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Kapitel: | 22 | |
Sätze: | 4.672 | |
Wörter: | 64.456 | |
Zeichen: | 378.589 |
Nach einem schwierigen Winter, mit nur wenigen Einnahmen und einem fast genauso schlecht verlaufendem Frühling stand François hinter dem Tresen seiner Bar. Es war nicht viel zu tun, zum Glück kamen immer noch einige Soldaten der alliierten Armeen, um sich in ihrer Freizeit zu entspannen und vor allem um Bier zu trinken. Nach dem aber der Krieg im Zuge der Befreiung über die Normandie hinweg gerollt war, war das Gros der Armeen kämpfend weiter in das Innere des Kontinents vorgedrungen. Die Soldaten hatten Geld in die Normandie gebracht, was jetzt aber fehlte, waren stabile Einnahmen, um den Lebensunterhalt zu sichern. Der einheimischen Bevölkerung mangelte es an allem, was zum Leben nötig war, aber auch an Geld.
Nach der Niederlage der Nazis hatte sich das Leben trotz der schwierigen Versorgungslage wieder einigermaßen normalisiert, nur Feriengäste gab es noch nicht. Das war schmerzhaft, denn der Tourismus hatte zu Friedenszeiten Geld in die Normandie gebracht. Immer wieder trafen sich nun Freischärler der Résistance in der Bar, meist um in ihren Erinnerungen aus der Besatzungszeit und bei der Befreiung zu schwelgen. François hätte oft am liebsten laut gebrüllt, wenn er hörte, was da alles zusammengesponnen wurde. Die Heldentaten wurden umso größer, je höher der Alkoholspiegel stieg. Einmal hatte er einige der Aufschneider einfach vor die Tür gesetzt, da er wusste, dass zwei der Helden fast die gesamte Besatzungszeit als Kollaborateure verbracht hatten. Erst im letzten Moment hatten sie die Kurve gekriegt und sich der Résistance angeschlossen. Er fand die Kerle einfach widerlich. Groß hervor getan hatten sie sich nach der Befreiung, als es daran ging, Frauen zu demütigen, die verdächtigt wurden, mit Deutschen liiert gewesen zu sein oder kollaboriert zu haben. Ihm taten die Frauen leid, die kahlgeschoren, mit entblößten Brüsten von den Helden durch die Straßen der Städte getrieben wurden.
Auch in Arromanches tobte der Mob. Das Procedere war hier wie andernorts immer gleich. Zuerst zerrten sie die Frauen aus ihren Häusern und trieben sie zusammen, scherten sie kahl und zerrissen ihre Kleidung, sodass ihre Brüste entblößt waren. Etlichen von ihnen tropfte Blut vom kahl geschorenen Schädel, da es beim Scheren der Haare brutal zuging. Der tobende Mob hatte einer der Frauen von Arromanches, deren Schandtaten als besonders schändlich galten, alle Kleider vom Leib gerissen. Sie hatten sie auf offener Straße mehrfach vergewaltigt und sie anschließend gezwungen, sich nackt auf die Brüstung der Uferpromenade zu stellen. Nachdem sie als lebendes Standbild den Hitlergruß zeigen musste, wurde sie über die Brüstung auf den Strand gestoßen.
Als François und Christine mitbekamen, was im Ort vorging, waren sie sofort eingeschritten. Niemand aus der tobenden Menge hatte sich getraut, sich den beiden weithin bekannten Kämpfern der Résistance in den Weg zu stellen. „Ihr seid schlimmer als die Nazis! Lasst die Frauen gehen, sonst gibt es Tote!“, hatte François sie angebrüllt, während er sein Gewehr in Anschlag brachte. Christine hatte der zum Glück nur leicht verletzten Frau am Strand geholfen, wieder auf die Beine zu kommen und sie mit zu sich in die Bar genommen. Sie hatte ihre letzte Butter geopfert, um die mit Teer auf ihre Brüste gemalten Hakenkreuze zu entfernen. Der Badeofen wurde angeworfen und der Frau ein Handtuch und Seife gereicht. Danach wurde sie aufgefordert, sich in die Badewanne zu legen. Anschließend hatte sie die Frau notdürftig mit Kleidung versorgt. In Christine stieg umso mehr Ekel auf, je länger sie sich mit dem Opfer beschäftigte. Sie war sehr jung und wirkte absolut hilflos, fast noch wie ein Kind, fand Christine. Sie hatten sie dann durchgefüttert, bis sich der Sturm gelegt hatte und ihre Haare wieder gewachsen waren. Es hatte sich in dieser Zeit zwischen ihnen ein Verhältnis, wie zwischen Eltern und Tochter entwickelt. Sie behielten die Frau bei sich und gaben ihr Arbeit, so oft sie Geld genug hatten, sie zu bezahlen. Reichte das Geld nicht, arbeitete die junge Frau unentgeltlich bei den Beiden.
An diesem späten Vormittag war es in der Bar noch ruhiger als sonst, einmal war Félix vorbeigekommen, er hatte ein Bier getrunken und François hatte mit ihm den neuesten Klatsch ausgetauscht. François hatte sich danach zum Gläserregal hinter dem Tresen gewandt, als er die Eingangstür schlagen hörte. Er setzte das Glas ab, das er gerade in das Regal stellen wollte, um zu sehen, wer durch die Tür kam. Eine attraktive Frau in der Uniform eines hohen britischen Sanitätsoffiziers betrat die Gaststube. An ihrer Hand hielt sie ein etwa sechsjähriges Mädchen. Das Kind war mit einem karierten Rock in den Farben des schottischen Armstrong-Clans, einer weißen Bluse und einer beigefarben Strickjacke bekleidet, auf deren Saum und Ärmelumschlägen rote Blümchen gestickt waren. Auf dem Rücken trug das Kind einen leichten Rucksack, im Arm hielt es eine Puppe. Die sommerlich leichte Bekleidung des Kindes stand im krassen Gegensatz zur strengen Uniform der Frau. François wurde zuerst blass, dann stieg Wärme in ihm auf, ihm wurde regelrecht schwindlig.
„Sie sind Hannah?“, stammelte er, während er um den Tresen herum kam. „Sie müssen Hannah sein! Du bist Hannah!“, wiederholte er.
„Ja François, ich bin es.“
François stand starr wie eine Salzsäule, hielt sich am Tresen fest und rief, „Christine schnell, Hannah ist da.“ Dann hatte er sich gefangen, lief auf Hannah zu und schloss sie in die Arme.
Christine kam aus der Küche, sie reagierte spontan, stieß François beiseite und umarmte Hannah, „du bist zurückgekommen, Hannah, mein Gott, welch ein Glück.“
„Mum, what are these people doing with you?“, fragte das Mädchen unsicher.
„They are very dear friends of us.“
„I don’t know these people, they can’t be friends of us!“
Christine und François, die nicht verstanden, was gesagt wurde, schauten fragend zu Hannah. „Das ist meine Tochter Sarah. Sie versteht kein Französisch.“
„Sarah, they are Christine and François, please say good morning. They love you.”
Sarah war schüchtern und drückte sich an Hannahs Beine, sagte aber folgsam, „good morning.”
„Bitte Hannah, sag Sarah, wir freuen uns sehr, sie kennenzulernen.“
„Sarah, Christine and François are very happy to meet you.” Sarah nickte.
„François, schließe die Bar ab, heute haben wir geschlossen. Bitte kommt mit in die Küche.“
Christine hielt Sarah eine Hand hin und als diese die Hand ergriff, ging sie gemeinsam mit dem Kind in die Küche, Hannah und François folgten. Sie setzten sich rund um den großen Esstisch, Hannah hob Sarah hoch und setzte sie auf ihren Schoß. Es sah für Hannah so aus, als hätte sich in der Küche nichts verändert, seit sie das letzte Mal vor dem Krieg hier gesessen hatte. Sie dachte an Hans, der sie hier in die Bar gebracht hatte, nachdem sie auf der Promenade aufeinander getroffen waren. Christine stand nach einiger Zeit auf und beschäftigte sich mit den Vorbereitungen für das Mittagessen, die sie unterbrochen hatte, als François sie in die Gaststube gerufen hatte. Sie wandte sich um zum Bord mit den Tellern und stellte fünf Teller auf den Tisch. „Nach dem Essen habe ich Schokolade für Dich, Sarah“, sagte sie dabei. „Christine has chocolate for you, but only after the lunch”, übersetzte Hannah. „Merci, Christine“, antwortete Sarah schüchtern. Christine öffnete ein Schubfach, entnahm ihm einen Brief und reichte ihn Hannah.
„Den hat Hans für dich hier hinterlassen, für den Fall, dass du hierherkommst. Nun frag endlich, man sieht dir an, warum du hier bist.“
„Ich wollte nicht unhöflich sein, aber es ist wahr, Christine. Nur jetzt möchte ich zuerst den Brief lesen. Ich möchte dazu allein sein. Ich gehe zum Lesen in die Gaststube.“ „Sarah, please stay with Christine and François in the kitchen. I’ll come back quickly.”
Hannah erhob sich und ging in die Gaststube. Mit zitternden Fingern öffnete sie das Kuvert. Sie setzte sich auf eine der Bänke, strich das gefaltete Papier auf dem Tisch glatt und holte einmal tief Luft. Dann hielt sie den Brief so gegen das Licht, dass sie leichter lesen konnte.
Liebe Hannah,
ein Glück, Du liest diese Zeilen, Du lebst! Der Krieg ist vorüber und mir geht es gut. Da Du diesen Brief jetzt liest, darf ich hoffen, dass auch Du das Inferno unbeschadet überstanden hast. Ich weiß nicht, wie es Dir ergangen ist. Vielleicht hast Du einen anderen Mann kennen und lieben gelernt – dann zerreiße den Brief und vergiss mich. Wenn dem nicht so ist, dann sollst Du wissen, all meine Sehnsucht gilt Dir. Mehr wage ich nicht zu schreiben, denn es könnten sinnlos geschriebene Worte sein.
Liebe Grüße
Hans
Tränen traten in Hannahs Augen, als sie den Brief zurück in sein Kuvert schob. Sie lehnte sich auf der Bank zurück, bis ihr Rücken gegen die Lehne stieß und atmete mehrmals tief durch, um ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Nach einem kurzen Moment erhob sie sich und ging zurück in die Küche. Auf dem Herd dampfte inzwischen ein Topf Bohnensuppe und Christine rief durch die hintere Tür, „Nicole, Essen ist fertig.“ Eine junge Frau von vielleicht zwanzig Jahren kam in die Küche und grüßte verschüchtert, als sie Hannah in ihrer Uniform wahrnahm. „Du brauchst keine Angst zu haben, Nicole. Das ist Hannah, eine Freundin von uns aus der Zeit vor dem Krieg“, sagte François zu ihr. Wortlos ging Nicole zum Herd, nahm den dampfenden Suppentopf und stellte ihn auf den Tisch. Sie aßen schweigsam, trotz der begrenzten Mittel, die zur Verfügung standen, fand Hannah, Christines Kochkünste waren kaum zu übertreffen.
„Nicole spricht Englisch, sie könnte mit Sarah spazieren gehen, dann wird es ihr nicht langweilig und vieles von dem, was wir uns zu sagen haben, ist für Kinderohren nicht geeignet“, meinte François, sobald sie fertig gegessen hatten.
„Sarah, are you going for a walk with Nicole? She speaks English and she can show you the sea. We have a lot things to discuss, it would be boring for you.”
„Yes mum“, antworte Sarah, machte aber keinerlei Anstalten sich zu erheben und verzog das Gesicht. Erst als Christine die Schokolade brachte, wurde sie munter. „Merci, Christine“, sagte sie artig, Nicole nahm sie an die Hand und ging mit ihr durch die Tür nach draußen.
„Darf ich eine Offizierin bitten, mir beim Abwasch zu helfen?“, Christine und Hannah lachten, während sich François immerhin ein Grinsen abringen konnte.
Hannah zog ihre Uniformjacke aus, „du darfst.“ Wieder brachen die beiden Frauen in Lachen aus.
„Wie kommst du an ein Kind?“, fragte François plötzlich, während sich die beiden Frauen schweigend dem Abwasch widmeten.
„Bitte François, sie weiß nicht, wer ihr Vater ist, aber sie ist unsere Tochter.“
„Wenn du unsere sagst, meinst du von dir und Hans?“
„Ja, so ist es.“
„Warum hast du ihm das nicht geschrieben? Bevor du interniert wurdest, warst du doch schon hochschwanger?“
„Ja! Ich wollte Hans nicht mit noch einem Menschen belasten, um den er sich Sorgen machen muss.“
„Das verstehe ich, Hannah“, Christine nickte.
„Deswegen bin ich doch jetzt zu euch gekommen, Hans soll wissen, dass wir eine Tochter haben. Ich bin gekommen, in der Hoffnung, dass ihr wisst, wo er ist.“
„Er ist zurück nach Deutschland gegangen. Direkt nach der Kapitulation der Nazis und er hat den Brief für dich zurückgelassen.“
„Geht es ihm gut?“
„So gut, wie es einem Menschen in einem total zerstörten Land gehen kann!“, antwortete François.
„Während des Krieges war er hier?“
„Ich habe ihn am Lager in Gurs in Empfang genommen, die Tore wurden gerade noch rechtzeitig geöffnet, bevor die Deutschen kamen. Er ist dann untergetaucht und hat sich umgehend der Résistance angeschlossen.“
„Hat er seine Rache bekommen?“
„Nein, das konnte er nicht mehr, nachdem er dich lieben gelernt hatte. Er hat gemeinsam mit Florence Verfolgten zur Flucht nach Spanien und weiter nach Portugal verholfen. Seine größte Tat war, dass er Juden aus verschiedenen Lagern befreit und dadurch gerettet hat. Erst in den letzten Wochen des Krieges hat er sich einer kämpfenden Einheit angeschlossen, aber auch da hat er eher dafür gesorgt, dass Gefangene den regulären Truppen zugeführt wurden, statt sie auf der Stelle zu erschießen.“
„Und Florence?“
„Die haben sie erwischt und in ein Lager deportiert. Ravensbrück oder so ähnlich hieß das Lager. Sie hat knapp überlebt und ist erst vor wenigen Wochen nach Regnéville zurückgekehrt.“ Christine und Hannah setzten sich wieder an den Tisch, nachdem die Teller auf dem Bord verstaut waren.
„Und wie geht es ihr?“
Christine wiegte den Kopf, „wie es einem Menschen geht, der den Tod vor Augen hatte.“
„Ich werde sie besuchen, bevor ich zurückfahre. Wohnt Hans wieder in Düsseldorf?“
„Ja und wir glauben, er wartet auf dich“, François erhob sich und blickte aus dem Fenster.
„Und Docteur Beaudoin?“
„Paul ist tot, sie haben ihn gemeinsam mit Jean, Delphyna und Patxi erschossen“, Tränen traten in Christines Augen. Hannah konnte ihre Tränen nicht zurückhalten und weinte hemmungslos.
François legte ihr einen Arm um die Schultern. „Du könntest jetzt seine Nachfolge antreten, aber wie ich sehe, hast du dich dem Sanitätsdienst verschrieben“, François lächelte bei diesen Worten.
Hannah schnäuzte und hatte sich danach wieder unter Kontrolle. „Ja, ich hatte großes Glück. Die Jüdische Gemeinde hat sich für mich eingesetzt, so konnte ich das Lager verlassen, kurz nachdem Sarah geboren wurde. Ich habe dann mein Medizinstudium zu Ende gebracht und bin danach in den Sanitätsdienst eingetreten.“
„Du bist jetzt Engländerin?“
„Ja Christine.“
„Das ist gut so. Ich möchte nach diesem Krieg nicht in der Haut eines Deutschen stecken“, François sagte das aus tiefster Überzeugung und fügte hinzu, „nicht alle Deutschen waren Nazis, aber das zählt zurzeit nicht.“
„Wie seid ihr denn zu Nicole gekommen? Sie ist eine so hübsche junge Frau, macht aber einen sehr verängstigten und verstörten Eindruck.“
Christine schwieg, während sie nach den richtigen Worten suchte. Deshalb sprach François, „das ist eine traurige Geschichte und eigentlich schämen wir uns so sehr dafür, dass wir nicht gerne darüber sprechen.“
„Es muss aber gesagt werden, Mann! Diese angeblichen Widerstandskämpfer haben nach der Befreiung Jagd auf Frauen gemacht, denen nachgesagt wurde, sie hätten etwas mit Deutschen gehabt. Kahlgeschoren und nackt haben sie sie durch die Straßen getrieben – wie Vieh. Nicole war doch noch nicht einmal vierzehn Jahre alt, als die Deutschen kamen. Es ist auch egal, ob sie sich in einen der Kerle verliebt hat, das geht niemand etwas an. Auf jeden Fall haben sie es mit Nicole besonders schlimm getrieben, sie haben sie auf offener Straße mehrfach vergewaltigt und sie dann über die Brüstung der Uferpromenade auf den Strand gestoßen. François ist mit entsichertem Gewehr auf die Kerle los und hat gedroht sie zu erschießen, wenn sie nicht umgehend die Frauen freiließen. Dann haben wir Nicole mit nach Hause genommen, seitdem wohnt sie bei uns und wenn das Geld langt, lassen wir sie bei uns arbeiten.“
„Niemand von diesen Menschen habe ich je bei der Résistance gesehen und ich kannte viele Leute dort, schließlich war ich hier einer der Kommandeure. Sie sind die reinste Pest.“
„Mit Teer haben sie Nicole Hakenkreuze auf die Brüste gemalt, diese Schweine“, Christine schauderte.
„Wo wohnst Du, Hannah?“, fragte François, nachdem sie einige Zeit geschwiegen hatten.
„In Bayeux, im Hotel Reine Mathilde.“
„Ziemlich nobel!“
„Offizier zu sein, hat schon Vorteile“, Hannah lachte.
„Was hast du jetzt vor?“
„Einige Tage bleibe ich noch, dann muss ich zurück. Vorher werde ich Florence besuchen und immer wieder bei euch vorbeikommen. Ich würde meinen Abschied nehmen, wenn ich zurück in London bin, aber reisen ist für Privatpersonen kaum möglich. So werde ich versuchen dienstlich nach Düsseldorf zu kommen und danach meinen Abschied nehmen.“
„Du kommst in ein total zerstörtes Land, ob du vielleicht Hans mit nach England nehmen kannst?“
„Ja vielleicht. Aber eigentlich habe ich selbst den Wunsch wieder zurück nach Deutschland zu gehen. Es ist mein Land.“
„Lass das besser! Sie haben all deine Leute ermordet!“
„Ja, niemand von denen, die ich kannte, hat das Morden überlebt. Meine Eltern wurden in Auschwitz ermordet.“
„Und trotzdem willst du zurück?“
„Ja, aber ich muss sehen, ob das mit Sarah geht. Sie spricht fast fehlerfrei Deutsch, aber sie ist ein Kind aus England. Auch den Kindern wurde Teile ihres Lebens gestohlen, das werden sie nie vergessen. Sarah betrachtet die Deutschen als Feinde, aber ich habe ihr bereits gesagt, dass ihr Vater Deutscher ist. Ich muss ihr jetzt beibringen, dass ihr Vater zu den Rettern unseres Volkes gehört. Im Talmud steht geschrieben, wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam die ganze Welt gerettet. Wenn es so ist, wie ihr sagt, hat er mehrere Welten gerettet.“
„Es ist so! Hans hat sich wie ein Löwe eingesetzt, um Menschen vor den Nazis zu retten.“
Durch die Hintertür kamen Nicole und Sarah, beide sahen aus, als hätten sie einen schönen Nachmittag durchlebt. Sarah umarmte Hannah, „Nicole ist so lieb, wir waren am Strand und haben eine Burg gebaut.“
Hannah streichelte Sarah über die Haare, „das war lieb von dir, Nicole. Ich habe viel zu wenig Zeit für meine Kleine.“
Nicole lächelte dankbar, sagte aber kein Wort. Draußen fuhr ein Jeep vor, „ich werde abgeholt, komme aber bald wieder.“
Hannah war sich unsicher, ob die Idee, die ihr gerade kam, angebracht war, sagte dann aber doch, „Nicole, wenn Christine und François nichts dagegen haben, würde ich dich gerne für eine Woche als Kindermädchen einstellen.“
Unsicher blickte Nicole von Christine zu François und dann wieder zu Hannah. „Weiß nicht…“, antwortete sie mit zitternder Stimme.
Hannah schaute zu Christine, diese nickte, „Nicole, es ist zwar deine Entscheidung, aber ich würde zusagen.“
„Ja Madame, wenn Sarah das möchte.“
„Sarah, do you want Nicole to stay with us as a nanny until we get back to London?”
„Yes Mum, I’ll.“
„Gut, Nicole, dann ist das abgemacht. Aber nenne mich bitte nicht Madame, ich bin Hannah und sag du zu mir. Bitte packe, was du für eine Woche brauchst. Was dir fehlt, kaufen wir in Bayeux.“
Hannah ging vor die Tür, sagte dem Fahrer, dass sie noch einige Zeit brauchte und kam zurück in die Küche. Wo Nicole hingegangen war, wusste sie nicht, aber Sarah war mit ihr gegangen. Gerührt, von dem, was heute geschehen war, standen die Freunde nun beisammen, „das ist lieb von dir Hannah, wir helfen Nicole, so gut wir können, aber unsere Mittel sind begrenzt und im Ort gilt sie als Kollaborateurin, obwohl das meines Wissens nach nicht zutrifft. Nur unsere Rolle in der Résistance schützt sie.“ Nachdem Christine das gesagt hatte, standen sie wieder tief bewegt beieinander, François umarmte Hannah nach einigen Minuten „Du bist zurückgekommen“, sagte er dabei. Schweigend warteten sie, bis Nicole und Sarah zurückkamen. Nicole hatte nur ein kleines Paket unter dem Arm. „Mehr habe ich nicht“, erklärte sie dazu. Sie gingen alle vor die Tür. Nicole und Sarah hockten sich auf die hintere Sitzbank des Jeeps, Hannah setzte sich neben den Fahrer. „To the Hotel Reine Mathilde, please“, sagte sie dabei. „Yes, Ma’am“, antwortete der Fahrer und gab Gas. Hannah, Sarah und Nicole winkten bis der Jeep um die Ecke bog. Christine und François winkten auch. Als der Wagen um die Ecke gebogen war, nahmen sie sich in die Arme, beide waren vom Glück überwältigt.
Am Abend saß Hannah über einige Akten gebeugt in der Lounge des Hotels. Sie versuchte sich auf das zu konzentrieren, was sie las. Es fiel ihr schwer, nach all dem, was sie heute erlebt hatte. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu Hans, diese Gedanken erregten sie, machten ihr aber auch Angst. Sie freute sich auf ein Wiedersehen, war sich aber nicht sicher, ob die Gefühle noch stark genug für ein gemeinsames Leben waren. Das, beschloss sie, wird sich zeigen, wenn wir aufeinander treffen. Wie Hans darauf reagieren würde, dass er ein Kind hatte, machte ihr keine Sorgen. Sie hatte es bis jetzt mithilfe der Gemeinde geschafft, allein für Sarah zu sorgen, das würde sie weiter tun, wenn Hans sich als ungeeignet erweisen sollte. Trotzdem hoffte sie, dass Hans Sarah als seine Tochter annähme, auch dann, wenn ihre gegenseitige Liebe die Zeit nicht überdauert haben sollte. Nicole kam die Treppe herunter und wartete, bis Hannah sie ansprach.
„Setz dich bitte zu mir, Nicole.“
„Danke Madame.“
„Nicole! Ich bin keine Madame.“
„Ja Hannah, ich dachte nur, in der Öffentlichkeit wäre es angebracht.“
„Nein, nun setz dich doch, ich beiße nicht.“
Endlich setzte sich Nicole, Hannah atmete hörbar aus. „Ich habe Sarah zu Bett gebracht und ihr eine Geschichte vorgelesen“, sagte Nicole.
„Das ist lieb, Nicole“, Hannah ließ ihre Akten neben sich auf das Sofa sinken.
„Hannah…“, Nicole stutzte.
„Ja, was ist?“
„Darf ich dich etwas fragen?“
„Ja sicher.“
„Ich habe niemals kollaboriert, bitte glaub mir das. Ich war einige Male mit einem jungen Deutschen im Kino und einen Kaffee haben wir auch einmal getrunken, mehr war da nicht. Ist das ein Verbrechen?“
„Nein, Nicole, das ist nichts Unrechtes.“
„Mein Vater hat mich verprügelt bis ich grün und blau war, als er davon erfuhr. Er hat mich aus dem Haus geschmissen.“
„Das war nicht recht von ihm. Wann war das?“
„Kurz vor der Befreiung.“
Hannah nickte, „du hast nichts Schlechtes getan. Daran glaube ich und du musst auch daran glauben. Nur so wirst du ein normales Leben führen können.“
„Meine ältere Schwester hat mich versteckt, als sie kamen, um mich zu demütigen, aber mein eigener Vater hat mich an die Männer ausgeliefert und mich der Kollaboration beschuldigt. Was dann geschah, war fürchterlich. Sie haben mich an den Haaren auf die Straße gezogen und mit anderen Frauen auf den Platz vor der Kirche getrieben, die Menge hat gejohlt, als sie mir die Kleider vom Leib gerissen haben. Dann haben sie uns die Haare geschoren, sie haben mir Hakenkreuze auf die Brüste gemalt und mich mit den anderen Frauen durch die Straßen getrieben.“
Hannah stoppte Nicoles Redefluss, „wir sollten dieses Gespräch auf meinem Zimmer fortsetzen, da kannst du deinen Gefühlen freien Lauf lassen, komm.“
Auf dem Zimmer nahm Hannah Nicole in die Arme und führte sie danach zu einem Stuhl, auf den sie Nicole drückte. Kaum auf Stuhl sitzend, erzählte Nicole weiter. „Wo sie uns auch hintrieben, wurde gejohlt und es wurden zotige Bemerkungen über unsere Körperformen gerufen, die mit lautem Gelächter beantwortet wurden. Wir wurden mit Fäkalien und Unrat beworfen, mit Stöcken wurde auf uns eingedroschen. Die Frau, die neben mir lief, wurde in der Stadt eine Dirne genannt, ich wusste damals nicht einmal, was das Wort bedeutet. Ihr hatten sie bis auf den Strumpfhalter, ihre Seidenstrümpfe und die roten Pumps auch alle Kleider vom Leib gerissen. Mit ihrem Lippenstift hatten sie ihr das Wort Hure auf den Rücken geschrieben. Um den Hals hatten sie ihr ein Schild gehängt, eine Art Preisliste für ihre Liebesdienste.
Bei dem Tempo, mit dem wir durch die Straßen getrieben wurden, ging die Frau sehr unsicher auf ihren hohen Absätzen. Eine der Zuschauerinnen hat ihr ein Bein gestellt, sie ist gestolpert und gestürzt. Auf dem Boden liegend wurde sie von den umstehenden Leuten brutal getreten. Sie kam nicht mehr von allein hoch, unsere Peiniger zwangen mich, ihr aufzuhelfen. Ich stützte sie auf dem weiteren Marsch, sie war fürchterlich zugerichtet. Beim Sturz hatte sie sich beide Knie aufgeschlagen und ihre Seidenstrümpfe zerrissen. Sie blutete an den Knien und aus der Nase und dort, wo die Tritte sie getroffen hatten, bildeten sich große blaue Flecken. Beim Sturz hatte sie ihre Pumps verloren, jemand hob einen der Schuhe auf und hat uns beiden mit dem Stöckelabsatz auf den Rücken geschlagen, seitdem habe ich davon Narben auf dem Rücken. Sie stützte sich auf mich, denn nach den Tritten war sie kaum noch in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Wir kamen nur langsam voran und erhielten deshalb immer wieder Stöße und Schläge. Die Frau sah furchtbar aus, da sie jetzt ohne Schuhe gehen musste, waren von ihren Seidenstrümpfen nach einigen Schritten nur noch Fetzen vorhanden.
