich kahl ist. Ich fass es nicht! Sie hatten Recht, Miss Montan“
Die Detektivin lächelte zufrieden: „So wie hier sind in allen sechzehn Bildern bewusste Fehler versteckt“, setzte sie fort, „Sie können es auf den Skizzen selbst nachsehen“.
Neugierig überflogen wir die Bilder. Schnell hatten Mrs. Rivers und die Polizisten noch weitere Fehler entdeckt: Ein Straßenschild mit falschem Namen im East End, ein seitenverkehrtes Fensterbild der Westchurch Kathedrale, eine fehlende Zahl auf dem Ziffernblatt der großen Bahnhofsuhr der Queenstown Station.
„Wirklich interessant!“, bemerkte Inspector Dracon, „Doch was hat dies nun mit dem Victoria Hotel zu tun? Ich sehe keinerlei Verbindung“
„Ich wusstem dass Sie das fragen würden, Inspector“, führte Miss Montan ihre Erklärung fort,
„Die Anzahl der Fehler lässt sich dem Alphabet zuordnen. Ein Fehler steht für A, zwei Fehler stehen für B und so weiter. Alice Wollstone konzentrierte sich auf drei Stadtteile, die Mrs. Rivers gut kennen dürfte. Westchurch, Queenstown und ich weiß nicht wieso, das East End.“
„Das East End?“, rief Mrs. Rivers, „Dort bin ich aufgewachsen, ehe wir ins Victoria Viertel zogen!“. „Die Stadtteile stehen jeweils für ein Wort“, fuhr Charlotte Montan fort, „Insgesamt also sechszehn Buchstaben und drei Wörter. Wenn man diese in die richtige Reihenfolge bringt, so ergeben sich die Worte Vichot twefif wall, ein Kürzel für Victoria Hotel twenty-fith wall.“
Plötzlich verschleierten sich Mrs. Rivers Augen. Ich sah gerade noch, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich, da sprang Inspector Dracon auch schon herbei, um die Ohnmächtige aufzufangen.
„Um Gottes Willen, holen Sie schnell Hilfe, die Frau ist in anderen Umständen“, rief ich dem jungen Polizisten zu. Sofort stürmte er zur Zimmertüre. Verdutzt blickte Miss Montan auf die junge Frau herab. Schnell begannen Inspector Dracon und ich sie aufs Sofa zu hieven. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie in diesem Augenblick Joseph Farmer und Edward Chapson aufsprangen und zur Türe hasteten.
„Halt“, schrie ich, so laut ich konnte.
Inspector Dracon riss den Kopf herum, sprang auf und den beiden hinterher. In diesem Moment kam der junge Polizist mit einem Dienstboten um die Ecke, der eine Falsche Brantwein trug. Fast stießen die Männer zusammen.
„Sie mögen es wohl nicht, unangenehme Wahrheiten über sich zu hören“, kommentierte Miss Montan den Fluchtversuch.
Die Polizisten nahmen die beiden Männer wieder in Gewahrsam. In diesem Augenblick schlug Mrs. Rivers die Augen auf.
„Ich fass das alles nicht. Ich fass es nicht“, murmelte sie leise.
„Geht es Ihnen wieder besser?“, fragte ich, nachdem ich für die junge Frau ein Glas Wasser von der Karaffe auf deinem Beistelltisch eingegossen hatte.
„Ja, ich denke schon“, antwortete sie. Noch immer klang ihre Stimme kraftlos. Doch mit einem Satz stand sie kerzengrade im Raum.
„Jetzt ist mir alles klar!“, schleuderte sie Mr. Farmer wutentbrannt entgegen, „Daher also das plötzliche Interesse Ihrer Tochter an den Bildern meiner Tante. Dass Sie mich so hintergehen, unfassbar.“
„Ich muss Ihnen das erklären“, setzte sie ruhig fort und wandte sich mir und Miss Montan zu, „Als ich Ihnen auf dem Dachboden sagte, dass ich noch niemanden dort heraufgeführt hätte, entsprach das nicht die ganze Wahrheit. Ich lagere dort oben auch meine Farben und anderen Malutensilien. Und tatsächlich begleiten mich manchmal meine Schüler, wenn ich etwas davon holen gehe. In letzter Zeit kam Celina häufiger mit. Dabei war sie eines Tages so begeistert von einem Stillleben meiner Tante, dass sie das Bild unbedingt abzeichnen wollte. Da ich die Familie schon so lange kannte, gestatte ich ihr, es nachhause mitzunehmen und zur nächsten Kunststunde wieder mitzubringen. Als wir uns wiedersahen, war sie dann von einem anderen Gemälde ähnlich angetan und fragte mich wieder, ob sie es mitnehmen dürfe. So ging es seitdem jedes Mal. Und manchmal kam Celine sogar unter der Woche vorbei. Zuletzt interessierte sie allerdings nur noch der Stadtzyklus. Wenn ich nur gewusst hätte…“
„Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht geglaubt habe, Miss Montan“, entschuldigte sie sich innig.
„Möchten Sie nun immer noch behaupten, der Schmuck gehöre Ihrer Frau, Mr. Chapson?“ rief Charlotte Montan dem Dunkelhaarigen scharf zu. Nervös trat der Mann von einem Bein auf das andere.
„Was fragen Sie mich, zum Teufel?“, begann er mit rotglühendem Gesicht zu schimpfen, „Es war doch seine Idee. Er kam mit dem Brief zu mir und wollte den Schmuck stehlen. Ich hab damit nichts zu tun“.
Alle Augen waren erwartungsvoll auf Mr. Farmer gerichtet
„Nun?“, fragte Miss Montan. Der falsche Gentleman stand vom Boden auf und strich sein Hemd glatt. „Es ist eh aus. Ja, ich gebe es zu. Es ist alles wahr, was Miss Montan sagt. Auch wenn ich keinen blassen Schimmer habe, woher dieses Teufelsweib das weiß. Celine kam einmal ins Büro, als ich vor dem Schreibtisch saß und nicht Herr meiner Gefühle war. Als sie fragte, warum ich weinte, zog ich sie ins Vertrauen. Das Kind ist immerhin schon fast zwölf, sie versteht einiges. Eines Abends nach der Zeichenstunde kam sie zu mir und sagte, sie wisse, wie sie mir helfen könne. Sie hätte einen Schatz entdeckt. Erst wollte ich ihr nicht glauben, hielt es für ein Kindermärchen. Doch dann zeigte sie mir diesen Brief“.