Schließlich wurden wir auf den Platz an der Uferpromenade gestoßen und zur Schau gestellt. Dort haben mir dann vier oder fünf Kerle Gewalt angetan und die johlende Menge hat Beifall geklatscht. Danach haben sie mich auf die Knie gezwungen und ich musste einen der Kerle mit dem Mund befriedigen – auf offener Straße! Was danach geschah, habe ich kaum noch mitgekriegt, nur, dass sie mich zwangen, die Brüstung zu besteigen, von der sie mich hinab gestoßen haben. Ich glaube, sie hatten gehofft, ich würde mir das Genick oder zumindest die Beine brechen und im Meer ertrinken, denn das Wasser stieg bereits und hätte nach wenigen Minuten den Strand überflutet. Dann plötzlich stand Christine neben mir. Da lag ich bereits teilweise im Wasser.“, Nicole schwieg, ein Zittern fuhr durch ihren Körper. Entsetzen stieg in Hannah auf. Sie legte eine Hand auf Nicoles Arm und diese sprach weiter, „ich war noch Jungfrau, bis sie mir das angetan haben. Warum haben sie das getan? Nur weil ich den jungen Deutschen nett fand?“
„Nein, sie taten es, weil sie verroht sind. Du hast nichts Unrechtes getan, du bist in die Hände von Verbrechern gefallen.“
„Kein Mann wird mich je wieder ansehen, alle wissen, was passiert ist und sie sagen, ich sei selbst schuld daran. Ich bin für immer entehrt!“
„Dich trifft keine Schuld, du wirst den Mann finden, der dich verdient hat und der dich lieben und ehren wird. Entehrt sind die, die dir das angetan haben.“
Hannah ging der Gedanke durch den Kopf, sie hätte besser Jura studiert und dann die Kerle als Militärstaatsanwältin vor Gericht gezerrt. Nicole brach in hemmungsloses Weinen aus. Einmal schluchzte sie, „habe ich etwas Unmoralisches getan?“ Hannah reichte ihr ein Taschentuch, Nicole schnäuzte sich die Nase, dann lächelte sie, „eine Kleinigkeit werde ich nie vergessen. Als Christine mich zur Bar brachte, tat sie das mit so viel Selbstbewusstsein, dass ich mich plötzlich meiner Nacktheit nicht mehr schämte. All die Gaffer sahen plötzlich beschämt aus.“
Nach einiger Zeit setzte Hannah zum Sprechen an, „darf ich dir etwas erzählen, Nicole? Aber nur, wenn du möchtest.“
„Ja Madame, Entschuldigung, ich meine, ja Hannah.“
Hannah holte tief Luft, einen Moment stocke sie noch, „Nicole, ich erzähle dir, wie es mir ergangen ist und was ich getan habe. Ich erzähle es dir und du kannst danach entscheiden, ob ich unmoralisch gehandelt habe“, Hannah legte eine kurze Pause ein, bevor sie weiter sprach. „Als der Krieg ausbrach, war ich etwas älter, als du jetzt bist, wohl an die vier oder fünf Jahre älter. Ich war auf der Flucht vor den Nazis, da ich Jüdin bin. Wenige Tage vor dem Krieg kam ich in Arromanches an, ohne einen einzigen Franc in der Tasche und mein einziger Besitz war das, was ich am Körper trug. Ich stand ohne jede Hoffnung auf der Promenade, als mich ein Mann ansprach. Da ich nicht wusste, wohin ich mich wenden konnte, nahm er mich mit auf sein Zimmer in Bayeux. Er war wirklich nett und ein Ehrenmann, er überließ mir sein Bett und übernachtete in einem Schuppen. Bereits am Tag darauf verliebten wir uns ineinander. Am Abend bat ich ihn zu bleiben. Er wollte es nicht, er war, wie ich schon sagte, ein Ehrenmann und meinte, er müsse mich daran erinnern, dass er ein Mann sei. Als ich ihm sagte, dass mir das bewusst sei, blieb er und ich habe ihn noch in dieser Nacht als meinen Mann erkannt. Er war ein deutscher Antifaschist und auch auf der Flucht vor den Nazis, was wir beide miteinander taten, nannten die Nazis Rassenschande, weil sie behaupteten, Juden gehörten zu einer anderen Rasse, wären gar keine richtigen Menschen.“ Hannah holte tief Luft, „er liebte mich sehr und deshalb schickte er mich weg. Er hatte Angst, die Nazis könnten mich erwischen. Es hat mir sehr wehgetan ihn zu verlassen, aber seine Angst war begründet. François, Christine und der Fischer Félix haben ihm geholfen meine Flucht über den Kanal zu organisieren. In England merkte ich dann, dass ich schwanger war. Er war mein erster und einziger Mann, er ist der Vater von Sarah. Ob ich unmoralisch gehandelt habe? Für mich stellt sich diese Frage nicht, ich habe ihn geliebt und ich liebe ihn immer noch.“
„Das kann gar nicht unmoralisch sein, Hannah.“
„Wenn es nicht unmoralisch ist, dass ich als ledige Frau freiwillig mit einem Mann geschlafen habe, obwohl meine Religion mir das verbietet, wie sollen dann Kinobesuche unmoralisch sein? Komm, wir gehen jetzt gemeinsam zum Diner.“
„Das geht nicht, Hannah. Ich habe nichts Passendes zum Anziehen.“
„Mädchen, wo denkst du hin, wir haben einen Krieg überlebt, da achtet man nicht so sehr auf die Kleiderordnung. Morgen kaufen wir dir etwas, damit du vorzeigbar bist. Als Angestellte eines Offiziers brauchst du angemessene Kleidung.“
„Danke Hannah.“
„Ich muss morgen zeitig weg, da du da bist, brauche ich Sarah nicht früh zu wecken. Du weckst sie bitte um acht und achtest darauf, dass sie sich ordentlich wäscht und die Zähne putzt. Frühstück gibt es bis zehn. Ihr habt also Zeit. Um elf erwarte ich euch vor der Kathedrale. Du darfst es machen, wie du möchtest, aber achte darauf, dass dir Sarah den nötigen Respekt entgegenbringt. Du bist nicht nur eine Spielkameradin, wenn ich nicht da bin, bist du allein für Sarahs Erziehung verantwortlich.“
„Das kann ich nicht.“
„Doch, doch, du kannst das“, Hannah lächelte auffordern.
„Ich gebe mein Bestes.“
„Das weiß ich, ich vertraue dir. Versuche bitte Sarah ein paar Floskeln Französisch beizubringen, Christine und François würde das freuen. Komm mit, es ist Zeit fürs Diner.“
Im Speiseraum war Nicole unsicher, die vielen Uniformen verwirrten sie, aber Hannah hatte vorgesorgt und einen Tisch für sich und einen zivilen Gast reserviert. „Keine Angst, Nicole. Du schaffst das.“ Unbeirrt steuerte Hannah auf den reservierten Tisch zu. Einige der Offiziere warfen vorsichtig anerkennende Blicke auf die beiden Frauen. Hannah war sich nicht sicher, ob der Blicke auf Nicole vielleicht auch versteckt lüstern waren. Aber ihre kurze Lektion schien gewirkt zu haben, Nicole bewegte sich selbstbewusst durch den Raum. Beim Essen fühlte sich Nicole unsicher, schaute sich aber geschickt bei Hannah die erforderlichen Umgangsformen ab. Zwischen Hauptgang und Dessert entstand eine kurze Verzögerung. Nicole nahm all ihren Mut zusammen und sprach Hannah an.
„Hast du noch Kontakt zu Sarahs Vater?“
„Nein, ich habe erst heute von François und Christine erfahren, dass er lebt. Sarah weiß noch nichts davon, ich rechne mit deiner Verschwiegenheit.“
„Ja Hannah, ich sage kein Wort.“
„Ich muss vorsichtig vorgehen, ich habe Sarah erzählt, dass ihr Vater Deutscher ist. Das ist eigentlich kein Problem, da ich schließlich auch Deutsche war und auch noch bin, aber für sie sind natürlich alle Deutschen Feinde. Jetzt muss sie etwas dazu lernen, ihr Vater war kein Nazimonster, er hat Menschen vor den Nazis gerettet. Er hat Menschen meines Glaubens gerettet. Auch das habe ich erst heute erfahren. Es wird für sie vielleicht nicht leicht sein, die Tochter eines Helden zu sein. Es gibt ein weiteres Problem: Er weiß bisher nicht, dass er eine Tochter hat.“
„Das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern ist nicht immer unproblematisch, wie du weißt. Ich habe neue Eltern gefunden.“
„Das habe ich bemerkt. Ohne deine neuen Eltern würde ich vielleicht nicht mehr leben, wir sind also etwas wie Schwestern.“ Hannah lächelte und Nicole war gerührt.
„Wirst du in England bleiben?“
„Nein, ich möchte zurück nach Deutschland und wenn das nicht geht, würde ich mich gerne hier niederlassen, denn die wenigen Tage, die mir mit Sarahs Vater vergönnt waren, waren die glücklichsten meines Lebens. Der Tag, an dem Sarah geboren wurde, zählt auch zu diesen glücklichen Tagen.“
Am Morgen wurde Nicole zeitig wach, es war noch zu früh um Sarah zu wecken. Das Kind schlief friedlich im Bett neben ihr und so ging sie ins Bad. Alles war sehr ungewohnt für sie, noch nie hatte sie in einem so bequemen Bett geschlafen und ein Zimmer mit Bad und Toilette empfand sie als unermesslichen Luxus. Sie machte sich frisch, betrachtete sich im raumhohen Spiegel von allen Seiten. Sie kämmte ausgiebig ihr Haar, seit die Kerle sie kahl geschoren hatten, pflegte sie ihr Haar mit Hingabe. Obwohl sie sich sichtlich wohlfühlte, ihre Eltern fehlten ihr an diesem Morgen. Gerne hätte sie sich Rat bei Christine geholt, aber sie war sich sicher, auch so ihre Aufgabe ordentlich erfüllen zu können. Der Umgang mit Sarah erwies sich, zumindest an diesem Morgen, als unproblematisch. Sarah und sie hatten sich bereits gestern gut aufeinander eingestellt und so stand Sarah nach dem Wecken freudig auf und auch ohne Nicoles weitere Anweisungen wusch sie sich und putzte sorgfältig ihre Zähne. Schon um halb zehn saßen sie beim Frühstück. Sarah hatte ausgezeichnete Tischmanieren, wie Nicole feststellte. Heimlich schaute sie auf Sarahs Hände und machte es dann dem Mädchen nach. Als sie fertig waren, gingen sie zurück auf ihr Zimmer und machten sich ausgehfertig. Sarah fragte, ob Nicole mit ihr zur Wassermühle gehen würde, denn ihre Mum hätte ihr erlaubt dort ins Wasser zu spucken. Nicole verneinte das und wies darauf hin, dass Hannah sie um elf an der Kathedrale erwarten würde. Sarah war entweder ein sehr folgsames Kind oder es war so, dass sie bei Nicole einen guten Eindruck machen wollte. Widerspruchslos nahm sie es hin, dass Nicole ihren Wunsch nicht erfüllte. Als sie nach unten in die Halle kamen und Nicole zielstrebig dem Ausgang zustrebte, zupfte Sarah Nicole am Rock. „Ja, Sarah?“ „Du musst zuerst den Schlüssel beim Portier abgeben.“ „Danke Sarah.“ Nicole gab den Schlüssel beim Portier ab, dieser dankte und sagte, „Merci Mademoiselle.“ Auf der Straße fragte Nicole Sarah, ob sie verstanden hätte, was der Portier gesagt hatte. „Nur merci, das heißt thank you. Das hat mir Mum erklärt.“ „Mademoiselle heißt übersetzt Miss, kannst du dir das merken, Sarah?“ „Ja gerne. Bringst du mir mehr Französisch bei?“ „Ich werde es versuchen.“ Sie warteten nur kurz vor der Kathedrale, dann kam Hannah in einem Jeep vorgefahren.
„Bitte steigt ein, wir fahren zu einem Depot der British Army, da kleiden wir dich ein, Nicole.“ Wie am Tag zuvor drückten sich Nicole und Sarah auf die Rückbank des Jeeps, der sie mit hoher Geschwindigkeit über die Nationalstraße in Richtung Caen beförderte. Am Ziel angekommen, suchte Hannah mit Sorgfalt aus, was sie als Bekleidung für eine Nanny angemessen empfand. Viel Auswahl gab es nicht, aber schließlich war sie zufrieden und bat Nicole die Sachen anzuprobieren. Beim Rock hatte Hannah sich verschätzt, Nicole war noch schlanker, als sie gedacht hatte. Sowie Hannah mit Nicoles Aussehen zufrieden war, fragte sie Nicole nach ihrer Schuhgröße. „Ich weiß es nicht, seit Jahren trage ich abgelegte Schuhe anderer Leute“, antwortete Nicole und war dabei sehr verlegen. „Dann probieren wir Schuhe, die passende Größe wird sich finden lassen.“ Als auch dies erledigt war, ließ Hannah alles einpacken und zahlte. Der Fahrer salutierte, als sie zurück zum Jeep kamen.
Zurück in Bayeux bat Hannah den Fahrer vor dem Hotel auf sie zu warten. Während sie über die Treppe zu den Zimmern hinauf gingen, überlegte Hannah, ob sie die beiden nach Arromanches schicken solle. Sie fand die Idee so gut, dass sie sofort Nicole ansprach, „ich möchte, dass du mit Sarah zu Christine und François fährst, ich komme später nach. Du ziehst dich aber bitte vorher um. Der Fahrer wird euch bringen, das ist mir lieber, als wenn ihr den Omnibus nehmt. Den kurzen Weg zum Office kann ich leicht zu Fuß gehen. Da Lebensmittel knapp sind, werde ich für das Abendessen sorgen, sagst du das bitte Christine?“ „Ja Hannah.“ „Gut, zieh dich gleich um, ich gebe dem Fahrer die entsprechenden Anweisungen. Wir sehen uns dann später.“ Hannah gab Sarah zuerst einen Kuss und dann einen freundlichen Klaps, „sei schön brav, Große!“ „Yes, Mum“, schallte es zurück.
Als Nicole mit Sarah an der Hand durch die Tür der Bar trat, stand Christine hinter dem Tresen. Sie kam sofort nach vorn, nahm Nicole bei den Händen und hielt sie etwas von sich ab, damit sie sie eingehend betrachten konnte. „Was hat Hannah dich schön herausgeputzt!“, meinte sie, wobei sie mit dem Kopf nickte. Dann umarmte sie ihre Tochter, wandte sich dann umgehend Sarah zu und drückte auch diese an sich. Nach der Begrüßung gab Nicole weiter, was Hannah ihr aufgetragen hatte und ging dann mit Sarah nach hinten zur Küche. „Deine Maman hat vergessen, dass wir noch nicht zu Mittag gegessen haben. Komm, ich gucke nach, ob wir etwas in den Töpfen finden können.“ „Wir müssen Christine um Erlaubnis bitten“, Sarah hielt Nicole zurück. „Nein, ich bin hier zu Hause. Christine ist meine Maman.“ Christine, die außer Maman und ihrem Namen nicht verstanden hatte, was Nicole sagte, konnte sich leicht zusammenreimen, um was es ging. Sie lächelte und sagte, dass noch Rillettes und Brot da wären. Sarah zögerte immer noch, „Nicole ist hier zu Hause, Sarah. Was uns gehört, gehört auch ihr. Du bist ihr Gast und somit darf sie dich einladen.“ Nicole übersetzte, was Christine gesagt hatte und so ging Sarah freudig hüpfend mit Nicole in die Küche. Christine sandte ihrer Tochter einen liebenden Blick hinterher. Nachdem Nicole für Sarah und sich angerichtet hatte, gingen sie zurück in die Gaststube, setzten sich dort an einen Tisch in der Nähe des Tresens und aßen Baguette und Rillettes. Danach verabschiedeten sie sich von Christine, um an den Strand zu gehen. Sie kamen zurück zur Bar, als Hannah in einem fast neuen Renault vorfuhr. Sarah drückte sich an Hannah, diese nahm sie an die Hand und gemeinsam gingen sie in die Gaststube. Auch François stand jetzt hinter dem Tresen. Nach der Begrüßung trug Hannah ihre Mitbringsel in die Küche und François blieb allein hinter dem Tresen, da nur wenige Gäste erschienen. Hannah baute den Inhalt ihrer Taschen auf dem Tisch auf, Christine und Nicole gingen die Augen über.
„Was hast du denn da alles mitgebracht? Das können wir doch heute gar nicht aufessen.“
„Natürlich nicht, ich weiß doch, dass ihr knapp mit Lebensmitteln seid. Das Huhn ist für heute. Für den Rest des Menüs überlasse ich dir die Auswahl.“
Christine betrachtete anerkennend die Nahrungsmittel auf dem Tisch, „Kaffee und gute Butter, Reis. Hannah, das kann ich nicht annehmen!“
„Ich habe vor dem Krieg so oft bei euch gegessen. Jetzt bin ich einmal daran zu zahlen. Nur einmal, bitte Christine.“
„Ja gut, ich danke dir vielmals“, Christine umarmte Hannah, sie hatte Tränen in den Augen.
Auch François bedankte sich umständlich, als er in die Küche kam. „Das wäre jetzt nicht nötig gewesen“, sagte er anschließend.
„François, ich bin jetzt alt genug! Was nötig ist, kann ich ganz gut selbst entscheiden.“
„Ist ja gut! Nun schimpfe nicht mit mir“, François zog Hannah in seine Arme.
Sarah konnte ihre Neugierde nicht mehr beherrschen, „Mum, was ist das für ein Auto?“
„Ich habe es mir geliehen. Wir machen morgen einen Ausflug. Wir fahren nach Regnéville.“
„Ich möchte keinen Ausflug machen, ich möchte mit Nicole am Strand spielen!“, reagierte Sarah unerwartet bockig.
„Übermorgen! Da kannst du mit Nicole nach Arromanches fahren, Sarah.“
„Nein, ich will morgen nach Arromanches!“
Hannah wollte ungehalten reagieren, aber François legt ihr zur Beruhigung eine Hand auf den Arm, „darf ich Sarah sagen, um was es geht und Nicole übersetzt?“ Hannah nickte.
„Sarah, deine Maman möchte dich einer Freundin vorstellen. Eine Freundin, die bereit war, deine Maman vor den Nazis zu verstecken, falls ihre Flucht nach England nicht gelungen wäre. Möchtest du sie nicht kennenlernen? Willst du nun mit nach Regnéville?“
Nachdem Nicole übersetzt hatte, war Sarah kleinlaut und antwortet, „oui François.“
Hannah war erleichtert, dass es keinen weiteren Knatsch gab, „du wirst sehen, meine Große, es wird ein interessanter Tag.“
„Jetzt verrätst du mir aber noch, wer in diesen Zeiten so ein nobles Auto verleiht, ich bin auch gar nicht neugierig, Hannah – wenn ich alles weiß!“ François lächelte bei diesen Worten.
„Gérard, ein Freund von Hans, hat es mir geliehen.“
„Einfach so? Gérard ist sonst nicht für seine Großzügigkeit bekannt.“
„Ich habe geschummelt. Ich habe ihm Grüße von Hans bestellt und ihm erzählt, wie er jetzt lebt und dann noch mit einem Bezugsschein für Benzin gewinkt.“
„Hannah, Hannah, vielleicht hätten wir dich doch für die Résistance hier behalten sollen. Zum Akquirieren von Fahrzeugen oder was wir sonst noch brauchten.“
Als François zurück in die Gaststube kam, stand Félix am Tresen. „Ist hier jetzt Selbstbedienung? Oder willst du mich verdursten lassen?“, motzte dieser. François grinste, zapfte ein Bier und stellte es vor Félix auf den Tresen, für sich selbst zapfte er auch ein Bier, beide tranken schweigend. Als Hannah zwischenzeitlich aus der Küche kam, um etwas aus dem Auto zu holen, stutzte sie.
„Félix, dass wir uns noch einmal wiedersehen.“
„Oh eine Offizierin, die mich kennt! Sie sind Hannah oder irre ich?“
„Nein, aber bleib bitte beim du, schließlich war ich für eine Nacht und einen Tag Decksmann bei dir.“
Félix nickte bedächtig, „ja und du warst verdammt gut. Ich hätte dich an Bord halten sollen. Aber das Boot haben die Nazis konfisziert, da hätte ich sowieso keine Verwendung mehr für dich gehabt und ein neues Boot habe ich noch nicht, aber wenn, hättest du Interesse?“
„Ja sicher, wenn es mit dem Heilen nicht mehr klappt.“ Sie mussten beide lachen.
Abends kamen sie spät in Bayeux an. Sarah war auf der hinteren Sitzbank eingeschlafen, als Hannah vor dem Hotel anhielt. Vorsichtig versuchte Nicole das Kind zu wecken und als Sarah halbwach war, nahm Hannah sie auf die Arme. Nicole ging zur Rezeption, holte die Schlüssel und folgte dann Hannah über die Treppe nach oben. Gemeinsam halfen sie der immer noch schläfrigen Sarah, sich auszuziehen und ins Bett zu kommen. Diese schlief sofort wieder ein und Hannah bat Nicole, mit auf ihr Zimmer zu kommen, um noch etwas Unterhaltung zu haben. Beim Zimmerservice bestellte sie Tee, dann bat sie Nicole auf dem einzigen Stuhl des Zimmers Platz zu nehmen. Sie selbst setzte sich auf das Bett. Sie dachte daran, wie oft sie mit Hans auf dem Bett gesessen hatte, in der Zeit, als sie in Liebe verbunden waren. Nachdem der Tee serviert war, schaute Hannah Nicole auffordernd an, denn sie hatte schon in Arromanches bemerkt, dass Nicole Gesprächsbedarf hatte.
„Ich bin in Sorge, wie es bei mir weitergehen soll und möchte gerne deinen Rat, Hannah.“
„Soweit ich kann, werde ich dir gerne raten und helfen. Vorerst bist du ja bei deinen Eltern gut untergebracht, das ist natürlich keine Perspektive für die Zukunft. Ich weiß nicht, wie François und Christine das sehen, aber ich meine, du solltest deine Sprachkenntnisse einsetzten, um ein unabhängiges Leben führen zu können.“
„Und wie soll das gehen?“
„Du weißt doch selbst, wie gut du Englisch sprichst und dein Französisch ist, soweit ich das als Ausländerin beurteilen kann, weitaus besser als das der meisten deiner Landsleute. Das ist deine Chance. Was dir fehlt, sind gute Tischmanieren. War wohl bei euch zu Hause nicht so angesagt. Aber du lernst schnell. Wie kommt es, dass du so gut mit Sprachen umgehen kannst?“
„Ich weiß nicht, so ungebildet meine Eltern auch sein mögen, im Gegensatz zu anderen Eltern in ihrer Lage haben sie versucht ihren Kindern eine gute Schulbildung zukommen zu lassen und für Sprachen kann ich mich begeistern.“
„Gut! Mach weiter damit. Das ist jetzt nach diesen schrecklichen Jahren nicht so einfach.“
„Ich würde gerne studieren, aber mir ist nicht klar, wie ich das bewerkstelligen kann.“
„Du hast recht, das ist schwierig, aber nicht unmöglich. Ein guter Einstieg wäre, wenn du eine Arbeitsstelle finden würdest.“
„Alle jungen Frauen und fast alle jungen Männer haben keine Arbeit, wie soll gerade ich jetzt eine Arbeit finden?“
„Und wenn ich dir helfe?“
„Wie soll das gehen, Hannah?“
„Ich höre mich um. Vielleicht sucht die Army sprachbegabte Menschen. So leicht wie es dir fällt, Sprachen zu erlernen, solltest du Deutsch lernen. Das ist bei der Army ein Vorteil, denn in Deutschland wird es noch Jahre oder Jahrzehnte Besatzungstruppen geben. Eins ist sicher, es gibt nur wenige Angehörige der Army, die Französisch oder Deutsch sprechen. Ich glaube, wir gehen jetzt zu Bett. Weckst du bitte Sarah wieder um acht? Wir treffen uns dann im Frühstücksraum.“ Hannah umarmte Nicole zum Abschied.
Direkt nach dem Frühstück machten sie sich auf den Weg nach Regnéville. Hannah steuerte ohne Eile den Wagen durch die Stadt. Als sie an dem Haus vorbeikam, in dem sie mit Hans zusammen gewohnt hatte, verspürte sie den Drang, einmal mit Madame Meister zu sprechen. Sie wollte sich absolut nicht für die herabwürdigende Behandlung rächen, die Madame Meister ihr hatte zukommen lassen, aber sie wollte sie gerne in Verlegenheit bringen. Hannah meinte, eine kleine Rache wäre sicher keine Sünde und wenn doch, so wäre das sicher bedeutungslos. Vor der Stadt beschleunigte Hannah und fuhr, wie vor dem Krieg mit Hans, auf der Landstraße an den von Hecken begrenzten Weiden vorbei. Wenn die Hecken auf beiden Seiten die Straße begrenzten, hatte sie das Gefühl in einem Tunnel zu fahren, der sonderbarerweise nach oben offen war. Nur einige hochziehende Wolken unterbrachen das Blau des Himmels an diesem Tag. Hannah dachte an den Tag zurück, als sie und Hans in dem noblen Cabriolet auf diesen Straßen unterwegs gewesen waren. Sie fuhr ohne Eile, ab und zu wechselten sie ein paar Worte. Nicole schien die Fahrt zu genießen, Sarah langweilte sich etwas, obwohl Nicole wieder versuchte ihr einige Worte Französisch beizubringen. Gerade wiederholte sie mehrmals voiture und ließ Sarah das Wort nachsprechen, als Hannah sich entschloss einen Umweg über die Pointe d’Agon zu machen. Sie hielt unterhalb des Leuchtturms und bat ihre beiden Mitreisenden auszusteigen. Zusammen stiegen sie zum Leuchtturm hinauf. Hannah war sehr in sich gekehrt und brach in Tränen aus.
„Mum, was hast du, warum weinst du?“, Sarah umarmte Hannah.
Hannah legte ihre Hände um Sarahs Kopf, „ich war mit deinem Papa hier, kurz bevor ich nach England geflohen bin.“
„Hast du ihn sehr lieb gehabt, Mum?“
„Ja Sarah, sehr lieb.“
Hannah hatte sich wieder gefangen, „kommt, wir fahren nach Regnéville, Florence war eine gute Freundin von deinem Papa.“
Für die Fahrt nach Regnéville, musste die ganze Bucht umrundet werden. Damals, neben Hans sitzend, war Hannah die Fahrt kürzer vorgekommen. Sie führte das darauf zurück, dass sie heute selbst steuerte. Das war einigermaßen ungewohnt, da sie im Normalfall auf den Fahrdienst für Offiziere zurückgriff, aber eine Fahrt über Land im offenen Jeep hatte Hannah so wenig erbauend empfunden, dass sie sich lieber bei Gérard eingeschmeichelt hatte. Sie hatte ihn gefragt, ob Hans denn damals auf das angebotene Geschäft mit dem Auto eingegangen wäre, was Gérard verneinte und damit begründete, der Krieg sei eben zu schnell gekommen. Sie hätte gerne noch weiter gefragt, denn sie konnte sich gut vorstellen, dass Hans während und nach dem Krieg Gérards Hilfe zu schätzen gewusst hatte. Aber sie hatte sich zurückgehalten, schließlich brauchte Gérard nicht zu wissen, dass sie Hans zuletzt vor dem Krieg gesehen hatte. Als sie in Regnéville ankamen, war das Restaurant geschlossen. Hannah ging um das Haus und traf auf Florence, die am Waschzuber stand. Hannah erkannte sie kaum wieder, die kraftvolle und vor Energie sprühende Frau hatte sich in eine alte, verhärmte und dürre Greisin verwandelt, nur ihre wachen Augen zeigten, dass hinter der zerstörten Fassade noch immer das alte Feuer brannte.
„Ich kann ihnen nicht helfen, es gibt weder etwas zu essen, noch etwas zu trinken bei mir. Es sei denn, sie sind mit Leitungswasser zufrieden“, rief sie Hannah zu, nachdem sie diese bemerkt hatte.
„Ich habe Essen und Trinken mitgebracht, Florence.“
Florence ließ von ihrem Waschzuber ab und schaute sich die unerwartete Besucherin näher an, sie verlor die Fassung, hielt sich am Zuber fest und stammelte, „Hannah?“
Hannah eilte auf Florence zu und umarmte sie, „Florence, dass wir uns noch einmal wiedersehen.“
Florence weinte, schnäuzte einmal und sagte dann, „Hannah, meine kleine Hannah. Bist du allein?“
„Nein, meine Tochter ist bei mir und eine Freundin aus Arromanches.“
„Dann lass uns ums Haus gehen.“
„Florence, ich muss dir noch etwas sagen.“
„Ja, was?“
„Ich habe erst vor zwei Tagen erfahren, dass Hans noch lebt. Meine Sarah ist auch seine Tochter, ich habe es ihr noch nicht gesagt. Sie weiß bisher nur, dass sie einen deutschen Vater hat.“
Florence nickte, „du weißt, dass ihr Vater ein Held ist.“
„Ja, François hat es mir erzählt.“
„Er wollte sich an den Nazis rächen, die Liebe zur dir hat ihm das Schwert aus der Hand geschlagen.“
Hannah nickte, „ich muss zu ihm fahren, ich muss erfahren, ob unsere Liebe noch lebt.“
„Tu das, Kind. Ihr habt das beide verdient und du möchtest nicht, dass euer Kind erfährt, wer ihr Vater ist? Sie hat ein Recht darauf!“
„Ich weiß, aber zuerst muss ich Hans sagen, dass er eine Tochter hat. Wir entscheiden dann hoffentlich gemeinsam, wie wir es ihr sagen. Sarah wird lernen müssen, dass ihr Vater kein Nazi war, dass er ein Gerechter ist.“
„Ich werde schweigen und jetzt möchte ich deine Tochter kennenlernen.“
Sie gingen ums Haus, am Auto warteten Sarah und Nicole, „Sarah, das ist Florence. Eine sehr liebe Freundin deines Papas.“
Sarah fremdelte etwas, sagte aber, „Bonjour, Florence. Je ne parle pas français.“ (Ich kann kein Französisch.)
„Bonjour, Sarah, ce n’est pas grave“ (das macht doch nichts), erschöpft setzte sich Florence auf die Bank, während Nicole für Sarah übersetzte.
„Das ist meine Freundin Nicole, wir sind so etwas wie Schwestern. Nicole, das ist Florence“, sagt Hannah dann, Nicole errötete. Beide Frauen begrüßten sich.