Mr. Farmer griff in seine Westentasche, zog ein zerknicktes Stück Papier hervor und reichte es Inspector Dracon. Laut begann der Polizist zu lesen:
„Meine liebe Emily. Sicherlich wunderst du dich über diesen seltsamen Brief. Ich will dir erklären, warum er dich erst jetzt erreicht. Es gibt ein Geheimnis, das ich dir nie anvertrauen konnte. Erst jetzt, wo Sir Hanford tot ist, kann ich offen zu dir sein und hoffe, dass es dein Bild von mir nicht trüben wird. Was immer du über diese Sache im Allgemein auch denken magst, sei gewiss, dass die Moral mir bitter Unrecht tut. Mein Herz war immer rein, das musst du mir glauben. Und doch musste ich schweigen, weil die Welt nur Unverständnis gehegt hätte. Mein Geheimnis mag ich dir hier nicht lüften. Du wirst es bald erfahren, wenn du meinen Anweisungen folgst. Ich habe dir ein geheimes Erbe hinterlassen, von dem du bisher nichts wusstest. Es ist ein stattliches Vermögen, versteckt an einem geheimen Ort. In meinen letzten Bildern ist eine verschlüsselte Nachricht verborgen. Wenn du meine Bilder genau betrachtest, wirst du den Code finden, der dich zu deinem Erbe und zu meiner Lebensbeichte führt. Pass auf dich auf, meine Kleine. In Liebe, Tante Alice.“
„Wir machten uns sofort daran, die Bilder aufzutreiben“, setzte Mr. Farmer fort, nachdem der Polizist ausgesprochen hatte, „Durch Mrs. Rivers wusste ich von Mr. Goldman und durch Celina von den Bildern auf dem Dachboden. Lange hatten wir keinen Erfolg, suchten kreuz und quer. Dann entdeckte Celine bei der Zeichenstunde die überzählige Türe am Oxford Theater. So fanden wir den Code.“
„Aber Herrgott!“, rief Mr. Farmer plötzlich laut aus, „Ich versteh die Aufregung nicht. Alice Wollstone hat den Schmuck doch auch gestohlen!“
Ich, die beiden Polizisten und Miss Montan warfen uns gegenseitig erstaunte Blicke zu. Mrs. Rivers Gesicht fing an, einen ungesunden Rotton anzunehmen.
„Sie! Sie! Wie können Sie es wagen, meiner Tante so etwas zu unterstellen! Nie hätte sie jemanden bestohlen, erst Recht nicht die Hanfords!“
Wütend sprang sie vom Sofa auf und war im Begriff, auf Mr. Farmer loszugehen. Gerade noch hielt sie Inspector Dracon auf. „Beruhigen Sie sich, bitte beruhigen Sie sich, Mrs. Rivers. Die Sache wird sich klären.“.
„Wie kommen Sie zu dieser Schlussfolgerung, Mr. Farmer?“, fragte Charlotte Montan verblüfft.
„Na, Sie sind mir ja eine“, antwortete ihr der Mann, „Sagten doch selbst, dass Mrs. Rivers guten Grund hatte, den Schmuck zu verstecken. Und hier steht schwarz auf weiß, dass sie gegen die Moral verstoßen hat. Alice Wollstone war selber nichts als eine kleine Diebin!“
„Das ist eine gemeine Lüge!“, keifte Mrs. Rivers ihn an. Der Polizist hatte alle Mühe, sie zurückzuhalten.
„Moment“, antwortete Miss Montan ruhig, „Ich sagte, sie hatte wohl ihre Gründe, den Schmuck zu verstecken. Ich sagte nicht, sie habe ihn den Hanfords gestohlen. Miss Wollstones Geheimnis ist anderer Natur. Ganz anderer Natur“.
Im Raum herrschte augenblicklich Stille. Mrs. River, die wenige Sekunden zuvor noch tobsüchtig um sich schlug, blieb regungslos stehen. Spärliches Licht der Petroleumlampe hüllte Charlotte Montan in geheimnisvolles Halbdunkel.
„Was wissen Sie nun schon wieder, Miss Montan? Reden Sie, ich halt das nicht mehr lange aus!“ rief ihr Mrs. Rivers ungeduldig entgegen.
„Nur mit der Ruhe, Mrs Rivers“, setzte Miss Montan fort, „Es war Alice Wollstones letzter Wille, dass Sie es erfahren, deswegen will ich mich kurz fassen: Ihre Tante war die heimliche Geliebte Charles Handfords.“
Mr. Farmer, Mr. Chapson, die beiden Polizisten, Mrs Rivers, ich – wir alle starrten uns gegenseitig überrascht an.
„Das kann nicht sein, Miss Montan!“, rief Mrs. Rivers ungläubig. „Ich kannte Sir Handford ja selbst. Er war ein fürchterlich eifersüchtiger Mann. Auch nur das kleinste private Wort seiner Frau mit einem anderen Mann quittierte er mit den schrecklichsten Eifersuchtsszenen. Sogar Außenstehende wie wir bekamen das mit. Er war besessen von dieser Frau, obgleich Lady Handford ihn nicht so glühend zu lieben schien wie er sie.“
„Glauben ist immer eine vage Sache, Mrs. Rivers“, antwortete Charlotte Montan ruhig, “Sicherlich ist die Sache so gesehen etwas merkwürdig. Doch es gibt starke Indizien, die eine deutliche Sprache sprechen. Miss Whibby, würden Sie mir meine Taschen reichen?“
„Gerne“, antwortete ich und bewegte mich zum Eichenschrank, in dem sie noch immer liegen musste. „Das Kistchen mit dem wertvollem Schmuck war nicht alles, was sich im Hohlraum der Wand befand“, fuhr Charlotte Montan indessen fort, „Vor dem Eintreffen der beiden Herren dort drüben konnte ich noch einige sehr interessante Dokumente in Sicherheit bringen. Wäre ich zu spät gekommen, schmorten sie nun wahrscheinlich im Kaminfeuer. Hier sind sie.“
Miss Montan zog aus der Handtasche einen losen Stapel Papier hervor. Zügig drückte sie die Blätter Mrs. Rivers in die Hand. Neugierig versenkten wir unsere Blicke in die Papiere.
„Hmm. Das ist wirklich eine Überraschung!“, kommentierte Mrs. Rivers, was sie las. „Allerdings!“, stimmte ihr Inspector Dracon zu. Der Stapel bestand aus einer Vielzahl von Quittungen und Urkunden über Geschenke in Schmuckform an Alice Wollstone. Unterzeichnet waren die Dokumente mit „C. Hanford“ Auf manchen Blättern standen liebe Widmungen an A.W. – Alice Wollstone.
„Dann ist es also wahr? Charles Hanford schenkte meiner Tante all diese Dinge?“
„So sieht es aus“, antwortete Miss Montan, „vermutlich war dieser Ort ihr geheimes Liebesnest.“ „Aber warum hat mir Alice nie etwas von dieser Liebschaft erzählt?“, wunderte sich Mrs. Rivers. „Vielleicht aus Scham, immerhin ging sie mit Ehebruch einher. Vielleicht verlangte auch Sir Hanford, dass sie schwieg. Wer weiß? Wenn Sie darauf keine Antwort finden, wird Ihre Tante sie wohl mit ins Grab genommen haben“
„Wenn die feine Miss Wollstone die Unterschriften nur mal nicht gefälscht hat“, patzte Mr. Chapson plötzlich ins Gespräch. Sein Tonfall klang überheblich. Ein hässliches, süffisantes Grinsen lag auf seinen Lippen. Wieso, fragte ich mich, musste jemand, der verloren hatte, sich noch immer so aufspielen.
„Nun, das sollte sich klären lassen“, sprach Inspector Dracon ruhig. „Können Sie bezeugen, dass dies Charles Hanfords Unterschrift ist?“, wandte er sich an Mrs. Rivers, „Sie kannten Charles Hanford ja offensichtlich gut“.
Mrs. Rivers schüttelte hastig den Kopf.
„Tut mir leid, Inspector. Ich wohnte zwar für eine Weile bei den Hanfords, doch ich habe nie ein Dokument mit seiner Handschrift zu Gesicht bekommen“.
„Oh!“ rief Inspector Dracon überrascht und tauschte mit seinem jungen Kollegen einen ratlosen Blick aus.
Die Augen des Diebes glänzten widerlich vor Triumpf.
„Ich wusste, dass Sie so etwas sagen würden, Mr. Chapson“, meldete sich nun Miss Montan zu Wort, „Doch ich versichere Ihnen, auch dies wird sich klären.“
Mit einer Mischung aus Überraschung und Freude nahm ich wahr, wie Charlotte Montan plötzlich ihre silberne Taschenuhr hervorzog und einen kurzen, verstohlen Blick auf die Zeiger warf.
Auch Inspector Dracon entging die Geste nicht.„Erwarten Sie etwa noch jemanden?!?“, fragte er verblüfft.
In der Ferne schlug zwei Mal eine Kirchenuhr.
„Ja“, antwortete Miss Montan lächelnd und steckte die Taschenuhr weg, „Und wie ich sehe, ist sie auf die Minute pünktlich“. Sechs Köpfe fuhren auf einmal zur Türe um. Eine Frau stand im Rahmen. Eine elegante Gestalt, ganz in schwarz gehüllt. Um den Hals ein funkelndes Rubinkollier. Auf dem Kopf ein luxuriöser Hut und darunter Strähnen schlohweißen Haars. „Guten Abend, meine Herrschaften“, sprach die Dame, „Bin ich hier richtig? Ich wurde durch ein Telegramm hier her bestellt. Mein Name ist Lady Clarissa Hanford“
Miss Montan trat als Erste zur Türe.
„Lady Hanford, wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, dass Sie gekommen sind. Ihre Hilfe ist uns von unschätzbarem Wert und ihr Erscheinen eine Ehre. Ich bin Charlotte Montan, die an Sie telegraphierte. Bitte kommen Sie doch herein“.
Mrs. Rivers bedachte sie eines mitfühlenden Blicks als sie eintrat. Doch als die Witwe dies bemerkte, senkte sie die Augen. Langsam schweiften Clarissa Hanfords Blicke durch den Raum. Ohne jede Richtung schienen sie an allen Dingen abzugleiten. Das Loch in der Wand bemerkte sie mit nur mit einem kurzen Nicken. Die Diebe und mich schien sie gar nicht wahrzunehmen. Als sie den Schmuck am Boden erblickte, waren ihre Augen starr und trübe, abgekehrt und leer ihr Blick. Der Kummer schien schwer auf ihr zu lasten, jedes Leben erstickend. Erst als sie sich der beiden Polizisten gewahr wurde, zuckte sie plötzlich zusammen, wie jemand, der aus einem dunklen Traum erwacht.
„Was ist denn hier los?“, fragte sie plötzlich. Ihre Stimme verriet Angst.
„Lady Hanford, bitte setzen Sie sich“, ergriff Inspector Dracon das Wort, „Sie müssen nun sehr stark sein….“.
Der Polizist führte sie zur Couch und gab ihr einen kurzen Abriss der Geschehnisse. In stoischer Ruhe lauschte Lady Hanford der Erzählung. Dunkle, schwermütige Schatten verdüsterten ihr Gesicht. Alles an ihr sprach von der Trauer um den verstorbenen Gatten. Sie muss ihn sehr geliebt haben, dachte ich und warf Miss Montan einen Blick zu. Die Stirn lag in tiefen Falten, die schwarzen Augen beäugten Lady Hanford grüblerisch. Verwundert folgte ich ihr mit meinen Blick, als sie zwei Schritte zur Seite trat und die Lady von Kopf bis Fuß zu mustern schien. Was war ging hier vor sich?
„Es wäre uns daher eine große Hilfe“, endete der Inspektor seine Ausführungen, „Wenn Sie uns die Echtheit der Unterschriften bestätigen könnten. Ohne ihre Einwilligung abzuwarten, hielt er Clarissa Hanford die Dokumente unter die Nase. „Ist das die Handschrift ihres verstorbenen Mannes?“, fragte er eindringlich.
Erschrocken blickte Lady Hanford auf das „C. Hanford“, dann in das Gesicht des Polizisten. Offensichtlich wurde ihr erst jetzt bewusst, was ihr Mann getan hatte.
Für eine Sekunde schien sie absolut ratlos.
„Ja“, antwortete sie geistesabwesend. „Das heißt nein“, korrigierte sie sich Sekunden später.
Der Polizist schaute sie irritiert an.
„Was denn nun, Lady Hanford, ist dies eine Fälschung oder echt?“.
Clarissa Hanford antwortete nicht. Sie sprang vom Sofa auf und trat an die Fensterreihe, die hinaus zum Victoria Park zeigte. Mit einem geschickten Griff öffnete sie ein Fenster und atmete tief ein. Das Rubinkollier fest umklammert, warf sie einen kurzen Blick zum Himmel. Für eine Sekunde presste sie die Augen zusammen. Plötzlich drehte sie sich wieder zum Zimmer um.
„Es tut mir leid, Inspektor, ich war gerade ein wenig verwirrt“, sprach sie gefasst und bestimmt, „Ich kann Ihnen bestätigen, dass mit der Unterschrift alles seine Richtigkeit hat“.
„Nun, damit dürfte die Sache wohl endgültig geklärt sein“, stellte Inspector Dracon fest.
„Führen Sie die Männer ab“, rief er seinem jungen Kollegen zu.
Der Bursche legte Mr. Chapson und Mr. Farmer Handschellen an. Widerwillig ließen sie es geschehen.
„Miss Montan, es ist immer wieder ein Vergnügen, Augenzeuge ihrer grandiosen Arbeit zu werden“, bemerkte der Inspektor zum Abschied.
„Ich bin mir sicher, es war nicht das letzte Mal, Inspector Dracon“, antwortete Miss Montan ihm lächelnd.
„Lady Hanford, Mrs. Rivers, Miss Whibby, auf Widersehen“.