„Nicole, gehst du mit bitte Sarah etwas spazieren? Die Straße runter kommt ihr zur Burgruine von Karl dem Bösen und zur Kirche. Wenn ihr ans Wasser geht, seid bitte vorsichtig. Die Flut kommt hier mit einer Geschwindigkeit, die du dir nicht vorstellen kannst.“
Nicole nahm Sarah an die Hand und ging. „So können wir uns zuerst einmal in Ruhe unterhalten.“
„Haben wir Geheimnisse?“
„Nicht wirklich, aber es gibt Dinge, die Kinder nicht wissen müssen.“
Florence erkundigte sich: „Wie ist es dir ergangen? Auf den ersten Blick hast du etwas aus deinem Leben gemacht.“
„Ich hatte Glück, nach Sarahs Geburt hat sich die jüdische Gemeinde für mich eingesetzt, so konnte ich schließlich das Lager auf der Isle of Man verlassen und mein Studium wieder aufnehmen. Nach dem Abschluss habe ich mich naturalisieren lassen und bin in den Sanitätsdienst eingetreten. Dir ist es nicht gut ergangen, François hat mir erzählt, du seist nach Ravensbrück deportiert worden. Du siehst sehr müde und geschwächt aus. Ich glaube, du solltest etwas aufgepäppelt werden.“
„Ach, Hannah, mir geht es ganz gut. Ein Konzentrationslager ist ein Ort, an dem man zwangsläufig ein wenig schlanker wird“, Florence lächelte.
Hannah holte Luft, bevor sie weitersprach. „Bitte Florence, ich habe die beiden weggeschickt, weil ich mit dir über Dinge sprechen möchte, die nach der Befreiung geschehen sind. Nicole hat mir fürchterliche Dinge erzählt.“
„Ist sie das Mädchen, das Christine und François bei sich aufgenommen haben?“
„Ja.“
„Diese Vorfälle hätte ich nie für möglich gehalten. Es ist eine Schande. Du glaubst es nicht, wie viele Kämpfer der Résistance es nach dem Krieg auf einmal gibt. Als ich endlich zurück nach Hause kam, hatte ich den Eindruck, die Résistance hätte über ein Heer von Millionen Kämpfern verfügt“, Florence unterbrach ihre Rede und schüttelte den Kopf. „Hier auf dem Dorf hat es keine Vorfälle gegeben, aber ich weiß, dass sie auch in Coutances und Saint-Lô gewütet haben. Niemand von denen war je beim Widerstand.“
„Zieht denn niemand diese Menschen zur Verantwortung?“
„Es war wohl eine Periode der Gesetzlosigkeit und die neue Republik hat offensichtlich kein Interesse daran, den Geschundenen Genugtuung zu verschaffen. Deine Freundin hätte den Tag wohl ohne das Eingreifen von François nicht überlebt. Wenn du kannst, tu etwas für sie. In Arromanches bleibt sie für immer gebrandmarkt.“
„Ich werde mein Bestes geben. Ich habe meinen Aufenthalt schon um ein paar Tage verlängert, um einiges in die Wege leiten zu können. Kannst du mir, bevor die beiden zurückkommen, etwas erzählen von dem, was du und Hans gemacht haben.“
Florence war auf einmal ganz die Alte, die Erinnerung brachte ihr ihre Energie zurück. „Du musst Hans danach fragen, er ist dein Mann. Aber gut, nachdem François Hans in Gurs abgeholt hatte, habe ich ihn hier versteckt. Da war er noch der Meinung, es könne sich rächen. Als es dann so weit war, dass der Widerstand aktiv wurde, kam alles anders. Eine jüdische Familie war auf der Flucht hier in der Nähe gestrandet. Es waren deutsche Juden, die versucht hatten über Lissabon nach Amerika zu fliehen. Die Leute, die die Flüchtlinge versteckt hielten, riefen Hans als Übersetzer. So hat alles angefangen. Er hat hunderten geholfen, Juden und Antifaschisten. So gut ich konnte, habe ich ihm dabei geholfen. Wenige Tage vor der Invasion, Hans war gerade im Süden unterwegs, bin ich in eine Falle getappt. Dabei hatte ich noch Glück, statt mich an die Wand zu stellen, haben sie mich deportiert. Komm lass das Thema jetzt ruhen, dort hinten kommen deine Lieben. Hans weiß das auch alles viel genauer, fahr nach Deutschland, er wartet auf dich.“
„Ich werde zu ihm fahren, aber ich bin noch im Dienst und muss in den nächsten Tagen zurück nach London. Vielleicht ergibt sich dort eine Möglichkeit, schließlich liegt Düsseldorf in der Britischen Besatzungszone.“
Nicole und Sarah kamen aufgekratzt vom Spaziergang zurück. Florence hatte wohl das Gespräch mit Hannah gutgetan und meinte, als sie die beiden sah, Karl dem Bösen wären sie wohl nicht begegnet, sonst könnten sie nicht so fröhlich sein. Hannah hatte ihre Vorräte aus dem Kofferraum geholt und gemeinsam gingen sie in die Küche, um das Essen vorzubereiten. Florence brauchte einige Zeit, bis sie den Ofen angeheizt hatte. Danach war sie ziemlich erschöpft und Hannah drückte sie auf die Bank am Esstisch. Hannah war sehr besorgt über Florences Gesundheitszustand, sie beschloss, mit François darüber zu sprechen, ließ sich aber nichts weiter anmerken. Nicole hantierte geschickt am Herd, sie schien bei Christine in der Küche gut aufgepasst zu haben, Hannah ging ihr zur Hand und Nicole verstand es geschickt Sarah mit kleinen Aufgaben zu beschäftigen. Später saßen sie rund um den Tisch und aßen. Florence genoss die Gesellschaft und das gute Essen. Hannah nahm sich vor, außer mit François über Florence zu sprechen, ihr Lebensmittelvorräte zukommen zu lassen, bevor sie zurück nach London musste.
„Werden wir uns wiedersehen?“, fragte Florence, als es für Hannah Zeit wurde zurückzufahren.
„Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Es wird vielleicht lange dauern, aber es gibt einen Menschen, von dem ich weiß, dass er darauf dringen wird, dass wir zusammen nach Regnéville fahren. Wichtig ist, dass du wieder auf die Beine kommst und wenn ich mit ihm hierhin komme, dann muss dein Restaurant wieder offen sein, wo sollen wir sonst hier in dem Kaff essen.“
Florence lächelte während Nicole leise das Gespräch für Sarah übersetzte. „Weißt du was Hannah, ich eröffne noch morgen. Egal was ich anzubieten habe.“
„Mum, mit wem möchtest du zu Florence zurückkommen?“, fragte Sarah, nachdem Nicole übersetzt hatte.
„Mit deinem Papa und dir.“
Am nächsten Morgen überwand Hannah ihren Widerwillen, Sarah und Nicole mit dem Omnibus nach Arromanches fahren zu lassen. Sie selbst hatte im Depot der Army zu tun und benötigte von daher den Fahrdienst für sich selbst. Sie gab Nicole das nötige Geld für die Billetts und für sonstige Bedürfnisse und machte sich auf den Weg zum Depot. Sarah hüpfte fröhlich neben Nicole die Straße entlang, als sie zur Haltestelle gingen. Vom Geld, das Hannah ihr gegeben hatte, erstand Nicole eine Tüte Bonbons. Im Omnibus schaute Sarah fast während der ganzen Fahrt interessiert aus dem Fenster, der erhöhte Sitzplatz verschaffte ihr eine bessere Übersicht über die Umgebung, als sie ihn vom Jeep aus hatte. Von den Serpentinen aus, die hinunter nach Arromanches führen, sah sie das Meer und die Senkkästen des provisorischen Hafens, über den der Nachschub für die Befreier an Land gebracht worden war. Nicole hielt ihr die Tüte mit den Bonbons hin, Sarah griff hinein und versuchte heimlich zwei der Bonbons zu ergattern. Nicole dachte an die Instruktionen von Hannah, setzte ein strenges Gesicht auf und meinte, einmal lasse ich das durchgehen, aber es gibt immer nur ein Bonbon. Sarah maulte ein wenig, Nicole sei genauso streng wie ihre Mutter, kuschelte sich dann aber bei ihr an. Sie fuhren bis zur Endstation direkt am Platz vor der Uferpromenade. Nicole schauderte, wie immer, wenn sie diesen Ort betrat, ging aber trotzdem mit Sarah an der Hand bis zur Brüstung. Sie war nahe der Stelle, an der sie hinab gestoßen wurde, ihr fiel ein, dass Hannah einmal an diese Mauer gelehnt ihr Glück gefunden hatte. Sarah bat sie, sie auf die Mauerkrone zu heben, damit sie besser das Meer sehen konnte. Nicole schauderte bei diesem Ansinnen, gab sich aber einen Stoß und half Sarah. Sie hielt Sarah dabei fest bei der Hand, immer in Angst, sie könne herunterstürzen. Das Wasser lief gerade ab und so beschloss sie zur Bar zu gehen und anschließend mit Sarah an den Strand zurückzukehren. Nach einigen Metern, die sie Sarah auf der Mauerkrone geführt hatte, forderte sie Sarah auf, in ihre Arme zu springen. Sarah wollte sofort wieder nach oben, aber Nicole schüttelte den Kopf, „nein Sarah, wenn dir etwas passiert, was soll ich dann deiner Maman sagen.“ Sarah reagierte enttäuscht, war aber einsichtig. Als Nicole mit Sarah an der Hand in die Straße einbog, an der die Bar lag, erstarrte sie vor Schreck, sie wäre beinah mit ihrem Vater zusammengestoßen.
„Oh, mein Fräulein Tochter, welch eine Ehre.“
„Ich will nicht mit dir sprechen, lass mich vorbei!“
„Nicht so schnell Nicole. Du solltest dich schon etwas mehr um deine Eltern kümmern.“
„Ich will nie wieder etwas mit dir zu tun haben. Du weißt genau warum und jetzt lass mich vorbei!“
„Deine Mutter weint sich die Augen aus, komm doch wenigstens ab und zu einmal vorbei“, Nicoles Vater verlegte sich aufs Bitten.
„Wenn Maman mich sehen möchte, ich arbeite in der Bar von François. Das ist schließlich kein Geheimnis.“
„Wir könnten auf ein Bier vorbeikommen?“
„Du nicht, François schmeißt dich zur Tür hinaus!“
„Bitte Nicole, sei nicht so hart.“
„Vater, ich will nie wieder etwas mit dir zu tun haben. Du hast mich an diese Verbrecher ausgeliefert. Mir fehlt oft die Kraft weiterzuleben, da kann ich mich nicht noch mit dir abgeben. Du bist schuld daran, dass mir das passiert ist. Lass mich vorbei. Du siehst, ich bin nicht allein!“
François trat vor die Tür, „gibt es Probleme Nicole?“
„Sarah, bitte lauf ganz schnell zu François. François, rentre s’il te plaît à la maison avec Sarah.“ (François, bitte geh mit Sarah hinein.)
Als Sarah verschwunden war, sprach Nicole weiter, „du hast mich der Kollaboration beschuldigt und an die Kerle ausgeliefert, du hast zugelassen, dass man mich nackt durch die Straßen gejagt hat und du bist schuld, dass ich mehrmals vor aller Augen vergewaltigt wurde. Als man mich über die Mauer auf den Strand stieß, wäre ich beinahe ertrunken und wie ich dich kenne, hast du mit den anderen gesoffen und dich an meinen Qualen ergötzt. Ein Vater der nicht einschreitet, wenn die Tochter geschändet wird! Nein danke, sprich mich nie wieder an!“
Nicoles Vater verlor die Geduld, „du kommst jetzt mit, du wirst zu Hause gebraucht. Für den Fall, dass es dir noch nicht aufgegangen ist, du bist doch selbst schuld an dem Ganzen. Kollaborateure haben nichts anderes verdient.“ Wütend fügte er hinzu, „wie du dem Oliver einen geblasen hast, war schon beeindruckend, aber was soll’s, du kommst jetzt mit! Die Arbeit macht sich schließlich nicht von allein!“ Er fasste Nicole beim Arm und zog sie mit sich.
François kam zurück auf die Straße, nachdem er Sarah bei Christine in Sicherheit gebracht hatte. Er explodierte förmlich, als er hörte, was da gesagt wurde, „was sagst du Missgeburt von Vater da? Noch ein Wort und alle erfahren, wer hier der Kollaborateur ist. Nicole steht unter meinem Schutz. So, als wäre sie meine Tochter.“
Mit einem mächtigen Faustschlag steckte François Nicoles Vater nieder. Er legte der inzwischen in Tränen aufgelösten Frau einen Arm um die Schultern, zog sie in die Bar und drückte sie dort auf einen Stuhl. Alle schlimmen Erinnerungen an den Tag ihrer Erniedrigung stiegen in Nicole hoch, sie rang um Fassung, konnte sich aber nur schwer beruhigen. Schließlich sagte sie noch unter Schluchzen, „ich muss mit Hannah darüber sprechen, es ist nicht gut, wenn Sarah solche Dinge mitbekommt. Sie wird mich entlassen.“
„Das mag sein, aber du bleibst bei uns.“
In diesem Moment kamen Christine und Sarah in die Gaststube, „gehen wir jetzt zum Strand, Nicole? Was war das für ein Mann?“
„Er ist ein böser Mensch, aber er wird dir nichts tun.“
„Dann komm Nicole, du hast versprochen, dass wir am Strand spielen.“
Nicole übersetzte Sarahs Anliegen und sah hilflos zu François und Christine. „Du bist unsere Tochter, ich überlasse Christine jetzt die Bar und wir gehen gemeinsam zum Strand!“, sagte François mit einer Stimme, die keinen Widerspruch erlaubte.
Obwohl der Krieg gerade erst vor gut einem Jahr zu Ende gegangen war, tummelten sich bereits wieder einige Sommerfrischler am Strand. François sah das mit Befriedigung, da er das für den Übergang zur Normalität hielt. Sorgen machte er sich um die junge Frau, die er gerne halb scherzhaft, aber in voller Absicht Tochter nannte. Immer noch gab es Leute in der Stadt, die sie für eine Kollaborateurin hielten. François wusste es besser, schließlich war Nicole noch fast ein Kind, als die Deutschen kamen. Wenn eine Anschuldigung erst einmal in die Welt gesetzt ist, bleibt eben immer etwas hängen, kam François in den Sinn. Er war der Meinung, es wäre besser, Nicole ginge irgendwo hin, wo sie niemand kannte. Nicole jedoch hing inzwischen sehr an Christine und ihm, sie traute sich auch nicht zu allein in einer fremden Umgebung zu leben. So ergaben seine Überlegungen keinen Sinn und er verlegte sich darauf, Nicole und Sarah beim Bauen einer Burg zuzusehen. Noch während sie am Strand waren, kam Hannah in Arromanches an. Christine stand hinter dem Tresen, zwei ältere Fischer standen davor und unterhielten sich mit ihr. Hannah ging hinter den Tresen und begrüßte Christine mit einer Umarmung. Ihr fiel zwar der besorgte Gesichtsausdruck von Christine auf, da diese ihr aber sagte, die anderen wären zum Strand gegangen, machte sie sich keine weiteren Gedanken darüber und ging auch zum Meer. Da nicht allzu viele Feriengäste am Strand waren, hatte sie die drei schnell ausgemacht, Sarah baute fleißig an ihrer Burg, während Nicole eine Art Zufahrtsweg anlegte. François stand einige Meter entfernt, aufrecht, so als würde er das Geschehen am Strand überwachen. Hannah ging die Rampe hinunter, die von der Promenade zum Strand führt. Sie umarmte François und begrüßte ihn mit Wangenküssen, dann wollte sie sich den beiden Spielenden zuwenden. François hielt sie zurück, „nicht erschrecken Hannah, es ist etwas passiert. Lass dir im Moment nichts anmerken, wir besprechen das zu Hause.“ Hannah nickte und ging zu Sarah, die im Sand hockte und selig an ihrer Burg baute. Sarah drückte Hannah auch nur einen kurzen Kuss auf den Mund, bevor sie sich wieder ihrem Bauwerk zuwandte. Nicole sah verstört aus, als Hannah sie begrüßte, Hannah war alarmiert und drängte zum Aufbruch, was das Kind mit einer trotzigen Reaktion beantwortete. Widerstrebend gab Hannah nach und stellte sich neben François, dieser legte ihr einen Arm um die Schultern. Sarah lief auf dem Rückweg fröhlich zwischen Hannah und Nicole, beide an der Hand haltend. Den Vorfall vom Vormittag schien sie vergessen zu haben. Christine ging mit Sarah in die Küche, als sie zurück in der Bar waren. Da keine Gäste in der Bar waren, wandte sich Hannah sofort an François und Nicole.
„Bitte sagt mir jetzt sofort, was vorgefallen ist“, Hannah versuchte ruhig zu sprechen, war aber total angespannt.
Nicole weinte wieder, „du willst mich jetzt bestimmt nicht mehr als Nanny beschäftigen, ich verstehe das.“
„Ich verstehe gar nichts. Bitte François, sag was passiert ist. Es wird ja nicht besser, wenn ihr hier herumdruckst.“
„Es ist so, Nicole ist hier vor der Tür auf ihren Vater getroffen und Sarah war dabei. Dieser Mensch hat Nicole auf das Übelste beschimpft und beleidigt.“
„Das ist schlimm, aber da kannst du doch nichts für, Nicole. Der Fehler liegt eher bei mir, ich hätte euch nicht mit dem Omnibus fahren lassen dürfen“, Hannah hätte sich am liebsten selbst in den Hintern getreten. „Das war ausschließlich mein Fehler. Nicole, ich habe gesagt, wir seien so etwas wie Schwestern, das war kein leeres Gerede. Ab morgen werdet ihr gefahren, wenn ihr ohne mich unterwegs seid.“
„Ich kann bei dir bleiben?“
„Jetzt hör mir einmal zu, Nicole. Für wen hältst du mich? Ich dachte bisher, wir sind uns einig, dass jeder Mensch nur für sein eigenes Tun verantwortlich ist. Was kannst du denn dafür, wenn dein Vater ein Arschloch ist? Du bist Sarahs Nanny, solange wir hier sind. Das sind nur noch ein paar Tage und jetzt haben wir wichtigeres zu besprechen. Da muss aber Christine anwesend sein. Geh bitte in die Küche und helfe Christine, damit wir bald zu unserem Nachmittagskaffee kommen.“
Nachdem Nicole in die Küche gegangen war, sprach Hannah François an, „ich hätte für Nicole eine Arbeit, außerhalb, in der Nähe von Caen. Ich sage dir das jetzt, damit du mich vielleicht unterstützt, nur wenn du überhaupt damit einverstanden bist.“
„Ja, denn das wäre für Nicole das vernünftigste.“
Sarah steckte ihren Kopf durch die Küchentür, „venez en cuisine, le café est prêt.“ (kommt in die Küche, der Kaffee ist fertig.)
In der Küche hatten die Drei den Kaffeetisch gedeckt. Christine hatte Brioche gebacken, ein verführerischer Duft breitete sich in der Küche aus. Wie zwei Verschwörer kamen Hannah und François in die Küche. Christine schaute verwirrt, sagte aber nichts. Da auch die beiden Verschwörer schwiegen, entwickelte sich, als alle sich niedergelassen hatten, ein munteres Gespräch, nur Nicole wirkte immer noch bedrückt. Sarah hatte das bemerkt und drückte sich schmusend an sie.
„Nicole“, sagte François nach einer Weile, alle blickten gespannt auf ihn. Er trank einen Schluck Kaffee und erst nachdem er seine Tasse wieder abgesetzt hatte, sprach er weiter, „morgen gehe ich zu deinen Eltern. Ich sage deinem Vater, dass du jetzt unsere Tochter bist und wenn er dich noch einmal belästigt, werde ich ihn vor den Richter bringen. Deiner Mutter werde ich sagen, sie könne dich jederzeit hier bei uns besuchen.“ François stockte einen Moment, dann hatte er sich gesammelt, „wenn auch du es möchtest – ich habe es mit Christine besprochen – wir möchten dich adoptieren. Bitte überlege es dir, wir würden uns freuen, auch in Wirklichkeit deine Eltern zu sein.“
Alle schwiegen, Nicole weinte, Sarah versuchte sie zu trösten. „Ich glaube, mein Schatz, Nicole weint vor Freude“, sagte Hannah zu Sarah.
„Ja, ich weine vor Freude, oh Gott“, Nicole drückte Sarah an sich, nachdem sie ihre Tränen abgewischt hatte.
„Du hast deine Eltern verloren, Hannah und deshalb bitten wir dich, dass auch du dich als unsere Tochter fühlst, dann ist Sarah so etwas, wie unser Enkelkind.“
Hannah, die direkt neben François saß, gab diesem einen Stoß, „ihr habt zu meiner Rettung entscheidend beigetragen, für mich seid ihr so etwas wie Eltern. Ich werde mit Sarah besprechen, ob sie Grandma und Grandpa zu euch sagen möchte.“ François umarmte Hannah.
Nicole ging zum Fenster und sah nach draußen. Sarah blieb bei ihr und hielt sie an der Hand. Dann drehte Nicole sich um. „Ja, ich wäre gerne eure Tochter“, sie ging zu Christine, umarmte zuerst diese und anschließend François.
„Nicole, Hannah hat dir einen Vorschlag zu machen“, setzte François das Gespräch fort.
„Ja?“
„Nicole, ich kann dir eine Stelle als Übersetzerin anbieten. Du bist doch schriftlich sicher genauso perfekt, wie mündlich.“
„Ja sicher.“
„Im Depot bei Caen wird eine Übersetzerin benötigt, du bist eine gute Übersetzerin, du wärst die ideale Kraft dort. Am Tag vor meiner Abreise stelle ich dich dort vor, wenn du möchtest.“
„Ich weiß nicht?“
„Nimmst du einen Rat deines Vaters an? Wir leben nicht ewig und hier hast du allein keine Chance. Aber wenn unsere Träume wahr werden, dann werden in Zukunft Menschen mit deinem Talent gebraucht. Die Völker brauchen zum Zusammenwachsen Menschen, die die verschiedenen Sprachen sprechen und du sprichst zumindest schon einmal Englisch. Bei deinem Talent wirst du leicht weitere Sprachen erlernen.“
„Muss ich mehr mündlich oder mehr schriftlich übersetzten, Hannah?“
„Du sollst den Schriftverkehr zwischen dem Depot und französischen Ämtern oder Firmen übersetzten. Wenn erforderlich, wirst du aber auch bei mündlichen Verhandlungen übersetzen.“
„Und du traust mir das zu?“
„Ja, Nicole, sonst würde ich dir diesen Vorschlag nicht machen.“
„Ich muss doch irgendwo wohnen. Von Arromanches aus kann ich nicht jeden Tag bis kurz vor Caen fahren.“
„Nein, du wirst im Depot wohnen, am Samstagnachmittag bringt dich die Fahrbereitschaft nach Arromanches und am Montagmorgen wirst du wieder abgeholt.“
„Bitte Nicole, die meiste Zeit haben wir nicht genug Geld, um dich für deine Arbeit zu bezahlen. Nimm die Stelle an und wenn du am Wochenende nach Hause kommst, werde ich dich nach Strich und Faden verwöhnen“, Christine hatte sich erhoben und Nicole von hinten mit ihren Armen umschlossen.
„Da sind doch bestimmt schwierige Wörter in den Schriftstücken, ich hab doch gar kein Wörterbuch, um diese Worte zu übersetzten.“
„Daran wird es nicht scheitern, Nicole. Du brauchst dort kein eigenes Wörterbuch. Das wäre ja, als müsste ein Panzerfahrer seinen eigenen Panzer mitbringen.“ Alle lachten über diese Bemerkung von Hannah, nur Nicole war weiter bedrückt.
„Ich habe einfach Angst, wenn niemand von euch in meiner Nähe ist. Verzeih mir, Hannah.“
„Nicht doch Nicole, du hast mir gesagt, wie sehr du dich freust, dass du neue Eltern gefunden hast. Da ist es doch normal, dass dir die Trennung schwerfällt.“
Nicole griff nach Hannahs Hand, „ich folge eurem Rat, du bist meine Schwester und du meinst es gut mit mir.“ Dann drückte sie Sarah, „and you’re my niece.“ Auch Nicole machte jetzt ein fröhliches Gesicht.
Als sich die Kaffeetafel auflöste und die Drei von der Fahrbereitschaft abgeholt wurden, konnte sich Nicole kaum von ihren neuen Eltern trennen. Im Jeep drückte sie Sarah an sich und neckte sie etwas. Hannah nahm das mit Freude wahr. Sie dachte darüber nach, wie man öffentlich Nicole vom Verdacht der Kollaboration befreien könnte. Ihr fiel aber nichts dazu ein. So ließ sie den Gedanken fallen und freute sich auf den gemeinsamen Abend mit Nicole.
Am Morgen machte sich François auf den Weg zu Nicoles Eltern. Als er den Türklopfer betätigte, öffnete Nicoles Mutter Carole. Sie war eine kleine verhärmte Frau, von der François wusste, dass ihr das Leben nichts geschenkt hatte. Sie wirkte krank und zitterte leicht, das Stehen fiel ihr offensichtlich schwer, sie hielt sich am Türrahmen fest.
„Bonjour, Carole. Ich habe etwas mit Jore und dir zu besprechen.“
„Komm herein, ich weiß nicht, ob Jore mit dir sprechen will.“ Ohne eine weitere Erklärung schlurfte sie in die Küche direkt hinter der Hauseingangstür.
Jore saß am Tisch und trank trotz der frühen Stunde Cidre. „Was willst du hier?“, seine Stimme klang eher ängstlich als aggressiv.
„Ich habe etwas mit euch zu besprechen.“
„Bitte setz dich“, Carole räumte einen schmierigen Stuhl frei.
„Nein danke, ich stehe lieber.“ Carole zuckte mit den Schultern, sagte aber nichts.
„Ich wüsste nicht, was es zu besprechen gibt, außer du sagst, wann Nicole zurückkommt. Du siehst, meine Alte kann ihre Arbeit nicht mehr erledigen.“ Jore hob den Kopf und schaute zu François. Er hatte einen ziemlich großen blauen Fleck auf der linken Wange, wohl von dem Hieb den François ihm verpasst hatte.
„Sie wird nicht zu euch zurückkehren!“
„Jemand muss hier die Arbeit machen“, jammerte Jore.
„Mach die Arbeit selbst, Nicole bleibt bei uns! Verstanden!“ Jore zuckte zusammen. „Damit du es weißt, Nicole ist jetzt meine Tochter und du wirst sie nie wieder ansprechen oder belästigen.“
„Du verbietest mir gar nichts!“
„Oh doch! Wenn du noch einmal versuchst sie mit Kollaboration in Verbindung zu bringen, erfährt jeder, was du während der Besatzung getrieben hast. Du weißt, dann bist du erledigt. Halte dich fern von ihr, ich scherze nicht!“
„Du brauchst wohl was Frisches zum Ficken!“
„Noch ein Wort und deine rechte Wange läuft auch blau an!“
Jore machte eine wegwerfende Handbewegung, „und was habe ich davon, dass sie jetzt bei dir ist?“
„Nichts! Ich zahle Carole die Arztrechnung, denn du versäufst wohl lieber das Geld, statt den Arzt für sie zu zahlen.“
„Mach doch was du willst. Behalte die blöde Kuh oder schick sie zurück, mir ist das egal.“ Jore schütte sich ein weiteres Glas Cidre ein.
François wandte sich ab, „Carole, komm bitte mit, ich bringe dich zum Arzt.“
„Ich habe kein Geld für den Arzt.“
„Ich bezahle den Arzt, wie ich bereits sagte.“
„Ja, bring sie zum Arzt, damit sie wieder arbeiten kann!“, tönte es vom Tisch.