Mit den Polizisten hatten alle Männer den Raum verlassen.
„Nun, meine Hilfe wird hier wohl nicht mehr benötigt“, sprach nun auch Clarissa Hanford, „Ich danke Ihnen für Ihr Telegramm, Miss Montan. Haben Sie noch einen schönen Abend“.
„Es tut mir so leid für Sie, Lady Hanford, so leid“, brach es auf einmal aus Mrs. Rivers heraus.
„Das muss es nicht, überhaupt nicht“, antwortete die Witwe liebevoll, „Machen Sie es gut, Mrs. Rivers. Auch Sie, Miss Montan, Miss Whibby“.
Schnell war sie an der Türe.
„Einen Augenblick noch, Lady Hanford“, rief ihr Charlotte Montan plötzlich hinterher.
„Ja?“, wandte die alte Dame sich erstaunt um. Zu meiner Überraschung zog die Detektivin plötzlich ein Bündel vergilbter Briefe aus ihrer Handtasche hervor. Alle waren sie mit einer alten Kordel zu einem festen Bündel verschnürt.
„Diese lagen ebenfalls im Hohlraum“, erklärte sie, als sie zur Türschwelle trat, „Ich vermute, es sind Liebesbriefe an Miss Wollstone. Vielleicht möchten Sie sie an sich nehmen?“
Langsam streckte Miss Montan der alten Dame das Bündel entgegen. Trotz der Entfernung konnte ich einen eigenartigen, durchdringenden Glanz in ihren Augen erkennen, der mich angesichts der Situation irritierte. Immerhin waren dies die Zeugnisse des Ehebruchs ihres Gatten!
Lady Hanford warf einen unsicheren Blick auf Mrs. Rivers. Fragend schaute diese zurück.
„Bedenken Sie, dass Sie es vielleicht bereuen könnten, diese Briefe nicht in ihrer Gewalt zu haben“, setzte Miss Montan fort, ohne eine Antwort abzuwarten, „Immerhin geht es um eine Angelegenheit, die zu Skandalen führen könnte. Vielleicht können Sie sie als Erinnerungsstücke an einen geliebten Menschen betrachten. Auch wenn ihre Geschichte sicher schmerzen mag.“
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Charlotte Montan mehr sprach, als ihre Worte verrieten. Es war doch reichlich absurd, einer betrogenen Ehefrau die Briefe ihres Gatten an dessen Geliebte mit solchen Worten auszuhändigen. Clarissa Hanford atmete tief durch und schien einen Moment zu überlegen, während sie den sonderbaren Blick ihres Gegenübers erwiderte.
„Miss Montan, ich danke Ihnen für Ihren Rat“, antwortete sie schließlich klar und bestimmt, „Doch ich möchte die Briefe nicht verwahren. Es gab in der Vergangenheit wohl zu viel Geheimniskrämerei. Ich will nicht auch noch die Gegenwart damit belasten. Den Skandal fürchte ich nicht mehr und die Erinnerungen an die Liebe meines Lebens sind nicht an materielle Dinge gebunden. Geben Sie sie Mrs. Rivers, damit Sie die ganze Wahrheit erfährt, so wie es der Wille ihrer Tante war.“
Mit diesen Worten trat die reiche Witwe durch die Türe. Für einen Augenblick schaute Miss Montan ihr hinterher. Etwas wie Verständnis spiegelte sich in ihren Augen.
Im diesem Moment sprang Mrs. Rivers vom Sofa auf.
„Ich bin völlig erstaunt darüber, was Sie alles aufdeckten, Miss Montan. Ich weiß nicht, woher Sie all diese Dinge wussten, aber ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Wenn ich mich irgendwie erkenntlich zeigen kann, lassen Sie es mich bitte wissen.“
Langsam drehte sich Charlotte Montan zu ihr um „Da gibt es tatsächlich etwas“, sprach sie leise. „Ja?“, fragte Mrs. Rivers erwartungsvoll.
„Ein sehr aufmerksames Kindermädchen, das sich verschuldet hat, um ihren Zögling zu beschützen. Sie verdanken ihr, dass ich überhaupt erst auf die Geschichte aufmerksam wurde. Ich bin mir sicher, sie wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie ihre Auslagen begleichen würden. Doch das sollten wir an anderer Stelle besprechen. In weniger als einer Viertelstunde läuft meine Miete für dieses Zimmer aus“.
Mrs. Rivers willigte ein. Die letzten Minuten nutzen wir, um das Zimmer in Ordnung zu bringen. Als sich an der Türschwelle des noblen Hotels unsere Wege trennen sollten, rief Mrs. Rivers uns noch einmal zurück.
„Miss Montan?“, sprach sie leise, „Wer oder was sind Sie?“
Die Detektivin lächelte: „Betrachten Sie mich und meine Gefährtin einfach als eine Art von Polzisten ohne Polizeimarke.“
Sie hatte mich ihre Gefährtin genannt! Mich! Der Stolz trieb mir die Schamesröte ins Gesicht.
Längst war der Himmel rabenschwarz geworden, als unsere Droschke gemächlich Highpark entgegenfuhr. Miss Montan saß dicht neben mir in dem ruckenden Gefährt und schien sehr zufrieden zu sein. Ich fühlte die Nähe ihres Körpers, der in der Kälte dieser aufziehenden Frühlingsnacht warme Ströme aussendete. Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf. Doch ehe wir unser zuhause erreicht hatten, wagte ich nicht, auch nur eine davon zu stellen. So schloss ich die Augen und genoss den Duft der blühenden Gärten der Stadt, der abends besonders intensiv war. Ein Stoß der haltenden Kutsche riss mich aus dem Schlaf. Am Horizont funkelten Sterne. Mondlicht spiegelte sich in Miss Montans Augen.
„Ist das nicht eine herrliche Nacht, Miss Whibby?“, fragte sie leise auf dem kurzen Weg von der Kutsche zu unserer Haustüre. Ich hatte gerade über Mrs. Rivers nachgedacht.
„Sie hat alles, was ich nicht habe“, sprach ich unfreiwillig aus, was in meinem Kopf vor sich ging. Miss Montan warf mir einen stillen, fragenden Blick zu.
„Einen Mann, Kinder, einen künstlerischen Broterwerb…“. Ich seufzte.
Miss Montan wandte ihren Blick wieder den Sternen zu.
„Letzteres haben Sie auch“, antwortete sie.
Nach einigen verschwiegenen Sekunden erreichten wir den Windfang.
„Ja, aber…“ entgegnete ich. Ich konnte die richtigen Worte nicht finden.
Miss Montan seufzte leise, während wir schweigend das dunkle Treppenhaus betraten. Ihre Schritte waren schnell, es fiel mir schwer, ihr zu folgen und sie blickte nicht einmal zu mir zurück. Auf halber Höhe warf ich durch das große Fenster einen letzen Blick auf den Sternenhimmel. Tatsächlich - es war eine wunderschöne Frühlingsnacht. Die Sterne hell wie kleine Silberperlen auf edlen Samt, dazu die majestätische Stille im Haus. Gebannt hielt ich inne.
„Sie haben Recht“, sprach ich verblüfft, „diese Nacht ist wirklich herrlich“.
Als ich mich wieder dem Treppenhaus zuwandte, stand Charlotte Montan plötzlich dicht vor mir. Stumm lächelte sie im fahlen Mondlicht. Die restlichen Stufen gingen wir still nebeneinander her.
Tief atmete Charlotte Montan aus, als sie erschöpft auf den Sessel niedersank. Bastet sprang auf den Schoß der Frau, die die Augen schloss und sogleich hinwegdämmerte. Ich aber fand keine Ruhe. Das Abenteuer lag hinter uns und doch war ich weit davon entfernt, mit der Geschichte abzuschließen. Meine Gedanken stürzten wild durcheinander. Wie war Charlotte Montan nur zu all diesen erstaunlichen Schlüssen gekommen? Alles war mir ein Rätsel. Doch so sehr die Fragen mir auch unter den Nägeln brannten, verharrte ich in Schweigen. Ich wagte es nicht, diese beeindruckende, faszinierende Frau in ihrem wohlverdienten Schlaf zu stören.
Doch da blinzelte Charlotte Montan. Augenblick nahm sie Haltung an, als sie meine Anwesenheit bemerkte.
„Noch nicht im Bett, Miss Whibby?“, presste sie die Worte zum Preis eines unterdrückten Gähnens hervor.
„Nein“, antwortete ich knapp.
„Wie dem auch sei“, setzte Miss Montan fort, „Ich schulde Ihnen meinen Dank Sie haben mir jedenfalls sehr geholfen, Miss Whibby.“.
„Das war doch nicht der Rede wert“, antworte ich verschämt.
„Doch, das war es“, widersprach mir Miss Montan entschieden.
Ich spürte, wie meine Wangen zu glühen begannen. Zum Glück wandte sich meine Vermieterin gerade voll und ganz der Katze zu.
„Ich frage mich nur, was Sie so sehr beschäftigt“, bemerkte sie ohne aufzusehen. Woher zum Teufel…! Ich beschloss nicht darüber nachzudenken. Das Spiel war mir in den letzten Tagen nur allzu vertraut geworden.
„Ich frage mich, woher Sie all diese Dinge wussten. Der Brief, der Code, die geheime Affäre. Manchmal glaube ich wirklich, Sie könnten hellsehen“.
Lachend setzte Miss Montan die Katze auf den Boden.
„Nun, für das Hellsehen ist in diesem Haus schon Mrs. Halley zuständig“, antwortete sie amüsiert.
„Dann erklären Sie es mir! Ich verstehe es nämlich nicht.“, antwortete ich ein wenig verärgert.
„Wollen Sie das wirklich wissen, Miss Whibby?“
Langsam trat sie zum Kamin und begann ein Feuer zu entfachen. Dann holte sie zwei Gläser und eine edle Wasserkaraffe aus der Vitrine.
„Ja!“, antwortete ich mit Nachdruck und nahm das Glas entgegen. Im flackernden Schein des Kaminfeuers rollte Bastet sich zu einem kleinen Knäuel zusammen. Für einen Moment blieb Miss Montan stehen, sinnend, überlegend. Dann ein Nicken.
So begann meine erste Lehrstunde in Sachen detektivischer Spürsinn ala Charlotte Montan. Und es sollte nicht die letzte sein.
„Was war Ihr erster Gedanke, als Miss Mühlenknecht Ihnen die Geschichte erzählte, Miss Whibby?“ Sprudelndes Wasser floss in mein Glas.
„Danke!“, rief ich und zögerte. Würde ich mich blamieren? „Ich…ich dachte an Kunstraub oder Fälschung vielleicht“, antwortete ich schließlich.
„Naheliegend“ bemerkte Miss Montan nachdenklich, stellte die Karaffe beiseite und beobachtete mich eindringlich.
“Wie hätten Sie diese These überprüft?“, fragte sie erwartungsvoll.
Einen Augenblick dachte ich angestrengt nach. Die aufmerksamen Blicke waren mir unangenehm, doch ich konnte ihnen nicht entkommen.
„Ich hätte mir wohl die Polizeianzeigen in der Zeitung durchgesehen“, antwortete ich leise.
„Kluges Kind!“, rief Charlotte Montan mit der Zufriedenheit einer Lehrerin, deren Schützling eine erste Aufgabe richtig gelöst hatte. Und ein schelmisches Lächeln zierte ihr Gesicht.
Dann wurde sie wieder ernst. „Was, wenn Sie nicht fündig geworden wären?“
Ich schluckte.
Zögerlich antworte ich ihr: „Dann hätte ich wohl versucht, mehr über die Gemälde herausfinden, denke ich.“
„Wie?“, fragte Miss Montan knapp.
„Na, was Sie auch getan haben“, setzte ich fort, „Mich in einer Kunstgalerie erkun…“ „
Ich meinte nicht was“, unterbrach mich meine Mitbewohnerin, „Erkundigungen einzuziehen liegt auf der Hand. Ich meinte, wie. Wie wären Sie vorgegangen?“
Ihre Augen ruhten auf mir, während ich fieberhaft überlegte. Doch es nütze nichts, ich war mit meinem Latein am Ende.
„Vermutlich wie Sie“, antwortete ich hastig.
„Und wie bin ich vorgegangen?“, fragte sie herausfordernd. Verdammt, ich saß in der Falle!
Ein stummes erwischt, Mädchen!, glänzte neckisch in ihren Augen.
Ich gab mich geschlagen: „Ich habe keine Ahnung!“.
„Das dachte ich mir“, antwortete Charlotte Montan mit einem verschlagenen Lächeln. Plötzlich wurde sie ernst, sehr ernst. Langsam beugte sie sich zu mir vor.
„Das Wichtigste sind die Details, Miss Whibby“, sprach sie leise, „Jede noch so unscheinbare Kleinigkeit kann ein wichtiges Puzzlestück sein. Erinnern Sie sich an unseren Besuch bei Mr. Goldman?“
„Natürlich“, antwortete ich, „Das war ja auch erst vorgestern. Ich nehme an, sie wählten ihn, weil einige der Skizzen Stadtansichten waren?“
„Das ist richtig“, antwortete Charlotte Montan, „Regionale Kunsthandlung. Doch darauf wollte ich gar nicht hinaus. Nicht das Offensichtliche. Denken Sie an die Details, an Kleinigkeiten, Miss Whibby. An was können Sie sich erinnern?“
Ich dachte angestrengt nach.