Ohne weiter auf Jore einzugehen, verließ François mit Carole das Haus und ging mit ihr zum Arzt. Sie war so schwach, dass er sie stützte, während sie sich schlurfend die Straße entlang quälte. Erst im Wartezimmer sprach François wieder, „Carole, du darfst jederzeit deine Tochter besuchen, was ich vorhin gesagt habe, gilt nicht für dich. Sie ist aber nur noch am Sonntag bei uns.“ Carole nickte dankbar, dann schwiegen sie wieder, bis sie an der Reihe waren. François besprach mit dem Arzt kurz die finanzielle Seite des Besuchs und setzte sich wieder in das Wartezimmer. Auf dem Rückweg stütze er Carole wieder. Er verabschiedete sich vor der Haustür von Carole. Noch einmal auf Jore zu treffen, empfand er als überflüssig. Sein Versprechen, den Arzt zu bezahlen, machte François ein wenig Sorge, aber er vertraute darauf, dass die staatliche Gesundheitsversorgung nach den Kriegswirren bald wieder greifen würde und somit Caroles Behandlung in naher Zukunft von der Krankenkasse bezahlt würde. Anderseits fiel auch die Bezahlung von Nicole weg, sobald diese ihre Stelle im Depot angetreten hatte. Er hatte nicht damit gerechnet sie so bald wieder ziehen zu lassen. Christine und er hatten Nicole seit den Vorfällen nach der Befreiung in ihre Herzen geschlossen. Genau wie Nicole war auch er stark beeindruckt von Christines Auftreten an diesem schrecklichen Tag. Er hatte seine Frau weder vorher noch nachher so erlebt. Es hatte ihn tief beeindruckt, wie sie Nicole stützend auf die geifernde Menge zugegangen war und allein ihr Blick genügt hatte, damit ihnen der Weg freigegeben wurde. Mitten durch die Leute, die sich zur Seite stellten, war sie geschritten, nicht einen Moment hatte ihr Schritt gestockt. Er hatte immerhin seine Waffe gebraucht, um die Meute in Schach zu halten und diese eher zarte Frau hatte die Macht, die gaffende Versammlung allein durch ihr Auftreten in die Schranken zu weisen. Dieser Auftritt hatte bewirkt, dass sich die Meute geifernder Weiber und siegestrunkener Schwachköpfe in alle Winde zerstreute. Er selbst hatte danach immerhin noch einen Warnschuss abgeben müssen, um die Rädelsführer von der Ernsthaftigkeit seiner Forderung, die Frauen freizugeben, zu überzeugen. Er hatte dem als Hure beschimpften Opfer das Preisschild vom Hals genommen und es in den Dreck getreten. Eine der Gafferinnen, die sich nicht schnell genug davon gemacht hatte, hatte er gezwungen ihren Mantel zur Verfügung zu stellen, damit sich die Frau, die am Kopf und an den Knien blutete, bedecken konnte. Die anderen Frauen hatten derweil ihre zerrissene Kleidung so weit geordnet, dass ihre Brüste zumindest teilweise bedeckt waren. So war er dann mit der Gruppe Frauen und vorgehaltenem Gewehr durch die Stadt gezogen, bis alle wieder in ihren Wohnungen und Häusern waren, aber was war das schon für eine Heldentat – mit einer Waffe in der Hand kann jeder Macht ausüben. Neben François hielt ein Jeep. Hannah, Nicole und Sarah stiegen aus, während der Fahrer bei laufendem Motor im Wagen wartete. Hannah begrüßte François mit Wagenküssen.
„Ich muss schnell weiter, François. Ich gebe meine beiden Lieben in deine Obhut. Pass gut auf sie auf.“ Sie küsste François noch einmal, Sarah ebenso und gab ihrer Schwester einen Knuff in die Seite. Winkend fuhr sie weiter.
François drückte Nicole an sich und wandte sich dann Sarah zu, „schön, dass du uns besuchst, möchtest du zum Strand? Noch ist Hochwasser, da ist der Strand überschwemmt, aber später, wenn das Wasser fällt, kann ich mit dir und Nicole an den Strand gehen.“
„Mum hat mir gesagt, du möchtest mein Grandpa sein, darf ich jetzt Grandpa zu dir sagen?“ Nicole übersetzte.
„Ja sicher, Sarah.“ Wieder übersetzte Nicole.
François nahm Sarah bei der Hand und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Bar. Wie meist, wenn sie an der Hand geführt wurde, hüpfte Sarah fröhlich neben François her. „Meine richtigen Großeltern sind tot, hat Mum mir erzählt.“ Nicole übersetze und gab Sarah auch gleich eine Antwort, „du hast jetzt neue Großeltern und deine Mum hat auch neue Eltern. Das ist gut.“ Sarah antworte nicht, sondern hüpfte freudig weiter. Ganz unbefangen begrüßte sie in der Bar Christine mit Granny. Am Abend kam Hannah, sie hatte den Fahrer mit in die Bar gebeten, was darauf hinwies, dass sie länger bleiben wollte. Ihre ersten Worte bestätigten diese Annahme.
„Christine, haben wir genug zu essen, ich möchte nicht, dass mein Fahrer hungert.“
„Sicher, bitte ihn, mit uns zu essen.“
„Das wäre gegen die Konventionen, Offiziere essen nicht mit ihren Untergebenen.“
„Liebe Hannah, das ist mein Haus und in meinem Haus gelten deine Konventionen nicht. Der Fahrer ist mein Gast.“ Hannah musste lachen. Dann besprach sie sich kurz mit dem Fahrer.
„Mister Miller fühlt sich geehrt, Christine. Aber er spricht nur wenig Französisch.“
„Meine liebe Tochter, ich denke, du musst schon einmal üben, wie es nach dem Militärdienst ist. Wenn das geschieht, was ich hoffe, ist nichts mehr mit Militär bei dir.“
„Wie meinst du das, Christine?“
„Mit Hans an deiner Seite, wirst du wohl nicht weiter als Offizierin herumlaufen können. Er ist schließlich Deutscher.“
„Ich weiß Christine, aber ich weiß nicht einmal, ob Hans mich noch mag.“
„Ha, den kriegst du nie wieder los! So wie der in dich verknallt ist, der geht für dich und Sarah durchs Feuer.“
„Ich wäre mir da nicht so sicher, wir haben uns jahrelang nicht mehr gesehen und ich weiß nicht, wie er auf ein plötzlich auftauchendes Kind reagieren wird.“
„Mein Gott! Kind, du bist naiv!“
„Wir werden sehen, aber ich werde herausfinden, ob unsere Liebe noch lebt.“
„Gut so Hannah! Schreib ihm, sonst fällt er in Ohnmacht, wenn du plötzlich auftauchst, dazu noch mit seiner Tochter. Nicole, hilfst du mir bitte beim Kochen?“
„Ich werde ihm schreiben, sobald ich wieder in London bin. Ich werde ihm schreiben, wann ich nach Deutschland komme, aber ich werde ihm nicht schreiben, dass wir eine Tochter haben.“
Während des Essens berichtete Hannah, dass sie sich morgen wieder ein Auto bei Gérard leihen würde, um Florence zu besuchen und ihr einige Vorräte vorbeibringen. Am Tag darauf, wollte sie Nicole im Depot einführen und so wäre es das Beste, wenn sie direkt ihre Sachen mitnähme, denn sie würde im Depot dringend erwartet. Am Abend des Tages würde sie dann zurück nach London reisen. Nicole wurde mulmig bei dem Gedanken von Arromanches weg zu müssen, freute sich anderseits aber auf die Arbeit als Übersetzerin. Hannahs Fahrer fühlte sich sichtlich wohl in der Gesellschaft und Christine freute sich über seinen guten Appetit. Nach einiger Zeit stellte Hannah zu ihrer Verwunderung fest, dass sich die beiden duzten. Es sah für sie fast so aus, als wäre Christine dabei, sich ein weiteres Kind zuzulegen. Nach dem Essen drängte Hannah zum Aufbruch, sie wollte am folgenden Tag zeitig nach Regnéville aufbrechen und zuvor noch zum Depot fahren.
„Ich hole mir nachher noch das Auto bei Gérard ab und morgen früh fahre ich zeitig ins Depot. Danach hole ich euch am Hotel ab. Bringst du bitte Sarah zu Bett, Nicole? Ich komme noch vorbei, um euch Gute Nacht wünschen“, sagte Hannah, sobald sich der Jeep in Bewegung gesetzt hatte.
Sarah sah das von der praktischen Seite. „Liest du mir vor, bis Mum kommt, Nicole?“
„Ich lese dir vor, wenn du dir ordentlich die Zähne putzt und nicht wieder versuchst zu pfuschen!“
„Ja doch“, antwortete Sarah gedehnt.
Hannah tat so, als würden sie Nicoles Erziehungsversuche nicht interessieren und fuhr mit ihren Anweisungen fort, „Nicole, ich versuche im Depot einen Koffer für dich zu ergattern, damit du nicht mit einem Karton beladen dort auftauchen musst. Möchtest du morgen Abend in Arromanches bleiben?“
„Darf ich das?“
„Nicole, du bist nicht unsere Sklavin. Wenn du die letzte Nacht zu Hause verbringen möchtest, kann ich das verstehen. Sarah und ich kommen eine Nacht ganz gut allein zurecht.“
„Dann möchte ich gerne zu Hause schlafen.“
„Ich bleibe auch bei Granny und schlafe bei Nicole!“
„Hör zu, kleine Frau, wenn du dort bleiben möchtest, muss du zuerst Christine und François fragen, ob ihnen das recht ist und du musst Nicole fragen, vielleicht hat sie etwas Besseres vor, als sich mit dir herumzuschlagen.“
„Mensch Mum, Nicole wird sicher nichts dagegen haben!“
„Sarah, das finde ich jetzt gar nicht zum Lachen, du brauchst dich nicht mit mir herumzustreiten! Nicole sitzt neben dir, du brauchst sie nur zu fragen, so einfach ist das! Sie sagt ja, nein oder vielleicht.“
Sarah schmollte etwas herum, was Hannah nicht verstand. Dann drückte sich Sarah an Nicole, „darf ich, bitte? Und fragst du Granny, ob ich bleiben darf?“
„Ja, Sarah, ich habe nichts dagegen. Aber warum soll ich die Granny fragen? Das kannst du doch selbst.“
„Ich spreche doch nicht so gut Französisch und dich hat sie so besonders lieb, da kann sie nicht nein sagen.“
„Die Granny sagt bestimmt nicht nein. Wir treffen eine Vereinbarung, ich helfe dir beim Sprechen und du fragst die Granny selbst.“
„Ja, Nicole.“
Hannah hatte sich nicht eingemischt, sondern belustigt zugehört und sich derweil mit dem Fahrer unterhalten.
Hannah machte sich auf den Weg zu Gérard. Dieser war wie meist muffelig, grüßte kaum, wies auf den Renault, den Hannah letztens gefahren hatte und sagte, „den kannst du haben, auch ohne Bezugsschein für Benzin.“ „Den kriegst du trotzdem.“ „Nicht nötig, schließlich bist du die Freundin von Hans.“ „Danke Gérard“, antwortete Hannah und fuhr davon. Als Hannah am Morgen darauf zum Depot fuhr, stand vor dem Haus, in dem sie mit Hans gewohnt hatte, Madame Meister. Kurz entschlossen hielt Hannah an. Madame Meister nahm eine respektvolle Haltung an, als Hannah auf sie zukam.
„Madame Meister?“
„Ja Madame, sie wünschen?“
Hannah fühlte sich, als würde sie der Teufel reiten, „ein Monsieur Donrath hat bei ihnen gewohnt – vor dem Krieg?“
„Ja – hat er etwas verbrochen? Wird er gesucht?“
„Wir suchen ihn, um ihm einen Orden zu verleihen. Wie kommen sie darauf, er könnte etwas verbrochen haben?“
„Ich dachte nur, irgendetwas haben doch die Illegalen alle auf dem Kerbholz.“
„So, so. Hatte er nicht eine Frau bei sich?“
„Ja, auch die war illegal. Die waren gar nicht verheiratet und haben zusammen gelebt. Stellen sie sich das einmal vor! Meine Gutheit haben die ausgenützt!“
„Aber die Beiden haben doch nicht umsonst bei ihnen gewohnt?“
„Eine kleine Aufwandsentschädigung habe ich schon erhalten.“
„Versteuert haben sie die Aufwandsentschädigung!?“
„Nein, wieso?“
„Nach dem Krieg ist das Geld knapp, da gehen wir allen ausstehenden Steuern nach. Sie verstehen?“
„Nein, nicht ganz Madame.“
„Madame Meister, es gibt viele notleidende Menschen, denen geholfen werden muss. Hat die Frau auch eine Aufwandsentschädigung bezahlt?“
„Nein! Ich kann mich nicht erinnern.“
„Gut, sie werden von uns hören. Wegen der eidesstattlichen Erklärung, dass sie nur eine kleine Aufwandsentschädigung erhalten haben.“
„Eidesstattliche Erklärung?“
„Ja sicher! Sie wissen, dass Meineid strafbar ist?“
„Wenn ich es mir recht überlege, ich habe von der Frau zehn Franc zusätzlich erhalten.“
„So kommen wir der Sache näher, Madame Meister. Nur nach unseren Unterlagen haben sie dreißig Franc zusätzlich kassiert.“
„Ach, es ist so lange her, kann sein.“
„Nun, was mache ich nur mit ihnen?“, Hannah machte ein bedenkliches Gesicht und wie nach einer plötzlichen Idee sprach sie weiter, „Madame Meister, wenn sie jetzt mit mir zur Kathedrale gehen und die zusätzliche Aufwandsentschädigung spenden, könnte ich die Miete, die Monsieur Donrath bezahlt hat, vergessen.“
„Wie? Spenden?“, Madame Meister blickte unsicher auf ihre Füße.
„Sie werfen das Geld unter meiner Aufsicht in den Opferstock.“
„Das ist viel Geld“, zweifelte Madame Meister.
„Bedenken sie die Steuer, die für die Miete fällig würde!“
„Nun ja, ich gehe mit ihnen.“
Gehorsam steckte Madame Meister das Geld durch den Schlitz des Opferstocks. Anschließend verabschiedete sich Hannah schnell von ihr. Madame Meister hatte sie weder erkannt noch hatte sie den Verdacht geschöpft, dass etwas nicht stimmen könnte. Im Depot füllte sie den Kofferraum mit Vorräten für Florence und ging dann noch los, um nach einem Koffer zu suchen. Sie fand einen einfachen Pappkoffer, nicht schön, aber für Nicoles Umzug ins Depot bestens geeignet. Einen Teil der Vorräte räumte Hannah in den Koffer, da der Platz im Kofferraum nicht reichte. Sie war bei bester Laune, als sie am Hotel ankam. Nicole und Sarah erwarteten sie bereits in der Hotelhalle. Nicole hatte ihre wenigen Sachen zu einem Bündel gebunden, Sarah hatte ihre Puppe und ihren kleinen Rucksack dabei. „Du scheinst wohl sehr sicher zu sein, dass du bei Grandma bleiben darfst“, scherzte Hannah, nahm Sarah an die Hand und gemeinsam gingen sie zum Auto. In Arromanches angekommen, war Sarah kaum noch zu bremsen. Das Aussteigen ging ihr viel zu langsam, kaum in der Bar angekommen rannte sie zur Küche und rief, „Granny, Granny, est-ce que je peux dormir chez Nicole? Maman est d'accord.“ Christine drückte Sarah an sich, „avec plaisir, chérie, si Hannah ne s‘y oppose pas.“ Hannah verabschiedete sich schnell, sagte aber, sie käme am Nachmittag noch einmal vorbei. Auf dem Weg nach Regnéville machte sie wiederum einen Umweg und hielt bei der Pointe d’Agon an. Sie stieg aus und lehnte sich an das Auto an. Die Sehnsucht nach Hans überwältigte sie. Obwohl sie fürchtete, dass ihre Liebe die Jahre nicht überdauert haben könnte, musste sie herausfinden, ob es eine gemeinsame Zukunft gab; und Sarah musste ihren Vater kennenlernen. Sie hatte sich von François die Adresse von Hans geben lassen, aber noch nicht den Mut gefunden, ihm zu schreiben. Als Hannah das Restaurant erreicht, stellte sie erfreut fest, dass Florence wirklich geöffnet hatte. Sie betrat die Gaststube und rief nach Florence. Diese kam aus der Küche und die beiden Frauen umarmten sich.
„Anzubieten habe ich nichts, außer Wasser aus dem Hahn“, Florence zuckte mit den Schultern.
„Das macht nichts, aber du kannst mir beim Ausladen helfen.“
Gemeinsam räumten sie den Kofferraum aus, „was ist das Hannah?“
„Das sind Vorräte, damit du einen Grundstock hast, um dein Restaurant wieder zu führen.“
„Das kann ich nicht bezahlen.“
„Wer spricht vom Bezahlen, du zahlst, wenn ich mit Hans zu dir komme.“
„Echt? Und du kommst wirklich mit Hans?“
„Ich hoffe es. Ich werde ihm schreiben. Dann sehen wir weiter.“
„Hans hat, solange wir zusammengearbeitet haben, von einem Leben mit dir geträumt. Du musst ihm sagen, dass ihr ein Kind habt.“
„Aber nicht im Brief! Und jetzt koche ich etwas Englisches. Du hast genug Holz, um das Rohr einzuheizen?“
„Ja, Holz habe ich.“
„Ich habe im Depot ein fertiges Meat and Kidney Pie ergattert, das muss eine halbe Stunde in das Rohr, dann können wir essen.“
Nachdem sie gegessen hatten, saßen sie noch einige Zeit beisammen. Florence war angetan von dem Pie und langte kräftig zu. Sie sprachen zuerst über vergangene Zeiten und dann über die Zukunft. Beim Blick in die Zukunft wanderte das Gespräch schnell wieder zu Hans. Florence war sich sicher, dass Hans nur darauf wartete, Hannah in seine Arme zu schließen. Sie wurde richtig euphorisch, als sie sich vorstellte, wie es sei, wenn Hans seine Tochter kennenlernte. Bei Hannah überwog eher die Unruhe, dass er vielleicht nicht ganz so begeistert wäre, wie Florence es sich ausmalte, aber sie musste einen Weg finden, der entweder in eine gemeinsame Zukunft mit Hans führte, oder es zumindest ermöglichte, dass Sarah ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihrem Vater entwickeln konnte. Eine innere Ratlosigkeit überkam sie, während sie über die nächsten Schritte nachdachte. Florence wischte all ihre Einwände vom Tisch und meinte, Hannah zerbreche sich den Kopf über ungelegte Eier und so ließen sie das Thema nach einiger Zeit fallen. Nur als Hannah sich verabschiedete, kam Florence noch einmal kurz darauf zurück. „Wenn ihr drei nach Frankreich kommt, wohnt ihr bei mir. Den ganzen oberen Stock könnt ihr bewohnen“, sie drückte Hannah, als wolle sie sie nicht mehr loslassen. Hannah lächelte bei der Vorstellung, als Familie gemeinsam in Regnéville Urlaub zu machen und so antwortete sie so unbefangen, wie möglich, „ja Florence, wir werden bei dir wohnen und die Vorräte von heute gelten als Anzahlung auf die Zimmermiete.“
Da Hannah noch den Koffer für Nicole im Auto hatte, fuhr sie an Bayeux vorbei nach Arromanches, gab den Koffer bei Christine ab und erfuhr von dieser, dass François mit Nicole und Sarah spazieren gegangen sei. „Seit dem Vorfall mit Nicoles Vater lässt er sie nicht mehr aus den Augen, vor allem dann, wenn Sarah dabei ist. Wir sind tief besorgt, was aus unserer Nicole wird, da ist es ganz gut, wenn sie für einige Zeit von hier weggeht“, Christine drückte Hannah, dann sprach sie weiter, „ihr seid für uns wirklich so etwas, wie unsere Kinder. Du warst auch so ein armer Wurm, als du vor dem Krieg hier aufgetaucht bist und Nicole, der haben sie so arg mitgespielt, dass es zum Heulen ist.“ Hannah streichelte Christine über die Wange, „in der Sprache meiner Vorfahren heißt Maman Ima, ich werde dich von jetzt an Ima nennen. Meine richtige Ima haben mir die Nazis genommen, du bist jetzt meine Ima.“ In diesem Augenblick kamen die drei Spaziergänger durch die Tür. Sarah war wenig begeistert über das Auftauchen ihrer Mutter, das war ihr deutlich anzusehen. „Keine Angst mein Schatz, ich bin gleich wieder weg.“ Hannah konnte sich das Lachen nicht verkneifen, dann wandte sie sich an Nicole.
„Guck Nicole, ich habe dir einen Koffer mitgebracht, da kannst du alles hineintun, was du mitnehmen möchtest. Das sieht doch besser aus als dein Bündel.“
„Das ist lieb von dir“, Nicole war wieder kurz davor in Tränen auszubrechen. Hannah hielt ihr ein Kuvert hin. „Was ist das, Hannah?“
„Dein Lohn.“
„Danke Hannah.“ Nicole öffnete das Kuvert, „das ist viel Geld, das kann nicht sein.“
„Ich habe mich an dem orientiert, was eine Nanny bei uns an Lohn erhält. Es ist nicht zu viel.“
„Danke Hannah, du hast mir doch auch noch die Kleidung gekauft“, jetzt kamen Nicole wirklich die Tränen, Sarah versuchte sie zu trösten.
„Ja, das Kindermädchen eines Offiziers braucht schließlich standesgemäße Kleidung!“
Nicole wandte sich an Christine. „Maman“, sie nannte Christine zum ersten Mal so, „Maman, nimm bitte das Geld in Verwahrung und ihr bezahlt bitte den Arzt für meine Mutter davon. Ich weiß, auch ihr seid knapp mit dem Geld und jetzt habt ihr auch noch den Arzt für meine Mutter bezahlt.“
Christine ließ das Kuvert wortlos in den Tiefen ihrer Schürzentasche verschwinden und warf einen fragenden Blick zu François. „Wir haben den Arzt bezahlt, Tochter und dein Lohn ist bei uns gut aufgehoben. Wir werden ihn nicht anrühren.“
Danach ging François, ohne ein weiteres Wort zu verlieren in die Küche, das Thema Arztrechnung war damit für ihn beendet. Hannah besprach noch kurz mit Nicole, wann sie morgen aufbrechen würden und fuhr dann nach Bayeux, um Gérard das Auto zurückzubringen, den Benzinbezugsschein legte sie auf den Beifahrersitz, um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen.
Gérard war wie eigentlich immer schlecht gelaunt, „ist der Wagen nicht toll?“
„Oh ja, ein sehr bequemer Wagen.“
„Willst du ihn nicht kaufen?“
Hannah lachte, „ein Auto ist zu teuer für mich, Offiziere verdienen keine Millionen.“
Gérard nörgelte, „es wäre ein Freundschaftsangebot, ich habe aber auch preiswertere Modelle.“
„Nein, Gérard, ich werde meinen Abschied als Offizier nehmen. Dann ist der Unterhalt eines Autos zu teuer für mich.“
„Abschied? Du bist verrückt, ein sicheres Einkommen gibt man nicht auf!“
„Gérard, es gibt einen Grund. Ich muss zu Hans.“
Gérard hatte jetzt von Nörgeln auf Motzen umgeschaltet, „Hans ist ein doofer Grund, der kann dich nicht ernähren. Der hat doch selbst nichts.“
„Er soll mich nicht ernähren, ich bin Ärztin und werde in Deutschland in meinem Beruf arbeiten.“
„Du hältst mich sicher für aufdringlich, aber ich meine es wirklich gut. Ich war in Deutschland, alles liegt in Trümmern. Was willst du da? Ärzte können überall arbeiten. Bleib hier, Kranke findest du an jeder Ecke.“
„Gérard, ich bin Deutsche, ich muss zurück.“
„Gibt es sonst keinen Grund?“, grummelte Gérard.
„Doch, meine Tochter ist auch sein Kind. Er hat ein Recht darauf, es zu erfahren.“
„Das kannst du ihm schreiben!“, Gérard wurde jetzt zugänglicher, „Mädchen, ich glaube, du machst einen Fehler, aber Hans wartet auf dich.“
„Ich muss das herausfinden, Gérard und ich schreibe ihm noch heute, aber ich muss ihm Auge in Auge gegenüber stehen, wenn ich ihm sage, dass wir eine Tochter haben.“
Im Hotel ging Hannah unverzüglich daran den Brief zu schreiben. Sie war froh, Sarah und Nicole gut bei François und Christine untergebracht zu wissen, so konnte sie sich ganz auf das Schreiben konzentrieren. Es fiel ihr schwer, das, was sie ausdrücken wollte, zu Papier zu bringen. Mehrmals zerknüllte sie den angefangenen Brief wieder und fing von neuem an. Es war schon kurz vor dem Diner, als Hannah mit sich und dem Geschriebenen zufrieden war. Den Brief vor sich auf dem Tisch liegend dachte sie nach, ob sie noch etwas hinzufügen wollte, dann las sie ihn noch einmal durch.
Lieber Hans,
Du hast den Krieg überlebt, ich kann unser Glück nicht fassen! Ich habe es erst jetzt von Christine und François erfahren, als ich sie in Arromanches besuchen konnte. Ich habe so viel Zeit wie irgend möglich mit ihnen verbracht und habe auch Florence besucht. Unsere Freunde in Arromanches sind wohlauf, aber über Florence habe ich mich erschrocken. Die Haft hat ihr furchtbar zugesetzt, alle Energie hat sie verlassen. Im Moment scheint es wieder aufwärts mit ihr zu gehen, sie hat Pläne und wir beide sind eingeladen, bei ihr zu wohnen, wenn wir gemeinsam nach Regnéville kommen. Bei Christine und François lebt jetzt eine junge Frau, die sie wie eine Tochter behandeln. Sie heißt Nicole. Das arme Geschöpf wurde in den Wirren nach der Befreiung furchtbar misshandelt, da man sie der Kollaboration bezichtigt hatte. Niemals hätte ich gedacht, dass ein zivilisiertes Volk zu solchen Taten fähig wäre. Nun, bei uns Deutschen habe ich mich auch getäuscht. Das Phänomen des kollektiven Begehens von Untaten scheint jedem Volk innezuwohnen.
Ob wir jemals gemeinsam zu Florence reisen? Ich wage es nicht zu hoffen, aber es ist ein schöner Traum, den ich gerne träume. Wir haben uns einmal sehr geliebt und ich liebe Dich immer noch. Was Du für mich empfindest, kannst nur Du selbst wissen. Meine Hoffnung ist, dass meine Liebe von Dir erwidert wird, wenn das nicht so sein sollte, hoffe ich, wir werden uns in Zukunft als Freunde schätzen.
Ich werde Dir alles Wissenswerte über meine letzten Jahre erzählen, sobald wir uns wiedersehen. Nur so viel, ich konnte mein Studium beenden und bin jetzt Offizierin im Sanitätskorps der British Army. Ich werde versuchen meine Versetzung nach Deutschland zu erreichen, bevor ich meinen Abschied nehme, denn ich möchte in meine Heimat zurückkehren; und wenn möglich, mit Dir an meiner Seite.
Lieber Hans, antwortest Du mir? Wenn Du anderweitig gebunden sein solltest, kann ich das verstehen, ich werde mich nie wieder bei Dir melden, wenn das Dein Wunsch sein sollte. Nur bitte, antworte mir, dann weiß ich, woran ich bin. Alles, was wir gemeinsam erlebt haben, habe ich tief in meinem Herzen eingeschlossen, diese Erinnerung kann mir niemand nehmen. Egal was passiert, Du und unsere Freunde in der Normandie haben mich vor den Nazis gerettet, Ihr seid meine Familie, der ich auf ewig verbunden bleibe. Meine Eltern wurden von den Nazis ermordet, Du glaubst nicht, wie froh ich bin, dass ich hier in der Normandie Menschen gefunden habe, die mir ihre Zuneigung schenken.
Morgen muss ich zurück nach London, mein Auftrag in der Normandie ist beendet. Sofort nach meiner Rückkehr werde ich meine Versetzung in Angriff nehmen. Das ist unabhängig von Dir, denn wenn irgend möglich möchte ich nach meinem Abschied aus der Army wieder in Deutschland leben. Meine Zeit im Ausland hat mir gezeigt, dass meine Heimat Deutschland ist. Mit Dir an meiner Seite könnte jeder Ort der Erde meine Heimat sein, aber diesen Traum wage ich noch nicht zu träumen.
Liebe Grüße
Deine Hannah
Hannah schrieb noch ihre Feldpostadresse unter den Brief, kuvertierte und frankierte ihn, aber bevor sie das Kuvert verschloss, nahm sie den Brief noch einmal heraus, legte das Blatt mit der unbeschriebenen Seite nach oben auf den Tisch und fügte noch einen Absatz hinzu.
PS: Bevor ich es vergesse, ich habe Madame Meister die dreißig Franc wieder abgenommen, die sie wegen ihres angeblichen Aufwandes von mir verlangt hatte. Du erinnerst Dich? Ich habe sie überredet, das Geld in der Kathedrale in den Opferstock zu werfen, mit dem Hinweis, ich würde dann die fälligen Steuern, die sie für Deine Mietzahlungen zu entrichten hätte, vergessen. Wie sie darauf hereinfallen konnte, dass ein Sanitätsoffizier etwas mit Steuern zu tun haben könnte, ist mir schleierhaft. Aber mich hatte in dem Moment, als ich sie auf der Straße sah, der Teufel geritten.
Hannah steckte den Brief zurück in das Kuvert, verschloss es und gab den Brief in die Post, als sie zum Diner ging. Der Speiseraum war ziemlich besetzt, als Hannah ihn betrat. An einem Zweiertisch saß allein ein Kollege von ihr. „Darf ich mich zu ihnen setzten, Henry.“ Der Offizier, den Hannah Henry genannt hatte, schaute überrascht auf und wollte salutieren, aber Hannah hinderte ihn daran. Er wies auf den freien Stuhl und sagte, „ja gerne.“ „Was gibt es denn heute zum Diner?“ Henry zuckte die Schultern, was wohl keine Ahnung bedeuten sollte. Sie tauschten Erinnerungen aus, auch Henry wollte seinen Abschied nehmen, erfuhr Hannah. Sie selbst hielt sich noch etwas zurück, denn sie wollte zuerst mit ihrem Vorgesetzten darüber sprechen. Außerdem fürchtete sie, Henry würde nach ihren Gründen für den Abschied fragen. Ihre Pläne nach Deutschland zurückzugehen, sollten im Moment keinesfalls öffentlich werden. Henry erzählte von Frau und Kindern, was in Hannah wiederum Sehnsucht nach Hans auslöste. Ihr Tischpartner war offiziell und vom Dienstrang her Hannahs Untergebener gewesen, bis er in die Normandie versetzt wurde. Der niedrige Dienstrang von Henry und Hannahs Rolle als Vorgesetzte hatte aber im Verhältnis zwischen ihnen nie eine Rolle gespielt hatte. So verlief der Abend während des Essens im leichten Plauderton. Nach dem Essen erhob sich Hannah und verabschiedete sich. Henry erhob sich auch und salutierte. Hannah schüttelte den Kopf, „Henry, was soll das?“ „Ich wollte ihnen meine Achtung ausdrücken, für das, was sie für unser Team geleistet haben.“ „Ich tat nur meine Pflicht, bitte stehen sie bequem Captain. Ich fahre morgen Abend zurück nach London. Ich weiß nicht, ob wir uns jemals wiedersehen. Auf Wiedersehen Henry.“ Sie verabschiedeten sich mit einem Händedruck.