„Sie zerrten mich in den Schatten der Treppe. Sie schickten mich zu einer Frau, die gerade vorbeilief.“ „Vorher“, unterbrach mich Miss Montan, „im Laden!“
„Sie benahmen sich höchst sonderbar. Mehr weiß ich nicht“.
Miss Montan beäugte mich kritisch.
„Bemerkten Sie nicht den eigenartigen, kurzen Seitenblick Mr. Goldmans, als er die Skizzen betrachtete?“
„Doch“, antwortete ich, „was war damit?“ Die Sache erschien mir nichtig.
„Nichts, nur eine Kleinigkeit“, antwortete Charlotte Montan geheimnisvoll.
Plötzlich rückte sie sehr nah an mich heran.
„Wären Sie seinem Blick gefolgt“, flüsterte sie und ein Hauch von Dramatik kitzelte meine Sinne wie ihr Atem mein Gesicht, „dann hätten Sie vielleicht den kleinen Spiegel an der Decke im Winkel bemerkt. Er diente wohl zur Überwachung des hinteren Ladenteils. Denken Sie nur: Ein langer Gang, links und rechts Gemälde, alle in Wollstones Stil. Und vor diesen Gemälden geht ein Mann auf und ab. Er scheint zu lauschen, dreht plötzlich seinen Kopf in die Richtung des Spiegels. Ein hochgewachsener, hagerer Kerl mit braunblondem, gräulich schimmerndem Haar.“
„Oh mein Gott!“, ich hielt mir die Hand vor den Mund, „Doch nicht etwa Mr. Farmer?!?“
„Genau dieser“, bestätigte Miss Montan. „Er zeigte reges Interesse an den Gemälden. Ich musste unbedingt mehr über ihn herausfinden – heimlich natürlich. Dass er uns belauscht hatte konnte ich nicht mehr verhindern. Wohl aber, dass er uns sah.“
Plötzlich wurde war mir alles klar. „Darum also zogen Sie mich im Laden zur Seite. Darum schickten Sie mich also der Frau hinterher. Er sollte glauben, wir hätten den Laden gemeinsam verlassen!“
Ich war verblüfft.
„Sehr gut erkannt!“, lächelte Miss Montan und rückte wieder von mir ab, „Sie lernen schnell“.
„Wie ging es weiter?“, fragte ich aufgeregt. Mein Herz bebte.
„Wie ich es mir gedacht hatte. Mr. Farmer trat kurz vor die Ladentüre, blickte Ihnen und der fremden Frau hinterher und ging zurück zu Mr. Goldman. Unbemerkt schob ich einen kleinen Stein in den Türschlitz. So konnte ich das Gespräch ungestört belauschen. Unter einem Vorwand kaufte Mr. Farmer wohl ein Gemälde nach dem anderen und brachte es wieder zurück. Miss Mühlenknechts geheimnisvoller zweiter Mann war also gefunden. Als er den Laden verließ, folgte ich ihm durch die Straßen. Stundenlang trieb er sich im Victoria Viertel herum, ging von Cafe zu Cafe, trank Mocca, las Zeitung. Dann zog er einige Briefe aus seiner Tasche hervor und begann sie zu studieren. Durch einen alten Trick konnte ich alles mitlesen. Lassen Sie sich niemals einreden, Miss Montan, dass Taschenspiegel einer Dame nur Schönheitspflege gereichen. Sie sind die hübschesten Werkezeuge der Spionin. Jedenfalls waren es Drohbriefe, aufgrund von Spielschulden. Ich erfuhr so auch seinen Namen, seinen Beruf und sein Verhältnis zu Mr. Chapson. Spät am Abend brach er zum Victoria Place auf. Als er eine Droschke nahm, verlor ich seine Spur.“
„Das erklärt natürlich einiges.“, antwortete ich Charlotte Montan. Und doch gab es noch so viele Rätsel. Der Brief, der Code, die Verbindung zwischen Mrs. Rivers und Mr. Farmer. Nachdenklich starrte ich Löcher in die Luft.
„Sie fragen sich wohl, wie die anderen Dinge dazu passen“, bemerkte Miss Montan.
„Ja“, antwortete ich betrübt und schob mein Glas über den Tisch, „Doch wenn Sie alle Hinweise in meiner Abwesenheit entdeckten, habe ich wohl kaum eine Chance, die Lösung zu finden“.
„Nun, in dieser Hinsicht kann ich Sie beruhigen, Miss Whibby. Alle anderen Puzzlestücke lagen direkt vor ihrer Nase. Ich sah nichts, was Sie nicht auch sahen.“
Irritiert blickte ich auf.
„Wirklich?!?“, fragte ich ungläubig.
„Zweifeln Sie etwa daran?“, antwortete Miss Montan neckisch. Ihre tiefen, schwarzen Augen schimmerten vor Stolz.
„Keineswegs, ich bin nur überrascht!“, gestand ich, „Was ist zum Beispiel mit Celine Farmer?“
„Oh Celine Farmer“, sagte sie und schaute in ihr Glas, „Ist Ihnen an ihrem Vater nichts aufgefallen?“
„Doch, er ist ein arrogantes, selbstgefälliges Arschloch!“
Miss Montan lachte herzlich.
„Ja, das auch. Doch das meinte ich nicht“, fuhr sie fort nachdem sie sich wieder beruhigte, „Denken Sie an sein Aussehen“.
Ich rief mir Mr. Farmers Bild ins Gedächtnis, ein gewöhnlicher Mann mittleren Alters.
„Nichts Besonderes“, antwortete ich knapp. „Ein kleiner, hässlichen Leberfleck, direkt über der linken Augenbraue“, fuhr Miss Montan fort. Dies war mir tatsächlich entgangen.
„Haben Sie ein solches Schönheitsmal in den letzten Tagen irgendwo gesehen, Miss Whibby?“
Ich schüttelte den Kopf, „Nicht, dass ich wüsste. Aber Sie, nehme ich an?“
„Allerdings“, deutete Miss Montan geheimnisvoll an, „Mehr als einmal!“
„Wo?“, fragte ich neugierig und griff nach dem Glas.
„Natürlich auf zwei Kinderportraits in Mrs. Rivers Wohnzimmer!“
Augenblicklich verschluckte ich mich am Wasser. Daher also ihr Interesse an diesen Bildern. Entgeistert starrte ich Charlotte Montan ins Gesicht.
„Sagen Sie nun nicht, dass auch noch der Schlüssel zum Code die ganze Zeit an Mrs. Rivers Wand hing?!“
„Nicht direkt“, antwortete Miss Montan lässig, „Aber Mrs. Rivers Wohnung war tatsächlich eine echte Goldgrube an Hinweisen. Denken Sie beispielsweise an den Brief.“
Achja, der Brief!
„Haben Sie bemerkt, wo Mrs. Rivers ihre Briefe aufbewahrte?“
„Ja“, antwortete ich mit einem strahlenden Lächeln, „in einer offenen Kartei auf dem Schreibtisch!“.