Am Morgen stand pünktlich die Fahrbereitschaft vor dem Hotel. Es war der gleiche Fahrer wie beim letzten Mal, diesmal in einem Austin 8. Hannah gab ihm die Anweisung nach Arromanches zu fahren. Sobald sie aus der Stadt hinaus waren, sprach Hannah den Sergeanten an, „sagen sie mir bitte ihren Vornamen, Sergeant Miller. Es wäre unhöflich von mir, wenn ich sie im Beisein von Christine mit Sergeant oder Mister Miller ansprechen würde. Sie duzen sich mit Christine, der Frau, die ich Ima nennen darf und so möchte ich zumindest ihren Vornamen kennen, bevor wir gleich auf Christine treffen.“ „Norman, Sir. Oh, Entschuldigung, ich meinte Ma’am.“ „Danke Sergeant Miller. Es wird ein langer Tag für sie, denn ich lege Wert darauf, dass sie mich am Abend nach Cherbourg fahren.“ „Gerne Ma’am.“ Als Hannah über Arromanches hinweg auf das Meer blicken konnte, kam Wehmut bei ihr auf, so viele Erinnerungen hingen an diesem Ort. Von oberhalb der Stadt konnte sie westlich der Stadt bei La Bréche die Mole erkennen, an der sie damals vor dem Krieg mit Félix an Bord seines Kutters gegangen war. Obwohl sie es nicht wollte, stieg Hass auf die Nazis in ihr auf, deren Wahn sie gezwungen hatte, Menschen zu verlassen, denen sie sich für immer verbunden fühlte. Als Miller vor der Bar hielt, kam gerade Sarah an der Hand von Christine auf die Straße. Sarah machte einen glücklichen Eindruck und umarmte Hannah stürmisch. Nachdem sich Hannah befreit hatte, umarmte sie Christine, küsste sie auf die Wange und flüsterte, „Ima“. Christine streichelte Hannah über die Wangen. Hannah bat Sergeant Miller mit in die Bar zu kommen. Als er ausstieg, begrüßte Christine ihn mit Wangenküssen und meinte, Norman könne gut zu Nicole passen, wenn er nur nicht so schüchtern wäre. Sie musste über ihre eigene Bemerkung lachen und sagte dann, sie wäre mit Sarah unterwegs zum Bäcker, käme aber sofort wieder. Nicole und François bedienten gemeinsam an der Bar, Félix stand am Tresen.
„Ah, mein Decksmann hat heute Verstärkung mitgebracht! Wollt ihr beide bei mir anheuern? Ich habe bald wieder ein Boot.“
„Ich glaube nicht, dass Sergeant Miller zur Marine wechseln möchte, Félix. Du zahlst zu schlecht“, erwiderte Hannah und versetzte Félix einen Schlag vor die Brust.
„Also, es war ein ehrliches Angebot, nur für den Fall, dass die Armee euch nicht mehr will.“
„Wir wissen das zu schätzen, aber einen Offizier der British Army kannst du nicht zum Decksmann degradieren.“
Félix kratzte sich am Kopf, „Mhm, der Kapitän bin ich und weitere Offiziere benötigt mein kleiner Kutter nicht.“
„Ja dann! Da hast du keine Chance, mein Freund.“
Hannah wandte sich an Nicole, „du bist bereit? Wir fahren, sobald Christine und Sarah wieder zurück sind.“
„Ja Hannah, ich bin so weit.“ Nicole wirkte unsicher.
„Keine Angst, du kannst das, Nicole.“
Christine kam mit einigen Baguettes unter dem Arm in die Gaststube, Sarah hatte ein Croissant in der Hand, von dem sie herzhaft abbiss. Hannah war es eigentlich peinlich, dass Christine Sarah etwas gekauft hatte. Sie wusste, bei ihr wurde jeder Centime zweimal umgedreht und seit François das Arzthonorar für Nicoles Mutter ausgelegt hatte, war das Geld noch knapper. Christine sah Hannahs gekräuselte Stirn und schüttelte den Kopf, „Sarah ist unser Enkelkind und Großmütter verwöhnen ihre Enkel. Damit das klar ist“, Christine versuchte einen strengen Blick, der ihr misslang. „Ist schon gut, Ima“, antwortete Hannah besänftigend. Hannah erklärte sie müssten jetzt los, aber sie käme noch einmal vorbei, sobald sie ihr Gepäck im Hotel abgeholt hätte. Der Abschied zwischen Nicole und ihren Eltern verlief nicht ganz so schnell, wie Hannah sich es vorgestellt hatte und so bat sie nach einiger Zeit Sergeant Miller Nicoles Koffer in den Austin zu laden. Sie selbst nahm Nicole bei der Hand, „kommt, lass es jetzt gut sein, ihr seht euch doch Samstag schon wieder.“ Nicole umarmte François und Christine, nahm Sarah an die Hand, ging nach draußen und stieg in den Wagen. Christine und François schauten dem Austin hinterher, während er in Richtung Depot davon fuhr.
Als der Wagen in das Depot rollte, wurde es Nicole ziemlich mulmig. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Hannah wandte sich zu ihr um, „nur Mut, Nicole! Sag mir schnell noch deinen Familiennamen, es wäre doof, wenn ich dich erst danach fragen würde, wenn ich dich vorstelle.“ „Ich heiße Bodin.“ Hannah nickte, während Sergeant Miller vor der Verwaltung parkte. „Lass deinen Koffer noch im Auto, den nehmen wir mit, wenn du dein Zimmer gezeigt bekommst. Sarah, willst du bitte bei Sergeant Miller bleiben. Er kann dir die Feuerwehrautos zeigen. Ist das in für sie Ordnung, Mister Miller?“ „Ja sicher, Ma’am.“ Sie stiegen aus, Miller nahm Sarah bei der Hand und verschwand mit ihr in Richtung Feuerwache. Hannah ging mit Nicole in das Verwaltungsgebäude. Am Empfang fragte sie nach Captain McLoud, der Corporal telefonierte und brummte dann, Captain McLoud käme sofort und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Ein sportlich wirkender Captain kam die Treppe herunter, salutierte und fragte, „Colonel Schwarz?“ Hannah bejahte und stellte Nicole als Miss Bodin vor. Der Captain kam direkt zur Sache und bat die beiden Frauen nach oben in sein Büro, wo er ihnen Platz anbot.
„Miss Bodin, wir sind sehr in Verlegenheit, uns fehlen geeignete Übersetzer. Sie wurden uns von Colonel Schwarz empfohlen, wenn sie für uns arbeiten möchten, kann es sofort losgehen, vorausgesetzt, auch Colonel Schwarz hat nichts dagegen einzuwenden.“
„Warum sollte ich etwas dagegen haben, Captain McLoud? Nur zu.“
„Danke Ma’am, könnten sie noch einen Moment bleiben und Miss Bodin bei ihrem ersten Einsatz zur Seite stehen?“
„Das wird zwar nicht nötig sein, aber die Zeit nehme ich mir.“
„Dann folgen sie mir bitte. Bitte Miss Bodin, hier ist noch ein Wörterbuch, es werden einige Spezialausdrücke vorkommen, die sie wahrscheinlich nachschlagen müssen.“
„Danke, Captain McLoud.“
Captain McLoud ging voraus in eine Fahrzeughalle, wo zwei französische Zivilarbeiter auf Anweisungen warteten. McLoud gab seine Anweisungen auf Englisch, Nicole übersetzte zuerst stockend, wurde dann aber zusehends sicherer und übersetzte flüssig. Einmal suchte sie im Wörterbuch nach dem Begriff brake fluid reservoir. Als dann réservoir de liquide de frein über ihre Lippen kam, lächelte Hannah zufrieden. Einer der Arbeiter hatte eine Rückfrage, Nicole dolmetschte jetzt, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Die Offizierin nickte anerkennend, was Nicoles Sicherheit weiter erhöhte. Als sie zurück ins Büro des Captains kamen, schickte Hannah Nicole mit der Begründung nach unten, sie hätte noch etwas mit Captain McLoud zu besprechen.
„Eigentlich gelingt es mir, mich in Fällen wie diesem, auch ohne Dolmetscher verständlich zu machen, aber so ist es viel einfacher. Mein Französisch reicht nicht aus, das zu beurteilen, Ma’am, aber ich habe das Gefühl Miss Bodin ist ein großes Talent.“
„Ich bin selbst überrascht. Ich habe zwar schon mitbekommen, dass Miss Bodin neben ihrer Muttersprache fast ebenso gut Englisch spricht, sonst hätte ich sie ja nicht als Übersetzerin empfohlen. Aber sie haben jede Menge Begriffe verwendet, Captain, die sie eigentlich gar nicht kennen kann und sie hat trotzdem die passenden Worte gefunden.“
„Ich habe für Miss Bodin ein Zimmer im Kasernentrakt für unser weibliches Personal herrichten lassen. Ist das recht so, Ma‘am?“
„Ja sicher. Es ist mir auf jeden Fall lieber, als wenn sie außerhalb wohnen würde.“
„Begleiten sie uns noch zu ihrem Zimmer, Ma‘am?“
„Ja gerne, aber am besten sofort. Meine Fähre legt heute Abend in Cherbourg ab und ich habe vorher noch einiges zu erledigen, Mister McLoud.“
Als sie vor das Haus traten, spielte Nicole mit Sarah fangen, während Miller lässig an einen Jeep gelehnt rauchte. Er nahm Haltung an, als er die beiden Offiziere wahrnahm und salutierte. Sarah lief zu Hannah, „Mum, Mister Miller hat mir die Feuerwehrautos gezeigt und ich durfte mich auf den Fahrersitz setzten.“ Hannah strich ihr über das Haar. Captain McLoud erklärte Nicole, er würde ihr jetzt ihr Zimmer zeigen. Er ging voraus, Nicole nahm ihren Koffer aus dem Wagen und folgte ihm mit Hannah, die Sarah an der Hand hielt. Vom Zimmer war Nicole angetan und wollte sich gleich einrichten. Captain McLoud bremste sie.
„Miss Bodin, ich habe gleich noch ein Gespräch mit dem Bürgermeister von Carpiquet. Es wäre für mich äußerst hilfreich, wenn sie mich begleiten. Später werde ich eine der weiblichen Sergeanten bitten, sie mit den Räumlichkeiten vertraut zu machen und ihnen auch den Weg zum Kasino zu zeigen, damit sie bei uns nicht verhungern. Ist das in Ordnung für sie?“
„Ja, Captain McLoud.“
„Danke, Miss Bodin.“
Wieder am Austin angelangt versuchte Hannah Nicole noch einmal Mut zuzusprechen, sie gab ihr noch ihre Feldpostadresse, damit Nicole ihr berichten konnte, wie es ihr ging. Nicole hockte sich nieder, um sich von Sarah zu verabschieden. Beiden fiel es schwer, sich voneinander zu lösen. Zum Schluss hob Nicole das Mädchen hoch und setzte sie auf die hintere Sitzbank. Hannah und Nicole umarmten sich zum Abschied, Hannah gab Nicole noch einen Knuff und klopfte ihr aufmunternd auf den Arm. Von McLoud verabschiedete sie sich mit Handschlag, „und passen sie gut auf meine Schwester auf“, sagte die dabei. Captain McLoud salutierte und antwortete, „yes, Ma’am.“ Hannah wies Miller an, zurück nach Bayeux zu fahren und bat ihn, ihr beim Tragen des Gepäcks zu helfen. Danach fuhren sie nach Arromanches, wo Christine sie bereits ungeduldig erwartete. Da Hannah inzwischen wusste, dass Christine darauf bestehen würde, bat sie Miller mit herein. Christine und François blickten fragend zu Hannah, als sie zu dritt die Gaststube betraten.
„Es ist alles in Ordnung, Nicole ist bereits bei der Arbeit und sie kann wirklich mit Bravour dolmetschen.“
„Wird sie dort gut verpflegt?“ Fragte Christine für Hannah völlig unerwartet.
„Keine Sorge Ima, es gibt herzhafte Nahrung bei den Briten. Nicht zu vergleichen mit deinen Kochkünsten, aber du hast ja Samstag und Sonntag ausreichend Gelegenheit meine Schwester zu verwöhnen.“
Christine musste lachen, „fast habe ich bei mir den Eindruck, ich sorge mich um sie, als wäre sie wirklich mein Kind.“
„Sie ist auch so etwas Ähnliches, wie euer Kind. Wenn ihr sie diesen Verbrechern nicht entrissen hättet, wäre sie vielleicht tot oder zumindest wäre ihr Leben zerstört.“
„Nun mach einmal halblang“, mischte sich François ein.
„Nein, ich sage es, wie es ist und da Christine meine Ima ist, werde ich dich von jetzt an Aba nennen, denn auch ich wäre wahrscheinlich ohne eure Hilfe untergegangen. Und jetzt stelle ich eine Frage, die ich nur stellen darf, weil ich mich als eure Tochter fühle – Ima, was gibt es denn heute zu essen?“
„Es ist ein Huhn im Ofen. Ich weiß ja nicht, ob ihr in England vernünftig zu essen bekommt. Norman ist natürlich eingeladen.“
„Es gibt gebackenes Huhn, Norman, meine Ima lädt sie ein“, übersetzte Hannah.
„Danke, Ma’am.“
„Nein, nein, danken sie Christine.“
„Merci Christine“, stotterte Miller.
Nachdem François von der Bedienung am Tresen abgelöst worden war, versammelten sie sich noch einmal um den großen Küchentisch. Christine hatte alle Register ihrer Kochkunst gezogen. Sogar Jambon blanc reichte sie zur Vorspeise – selbstgemacht, wie sie betonte. Hannah übersetzte ab und an für Sergeant Miller, der sich mit dem Französisch schwertat. Christine bemühte sich um Norman, als hätte sie den Verdacht, dieser wäre kurz vor dem Verhungern. Sie sorgte dafür, dass er das größte Stück vom Huhn abbekam, und meinte dazu, „iss Norman, du bist so dünn.“ Nachdem Hannah das übersetzt hatte, brachen alle in fröhliches Lachen aus. Immer wieder bot Christine dem Sergeant Brot an, bis dieser wohl nichts mehr essen konnte und dankend ablehnte. „Du musst aber noch ein Dessert essen, Norman“, war die prompte Antwort von Christine. Sergeant Miller hatte den Satz verstanden und antwortete mit einem gestöhnten, „oh!“
Der Abschied ging ihnen nahe, Hannah versprach zu schreiben, damit Christine und François auf dem Laufenden blieben. François nahm Sarah auf den Arm, die ihn zärtlich Grandpa nannte. Christine nahm Hannah noch einen Moment zur Seite, „wenn alles so geschieht, wie ich es erhoffe, werdet ihr eine Familie sein, wenn wir uns wiedersehen.“
„Wir werden uns wiedersehen, Ima. Ob wir wirklich zu einer Familie zusammenfinden, liegt nicht in unserer Hand. Ich hoffe darauf.“
„Ich werde dafür beten.“
„Tu das Ima, ich kann nicht mehr beten, seit sie mein Volk ermordet haben. Ich habe auch vorher nicht oft gebetet, nur an dem Tag, als ich mich von Hans trennen musste, betete ich in der Hoffnung, es würde Hans schützen.“
Noch in der Gaststube umarmten sich die beiden Frauen und gingen danach nach draußen. Vor der Tür umarmte Hannah François, nannte ihn jetzt Aba und versprach bald wiederzukommen. Sarah konnte sich nur schwer trennen, setzte sich aber, nachdem Hannah sie aufgefordert hatte, ohne Murren auf die hintere Sitzbank. Hannah winkte durch das geöffnete Fenster, bis Miller den Wagen um die nächste Ecke lenkte.
Sobald Hannah in London wieder ihren Dienst aufgenommen hatte, machte sie sich Gedanken darüber, wie sie die nötigen Schritte in Angriff nehmen könnte, um im dienstlichen Auftrag nach Deutschland zu gelangen. Sie wollte aber zuerst abwarten, ob und wie Hans auf ihren Brief reagieren würde. Nur nicht die Pferde scheu machen, sagte sie sich immer dann, wenn ihre Ungeduld sie zu überwältigen drohte. Oft erwischte sie sich dabei, wie ihre liebenden Gedanken zu Hans wanderten. Jeden Morgen, wenn sie zum Dienst kam, schaute sie voll ungeduldiger Spannung in ihr Postfach. Mit neuen jedem Tag wuchs ihre Ungeduld, aber sie versuchte das zu überspielen, indem sie sich in ihrer freien Zeit intensiver als sonst um Sarah kümmerte. Nach über zwei Wochen, als Hannah ihre Unruhe kaum noch bändigen konnte und Mühe hatte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, lag morgens ein Brief aus Deutschland im Postfach. Ohne sich um den weiteren Inhalt des Postfachs zu kümmern, ging Hannah in ihr Büro. Mit zitternden Händen öffnete sie das Kuvert und entfaltete den Brief. Sie stellte sich an das Fenster, um den Brief zu lesen.
Liebe Hannah,
warum zweifelst Du? Wenn es Dir irgend möglich ist, komme, so schnell es geht, ich verzehre mich nach Dir. Ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass wir uns wiederfinden. Ich bin Deutscher und von daher ist mir vieles verwehrt, was nötig gewesen wäre, nach Dir zu suchen. Das einzige, was ich machen konnte, war eine Suchanfrage beim Roten Kreuz zu stellen. Die aber suchen bei vermissten Frauen wohl eher nicht in der Britischen Armee.
Welches Glück, dass Du in die Normandie gekommen bist, denn Christine und François sind bis auf Florence meine einzigen Bekannten in Frankreich, zu denen ich Kontakt halten kann. Was Du mir über diese Nicole berichtest, erfüllt mich mit Schrecken, aber unsere Freunde sind unschlagbar, wenn es gilt Hilfe zu leisten. Bitte berichte mir mehr darüber, was mit dieser jungen Frau passiert ist. Du hast wahrscheinlich recht, Menschen haben nicht nur gute Seiten und man muss nicht zwingend Nazi sein, um Verbrechen zu begehen.
Mir selbst geht es recht gut, das Ende des Naziregimes brachte mich wieder in meinen Beruf zurück. Ich habe eine Lehrerstelle an einem Gymnasium gefunden und da ich wohl einer der wenigen bin, die vernünftig Französisch sprechen, unterrichte ich jetzt, neben Deutsch und Englisch, auch Französisch. Meine Wohnsituation hat sich nur wenig geändert, wieder wohne ich in einem möblierten Zimmer, nur die Aussicht ist eine andere, aus dem Fenster blicke ich auf ein Ruinenfeld. Ich weiß jetzt nicht, ob es eine gute Idee von Dir ist, zurück nach Deutschland zu kommen, es herrscht Not und Verzweiflung. Und bedenke eins, sie haben Dein Volk ermordet und die Mörder sind unter uns.
Trotzdem bitte ich Dich bald zu kommen, denn ich kann nicht zu Dir kommen. So bleibt, wenn wir eine gemeinsame Zukunft haben wollen, nur die Möglichkeit, dass Du nach Deutschland kommst. Wo immer wir zusammenleben, in uns wohnt die Kraft, aus unserer Liebe eine gemeinsame Zukunft zu schmieden.
Ich liebe und ich küsse Dich
Dein Hans
Hannah stiegen Tränen in die Augen, ihre Liebe wurde erwidert, es blieb aber noch die Unruhe, wie Hans auf Sarah reagieren würde. Sie war froh, jetzt endlich die Gewissheit zu haben, dass ihre Liebe lebte. Kurz entschlossen ging sie zum Sekretariat des Generalarztes und bat um einen Termin in einer dringenden privaten Angelegenheit. Sie erfuhr, dass der Generalarzt erst am Montag der kommenden Woche wieder im Büro zurückerwartet würde. Ihre aufgewühlten Gefühle konnte das nicht beruhigen, da sie einen guten Draht zum Generalarzt hatte, hoffte sie, dass dieser sie baldmöglichst zu sich bestellen würde. Sie ging noch einmal zu ihrem Postfach, um die restliche Post zu entnehmen. Erst bei der Durchsicht fiel ihr auf, dass auch ein Brief von Nicole angekommen war. Hannah legte diesen Brief beiseite und sortierte die dienstlichen Mitteilungen, es war nichts wirklich Wichtiges dabei. So nahm sich sie den Brief von Nicole zur Hand. Bereits die Grußformel Liebe Schwester erfüllte sie mit Freude. Sie las weiter…
Ich möchte Dir meinen Dank ausdrücken, für alles, was Du für Christine, François und mich getan hast. Ich möchte Dich ununterbrochen umarmen, aber das ist sicher nicht das, was Dich wirklich interessiert. Die Arbeit, die Du mir besorgt hast, ist ein großes Glück für mich. Alle sind nett zu mir und ich habe sehr viel zu tun. Sehr vieles ist Schreibarbeit, das heißt ich übersetze Briefe und Mitteilungen. Das ist einfach, denn ich kann in aller Ruhe mit dem Wörterbuch arbeiten, wenn ich etwas nicht auf Anhieb übersetzten kann. Wörterbücher für etliche Fachgebiete gibt es hier, wie soll ich sonst auch Begriffe wie „la chaude-pisse“ übersetzen, der einmal in einem Schreiben des Bürgermeisteramts von Caen auftauchte. Ich habe in der Übersetzung aber Gonorrhoe verwendet, es soll schließlich niemand meinen, die Menschen der Normandie seien ungebildet. Ich finde es ungewöhnlich, dass ein Bürgermeisteramt in amtlichen Schreiben umgangssprachliche Begriffe dieser Art verwendet. Dolmetschen finde ich weitaus spannender, Captain McLoud zieht mich oft hinzu, wenn er mit Franzosen zu tun hat. Einmal durfte ich bei der Besprechung zweier Generäle dolmetschen. Ich bin stolz, Dir durch meinen Einsatz meine Dankbarkeit ausdrücken zu können.
Am schönsten ist es aber für mich, wenn mich der Fahrdienst am Samstagnachmittag nach Arromanches bringt. Ich fühle mich nirgendwo so wohl, wie bei meinen neuen Eltern. Wenn das Essen hier im Depot auch gar nicht schlecht ist, wenn Maman kocht, ist das unvergleichlich. Ich denke zu Hause immer viel an Dich und an Sarah. Es war eine wirklich schöne Zeit, als Du bei uns warst, hoffentlich können wir uns bald wiedersehen.
Hast Du inzwischen Nachricht von Deinem Hans? Es wäre zu schön, wenn es gut mit Euch ausgehen würde. Ich hoffe!
Ich habe Dich jetzt auf den neuesten Stand gebracht, was mich und meine Lieben betrifft. Liebe Hannah, kannst Du nicht noch einmal auf meine Eltern einwirken, damit sie das Geld für die Behandlung meiner Mutter annehmen. Ich fühle mich verpflichtet diese Kosten zu tragen, denn ich verdiene jetzt mehr, als die beiden mit ihrer Bar. Ich bezweifle zwar, dass Du mehr Erfolg hast, als ich, aber jeden Versuch meinerseits blocken sie ab. Am ersten Sonntag daheim habe ich heimlich Geld in die Kasse gelegt, aber als ich am folgenden Samstag kam, hat Maman gesagt, sie hätte das Geld zu dem Lohn gelegt, den ich von Dir erhalten habe und ich solle solchen Blödsinn in Zukunft unterlassen. Richtig böse war sie.
Liebe Grüße sendet Dir und Sarah
Nicole
Hannah war gerührt, sie hatte jetzt zwei Briefe zu beantworten. Nicoles Anliegen, ihre Eltern in ihrem Sinne zu beeinflussen, hielt sie für aussichtslos, zumal das in einem Brief nur schwer darzustellen war. Abends las sie Sarah Auszüge aus Nicoles Brief vor. Das Kind sagte, sie wolle auch an Nicole einen Brief schreiben. Hannah erfreute das und sie bestärkte Sarah in diesem Plan. Den zweiten Brief hielt sie für sich. Nachdem sie ihre Tochter zu Bett gebracht hatte, las sie noch einmal den Brief von Hans, dann beschoss sie diesen erst nach dem Gespräch mit dem Generalarzt zu beantworten. So schrieb sie noch an diesem Abend einen ausführlichen Brief an Nicole, in dem sie ihre Freude über ihre Erfolge als Übersetzerin ausdrückte. Für die Übernahme der Arztkosten machte sie Nicole wenig bis gar keine Hoffnung, sie kannte schließlich Nicoles Eltern zu gut. Diese hatten ihre Grundsätze, die sie hochhielten. Sie ließ den Brief noch liegen und wollte mit dem Absenden warten, bis Sarah auch geschrieben hatte. Das geschah bereits am folgenden Tag. Sarah fragte, ob sie den Brief vorlesen solle. „Nur, wenn du es möchtest, mein Schatz. Briefe sind ein Geheimnis zwischen dem Schreibenden und dem Empfänger und ein Geheimnis teilt man nur freiwillig mit jemand anderem.“ „Ich möchte den Brief vorlesen.“ „Dann bitte, mein Schatz.“
Liebe Nicole,
es ist schade, dass Du nicht bei mir bist. Statt im Depot zu arbeiten hättest Du mit zu uns nach London kommen sollen. Du hättest hier weiter als meine Nanny arbeiten können. Aber Mum hat mir vorgelesen, dass Du jetzt eine richtige Dolmetscherin bist. Das ist sicher auch wichtig und Du wirst eines Tages sehr reich sein. Dann kannst Du Granny und Grandpa Geld geben, damit sie nicht mehr arbeiten müssen, denn sie sind schon ziemlich alt. Wenn ich groß bin, braucht meine Mum auch nicht mehr zu arbeiten. Ich will Taxifahrerin werden, da verdient man auch viel Geld und darf den ganzen Tag mit dem Auto fahren.
Liebe Grüße und Küsse
Sarah
Hannah war amüsiert, nickte aber beifällig und fragte, ob sie die beiden Briefe in das gleiche Kuvert stecken solle, womit Sarah war einverstanden war. Mit dem fertig adressierten und frankierten Brief gingen sie gemeinsam zum Briefkasten. Hannah hob ihre Tochter hoch, damit die Kleine das Schreiben in den Schlitz stecken konnte. Der Rest der Woche zog sich in Erwartung des Generalarztes bleiern dahin. Am Sonntag war die Anspannung fast unerträglich. Da es gerade einmal nicht regnete, ging Hannah mit Sarah in den Hyde Park. Zur Feier des Tages spendierte sie eine Ruderpartie über den Serpentine Lake und veranstaltete anschließend ein improvisiertes Picknick mit ihrer Tochter. Sie hoffte wieder, dass sie in der Zukunft solche Tage gemeinsam mit Sarahs Vater verbringen könnten. Der Montag verlief ereignislos bis zum am Nachmittag, als Hannah die Mitteilung erhielt, dass der Generalarzt sie am Dienstag um zehn Uhr erwarten würde. Sie war erleichtert. Überpünktlich am Morgen erschien Hannah im Sekretariat des Generals, wie der Generalarzt kurz genannt wurde. Sie musste nur einige Minuten warten, dann erschien der Adjutant des Generals und bat sie in das Büro. Hannah blieb unter der Tür stehen und salutierte.
„Treten sie näher und setzen sie sich Colonel Schwarz.“
„Danke, Sir“, antworte Hannah. Sie setzte sich, nachdem der General hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.
„Was kann ich für sie tun, Colonel?“
„Ich habe ein persönliches Problem, dass mir zu schaffen macht, Sir.“
„Wir sind allein, Hannah. Lassen wir die Förmlichkeiten.“
„Danke, Peter.“
„Dann schießen sie los!“
„Es ist so Peter, ich schlage mich mit dem Gedanken meinen Abschied zu nehmen und zurück nach Deutschland zu gehen.“
„Hannah! Das ist doch nicht ihr Ernst? All ihre Leute wurden von den Deutschen ermordet. Sie kämen in ein total zerstörtes Land und wären gezwungen, mit den Mördern zusammenzuleben. Denken sie doch an ihre Sarah. Hannah, es dürfte ihnen nicht unbekannt sein, dass sie kurz vor ihrer Beförderung zum Brigadier stehen, ihre Karriere endet damit sicher nicht. Wahrscheinlich werden sie in einigen Jahren der erste weibliche Generalarzt seiner Majestät sein.“
„Ich weiß das alles, Peter. Deshalb bitte ich sie um ihren Rat. Sarah ist einer der Gründe, weshalb ich zurückmuss.“
„Das verstehe ich jetzt nicht. Welchen Vorteil hätte Sarah davon, gemeinsam mit den Mördern ihrer Ahnen in einer Trümmerwüste zu leben?“
„Ich muss etwas weiter ausholen, Peter. Es geht um Sarahs Vater. Ich bin ihm zu tiefstem Dank verpflichtet, er hat meine Rettung organisiert – und ich liebe ihn. Außerdem bin ich verpflichtet dafür Sorge zu tragen, dass Sarah weiß, wer ihr Vater ist.“
„Wo lebt dieser Mann, Hannah?“
„In Düsseldorf und wenn es eine Möglichkeit gäbe dorthin zu kommen, ohne vorher meinen Abschied zu nehmen, wäre es einfacher für mich, mir ein Bild vor Ort zu machen.“
Der Generalarzt schüttelte den Kopf, „ich halte das für sehr unvernünftig, was sie da vorhaben. Wenn ich richtig informiert bin, gibt es in Düsseldorf einen Militärflughafen und einen Stützpunkt der British Army. Ich bin trotz meiner Vorbehalte bereit, mich für sie umzuhören. Hannah, ist das mit Sarahs Vater vielleicht nicht nur eine Träumerei? Wann haben sie ihn zuletzt gesehen? Bevor sie nach England kamen? Menschen ändern sich, vielleicht liebt er sie nicht mehr.“
„Das kann ich nur in Düsseldorf herausfinden. Er hat mir geschrieben, dass er mich immer noch liebt. Bitte helfen sie mir, Peter.“
„Sie wissen, dass ich sie sehr schätze. Ich werde mich für sie verwenden, auch wenn ich weiß, dass es für ihre Karriere nicht förderlich ist, sich in die Besatzungszone versetzen zu lassen. Ich denke lieber darüber nach, ob sich vielleicht eine Dienstreise organisieren lässt.“ Der Adjutant klopfte an die Tür, der Generalarzt rief „herein“ und fuhr im dienstlichen Ton fort. „Colonel Schwarz, sie sind eine erwachsene Frau, sie müssen wissen, was sie tun.“ Er winkte den Adjutanten zu sich heran, warf einen kurzen Blick auf ein Dokument, das er dann unterzeichnete und mit der Bemerkung, „bitte keine weitere Störung, solange Colonel Schwarz bei mir ist“, an den Adjutanten zurückreichte.
„Yes, Sir“, antworte dieser und verließ den Raum.
„Hannah, ich hoffe für sie und Sarah führt dieser Schritt zu dem Glück, dass sie sich erhoffen. Wir alle träumen diesen Traum, aber nur wenigen gelingt es ihn zu leben. Ich gebe ihnen Bescheid, wenn ich mehr weiß.“ Der Generalarzt erhob sich und reichte Hannah die Hand zum Abschied. Er brachte sie bis zur Tür, was Hannah als besondere Ehre empfand.
„Danke, Sir“, sagte Hannah und salutierte, als sie in unter der Tür stand, die der Generalarzt ihr öffnete.
Am Abend ging Hannah mit Sarah an der Hand noch ein wenig spazierten. Sie war guter Dinge und als sie auf die Tower Bridge kamen, erlaubte sie es Sarah in die Themse zu spucken. Hannah erinnerte sich an die Zeit, als sie im Alter ihrer Tochter war. Wenn sie mit ihrem Vater über den Eisernen Steg ging, erlaube es dieser ihr auch immer, einmal in den Main zu spucken. Wenn ihre Mutter dabei war, reagierte diese immer ärgerlich auf das Spucken und machte ihrem Mann Vorhaltungen, weil sie seine Erziehungsmethoden für inkonsequent hielt. Hannah erinnerte sich daran, dass ihr Vater dann immer ein schuldbewusstes Gesicht aufsetzte, um seine Frau zu beruhigen, er änderte aber nichts an seinem Verhalten und wenn er allein mit Hannah auf der Brücke stand, spuckte er auch schon einmal ins Wasser. Bei diesen Gelegenheiten guckte er sich immer vor dem Spucken um, um sich zu vergewissern, dass niemand ihn beobachtete. Hannah tat es jetzt genau so, sie blickte sich um und als sie sicher war, dass niemand Notiz von ihr nahm, spuckte auch sie in die Themse. Später fuhren sie mit dem Omnibus zurück nach Hause, auf Sarahs Wunsch saßen sie auf dem Oberdeck des Omnibusses. Während der Fahrt dachte Hannah über das Gespräch mit Peter nach, er hatte ihr bereits mehrmals geholfen, seit sie in den Sanitätsdienst eingetreten war und sie hoffte, er könne auch diesmal etwas für sie tun. Wenn alles nichts half, würde sie hier in London um ihren Abschied bitten und auf eigene Faust nach Düsseldorf reisen. Sie hatte sich informiert und wusste, die Reise wäre für eine Zivilperson mit Kind mühsam und wo sie in einer weitgehend zerstörten Stadt unterkommen konnte, war fraglich. So hoffe sie auf Peters Geschick. Nachdem sie Sarah zu Bett gebracht hatte, nahm sie sich den Brief von Hans zur Hand, setzte sich an den Tisch und schrieb eine Antwort.
Lieber Hans,
ich habe eine unstillbare Sehnsucht in mir, wieder in meinem Land zu leben. Deine Worte zu meinen Rückkehrwünschen werde ich in meine Entscheidung einfließen lassen. Nicht alle Deutschen waren Mörder und Du bist meine Liebe. Ich muss also nach Düsseldorf kommen, da ich Dich liebe und diese Liebe mit Dir leben will. Wir können die Welt nicht nach unseren eigenen Wünschen formen, ebenso wenig, wie wir unser Leben vorhersehen können. Nach all dem Schlimmen, was über uns gekommen ist, müssen wir weiterleben und versuchen den kommenden Generationen eine bessere Welt zu übergeben, als die, die wir hatten und haben.
Ich habe das Glück, mit dem Generalarzt unseres Korps gut bekannt zu sein. Er hat mir zugesagt, sich für mich zu verwenden, damit ich in die Britische Zone versetzt werde. Sollte daraus wider Erwarten nichts werden, werde ich meinen Abschied nehmen und auf eigene Faust nach Düsseldorf reisen, denn ich muss Dich sehen und fühlen. Ich habe mich bereits informiert, denn private Reisen sind immer noch schwierig zu organisieren und wie ich festgestellt habe, ist Deine Heimatstadt weitgehend zerstört. Da würde mir in dem Fall, dass ich als Privatperson reisen müsste, wohl nichts anderes übrigbleiben, als wieder in Deinem Zimmer Unterschlupf zu suchen.
Lieber Hans, nimm es mir nicht übel, aber genau das möchte ich nicht. Ich möchte, dass wir uns ohne irgendeine Verpflichtung frei für – oder gegeneinander entscheiden. Was auch immer kommen mag, wir werden einen Weg finden. Im Moment sind wir zum Warten verurteilt, denn ich will und kann den Generalarzt nicht drängen. Ich vermute aber, er wird nur einige Tage benötigen, um einen Weg zu finden, der mich zu Dir bringt.
Es wird mir zumindest anfangs schwerfallen, mit Dir über das zu sprechen, was Du während der Nazizeit für Menschen wie mich vollbracht hast, darum sage ich Dir jetzt, dass Du eines Tages von den Überlebenden meines Volkes verehrt werden wirst. Du weißt, ich bin kein gläubiger Mensch, aber die heilige Thora und der Talmud bedeuten mir sehr viel. Im Talmud steht geschrieben, wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam die ganze Welt gerettet; und Du hast viele Leben gerettet. Ich möchte, dass das in unseren ersten Gesprächen keine Rolle zwischen uns spielt, denn ich befürchte, es ist schwer Seite an Seite mit einem Helden zu leben. Wir werden später darüber sprechen, denn ich möchte alles von Dir wissen.
Alles, was die arme Nicole betrifft, werde ich Dir erzählen. Es so furchtbar, dass ich nicht in der Lage bin, es zu Papier zu bringen. Nur so viel, François ist mit der Waffe im Anschlag gegen ihre Peiniger vorgegangen. Für heute muss es genug sein, was ich schreibe, denn der Tag war lang und morgen muss ich wieder früh aus den Federn.
Ich küsse und umarme Dich
Hannah
Hannah schaute nach Sarah, diese schlief ruhig und fest. So ging Hannah noch zum Briefkasten und warf ihren Brief ein.
Einige Tage später kam Hannah ins Kasino und sah dort den Generalarzt gemeinsam mit einem General der Army und einem Air Vice Marshal sitzen. Das war ungewöhnlich, da der Generalarzt nur sehr selten ins Kasino kam. Hannah machte sich aber keine weiteren Gedanken darüber und setzte sich zu einigen Kollegen. Sie sprachen über die Pläne für das bevorstehende Wochenende. Ein Kollege, der seit langem ein Auge auf Hannah geworfen hatte, versuchte diese zu einem Picknick zu überreden, als sie sich vom Tisch erhoben. Es handelte sich um einen netten jüngeren Colonel, der sie schon mehrmals eingeladen hatte. Hannah hatte immer freundlich, aber bestimmt abgelehnt. Sie wollte jetzt keine weiteren Ausflüchte mehr machen und somit die Fronten endgültig zu klären.
„Jonny, das geht nicht. Ich müsste Sarah mitbringen.“
„Oh, das ist für mich kein Hinderungsgrund. Bring deine Tochter gerne mit, ich mag Kinder.“
„Jonny, du willst mich nicht verstehen. Ich bin nicht die Jungfrau Maria, Sarah ist nicht durch übernatürliche Befruchtung entstanden. Zu Sarah gehört ein Vater und ich liebe Sarahs Vater, wenn wir uns auch lange nicht gesehen haben.“
„Entschuldigung Hannah, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich finde dich einfach nur nett. Bleiben wir Freunde?“
„Ein wirklich schönes Kompliment, Jonny. Es ist eine dumme Frage, ich bin froh, Freunde wie dich zu haben.“
Der Generalarzt sah Hannah, stand auf und kam direkt auf die beiden zu. Beide nahmen Haltung an und salutierten. „Mister Baker, darf ich ihnen Colonel Schwarz für einen Moment entführen?“
„Yes, Sir! Wir waren gerade dabei uns zu verabschieden“, antworte Jonny, nickte Hannah zu und ging.
Der General wurde dienstlich, „Miss Schwarz, ich habe eine erfreuliche Nachricht für sie. Sie wurden mit Wirkung von heute zum Brigadier befördert.“
Hannah reagierte überrascht, „danke, Sir.“
„Ich bitte sie heute Abend zum Diner zu uns nach Hause. Dort können wir alles Weitere besprechen. Sie wissen, meine Frau kocht hervorragend – und koscher. Wenn sie niemand haben, der nach Sarah schaut, bringen sie Sarah gerne mit.“
„Ich komme gerne, Sir. Für Sarah habe ich eine Nachbarin, die nach ihr schaut.“
„Gut, Brigadier Schwarz. Meine Frau und ich freuen uns auf ihren Besuch. Ich lasse sie mit dem Wagen abholen.“ Bevor Hannah widersprechen konnte, drehte sich der Generalarzt um und ging zu seinem Platz zurück.
Als Hannah das Kasino verließ, wartete Jonny auf sie. „Bin ich arg neugierig? Du siehst ziemlich blass aus. Was hatte denn der General so wichtiges?“
Hannah lachte, „du erfährst es sowieso, ob neugierig oder nicht. Ich bin zum Brigadier befördert worden.“
Unwillkürlich nahm Jonny Haltung an, „mein Glückwunsch, Ma’am.“
„Danke Jonny, aber lass den Quatsch, wir sprechen hier privat, da ist Ma’am nicht angebracht.“
„Ja doch, Hannah! Aber im Moment hast du noch nicht die neuen Schulterklappen, da brauche ich auch ja gar nicht wissen, dass du jetzt Brigadier bist.“ Beide lachten.
Am Abend brachte Hannah Sarah zu Bett, las ihr wie üblich vor und übergab dann der Nachbarin die Aufsicht über Sarah. Der Wagen des Generalarztes wartete bereits vor der Tür, als Hannah vor das Haus trat. Sowie Hannah unter der Tür stand, sprang der Chauffeur aus dem Wagen, riss für Hannah den Schlag auf und salutierte, obwohl Hannah in Zivil war. Bevor Hannah sich auf den Sitz gleiten ließ, sagte der Fahrer, „meine herzlichsten Glückwünsche zur Beförderung, Ma’am.“ „Danke Mister Brown“, antwortete Hannah und schenkte ihm ein Lächeln. Der Wagen des Generalarztes war eine komfortable Limousine und Hannah genoss es gemütlich im Fond des Wagens sitzend durch das abendliche London chauffiert zu werden. Als der Wagen vor dem Portal des Hauses zum Stehen kam, sprang Brown wieder aus dem Wagen und öffnete Hannah den Schlag. Ihr ging der Gedanke durch den Kopf, sie könne sich vielleicht an diesen Komfort gewöhnen. Da es inzwischen regnete, hielt Brown einen Regenschirm schützend über Hannah und begleitete sie zur Eingangstür, unter der ein in ein schwarzes Kleid mit weißer Schürze gekleidetes Dienstmädchen erschien. Das Mädchen machte einen Knicks vor Hannah und half ihr, nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, aus ihrem leichten Mantel. „Die gnädige Frau kommt sofort und bittet sie, es sich derweil im Salon bequem zu machen. Wünschen sie eine Erfrischung, Madam?“, sagte das Mädchen, während es die Tür zum Salon öffnete. Hannah verneinte dankend und ließ sich in einem der tiefen Sessel nieder. So gut sie sich auch mit Rachel, der Frau des Generalarztes verstand, in dieser Welt fremdelte sie. Hannah war mit Rachel gut bekannt. Sie war eine bekannte Vertreterin der Jüdischen Gemeinde und obwohl mit einem Christen verheiratet, glühende Zionistin. Mit Rücksicht auf ihren Mann hielt sie sich mit ihren Ansichten meist vornehm zurück. In ihrem vertrauten Kreis hingegen kritisierte sie die britische Politik im Mandatsgebiet Palästina äußerst scharf. Dem General war durchaus bewusst, wie seine Frau dachte, er überging das aber mit eisernem Schweigen. Auch wenn Hannah der Zionismus fremd war, ging sie gerne mit persönlichen Sorgen zu Rachel.
„Hannah, hat man dir keine Erfrischung angeboten?!“, rief Rachel, als sie den Raum betrat.
„Doch, doch Rachel. Ich habe abgelehnt.“
„Dann lass dich ansehen, so sieht also ein weiblicher Brigadier aus. Mein Glückwunsch, du hast es dir hart erarbeitet.“ Rachel drückte Hannah an sich.
„Das war reines Glück, Rachel. Ich tue nur meine Pflicht.“
„Papperlapapp, nur wenige besitzen deine Beständigkeit und dein Durchsetzungsvermögen, wenn ich dich nur von unserer Sache überzeugen könnte! Menschen wie dich braucht der zukünftige Judenstaat.“
„Mich kriegst du nicht rum, Rachel. Ich bin Deutsche, ich bleibe Deutsche und ich möchte zurück nach Deutschland.“
In diesen Moment betrat Peter den Raum, „Ah, meine beiden Lieblingsfrauen sind beim Thema. Da mische ich mich nicht ein, sonst verderbe ich es mir mit beiden. Guten Abend Hannah. Vom Schock erholt?“
„Ja Peter, damit habe ich jetzt nicht gerechnet.“
„Ja, es ging etwas schneller, als ich gedacht habe. Dabei kommt ihre Beförderung, dem, was ich ihnen vorzuschlagen habe, sehr entgegen. Wir besprechen das nach dem Diner oder haben wir noch Zeit Rachel?“
„Wenn euch eine halbe Stunde reicht? Ich muss sowieso in die Küche. Hannah braucht endlich wieder einmal ein koscheres Essen. Es gibt geschmorten Fisch.“
Peter verdrehte gespielt die Augen, „ich habe es geahnt, Fisch! Kommen sie bitte mit, Hannah, wir gehen in mein Arbeitszimmer.“
Hannah hatte erwartet, der General würde sich hinter seinen Schreibtisch begeben, aber er bat sie an den Rauchertisch. „Hannah, ich verliere sie ungern, aber ich vermute, ich kann das nicht verhindern. Deshalb bitte ich sie nach meinen Vorschlägen zu verfahren, dann werden zumindest keine Türen zugeschlagen, sollte es anders kommen, als sie es sich erhoffen. Werden sie meine Vorschläge überdenken?“
„Ja sicher, Peter. Es war noch nie ein Fehler, wenn ich ihren Ratschlägen folgte.“
„Es ist so Hannah, sie haben jetzt den höchsten Rang innerhalb des Offizierskorps erreicht, noch ein paar Jahre und sie erreichen den Rang eines Major Generals, also in ihrem Fall eines Generalarztes. Nur für den Fall, dass es anders kommt, als sie es wünschen, werde ich ihnen alle Türen offen halten. Ich werde ihnen mit ihrem Einverständnis den Befehl erteilen, das kleine Lazarett in Düsseldorf zu inspizieren, damit sie sich dort ein Bild vom ihrem Verhältnis zum Vater von Sarah machen können. Einverstanden?“
„Ja Peter. Ich muss nur einen Platz finden, an dem Sarah bleiben kann. Ich will sie auf keinen Fall in Düsseldorf dabei haben.“
„Das verstehe ich, haben sie eine Idee?“
Hannah zuckte mit den Schultern, „in der Normandie leben Menschen, die Sarah als ihre Großeltern betrachtet und ihre Tochter spricht fließend Englisch. Sie ist ein Sprachgenie und arbeitet als Übersetzerin im Depot von Caen. Glauben sie Peter, dass ich meine Kompetenz als Brigadier überschreite, wenn ich sie für die Zeit beurlaube, in der ich in Düsseldorf bin.“
„Das ließe sich regeln, sie fliegen nach Caen und bringen Sarah bei den Großeltern unter. Sie können die Übersetzerin ohne Überschreitung ihrer Kompetenz beurlauben, ich werde den Kameraden in Caen einen Tipp geben, damit die Überraschung nicht zu groß ist. Danach fliegen sie von dort aus weiter nach Düsseldorf. Sie inspizieren vorher das Lazarett in Caen. Das erspart es mir selbst nach Caen zu fliegen. Nach der Inspektion in Düsseldorf sprechen wir noch einmal über alles, wenn es dann immer noch ihr Wunsch ist zurück nach Deutschland zu gehen, werde ich sie nach Mönchen-Gladbach versetzen, dort wird das Hauptquartier der Rheinarmee aufgebaut. Sie würden dort für den Aufbau des Lazaretts verantwortlich sein.“
„Danke Peter, das ist sehr großzügig von ihnen.“
„Nein, es ist mein Versuch, sie so lange wie möglich beim Sanitätskorps zu halten. Ich brauche Menschen wie sie – mit Visionen.“
„Sie sind mir nicht böse, wenn ich nach meiner Versetzung meinen Abschied einreiche?“
„Nein Hannah, bitte halten sie eine gewisse Karenzzeit ein, über deren Länge sprechen wir später. Wird ihre Liebe damit einverstanden sein?“
„Ich weiß es nicht, wir werden sehen.“
„Gut, kommen sie Hannah, wir haben uns ein Getränk verdient. Whisky?“
„Gerne Peter.“
Peter ging voraus in den Salon und Hannah folgte ihm. Als sie an der Küche vorbeikamen, hielten sie kurz an, „auch einen Schluck Whisky, Schatz?“ „Gerne, Peter. Geht voraus, ich komme sofort.“ Im Salon füllte Peter drei Gläser mit Whisky. Er reichte Hannah das Sodawasser und sie goss einen großen Schluck davon in ihr Glas. Peter füllte auch für Rachel das Glas mit Sodawasser auf. Die Drei tranken gemeinsam ihren Whisky, danach bat Rachel ins Esszimmer. Wie immer, wenn Hannah bei Rachel und Peter zum Essen geladen war, war es für sie ungewohnt, dass dienstbare Geister um den Tisch herum standen. Das Mädchen, das die Tür geöffnet hatte, servierte die Speisen, ein uniformierter Diener reichte die Getränke. Rachel und Peter benahmen sich so, als wären sie mit Hannah allein im Zimmer. Sie sprachen völlig unbefangen über private Dinge, auch Hannah gewöhnte sich, wie schon bei vorherigen Gelegenheiten, schnell daran und tat so, als wäre das Personal abwesend. Nach dem Essen wurde Hannah noch einmal in den Salon gebeten. Erst jetzt machte Peter Rachel in großen Zügen mit dem Inhalt des Gesprächs vertraut, das er mit Hannah geführt hatte. Rachel nickte zustimmend, meinte dann aber, „warum schickst du sie nicht nach Palästina, da wird sie dringender gebraucht.“ Peter lachte, „Hannah ist keine Zionistin, ich bedaure.“ Der Rest des Abends verlief im lockeren Gespräch. Es war schon spät, als Hannah bat, gehen zu dürfen. Sie wurde von den beiden Gastgebern zur Tür begleitet. Peter ließ es sich nicht nehmen, dem Mädchen den Mantel abzunehmen und Hannah selbst in den Mantel zu helfen. Rachel umarmte Hannah spontan, während Peter den Wagen kommen ließ. Vor der Tür wurde Peter wieder dienstlich. „Brown, sie bringen Brigadier Schwarz bis zur Haustür“, ordnete der General an und fügte dann noch scherzhaft hinzu, „wir wollen ja nicht, dass unser neuester Brigadier zu Schaden kommt.“ „Yes, Sir“, antwortete Brown zackig. Hannah war das peinlich, sie sagte aber nichts. „Wir sprechen uns morgen um zehn, Brigadier. Wir müssen noch näheres zu ihrer Reise besprechen.“ „Yes, Sir“, Hannah deutete, obwohl in zivil, einen militärischen Gruß an.
Am Morgen war Hannah gewohnt pünktlich im Büro. An ihrem ersten Arbeitstag im Rang eines Brigadiers, musste sie sich zuerst daran gewöhnen, dass im dienstlichen Umgang selbst diejenigen, die sie gestern noch beim Vornamen genannt hatten, heute mit Ma’am ansprachen und zackig grüßten. Hannah gab sich so locker wie immer und versuchte das militärische Getue zumindest im Kreise ihrer engsten Umgebung auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Um kurz vor zehn begab sie sich zum Generalarzt. Der Adjutant empfing sie gewohnt lässig, er war wohl den Umgang mit hohen Offizieren eher gewohnt, als ihre Mitarbeiter. Er hob nur kurz seine Hand an die Mütze und sagte dann, „Ma‘am, der General bittet sie um einen Moment Geduld, er wurde aufgehalten.“ „Danke, Mister Jones“, antwortete Hannah, stellte sich an eins der Fenster im Vorzimmer des Generals und schaute auf den Hof, wo sich der Regen in großen Pfützen sammelte. Sie war in Gedanken versunken und dachte an die Normandie, sie hatte nicht damit gerechnet, so schnell wieder dorthin zu kommen. Sie bekam nicht mit, dass der General den Raum betrat und reagierte erst, als dieser sprach. „Ah, Brigadier Schwarz erwartet mich bereits. Haben sie dem Brigadier keinen Stuhl angeboten, Mister Jones?“ „Doch Sir, aber Brigadier Schwarz wollte lieber am Fenster stehen.“ Hannah hatte sich umgedreht, als sie die Stimme des Generalarztes vernahm und nahm Haltung an. „Nicht doch, Miss Schwarz, kommen sie bitte mit“, der General ging voraus in sein Büro. Er bat Hannah zur Sitzgruppe, nahm eine Akte vom Schreibtisch und reichte sie ihr.
„Hannah, ihre Inspektion in Düsseldorf, ist eher der Vorwand, ihrer Reise einen dienstlichen Anstrich zu geben. Der Umweg über Caen kommt mir aber sehr gelegen. Sie finden alles Weitere in dieser Akte, dort ist etwas aus dem Ruder zu gelaufen. Wann gedenken sie zu fahren?“
„Ich muss zumindest Sarahs Großeltern von meinem Kommen und dem Plan, Sarah bei ihnen zu lassen, unterrichten. Die Post läuft gut eine Woche.“
„Das ist zu lange! Versenden sie ihre Nachricht mit der Kurierpost. Müssen sie auf Antwort warten?“
„Nein Peter, ich will sie nur nicht überraschen.“
„Die Übersetzerin wird, solange sie in der Normandie und in Düsseldorf unterwegs sind, zu ihrer Verfügung stehen und darf nur in den aller dringendsten Fällen vom Depot angefordert werden. Ich werde das veranlassen. Wie heißt sie und wem ist sie unterstellt?“
„Sie heißt Nicole Bodin und untersteht Captain McLoud.“
„Bitte Hannah, studieren sie die Akte. Sie werden schnell sehen, was da schiefläuft, wir sprechen vor ihrer Abreise noch einmal darüber und sorgen sie bitte dafür, dass die Nachricht an Sarahs Großeltern noch heute dem Kurier übergeben wird. Können sie spätestens am Dienstag fliegen?“
„Ja Peter, das geht.“
Der Generalarzt erhob sich zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war. Er begleitete sie wieder bis vor die Tür und verabschiedete sich dort demonstrativ mit einem Händedruck. Zurück im Büro schrieb Hannah umgehend einen Brief an Christine und François, in dem sie ihr Kommen ankündigte und darum bat, Sarah für einige Tage bei ihnen unterzubringen zu dürfen. Liebevoll nannte sie die beiden in ihrem Schreiben Ima und Aba. Nachdem sie den Brief kuvertiert hatte, schrieb sie noch einige Zeilen an Nicole, in denen sie diese über die neuesten Vorgänge unterrichtete. Sie nannte Nicole im Brief liebevoll Achot. Nachdem auch dieses Schreiben kuvertiert war, übergab sie die beiden Kuverts dem Kurierdienst. Danach studierte sie die Akte, die ihr der General überreicht hatte. Was sie las, war unerfreulich. Es gab Beschwerden des Bürgermeisters von Caen über ungebührliches Verhalten von Sanitätspersonal in der Stadt und in einem weiteren Fall wurde berichtet, dass ein Private und ein Lance Corporal sich aktiv an Ausschreitungen gegen Frauen und Mädchen beteiligt hatten, die der Kollaboration verdächtigt wurden. Hannah schauderte, sie dachte an das Unrecht, das Nicole widerfahren war. Sie hatte diese Art Taten für Auswüchse nach der jahrelangen Unterdrückung gehalten, dass sich aber Soldaten der Befreiungsarmee an diesen Untaten beteiligt hatten, machte sie sprachlos. Sie schob die Akte beiseite und widmete sich ihrem Tagesgeschäft.
Als es klopfte, rief Hannah, „herein“, ohne den Kopf zu heben.
„Ma’am, kann ich sie sprechen?“
Erst jetzt hob Hannah den Kopf, Jonny stand vor ihrem Schreibtisch, „Jonny, lass den Quatsch, gestern nanntest du mich noch Hannah und du. Du erinnerst dich?“
„Da waren sie auch noch Colonel, Ma’am.“
„Jonny, wir sind seit langem befreundet. Der Unterschied zwischen Brigadier und Colonel ist ein einziger Dienstgrad, ich sehe kein Problem, wenn wir weiter einen lockeren Umgang pflegen. Wenn du es dir absolut nicht verkneifen kannst, dann werde zumindest locker, wenn wir allein sind.“
„Ma’am…“, Hannah sah den Colonel strafend an. „Ist gut Hannah, ich versuche mich nach deinen Anweisungen zu richten.“
Hannah stieß hörbar die Lust aus, „ich vermute, dein Kommen ist dienstlicher Natur?“
„Ja Hannah, darf ich vorher etwas Privates sagen?“
„Immerzu Jonny.“
„Ich wusste ja nicht, dass du vergeben bist, aber jetzt, da das geklärt ist, darf ich dich und Sarah morgen zum Picknick einladen?“
„Du bist hartnäckig! Ja, wir machen morgen ein Picknick, Sarah wird sich darüber freuen. Jetzt setz dich endlich.“
Der dienstliche Teil des Gesprächs war einigermaßen unerfreulich, Hannah war sich im Klaren darüber, dass sie jetzt oft solche Gespräche führen würde und dass sie dann selbst entscheiden musste, ob sie eigene Befehle und Anordnungen für die geeignete Reaktion hielt, oder den Generalarzt damit konfrontieren musste. In diesem Fall kam Hannah schnell zu der Überzeugung, dass sie den Vorgang in eigener Verantwortung lösen konnte, zumal Jonny ihr noch ein paar Vorschläge zur Lösung des Problems unterbreitete. Hannah überlegte nur kurz, nachdem der Colonel geendet hatte und gab ihm dann die entsprechenden Anweisungen. Danach hatte sie das Bedürfnis noch ein paar private Worte mit Jonny zu wechseln.