„Immerhin etwas!“, lachte Charlotte Montan, „Diese Kartei hat genau 31 Fächer. Ein Fach für jeden Tag. Mrs. Rivers hat die Angewohnheit, Briefe und Umschläge getrennt einzusortieren. Im siebten Fach standen fünf Umschläge, aber nur vier Briefe. Und nun raten Sie, was auf dem vordersten Umschlag zu lesen war.“
Ich spürte, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. „Absender Alice Wollstone?“, flüsterte ich ungläubig.
„Richtig!“, antwortete Charlotte Montan.
„Und mit dem Dachboden, was war damit?“ Ich blickte Miss Montan geradewegs ins Gesicht.
„Oh, der Dachboden! Wahrlich die größte Quelle von allen“, begann sie begeistert zu berichten, „Wissen Sie, Miss Whibby. Mir fielen an Ihren Skizzen sofort die Fehler in den Stadtbildern auf. Die Sache kam mir schon da recht merkwürdig vor. Auf dem Dachboden wusste ich schließ, dass dies kein Zufall war. Miss Wollstone zeichnet sehr abstrakt, doch immer korrekt. Mit Ausnahme der Stadtansichten. Mrs. Rivers erwähnte einen Zyklus, die fehlerhaften Gemälde standen also in Verbindung zueinander. Bei näherem Hinsehen entdeckte ich ein kleines „c“ am Rande der Gemälde, eine Markierung für den Code, wie sich später herausstellte. Und noch etwas!“
Miss Montan machte eine Gedankenpause
„Was denn?“, fragte ich gespannt.
„Fehlender Staub!“
„Fehlender Staub?!“
„Fehlender Staub auf einem Dachboden, in dem sonst alles unter einer dichten Staubdecke versank. Sie konnten keineswegs lange dort oben stehen. Ich musste unbedingt herausfinden, wie viele Gemälde dieser Zyklus umfasste. Da ich noch nicht wusste, welche Rolle Mrs. Rivers in dieser Geschichte spielte, war ein heimlicher Blick in die Skizzenmappe meine einzige Chance. Ich fand 16 Skizzen darin. Und noch etwas anderes lag zwischen den Blättern. Ein kleiner, verdreckter Zettel mit einer kryptischen Notiz, die sich im Nachhinein als sehr hilfreich erwies: „C-Series Shorthands: VIC 6 L, QT 6 L, EE 4 L.“
Es fiel mir schwer, Miss Montan zu folgen. Mein Kopf schien sich zu drehen, schwindelig von der Flut an Informationen, die auf mich einströmte. Ich atmete tief durch.
„So viele Puzzleteile…die Kinderportraits, die Briefablage, die Gemälde…“, dachte ich laut vor mich hin, „das ergibt doch alles keinen Sinn.“
Charlotte Montan sah mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte. Und vielleicht hatte ich das tatsächlich, zumindest für eine Minute.
„Ich meine, der Zusammenhang“, fuhr ich schnell fort, „So viele lose Stücke. Wie passen sie zueinander? Wie kamen Sie z.B. auf die Verbindung zwischen Sir Hanfords Tod und Alice Wollstones Brief. Das begreife ich nicht.“
Charlotte Montan betrachtete mich eine Sekunde lang schweigend.
„Sie erinnern sich an das Portrait der Hanfords?“ fragte Sie schließlich.
„Ja“, antwortete ich leise.
„Und auch an das, was Mrs. Rivers darüber sagte?“
„Nur, dass es die Arbeitgeber ihrer Tante waren“.
„Sie erzählte auch, dass Charles Hanford vor wenigen Wochen verstorben sei“
„Aha?“, fragte ich leise, ahnungslos, worauf Miss Montan hinaus wollte.
„Ich durchsuchte zuhause die Todesanzeigen der letzten Wochen. Charles Hanford verstarb am 5. März. Die Nähe zum 7. März ließ vermuten, dass Alice Wollestone Sir Hanfords Todestag als Zeitpunkt der Aushändigung des Briefes bestimmt hatte.“
„Nicht wahr!“, rief ich verblüfft. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, nach Charles Handfords Todesdatum zu forschen.
„Und Celine Farmer?“
„Eine weitere Bemerkung Mrs. Rivers. Sie erzählte uns im Wohnzimmer, dass ihre Kinderzeichenkurse dienstags und donnerstags stattfanden.“
„Moment! Der 7. März war ein Donnerstag!“.
„Richtig“, antwortete Charlotte Montan.
„Einen Brief vom Vortag hätte Mrs. Rivers längst weggeräumt. Celine wäre nie darauf aufmerksam geworden.“
„Uff, ganz schön kompliziert!“, seufzte ich laut und dachte plötzlich an die Juwelen im Victoria Hotel. „Wie kamen Sie eigentlich auf den Code? Noch eine Bemerkung Mrs. Rivers, die mir entfallen ist?“.
„Nein, reine Schlussfolgerungen“, antwortete Miss Montan.
Ich schaute sie verblüfft an: „Wie? Allein aufgrund einiger Fehler und eines seltsamen Zettels?!?“
„…Und der Tatsache, dass sich Miss Wollestones Gemälde kaum direkt zu Geld machen ließen“, antwortete Charlotte Monat.
Ich schüttelte energisch den Kopf.
„Überlegen Sie doch mal, Miss Whibby. Zwei verschuldete Männer interessieren sich plötzlich für offensichtlich wertlose Gemälde der Hauskünstlerin eines alten Sirs, welche am Todestag ihres Arbeitsgebers ihrer Erbin einen Brief aushändigen lässt, der von der Tochter eines der Männer im Vorfeld gestohlen wurde. Was schließen Sie daraus?“
„Dass ich über solche Fragen nicht nachdenken sollte, wenn ich Kopfschmerzen nicht mag!“
Charlotte Montan lachte abermals.
„Besagte Hauskünstlerin hatte ein Geheimnis vor ihrem Arbeitgeber. Dieses hatte etwas mit Geld zu tun. Der Brief enthielt einen Hinweis auf die Gemälde. Und die Gemälde auf das Geld. Doch in welcher Hinsicht? Versteckte Banknoten in einer doppelten Rückwand? Die Notiz auf Wollstones Künstlermappe sprach von einem „C-Zyklus“. Außerdem war von einem Kürzel die Rede. Das alles verwies auf einen Code. Besagter Zyklus fiel durch seine Fehler auf. Ich ging einige Möglichkeit durch. Am Morgen hatte ich die geheime Botschaft entschlüsselt. Dann erreichte mich Miss Mühlenknechts Telegramm: Mr. Chapson verabredet. Heute 16:00 Hotel.“ Schnell machte ich mich auf den Weg zum Victoria Hotel, entdeckte den Schmuck, die Briefe und die Dokumente. Auf dem Rückweg gab ich noch drei Telegramme auf. Der Rest der Geschichte ist Ihnen bekannt.“
Miss Montan endete ihren Bericht mit einem tiefen Schluck aus ihrem Wasserglas. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nun wusste ich, dass ihre Schlussfolgerungen nicht auf Hellsicht beruhten. Doch ich war nicht weniger verblüfft. So viele Dinge hatte sie bemerkt, die mir entgangen waren. So erstaunliche Schlüsse hatte sie gezogen. Es war unglaublich! Ich erbebte in Ehrfurcht vor ihrem Genie!
Und doch gab es noch immer Ungereimtheiten. Und doch war mir noch nicht alles klar.
„Eines verstehe ich nicht ganz“, setzte ich fort. Miss Montan blickte mich erwartungsvoll an. „Wieso machte sich Miss Wollstone solche Umstände. Ein Versteck, ein Brief, der Code in den Bildern. Welch ein Aufwand!“
„Wahrscheinlich aus demselben Grund, warum auch jeder andere eine Nachricht verschlüsselt“, antwortete Charlotte Montan ruhig, „Weil er Angst hat, dass eine wichtige Botschaft in falsche Hände geraten könnte. Wie sich herausstellte nicht unbegründet.“
„Aber wieso wählte sie denn nicht den offiziellen Weg? Sie war doch die rechtmäßige Besitzerin der Schmuckstücke. Wieso ließ sie ihre Nichte ein Jahr warten! Das macht doch keinen Sinn.“
„Nun“, antwortete meine Mitbewohnerin leise lächelnd, senkte ihren Blick und begann mit dem Wasserglas zu spielen, „Nur weil wir ihre Motive nicht kennen, bedeutet das nicht, dass sie keinen guten Grund dazu hatte. Sicher ist, dass Sie nicht wollte, dass die Sache vor Sir Hanfords Tod bekannt wird. Den Rest werden wir wohl nicht mehr erfahren“.
Ich seufzte unzufrieden.
„Wie Sie meinen. Mir ist die ganze Affäre sowie ein Rätsel. Ein Mann, der seine Frau angeblich abgöttisch liebt und rasend eifersüchtig ist, fängt hinter ihrem Rücken eine Liebschaft mit einer armen Künstlerin an. Das soll einer verstehen!“
Leise lächelnd hob Miss Montan das Glas gegen das Licht.
„Manchmal, Miss Whibby, muss man sich eben damit abfinden, Dinge nicht ganz zu verstehen“.
Der geheimnisvolle, wissende Unterton ihrer Stimme war nicht zu überhören. Doch wieder einmal sah ich mich unfähig, ihre rätselhaften Botschaften zu entschlüsseln. Hoffend, eine Antwort darin zu finden, suchte ich ihre Blicke. Doch ihre Augen waren verschleiert. Jeden Moment würde Charlotte Montan sich erheben, um sich für die Nacht verabschieden, das wusste ich.
Fast beiläufig klang ihre Stimme, als sie nach einer Zeit des Schweigens plötzlich beendete: „Ist Ihnen eigentlich der leichte Grauschleier in Clarissa, C. Handords, Kleidung aufgefallen, Miss Whibby? Der Stoff wirkte wie von mehreren Wäschen gebleicht. Ziemlich ungewöhnlich für neue Trauerkleider und ich glaube nicht, dass Mrs. Hanford sich keinen Schneider leisten kann. Es schien fast so, als würde sie die Stücke schon länger tragen - vielleicht ein Jahr.“
Mit einem wissenden Lächeln stellte Miss Montan ihr Glas zurück und wünschte eine gute Nacht. Verdutzt schaute ich ihr hinterher, als sie durch die Türe trat.
Nur unförmig wie wässiger Nebel umwogten mich Gedanken über eine sonderbare Ähnlichkeit von Initialen, doch nahmen sie keine klare Gestalt an. Das Lächeln meiner Mitbewohnerin aber stand mit noch immer klar vor Augen und mein Herz schlug ein wenig schneller.
ENDE
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Klatschkopie • Am 24.10.2022 um 19:54 Uhr • Mit 1. Kapitel verknüpft | |
Hi, du schreibst wirklich gut, nur manchmal scheinst du die Spannung zu verlieren und haust ein paar verschwurbelt klingende Sätze heraus, wie etwa dieses Zitat zeigt: "Hätte ich damals nur geahnt, wie sehr mein Leben sich nach dem Schritt über jene Schwelle wandeln sollte, hätte ich nur gewusst, welche Abenteuer mir bevorstanden, ich hätte auf dem Absatz kehrt gemacht oder nicht gezögert, den Weg zur Fellburn Street sogar zu Fuß zurückzulegen. Ich hätte den Kutscher auf halber Strecke angewiesen umkehren oder ihm befohlen, den Pferden die Sporen zu geben, nur um schneller anzukommen. Was immer ich auch getan hätte: Ich hätte eine viel klarere Entscheidung getroffen. Eine, die einer existenziellen Situation angemessen gewesen wäre." Zunächst einmal glaubt man es deiner Prota nicht, dass sie auf dem Absatz kehrt gemacht hätte. Diese Phrase dient nur der Spannung, die jedoch auch ohne all das entfaltet wird. Dann wirkt das ganze auch etwas redundant. Du könntest es strecken, wenn du es denn unbedingt drin lassen wöllen würdest. Und dann: sind Situationen nicht immer existientiell, weil aus dem Leben her kommend? Du verstehst mit Worten umzugehen, aber manchmal wirkt deine Sprache etwas überfrachtet. "Dies war mein erster Eindruck von Charlotte Montan und ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich dieser ungewöhnlichen Frau das erste Mal gegenüberstand und den Fuß über die Schwelle ihrer Wohnung setzte, noch unwissend, dass ich hier niemals wieder ausziehen würde, ohne einen Koffer voller Erinnerungen mitzunehmen, die für ein ganzes Leben ausreichen würden." Die Beschreibungen von Charlottes Erscheinung sind dir im vorangegangenen Abschnitt vortrefflich gelungen. Ja, ich würde sogar sagen, dass sich gerade darin deine Stärke zeigt. Der Übergang hingegen wirkt mühsam, sperrig, redundant - so als wüsstest du nicht, wie du weiterschreiben solltest. Und dabei könntest du darauf vollkommen verzichten. Dass Elizabeth fasziniert von Charlottes Erscheinung ist, wird ja schon durch die detaillierte Beschreibung deutlich. :-) Auch der Hinweis auf Charlottes genaues Alter könntest du dir sparen. Was tut das zur Sache? Möchtest du Elizabeths genaue Beobachtungsgabe unterstreichen? Die aber hat sie ja sowieso schon, indem du sie alles so gut beschreiben lässt. VG KlatschK Mehr anzeigen |
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Kapitel: | 10 | |
Sätze: | 2.934 | |
Wörter: | 31.887 | |
Zeichen: | 192.163 |