„Der General schickt mich auf Inspektionsreise nach Caen und Düsseldorf, in drei Tagen. Mir ist ziemlich mulmig bei dem Gedanken. Ich bin es nicht gewohnt, in einer so herausragenden Stellung zu arbeiten. Ich glaube, ich werde mich schwertun.“
„Das glaube ich ganz und gar nicht. Wie kommst du darauf?“
„Obwohl ich in der letzten Zeit recht viel mit Verwaltungskram zu tun hatte, war ich aber immerhin noch als Ärztin tätig. Jetzt bin ich nur noch Offizier.“
„Nein Hannah, bist du nicht, du bist vorgesetzter Arzt. Deine Inspektion gilt schließlich nicht einer Panzereinheit, sondern einem Lazarett. Wo ist das Problem?“
„Kann es sein, dass ich mir selbst das Leben schwer mache?“
„Ich glaube schon, Hannah.“
Hannah lachte, „du scheinst mich ja gut zu kennen. Es ist gut für mich, wenn ich meine Probleme einmal mit jemand besprechen kann. In meiner Freizeit habe ich schließlich nur Sarah und mit der kann ich meine Sorgen nicht besprechen.“
„Was ist mit Hannahs Vater, du sagtest, du liebst ihn.“
„Das ist ein Problem, Jonny. Er lebt in Deutschland. Ich habe ihn zuletzt vor Sarahs Geburt gesehen. Er hat mein Leben gerettet und mir Sarah geschenkt.“
„Du hast ihn nie wieder gesehen?“
„Nein, es war schließlich Krieg. Er lebt in Düsseldorf, so gesehen kommt mir die Inspektionsreise dahin gerade recht.“
„Er ist Deutscher?“
„Ja schon, aber er hat sich in Frankreich im Widerstand engagiert.“
„Er ist ein glücklicher Mann!“
„Wieso?“, fragte Hannah verwirrt.
„Er hat dich“, Jonny grinste.
„Du bist verrückt. Kommen wir zu morgen. Es regnet, wie du mit einem Blick aus dem Fenster leicht feststellen kannst.“
„Morgen nicht! Es wird ein warmer Tag, wir gehen in den Hyde Park, wenn es dir recht ist.“
„Ja sicher, ich komme in Zivil, damit du nicht wieder Ma’am sagst. Du darfst in Uniform kommen, es ist angenehm sich mit einem sportlichen Offizier zu schmücken. Um zwei?“
„Ja, zwei Uhr ist gut.“
Hannah machte es wie der General, sie erhob sich, um anzudeuten, dass das Gespräch beendet war. Da sie Jonny besonders schätzte, brachte auch sie ihn bis in ihr Vorzimmer. Demonstrativ verabschiedete sie sich mit einem Handschlag von ihm. Jonny nahm Haltung an und führte eine Hand an die Mütze, er konnte sich nicht verkneifen Ma’am dabei zu sagen. Hannah musste über sich selbst lachen, als sie wieder allein im Büro war. Ich benehme mich schon wie der General, dachte sie dabei.
Nach Feierabend bereitete Hannah Sarah vorsichtig auf die geplante Reise vor. Sarah war erfreut, als sie hörte, dass sie zu Granny und Grandpa fahren würden. Als Hannah sie fragte, ob sie denn bereit sei, allein in Arromanches zu bleiben, zeigte sich Sarah restlos begeistert. Sie verzog das Gesicht, als Hannah ihr erklärte, dass sie nur bleiben dürfe, wenn sie fleißig, mit Nicoles Hilfe, den durch die Reise ausfallenden Unterrichtsstoff durchnehmen würde. Aber die Aussicht, mit den Dreien mehrere Tage allein zu sein, überdeckte diese unangenehme Begleiterscheinung. Sarah wollte sofort packen.
„Langsam, langsam, mein Fräulein. Wir fahren erst am Dienstag“, bremste Hannah, „und am Montag muss ich dringend mit deiner Lehrerin sprechen, damit ich weiß, was Nicole dir beibringen soll. Morgen treffen wir uns mit Jonny zum Picknick.“
„Heiratet ihr?“
„Wie kommst du denn auf die Idee?“
„Ihr mögt euch doch.“
„Ja, aber wir sind nur befreundet. Da heiratet man doch nicht.“
„Ich dachte ja nur. Du bist doch immer so allein.“ Sarah wechselte das Thema, „warum bleibe ich allein bei Granny und Grandpa?“
„Ich muss nach Deutschland fliegen.“
„Warum das? Was machst du da? Da sind die Nazis!“
„Ich habe etwas Wichtiges für Onkel Peter zu erledigen. Die Nazis sind besiegt, mein Schatz, das weißt du doch und wir haben Freunde in Deutschland.“
„Die Deutschen haben Bomben auf London geworfen. Ich will nicht, dass wir dort Freunde haben.“
„Schatz, es gibt überall gute und schlechte Menschen, bei den Deutschen ist das nicht anders, als bei uns. In einigen Wochen werde ich dir den Mann vorstellen, der mich vor den Nazis gerettet hat. Du weißt, dass dein Papa auch Deutscher ist und ich bin auch Deutsche.“ Hannah beschloss dem Hin und Her für heute ein Ende zu machen. „Komm Sarah, mach dich fertig fürs Bett, ich lese dir heute auch besonders lange vor.“
Hannah las einige Seiten, bis Sarah eingeschlafen war, dann setzte sie sich in ihren bequemen Sessel und las Heines Reisebilder. Ihre Gedanken an diesem Abend galten Hans, diese Gedanken erregten sie. So nahm sie sich Papier und Stift und schrieb eine kurze Mitteilung für Hans.
Liebster Hans,
es hat sich eine Möglichkeit für mich ergeben im dienstlichen Auftrag für einige Tage nach Düsseldorf zu kommen. Ich reise am Dienstag über Caen, dort habe ich wohl eine Woche lang zu tun. Danach fliege ich weiter nach Düsseldorf. Da dienstlich, brauche ich nicht wieder bei Dir unterzuschlüpfen. Aber ich hoffe genug Zeit zu finden, die wir miteinander verbringen können. Wahrscheinlich werde ich etwa eine Woche in Düsseldorf bleiben. Ich habe nur eine verschwommene Vorstellung davon, wie es in Deutschland nach dem Krieg aussieht, ich vermute, die Städte sind schlimmer zerstört als London. Das weiß ich aber nur von Bildern und von dem, was Kameraden mir erzählen. So ist es gut, dass ich mir ein eigenes Bild machen kann.
Da ich einige Tage in Caen zu tun habe, werde ich auch nach Arromanches kommen. Ich freue mich, denn diese drei Menschen sind zusammen mit Florence jetzt so etwas wie meine Familie. Ob ich es in den wenigen Tagen nach Regnéville schaffe weiß ich nicht, aber auch mein Rückflug wird über Caen gehen. So gehe ich davon aus, dass ich auf jeden Fall Florence besuchen kann.
Ich freue mich auf unser Wiedersehen. Mögen gute Mächte Dich auf all Deinen Wegen beschützen.
Ich liebe und ich küsse Dich
Deine Hannah
Hannah brachte den Brief noch schnell zum Briefkasten und machte es sich danach wieder mit ihrem Buch bequem. Sie ging zu Bett, als ihr die Augen zufielen. Am Morgen wurde Hannah dadurch wach, dass Sarah auf ihrem Bett saß, sie kuschelte sich sofort an, als Hannah die Augen öffnete. Hannah sah, dass die Sonne durch das Fenster schien. Sich mit Jonny zu treffen freute sie, sie hatte zwar auch zu anderen Mitarbeitern vom Lazarett und der Verwaltung ein gutes Verhältnis, aber zu keinem anderen hatte sie einen so guten Zugang wie zu ihm. Solange sie den gleichen Dienstgrad hatten, hatten sie immer auf Augenhöhe miteinander sprechen können. Nun hatte sich das geändert und obwohl sie sich wirklich gut verstanden, hatte sich Jonnys Verhalten bereits der neuen Situation angepasst. So waren Treffen außerhalb der Dienstzeit die einzige Möglichkeit, die alte Vertrautheit weiter zu pflegen. Hannah hatte an diesem Morgen das Gefühl durch ihre Beförderung in Einsamkeit geraten zu sein. Sie hatte als Brigadier auf ihrer Dienstelle kaum eine Möglichkeit, mit gleichrangigen in Kontakt zu kommen, sie war jetzt genau so auf sich allein gestellt, wie der Generalarzt.
Es war ein für London ungewöhnlich warmer Tag und entsprechend viel Betrieb herrschte in Hyde Park. Hannah hatte sich zum Ausgehen für ein hellblaues Sommerkleid entschieden. Ihr Aussehen hätte Jonny fast dazu verleitet einen Pfiff auszustoßen, sowie er sie erblickte. Jonny war in Uniform gekommen, wie Hannah es gewünscht hatte. Hannah fand es angenehm in Begleitung eines hohen Offiziers, der auch noch äußerst gut aussah, durch den Park zu spazieren. Da sie zivil trug, konnte niemand sehen, dass sie die ranghöhere war und mit Sarah an der Hand wirkte sie eher wie eine junge Mutter, die mit ihrer Familie unterwegs war. Jonny fand nach einiger Zeit mit sicherem Instinkt einen angenehmen Platz für das Picknick. Er wirkte im Gegensatz zu gestern wie ausgewechselt, plauderte so locker mit Hannah, als wäre sie nichts anderes als eine gute Bekannte. Zwischenzeitlich spielte er mit Sarah und machte Späße mit ihr. Als er seinen Picknickkorb öffnete, war Hannah erstaunt über die Speisen, die Jonny zutage förderte. Dankbar legte sie ihm eine Hand auf den Arm, da hat sich jemand richtig Mühe gegeben, sagte sie dazu. Jonny lachte, wobei er wie ein großer Junge wirkte. Er verteilte seine Mitbringsel auf drei Tellern, die er auf eine ausgebreitete Decke stellte. Für Sarah legte er einige Stücke Schokolade auf den Tellerrand, wofür er einen strafenden Blick von Hannah erntete, den er mit einem breiten Grinsen beantwortete. Sarah hüpfte nach dem Essen auf dem Rasen herum und spielte mit den Kindern anderer picknickender Paare. Die beiden Erwachsenen sprachen über allgemeine Themen und später holte sich Hannah noch einmal moralische Unterstützung für ihre bevorstehende Inspektionsreise. Jonny versuchte wiederum ihre Ängste zu zerstreuen. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu und die meisten Ausflügler hatten bereits den Park verlassen, als Hannah auf Hans zu sprechen kam.
„Als ich wenige Tage vor dem Krieg in die Normandie kam, war ich völlig mittellos und äußerst verzweifelt. Da traf ich auf Sarahs Vater. Er bot mir sein Zimmer an, da ich keine Unterkunft fand. Er selbst zog in einen Schuppen hinter seiner Arbeitsstelle. Wir hatten nur diese wenigen gemeinsamen Tage, wir verliebten uns ineinander.“
„Und wieso bist du nicht bei ihm geblieben?“
„Er schickte mich fort, er fürchtete um mein Leben. Du weißt, ich bin Jüdin.“
„Nein, Hannah, das ist mir neu.“
„Oh, ich dachte, das sei allgemein bekannt. Ich habe doch nie ein Geheimnis daraus gemacht.“
„Bis zu mir ist es auf jeden Fall nicht durchgedrungen. Aber erzähl bitte weiter, wie bist du nach England gekommen? Wieso warst du nicht interniert?“
„Ich wurde von Fischern über den Kanal geschmuggelt. Als alle deutschen Frauen interniert wurden, kam auch ich auf der Isle of Man in ein Lager. Ich war hochschwanger zu dieser Zeit. Eine jüdische Hilfsorganisation wurde auf mich aufmerksam, so kam ich frei. Ich hatte großes Glück, ich durfte mein Medizinstudium zu Ende führen und trat in die Armee ein. Den Rest kennst du.“
„Und nun? Wie stellst du es dir die Zukunft vor?“
„Es ist kompliziert, er weiß nicht, dass wir eine Tochter haben und Sarah weiß nicht, dass der Mann, der mich gerettet hat, ihr Vater ist. Sobald ich Hans in Düsseldorf treffe, werde ich ihm sagen, dass wir ein Kind haben. Erst wenn er und Sarah sich kennengelernt haben, werde ich ihr sagen, dass er ihr Vater ist.“
„Sag es ihr lieber vorher. Sie hat ein Recht darauf!“
„Ich werde deinen Rat bedenken, alles hängt eigentlich davon ab, wie Hans auf die Neuigkeit reagiert. Ich habe Sarah bereits gesagt, dass ihr Vater Deutscher ist. Sie reagierte darauf, als sei er unser Feind. Es ist nicht einfach, Kindern den Unterschied zwischen Deutschen und Nazis zu erklären.“
Hannah wollte sich von Jonny verabschieden, nachdem sie alles zusammengepackt hatten, dieser bestand aber darauf, sie und Sarah bis zur Haustür zu begleiten. Er nahm den Picknickkorb mit den zusammengefalteten Decken in die eine und das Kind an die andere Hand und ging einfach mit dem Kind ich Richtung Omnibus. So blieb Hannah nichts anderes übrig, als sich den beiden anzuschließen. Sarah schien Jonny in ihr Herz geschlossen zu haben, was Hannah freute, ihr aber anderseits Sorge bereitete, da sie nicht wusste, wie Sarah nach dem jugendlich wirkenden Jonny auf ihren, Jahre älteren gelehrten Vater reagieren würde. Zu Hause angekommen bot Hannah Jonny an, mit nach oben zu kommen, was dieser jedoch ablehnte.
Am Montag brachte Hannah Sarah zur Schule. Sie besprach mit der Lehrerin, was für die nächste Zeit an Lehrstoff anstand und teilte mit, dass Sarah in den nächsten zwei bis drei Wochen mit ihr im Ausland weile. Als sie in ihr Büro kam, fand sie auf ihrem Schreibtisch die Mitteilung, dass der Generalarzt sie nach Tisch in sein Büro bitte. Sie arbeitete einige Akten durch und nahm sich dann noch einmal Akte über die Vorfälle in Caen vor. Sie vermutete, dass die Übeltäter längst aus dem Lazarett abkommandiert waren und hatte somit nicht die zwingende Vorstellung, was mit ihrer Inspektionsreise bezweckt wurde. Kurz vor der Essenszeit, hatte sie eine Besprechung mit Mitarbeitern angesetzt und da Jonny sie in den nächsten Wochen vertreten sollte, hatte sie diesen dazu gebeten. Sie rief ihn kurz vor der Besprechung zu sich und bedankte sich für den schönen Tag, bevor sie dienstlich wurde.
„Jonny, die Besprechung habe ich einberufen, da ich im Lazarett auf Hygienemängel gestoßen bin. Diese sind jetzt abgestellt, ich möchte aber allen noch einmal ins Gewissen reden, dass die Vorschriften strengstens zu beachten sind. Während meiner Abwesenheit bitte ich dich ein Auge darauf zu haben, das soll und darf nicht wieder vorkommen.“
„Ma’am…“
„Jonny! Wir sind allein.“
Jonny grinste verlegen, „Hannah, ich werde darauf achten.“
„Gut, ich glaube, weitere Anweisungen sind nicht vonnöten, du weißt genauso gut wie ich, was zu tun ist. Komm, wir gehen in den Besprechungsraum.“
Zum Lunch setzte sich Hannah zu Jonny an den Tisch. Als er sie mit Ma’am ansprach, erhielt er von ihr unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein. Zwei andere Colonels, die am gleichen Tisch saßen, erhielten böse Blicke für ihr Ma’am. Sie einigten endlich darauf, wenn sie gemeinsam im Kasino weilten, wie gewohnt bei den Vornamen zu bleiben. Hannah atmete vor Erleichterung hörbar aus. Nach dem Lunch ging sie auf Verdacht zum Vorzimmer des Generalarztes, denn da Peter nicht im Kasino erschienen war, hatte sie keine Vorstellung davon, was dieser mit „nach Tisch“ gemeint hatte. Mister Jones nahm Haltung an, als Hannah den Raum betrat. Er salutierte lässig und sagte, „der Generalarzt erwartet sie bereits, Ma’am.“ „Danke, Mister Jones“, antworte sie. Jones ging voraus, klopfte an, öffnete die Bürotür und meldete, „Brigadier Schwarz, Sir.“ „Danke Mister Jones. Treten sie bitte ein, Miss Schwarz.“ Hannah salutierte, „danke, Sir.“ Jones schloss die Tür hinter ihr. Sofort kam Peter um seinen Schreibtisch herum, drückte Hannah zuerst die Hand, um ihr danach einen Kuss auf die Wange zu drücken. Er bat Hannah zur Sitzecke.
„Hannah, sie haben die Akte studiert?“
„Ja Peter, die Vorkommnisse sind absolut unschön. Aber ich gehe doch richtig in der Annahme, dass diese Personen nicht mehr im Lazarett von Caen beschäftigt werden, was ist jetzt noch zu tun?“
„Sie haben recht, keine dieser Personen ist dort mehr im Dienst und der leitende Arzt wurde auch ausgewechselt. Der neue leitende Arzt ist Brigadier Crown, kennen sie ihn?“
„Ja, Peter, er ist ein hervorragender Chirurg und ein begnadeter Diagnostiker.“
„Sicher, aber er ist nicht so der begabte Befehlshaber. Ihm fehlt es an Durchsetzungskraft. Was ich von ihnen erwarte, Hannah ist folgendes: Crown hat mein vollstes Vertrauen, aber durch ihr Erscheinen unterstreichen wir, dass das Lazarett von Caen einer der wichtigsten Standorte auf dem Festland ist. Sie verstärken einfach Brigadier Crown. Inspizieren sie pingelig alle Bereiche, sparen nicht mit Kritik, aber auch nicht mit Lob, dort wo es angebracht ist. Sie treffen die Spitzen der Stadt und der umliegenden Gemeinden. Da sie fließend Französisch sprechen und das nötige Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen haben, sind sie die ideale Besetzung für diesen Job. Brigadier Crown ist in all diese Maßnahmen eingeweiht und er hat all dem zugestimmt.“
„Meinen sie, Peter?“, fragte Hannah zweifelnd.
„Ja sicher, sonst hätte ich diese Entscheidung so nicht getroffen – ich wäre selbst nach Caen gereist. Bitte Hannah, gehen sie die Sache mutig an, sie haben die Kraft und das nötige Fingerspitzengefühl und ich stehe bei all ihren Maßnahmen hinter ihnen. Sie handeln sozusagen als meine Vertreterin.“
„Ich tue, was ich kann, Peter.“
„Nein, sie machen das besser, als ich selbst es könnte.“
„Danke für ihr Vertrauen, Peter.“
„Sie fliegen morgen früh um neun. In etwa einer Stunde überbringt Jones ihnen die Reiseorder, danach steht ihnen mein Wagen bis zum Abend zur Verfügung. Sie werden morgen um halb acht abgeholt. Für Sarah ist gesorgt? Ich habe Miss Bodin für morgen zum Flughafen beordern lassen. Sie steht zu ihrer Verfügung.“
„Danke Peter, kann ich Sarah noch nach Arromanches begleiten, bevor ich zum Lazarett fahre?“
„Ja sicher, ich habe sie für Mittwochmittag im Lazarett angekündigt.“
Der General erhob sich, das Gespräch war beendet, er brachte Hannah wieder bis vor die Tür. Der nächste Besucher wartete bereits im Vorzimmer. Peter drückte Hannah die Hand zum Abschied, „Miss Schwarz, ich wünsche eine gute Reise und sie wissen, sie sind mit allen Vollmachten ausgestattet.“ „Danke, Sir“, antwortete Hannah und salutierte. Wieder in ihrem Büro, ordnete Hannah alle Dinge, auf die Jonny während ihrer Abwesenheit Zugriff haben musste, dann rief sie ihn zu sich, um ihm alles zu zeigen. Jones brachte zwischenzeitlich den Reisebefehl und meldete, dass der Wagen bereitstand. Hannah dankte, packte ihre Sachen zusammen, nahm die Akte Caen unter den Arm und verabschiedete sich von Jonny. „Steht einem Brigadier nicht eigentlich ein Adjutant zu?“, feixte dieser. „Im Prinzip ja, aber der ist bestimmt nicht im Rang eines Colonel. Du brauchst dir keine Hoffnung zu machen“, antwortete Hannah lachend und ging zum Wagen. Brown öffnete den Schlag, Hannah stieg in den Fond und gab die Anweisung zu Sarahs Schule zu fahren.
Früh am Morgen schellte Brown an Hannahs Tür und brachte das Gepäck zum Wagen. Als Hannah mit Sarah an der Hand auf die Straße trat, stand der Fahrer stramm und öffnete den Schlag. Mutter und Tochter stiegen ein und der Wagen fuhr in Richtung Flughafen. Am Ziel angekommen, gingen sie in die Abfertigungshalle, während Brown sich um das Gepäck kümmerte. Nach einiger Zeit stieß er wieder zu Hannah: „Ma’am, ihr Gepäck ist verladen. Haben sie weitere Befehle für mich?“ „Nein Mister Brown, bitte richten sie dem General meinen Dank und meine Grüße aus.“ Brown salutierte und ging zum Wagen. Sarah fand das ganze Drumherum und die Aussicht, mit einem Flugzeug zu fliegen furchtbar aufregend, während der Gedanke an das Fliegen bei Hannah ein mulmiges Gefühl im Magen hervorrief. „Ma’am, ihre Maschine steht bereit“, meldete ein Pilot Officer nach einiger Zeit. „Darf ich vorausgehen, Ma’am?“, fügte er danach hinzu. „Ich bitte darum, Officer“, antwortete Hannah, nahm Sarah an die Hand und folgte dem Pilot Officer auf das Flugfeld. Dort stand eine Douglas Dakota bereit, über die kurze Gangway bestiegen Hannah und Sarah die Maschine, während der Pilot Officer salutierte. Es kamen nur noch ein älterer Wing Commander, den ein jugendlich wirkender Squadron Leader begleitete, als weitere Passagiere an Bord, dann wurde die Tür geschlossen. Während die Maschine noch am Boden wartete, konnte Sarah ihre Neugier nicht mehr im Zaum halten.
„Mum, warum reden die alle so komisch?“
„Wieso komisch, das verstehe ich jetzt nicht.“
„Alle nennen dich Ma’am, vergangene Woche nannten sie dich noch Miss Schwarz oder Hannah. Selbst Jonny hat gestern einmal Ma’am zu dir gesagt.“
„Ich bin jetzt Brigadier, mein Schatz.“
„Ist das mehr als Ärztin, Mum?“
„Ich bin Ärztin, das weißt du doch, Sarah. Brigadier ist mein Dienstrang.“
„Aber das muss etwas sehr Wichtiges sein, bisher habe ich nur bei Tante Rachel gehört, dass alle Ma’am zu ihr gesagt haben. Hast du Onkel Peter geheiratet?“
Hannah konnte kaum noch ihr Lachen zurückhalten, versuchte aber ernsthaft zu antworten, „Onkel Peter? Du weißt doch, dass Onkel Peter mit Tante Rachel verheiratet ist.“
„Aber Onkel Peter ist nett.“
„Schatz, ich kann doch nicht alle Männer heiraten, die du nett findest. Von Jonny sagst du auch, er sei nett.“ Die Motoren wurden mit lautem Dröhnen gestartet, so ging Sarahs Antwort im Lärm unter.
Sarah betrachte hoch interessiert, was jetzt um sie herum vorging. Als die Maschine abhob und danach in eine ruhige Fluglage überging, klatschte sie begeistert in die Hände, während Hannah lieber auf die Kabinenwand starrte, als aus dem Fenster zu gucken. Nach einiger Zeit erhob sich der Wing Commander und sprach Hannah an, „Ma’am, entschuldigen sie die Störung. Möchte die junge Lady vielleicht zu den Piloten in die Kanzel?“
„Fragen sie Sarah nur selbst, Sir“, antwortete Hannah und wies auf Sarah. „Ma’am ist nicht nötig. Sie sind der ranghöhere, Sir.“
„Sie täuschen sich. Sie sind Brigadier, fast schon im Generalsrang, Ma’am.“
„Zugegeben, mit den Diensträngen der Air Force, kenne ich mich nicht so aus. Ich dachte ein Wing Commander sei ein höherer Dienstrang, als ein Air Commodore.“
„Danke für die Beförderung, Ma’am.“
Hannah hielt dem Commander die Hand hin, die dieser drückte, „freut mich sie kennengelernt zu haben.“
Der Commander wandte sich zu Sarah, „möchtest du zu den Piloten gehen, Sarah?“
„Ja gerne, Sir“, antwortete Sarah erfreut und zwängte sich an Hannah vorbei in den Gang.
„Dann komm bitte mit“, der Wing Commander hielt ihr die Hand hin und gemeinsam gingen sie nach vorn zu den Piloten.
Der Stewart reichte einen Imbiss und Tee, während Hannah sich langsam etwas sicherer fühlte. Der Wing Commander blieb mit Sarah in der Kanzel, bis der Landeanflug eingeleitet wurde. Sarah kam mit geröteten Wangen zurück und hatte sich vorgenommen später Pilotin zu werden. Von Hannah erhielt sie einen leichten Knuff, „willst du dich nicht zuerst einmal beim Wing Commander bedanken, bevor du über später nachdenkst?“ Sarah zog ein Gesicht, sagte aber brav, „thank you, Sir.“ „Wir müssen uns jetzt wieder anschnallen, Sarah. Bitte setze dich wieder hin, ich hoffe, wir fliegen bald wieder einmal gemeinsam. Vielleicht, wenn du Pilotin bist.“ Der Commander salutierte lässig zu Hannah, „es war mir eine Ehre, Ma’am.“ Auch er schnallte sich an und dann setzte die Maschine rumpelnd auf. Kaum war die Maschine ausgerollt, sah Hannah eine vornehme Limousine vorfahren. Hannah vermutete, dass der Wing Commander und sein Begleiter abgeholt würden. Zu ihrer Verwunderung sah sie aber, dass Nicole neben dem Chauffeur saß. Noch bevor Hannah Sarah über die Gangway nach unten geführt hatte, lud der Chauffeur Hannahs Gepäck in den Kofferraum der Limousine. Hannah freute sich, als sie in dem Chauffeur Sergeant Miller erkannte. Sobald dieser sie erblickte, nahm er Haltung an und salutierte. Dann kam Nicole um den Wagen herum, Sarah stürzte auf sie zu und umarmte sie stürmisch. Als Sarah endlich von Nicole abließ, nahmen sich die beiden Schwestern in die Arme. Schließlich meldete sich Miller zu Wort, „Ma’am, ich habe von Captain McLoud die Anweisung, sie nach Arromanches zu bringen. Der Captain lässt außerdem anfragen, ob es Ma’am möglich ist, auf der Rückfahrt nach Caen ihn im Depot aufzusuchen. Ist das in ihrem Sinne?“ „Ja, Mister Miller, beides“, antwortete Hannah, während Miller den Schlag für sie aufhielt. „Die beiden jungen Ladys haben sich sicher viel zu erzählen. Ich setzte mich neben sie, Sergeant.“ „Wie sie befehlen, Ma’am“, antwortete Miller und schloss den Wagen, nachdem es sich Nicole und Sarah auf der Rückbank bequem gemacht hatten. In strammer Haltung öffnete er für Hannah die Beifahrertür. Hannah war das Ganze irgendwie peinlich, sie fand, wie bisher, hätte auch ein Jeep ihren Ansprüchen genügt, maximal hätte sie sich den Austin vorstellen können, in dem sie nach Cherbourg gebracht worden war. Auf der Nationalstraße nach Bayeux ließ Miller den Wagen mit hoher Geschwindigkeit dahinrollen. Entgegen ihrer eigenen Erwartung genoss Hannah das Dahingleiten der Limousine. Sobald sie vom Hochland aus Arromanches erblickte, wurde Hannah warm ums Herz. Nur noch wenige Minuten und niemand würde sie mehr mit Ma’am ansprechen.
Mit elegantem Schwung parkte Miller vor der Bar, er öffnete für Hannah die Beifahrertür und nachdem sié ausgestiegen war, öffnete er auch für Sarah und Nicole die Tür. Hannah ging voraus, während Nicole mit Sarah folgte. Die Begrüßung fiel stürmisch aus, Hannah brach in Tränen aus, als sie Christine umarmte. Ima, Ima, flüsterte sie dabei. Miller kam mit dem Gepäck in die Gaststube und meinte, er wüsste jetzt nicht, was von ihrem Gepäck hier bleibt und was mit nach Caen soll. Ma’am, fügte er danach hinzu. Hannah nickte, begutachtete die Koffer und wies Miller an, ihre Teile des Gepäcks wieder ins Auto zu bringen. Als dieser den Auftrag erledigt hatte, nahm Christine ihn in Beschlag. Die beiden sprachen miteinander, als wären sie alte Freunde, auch François blickte voll Wohlwollen auf Miller. Hannah konnte sich keinen Reim darauf machen, machte sich aber auch keine weiteren Gedanken darüber. Christine bat zu Tisch und Hannah nahm sich vor, möglichst ungezwungen mit Miller umzugehen. Sie zwang sich, ihn am Tisch beim Vornamen anzusprechen. Sie hoffte, das immer auseinander halten zu können. Sarah war selig, sie saß zwischen Nicole und Christine und leistete Nicoles Anweisungen brav Folge. Nachdem sie sich vom Tisch wieder erhoben hatten, beobachtete Hannah, wie sich Nicole und Miller in einem Moment, in dem sie sich unbeobachtet fühlen, bei den Händen hielten. Hannah half Christine beim Abräumen, während Nicole das Spülwasser ansetzte. Miller bot sich an, mit Sarah an den Strand zu gehen, während François sich wieder hinter den Tresen begab. Hannah machte sich Gedanken über die Vertrautheit zwischen Miller und Nicole, sie beschloss auf der Fahrt nach Caen Miller darauf anzusprechen. Die Sachen der Kleinen wurden mit Nicoles Hilfe in einen Schlafraum im Obergeschoss gebracht und als ihre Tochter vom Strand zurückkam, verabschiedete sich Hannah von allen.
„Sarah-Maus, du bist wirklich sicher, dass du heute schon bei Granny und Grandpa bleiben möchtest?“
„Ja Mum, Nicole bleibt doch auch hier.“
Hannah war jetzt nicht klar, ob Sarah sich durch Nicoles Anwesenheit sicherer fühlte oder ob sie meinte, Nicole müsste auch betreut werden, so antwortete sie, „ich verlasse mich darauf, dass es keine Probleme gibt, Schatz. Wir sehen uns dann morgen.“ Hannah hockte sich vor Sarah hin und gab ihr einen Kuss.
„Goodbye, Mum“, antwortete Sarah und ging zu François hinter den Tresen.
Hannah wandte sich an den Sergeanten, „Norman, ich möchte bis zum Depot auf dem Beifahrersitz sitzen, bitte halten sie nicht den Schlag auf.“
„Sehr wohl, Ma’am“, antwortete Miller und verabschiedete sich von Christine und François.
Nicole kam noch mit vor die Tür und verabschiedete sich dort von Hannah und Norman. Norman wurde dabei mit einem verliebten Blick bedacht.
Miller startete den Wagen, nachdem Hannah es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hatte. Sie wartete, bis sie die Landstraße erreicht hatten, bevor sie zum Sprechen ansetzte.
„Norman, ich muss mit ihnen sprechen und versuchen sie die Anrede Ma’am zu unterdrücken.“ Miller nickte, so fuhr Hannah fort, „ich habe den Eindruck, Nicole und sie sind auf dem besten Wege, sich zu verlieben.“
„Das stimmt nicht ganz, Hannah. Wir haben uns ineinander verliebt. Ist ihnen das nicht recht?“
„Doch! Darum geht es nicht. Nicole und ich, wir fühlen uns als Schwestern.“
„Das ist mir bekannt, Hannah.“
„Dann werden sie verstehen, was ich jetzt sage. Ich möchte nicht, dass Nicole noch einmal von einem Mann schlecht behandelt wird. Wenn sie nur mit ihr spielen wollen, dann lassen sie Nicole bitte in Ruhe!“
„Hannah, wenn auch Nicole über dieses Thema mir gegenüber beharrlich schweigt und ich ihr auch gesagt habe, es gäbe nichts, was sie mir erklären müsse, Christine hat mir alles erzählt. Sie können sicher sein, nichts liegt mir ferner, als Nicole weh zu tun. Ich hoffe, ich kann mich ihr bald erklären. Hannah, ihre Schwester, ist bei mir in guten Händen. Bitte vertrauen sie mir.“
„Ich vertraue ihnen.“
„Danke Ma’am!“
„Norman…“
„Ist in Ordnung, aber wir sind gleich am Depot, Hannah. Da stelle ich mich lieber vorher um.“
Hannah lächelte ihn an, „seien sie beruhigt, Norman. Bei der Weiterfahrt nach Caen, setzte ich mich wieder brav in den Fond.“
Miller passierte den Posten am Tor, parkte vor der Verwaltung, stieg aus und ging um das Auto herum. Er öffnete die Beifahrertür und nahm Haltung an. Hannah dankte der Form entsprechend und betrat das Verwaltungsgebäude. Beim Wachhabenden fragte sie nach Captain McLoud. Dieser bat sie zu warten und telefonierte dann nach dem Captain. Nach einigen Minuten sagte er, „der Captain kommt sofort, Ma’am.“ Hannah bedankte sich und sah danach aus dem Fenster. Auf dem Vorplatz war kaum Betrieb, nur Sergeant Miller lehnte lässig an der Limousine. Nur wenige Minuten später kam Captain McLoud die Treppe hinunter.
Captain McLoud salutierte. „Willkommen, Ma’am“, sagte er dabei.
Hannah hob die Hand zur Mütze und reichte danach dem Captain die Hand, „guten Tag, Mister McLoud“, dann deutete sie auf die Limousine, „ging es nicht auch eine Nummer kleiner?“
„Nein, Ma’am, nicht bei einem Brigadier. Vorschrift ist Vorschrift.“
„In London fahre ich mit dem Omnibus.“
„Aber doch nicht dienstlich, Ma’am! Können wir nach oben gehen?“
„Gerne, Captain.“ Nebeneinander gingen sie die Treppe hinauf. „Gibt es etwas Ernstes zu besprechen?“, fragte Hannah dabei.
„Nein Ma’am.“
Im Büro angekommen bot McLoud Hannah einen Platz an, sagte, „sie erlauben, Ma’am“ und setzte sich selbst hinter seinen Schreibtisch.
„Dann sprechen sie bitte, Mister McLoud.“
„Es geht um Miss Bodin.“
„Ist etwas nicht in Ordnung?“, unterbrach Hannah.
„Alles ist alles in Ordnung, Ma’am. Eigentlich wollte ich mich nur bedanken, dass sie mir Miss Bodin vermittelt haben. Aber Ich habe ein Problem. Die Anweisung besagt, während ihrer Anwesenheit Miss Bodin nur im äußersten Notfall und dann auch nur mit ihrer Einwilligung anzufordern.“
„Ja, ich verstehe – und wo ist das Problem?“
„Ich bin eigentlich morgen dringend auf Miss Bodin angewiesen, weiß aber nicht, ob ich sie jetzt schon damit belästigen darf, Ma’am.“
„Um was geht es denn?“
„Morgen Nachmittag soll ich vor dem Stadtrat von Bayeux sprechen, Ma’am.“
Hannah nickte, „das kann ich verstehen und das ist ein sehr wichtiger Grund, Miss Bodin anzufordern. Das einzige Problem ist, meine Tochter spricht nur wenig Französisch und ihre Großeltern sprechen nur unzureichend Englisch. Ich bin erst morgen Mittag im Lazarett angekündigt. Ich bereite am Vormittag meine Tochter in Arromanches darauf vor, dass sie einige Zeit ohne Miss Bodin auskommen muss. Sie holen Miss Bodin am Mittag ab und bringen sie nach der Rede wieder zu ihren Eltern.“
„Danke Ma’am. Miss Bodin ist eine sehr gute Dolmetscherin, wir können hier kaum auf sie verzichten. Wissen sie, dass sie jetzt Deutsch lernt?“
„Nein, ich habe bisher keine Zeit gehabt, länger mit meiner Schwester zu sprechen. Sie könnte richtig Karriere machen.“
„Aber nicht in diesem Land, Ma’am!“
„Ah, die Gerüchte sind bereits bis hierhin durchgedrungen?“
„Ja Ma’am, wenn ein Gerücht einmal in die Welt gesetzt ist, breitet es sich aus, wie eine Epidemie, wie die Pest. Da können sie reden, was sie wollen. Es bleibt immer etwas davon hängen.“
„Haben sie eine Idee dazu, Mister McLoud?“
Der Captain lachte, „sie könnte auswandern – oder Sergeant Miller heiraten.“
Auch Hannah lachte, „so weit sind wir noch nicht, aber das wäre eine Lösung.“
„Sie wissen Ma’am, Caen ist fast vollständig zerstört. Wäre es ihnen Recht, wenn ich sie in den Offiziersquartieren unterbringe?“
„Ja, ich hoffe, ich bin hier nicht der einzige Brigadier.“
„Leider doch, Ma’am. Der befehlende Brigadier des Flughafens wohnt in einem Privatquartier und der leitende Arzt des Lazaretts hat ein Quartier direkt im Lazarett bezogen.“
„Dann werden sie mir Gesellschaft leisten müssen, Mister McLoud.“
„Gerne Ma’am. Darf ich sie zu ihrem Quartier begleiten?“
Hannah erhob sich, zum Zeichen, dass sie das Gespräch für beendet hielt. Zusammen stiegen sie in die Limousine und Miller fuhr sie die kurze Stecke zu den Offiziersunterkünften. Hannah hatte nicht damit gerechnet, dass es in Caen selbst keine Unterkunft für sie gab. Sie nahm sich vor, wenn sie aus Düsseldorf zurückkam, wieder im Hotel Reine Mathilde zu wohnen. Nachdem McLoud ihr das Zimmer gezeigt hatte und sie mit den Örtlichkeiten vertraut gemacht hatte, war Hannah dann aber der Meinung, sie sei gut untergebracht. So machte Hannah ihre Entscheidung, wo sie wohnen wollte, wenn sie aus Düsseldorf zurückkam, davon abhängig, wie es ihr hier insgesamt gefiel. Nachdem Miller Hannahs Gepäck im Zimmer deponiert hatte, verabredete sich Hannah mit Captain McLoud zum Abendessen und bat den Sergeanten beim Wagen auf sie zu warten. Sie hatte schnell die wichtigsten ihrer Sachen ausgepackt, ging nach unten und bat Miller, sie zu einer Besichtigung durch Caen zu chauffieren. Miller salutierte und hielt Hannah den Schlag auf. Vorbei am Posten lenkte er den Wagen in Richtung Caen. Hannah war erschüttert, als sie durch die Ruinenfelder fuhren. Sie kannte die Zerstörungen in London und einmal war sie dienstlich im zerstörten Coventry gewesen, aber noch nie hatte sie eine derart zerstörte Stadt erlebt. Nicht einmal im Traum hatte sie sich vorstellen können, welche Auswirkungen wochenlanger Artilleriebeschuss und anhaltende Bombardierung auf eine Stadt hatten. Dennoch lebten Menschen in dieser Trümmerwüste. Hannah schwante böses, wenn sie an ihre Reise ins Rheinland dachte. Nach einiger Zeit bat Hannah zurück zum Depot gefahren zu werden. Vor der Unterkunft öffnete Miller den Schlag und Hannah stieg aus, „ich benötige sie heute nicht mehr, Mister Miller. Morgen erwarte ich sie um acht. Wir fahren nach Arromanches. Ich bleibe dort zwei Stunden, danach fahren sie mich bitte zum Lazarett. Während der Wartezeit können sie spazieren gehen, an ihrer Stelle würde ich Nicole dabei mitnehmen.“ Ein Lächeln umspielte Hannahs Gesicht, während sie das sagte. „Wie sie befehlen, Ma’am.“ Hannah hätte beinahe laut gelacht, beherrschte sich aber. Während Miller immer noch stramm stand, versuchte sie ihre Fassung zurückzuerlangen, dann sagte sie, „stehen sie bitte bequem, Mister Miller. Ich befehle zwar vieles, aber bestimmt nicht, dass sie mit meiner Schwester spazieren gehen. Das müssen sie schon freiwillig machen.“ „Danke, Ma’am“, Miller salutierte und fuhr davon. Hannah machte es sich auf dem Zimmer bequem, packte noch ein wenig aus, ließ aber alles, was sie erst in Düsseldorf zu benötigte, im Koffer. Vor allem ließ sie die meisten ihrer Zivilsachen im Koffer, denn diese sollten erst in Düsseldorf zum Einsatz kommen. Kurz bevor es Zeit für das Diner wurde, klopfte es an der Tür.
„Herein“, rief Hannah.
Captain McLoud trat ein, „Ma’am, darf ich sie zum Diner begleiten?“
„Ja, gern, Mister McLoud. Wer ist der ranghöchste Offizier im Depot? Einen Brigadier gibt es nicht, wie sie bereits andeuteten.“
„Colonel Hoyle, Ma’am. Der ist aber zurzeit im Urlaub. Sie müssen mit uns zwei Captains und den Lieutenants vorlieb nehmen. Ich bin der Dienstälteste.“
„Gut, für mich ist das kein Problem. Ich bitte sie und ihre Kameraden nur, so locker wie möglich zu sein. Ein Brigadier ist auch nur ein Mensch. Kriegen sie das hin, Captain?“
„Ich werde es versuchen, Ma’am.“
„Instruieren sie ihre Kameraden bitte entsprechend.“
„Zu Befehl, Ma’am.“
„Mister McLoud, ich bat darum, locker zu bleiben. Da schließen sich solche Redewendungen aus.“
„Ich verstehe, Ma’am.“
Der Abend verlief für Hannah und die mit ihr am Tisch sitzenden Captains und Lieutenants im lockeren Gespräch. Anfangs taten sich vor allem die jüngeren am Tisch etwas schwer mit einer fremden und ranghohen Offizierin. Da Hannah aber locker war und mit allen am Tisch sitzenden freundlich und respektvoll umging, entspannten sich die Tischnachbarn, nur manchmal wurde sie mit Ma’am angesprochen. Hannah hielt das für unumgänglich und überhörte die Anrede. Captain McLoud erwies sich als interessanter Unterhalter und als im Gespräch die Zeit vor dem Krieg thematisiert wurde, konnte Hannah über die Begebenheiten in den Tagen und Wochen vor dem Krieg den meist jüngeren Offizieren einiges erklären und erläutern. Hannah verließ die Runde später, als sie es sich vorgenommen hatte. Sobald sie sich erhob, standen alle auf und grüßten zackig, Hannah erwiderte freundlich und warf Captain McLoud einen gespielt bösen Blick zu. „Wird nicht wieder vorkommen, Ma’am“, sagte dieser. Hannah bedankte sich und ging auf ihr Zimmer. Sie legte sich auf das Bett, nahm die Reisebilder zur Hand und blätterte darin, sie dachte voll Sehnsucht an Hans.
Miller stand bereits neben der Limousine, als Hannah pünktlich um acht vor das Haus trat, er riss den Schlag auf und stand stramm. Hannah grüßte ihn freundlich und bat ihn sofort loszufahren. Während der Fahrt saß Hannah entspannt auf der Rückbank, sie hoffte, dass Sarah sich in Arromanches wohlfühlte. Es war das erste Mal, dass sie ihre Tochter über mehrere Tage allein lassen wollte. Als die Limousine vorfuhr, hüpfte Sarah auf dem Trottoir vor der Bar, Nicole war bei ihr. Sobald Miller den Schlag geöffnet hatte, stürzte Sarah auf Hannah zu, „Mum, Mum, ich habe Grandpa geholfen ein Fass Bier anzuschließen und Granny habe ich beim Abwaschen geholfen.“ „Und du hast mit Nicole gelernt?“ „Ja doch, Mum.“ Sobald das geklärt war, wandte sich Hannah an Nicole, die beiden Frauen begrüßten sich mit einer Umarmung.
„Ich bin um eins mit Brigadier Crown verabredet und ich möchte auf jeden Fall pünktlich sein, Mister Miller. Wann müssen wir abfahren?“
„Halb zwölf reicht auf jeden Fall, Ma’am.“
„Gut, bis dahin benötige ich sie nicht, sie können spazieren gehen, ich vermute, meine Schwester wird sie gerne begleiten, um ihnen die Sehenswürdigkeiten des Ortes zeigen, Mister Miller.“ Nicole stieg vor Verlegenheit die Röte ins Gesicht.
„Mum, darf ich mitgehen?“
„Nein, Sarah, Nicole und Sergeant Miller haben etwas zu besprechen.“
„Ich störe bestimmt nicht.“
„Ich habe nein gesagt, Sarah!“
Miller salutierte, „danke, Ma’am. Kommst du bitte, Nicole?“
Sich bei den Händen haltend, gingen die beiden Liebenden in Richtung Strandpromenade. Sarah nörgelte noch etwas über Hannahs Verbot mitzugehen, aber Hannah erklärte, „mein Schatz, Nicole und Sergeant Miller haben sich ineinander verliebt und sie sehen sich doch nur selten. Sieh das doch ein.“ „Ja doch Mum. Heiraten sie?“ „Das weiß ich nicht – vielleicht. Komm, wir gehen hinein.“ In der Bar trafen sie auf Christine und François, Hannah begrüßte beide mit Küssen. Christine wollte gerade zum Bäcker und fragte Sarah, ob sie mit wolle. Diese stimmte freudig zu und Hannah meinte, sie käme auch mit. „Dann kriege ich kein Croissant“, reagierte Sarah unwillig. „Doch Schatz, ich kaufe dir auch einige Sweeties. Die teilt aber Nicole ein. Sie müssen reichen, bis ich aus Deutschland zurückkomme.“ Sarah reagierte erfreut, nahm Christine bei der Hand und sagte, nun komm doch, Granny. Auf der Straße nahmen die beiden Frauen Sarah in ihre Mitte.
„Ima, kann ich euch das wirklich zumuten, Sarah bei euch zu lassen?“
„Ja, sicher, die meiste Arbeit übernimmt Nicole. Für uns bleibt eigentlich nicht mehr übrig, als Oma und Opa zu sein.“
„Und wenn Nicole zum Dolmetschen gebraucht wird?“
„Das geht auch. Sarah kann genug Brocken Französisch, damit wir uns verständlich machen können.“
„Ich werde, bevor ich abreise, noch einmal intensiv mit Sarah sprechen.“
„Das brauchst du nicht, Sarah ist ein liebes Kind.“
Hannah nickte, „Ima, ich habe intensiv mit Norman darüber gesprochen, dass Nicole sehr verletzlich ist. Ich glaube, er meint es ernst mit ihr.“
„Davon gehe ich auch aus. Norman ist ein guter Mann. Ich habe ihm erklärt, was mit Nicole geschehen ist, sobald ich ihre gegenseitige Zuneigung bemerkt habe. Normans Französisch ist zwar verbesserungsfähig, aber ich denke zumindest das meiste hat er verstanden.“
„Das war gut, Ima, denn Norman hat mir anvertraut, dass Nicole mit ihm nicht darüber spricht.“
„Hannah, meinst du, Nicole solle mit Norman darüber sprechen? Ich meine ja, aber Norman hat ihr gesagt, es gäbe nichts, was sie ihm erklären müsse.“
„Ich bin da deiner Meinung, Ima. Aber regeln können sie das nur allein. Das liegt nicht unserer Entscheidung.“
Beim Bäcker bekam Sarah ein Croissant auf die Hand und Hannah kaufte eine ziemlich große Tüte Süßigkeiten, da fiel ihr Captain McLoud ein, „Ima, ich habe vergessen Nicole zu sagen, dass sie heute am Nachmittag in Bayeux als Dolmetscherin gebraucht wird.“
„Nun ja, Töchterchen. Wo ist das Problem?“
„Ich wollte sie darauf vorbereiten. Captain McLoud spricht vor dem Stadtrat und Nicole wird die Rede übersetzen.“
„Kann sie das?“
„Ja sicher, Nicole ist ein Genie. Ein Glück, dass ihr sie aufgenommen habt. Sie wäre verkümmert bei ihren Leuten.“
„Sie ist eine gute Tochter, genau wie du.“
Spontan drückte Hannah ihre Mutter an sich. Dann nahm Christine Sarah bei der Hand, während diese mit Hingabe an ihrem Croissant knabberte. In der Bar war einiger Betrieb, als sie zurückkamen. François winkte ab, als Christine ihm helfen wollte. So ging sie mit Sarah an der Hand in die Küche, Hannah folgte. Endlich geht der Umsatz wieder in die Höhe, meinte Christine, als sie in der Küche waren. Hannah half bei den Vorbereitungen für den Mittagstisch und es gab auch immer wieder kleine Aufgaben für Sarah, die diese mit großem Ernst ausführte. Hannah wäre gerne in dieser Idylle geblieben, aber leider war ihre Zeit heute begrenzt. Um kurz nach elf kamen Nicole und Norman von ihrem Spaziergang zurück und da Hannah jetzt eingeweiht war, hielten sie sich weiter bei den Händen. Sarah gesellte sich zu ihnen und kuschelte sich bei Nicole an, während Hannah weiter Christine zur Hand ging. Dann fiel ihr wieder Captain McLoud ein.
„Nicole, der Captain holt dich nachher ab. Er hält eine Rede vor dem Stadtrat von Bayeux und du sollst übersetzten.“
Nicole wurde blass, „das kann ich nicht, da fehlt mir die Übung.“
„Oh doch, du bist perfekt. Du machst dir unnötige Sorgen!“
Norman zog Nicole in seine Arme, „Nicole, ich bin der gleichen Meinung! Du sprichst so perfekt Englisch, da ist es ein Leichtes für dich, Captain McLouds Rede zu dolmetschen.“
Da Hannah und Nicole Französisch sprachen, verstand Sarah nicht, um was es ging, „Mum, warum schimpfst du Nicole aus?“
„Schatz, ich schimpfe doch nicht mit Nicole, ich mache ihr Mut. Sie darf heute eine Rede übersetzten und traut sich nicht so richtig.“
Sarah drückte sich wieder an Nicole, „du brauchst keine Angst zu haben, Nicole. Wir helfen dir doch alle.“
Nicole strich Sarah über den Kopf, „ich habe jetzt keine Angst mehr, Süße.“
Hannah schaute auf die Uhr, „Norman, ich glaube, es wird Zeit für uns.“
„Ich bin bereit, Ma’am.“
„Norman!!“
„Entschuldigung, ich meinte Hannah.“
„Dann lasse ich euch jetzt allein, ihr könnt euch so für heute in Ruhe verabschieden. Komm bitte mit Sarah.“
In der Gaststube trafen sie auf Félix, der sie erfreut begrüßte, „wenn du schon nicht mein Decksmann werden willst, hast du einen ärztlichen Rat für mich?“ „Immer, woran leidest du denn?“ „An gebrochenem Herzen, seit du mir einen Korb gegeben hast, als Decksmann hätte ich dich gut gebrauchen können.“ Hannah lachte und gab Félix einen freundschaftlichen Stoß vor die Brust, „du bist ein Spinner, aber einer der netten.“ Auch François lachte, „komm, ich schütte dir ein Bier ein – gegen das gebrochene Herz.“ Christine kam aus der Küche, nahm Sarah an die Hand und fragte, „du bleibst bei mir, wenn Nicole arbeiten muss?“ „Ja sicher, Granny, sonst hast du viel zu viel Arbeit.“ Christine schaute auf Hannah, die aber offensichtlich noch nicht in Eile war, sondern sich intensiv mit Félix und François unterhielt. Nach einiger Zeit kamen auch Nicole und Norman. Norman hatte einen Arm um Nicoles Schultern gelegt, beide strahlten vor Glück. Norman gab Nicole noch einen Kuss und ging dann zum Wagen. Er streichelte ihr dabei über die Wangen, „Schatz, bitte bleib in der Gaststube, draußen wird es jetzt dienstlich.“ Nicole gab ihm einen Knuff in die Seite. Hannah erinnerte sich an die Zeit, als sie hier in der Normandie glückliche Tage mit Hans verbracht hatte. Sie waren so glücklich gewesen und doch mussten sie sich damals trennen. Zum Glück gab es Sarah als lebenden Beweis, wie sehr sie sich geliebt hatten. Hannah riss sich von ihren Gedanken los, verabschiedete sie ausgiebig von Sarah und ermahnte sie brav zu sein, was diese als überflüssige Belehrung empfand. Nicole erhielt im Vorbeigehen einen Knuff und einen Kuss, „du kannst das, Achot!“ Nicole lächelte schwach, nickte aber zustimmend. Als Hannah vor die Tür trat, stand Sergeant Miller stramm, „zum Lazarett, Ma’am?“ „Ja, Mister Miller.“ Hannah hatte sich auf die Rückbank gesetzt, sie hätte lieber vorn gesessen, wollte aber lernen sich an die Konventionen zu halten. Sobald die Limousine über die Nationalstraße glitt, beugte sie sich vor, „Norman, sobald wir bei Nicole zu Hause sind, werden wir in Zukunft du zueinander sagen, du gehst mit meiner Schwester und ihren Freund zu siezen, erscheint mir widersinnig.“ „Danke, Hannah, das ist sehr großzügig.“ Das du anzuwenden vermied er. Nach einiger Zeit fuhr Sergeant Miller vor dem Lazarett vor, sprang aus der Limousine und riss den Schlag auf. „Bitte Ma’am!“, sagte er dazu. „Bitte übertreiben sie nicht, Sergeant“, zischte Hannah, sobald sie nah genug an Norman vorbeikam.
Brigadier Crown begrüßte Hannah mit großer Freundlichkeit. Beide kannten sich aus Crowns Tätigkeit in London und Hannah hatte sich dort viel von seinen Fertigkeiten abgeschaut. Der Brigadier erklärte auch gleich, dass ihn der General über Hannahs Aufgaben unterrichtet habe und er sich darauf freue, dass Hannah ihn zumindest zeitweise bei der Leitung des Lazaretts unterstützen werde. Menschenführung sei nicht sein Ding und er habe schon darüber nachgedacht, seinen Abschied zu nehmen und irgendwo im Norden, vielleicht in Northumberland zu praktizieren. Hannah meinte, das sei sicher nicht im Sinne des Generals, was der Brigadier mit einem Schulterzucken beantwortete. Beide gingen zum Lunch, wobei Crown Hannah eröffnete, dass sie bereits am späteren Nachmittag einen Termin beim Bürgermeister hätten. Es wurde ihr ziemlich mulmig bei der Vorstellung, auf den höchsten Repräsentanten einer Stadt zu treffen, die erst vor kurzer Zeit von den Alliierten Streitkräften zerstört worden war.
„Ich schlage vor, dass sie nachher eine Inspektion der Ambulanz durchführen, Miss Schwarz“, schlug der Brigadier vor, als beide mit dem Essen fertig waren.
„Eine gute Idee, Mister Crown. Kommen sie mit?“
„Ich glaube, es wäre besser, sie würden ohne mich gehen. Das macht allen klar, dass sie das Sagen haben. Nehmen sie sich einen der jungen Lieutenants mit, der sie durch die Räumlichkeiten führt. In der Ambulanz arbeiten auch zivile Kräfte aus dem Umland, mit ihrem perfekten Französisch werden sie sich auch dort den nötigen Respekt verschaffen.“
„Gibt es etwas Besonderes zu beachten?“
„Nein, aber es gibt eine Mischung aus einheimischen Mitarbeitern und unseren unteren Dienstgraden, die nicht von Vorteil ist. Sie treiben sich nach Dienstschluss gemeinsam in der Stadt herum. Auf das zivile Personal haben wir nur wenig Einfluss, aber unseren Leuten zeigen sie, wer der Herr im Haus ist. Ich sehe das so, sie inspizieren und wie ich sie kenne, machen sie das gründlich und gewissenhaft. Der Bürgermeister wird uns auf jeden Fall auf unser Personal ansprechen und uns dringend bitten, bei unseren Leuten für Mäßigung zu sorgen. Wir können uns danach noch einmal besprechen. Mit ihren Informationen von der Inspektion und den Bitten des Bürgermeisters haben sie genug Wissen, um am Abend eine Instruktion abzuhalten. Sind sie auch dieser Ansicht?“
„Ja, Mister Crown, ich lege aber Wert darauf, dass wir uns nach dem Besuch beim Bürgermeister noch einmal absprechen.“
„Wenn sie das wünschen, machen wir es auf jeden Fall so. Ich rufe nach Lieutenant Gladstone, er wird sie begleiten, wenn sie es wünschen, Miss Schwarz. Er ist ein begabter junger Mann und sehr kompetent. Er kann ihr Adjutant sein, wenn sie es möchten, auch bei ihrer Inspektion in Düsseldorf. Der General ist informiert.“
„Lassen sie Gladstone kommen, ich mache die Inspektion mit ihm. Ich folge ihrer Empfehlung, er soll mein Adjutant sein.“
„In Ordnung, Miss Schwarz. Ich rufe nach Gladstone. Sie benötigen noch ein Büro, gegenüber meinem ist ein Raum frei, wir können uns dann das Vorzimmer teilen, recht so?“
„Ja, sicher, Mister Crown.“ Hannah lächelte verbindlich.
Hannah sah sich den von Crown angebotenen Raum an, der sehr spartanisch eingerichtet war und aus dem Fenster Ausblick auf die Trümmerwüste von Caen bot. Sie zeigte sich zufrieden und richtete sich umgehend notdürftig ein, als es klopfte. Der Adjutant von Brigadier Crown öffnete und meldete, „Lieutenant Gladstone für sie, Ma’am.“ Hannah antwortete, „ich lasse bitten.“ Über das ganze Gerede hätte sie am liebsten laut losgelacht, blickte aber gespannt zur Tür in der Erwartung, wer denn da eintreten würde. Der junge Lieutenant trat ein und grüßte ziemlich lässig. Hannah bat den jungen Mann näher heran und bot ihm Platz auf dem wackeligen Besucherstuhl an. Der Lieutenant hatte nicht damit gerechnet, sich setzen zu dürfen und wirkte verunsichert. Er nahm den Stuhl erst, als Hannah hinter dem Schreibtisch Platz genommen hatte.
„Mister Gladstone, sie haben schon einmal als Adjutant gearbeitet?“
„Nein, Ma’am, noch nie.“
„Jeder fängt irgendwann einmal an, ich habe auch noch nie als Brigadier gearbeitet und mein Adjutant sind sie ja auch nur, solange ich auf dieser Dienstreise bin – vorerst zumindest.“
„Sehr wohl, Ma’am!“
„Nennen sie mich so selten wie möglich Ma’am, Mister Gladstone, dann werden wir schon klarkommen.“
„Ich werde mich bemühen.“
„Gut, sie kennen sich hier aus, ich begebe mich jetzt auf Inspektion in die Ambulanz, bitte gehen sie voraus, auch wenn das nicht den Konventionen entspricht.“
„Wie sie befehlen, Ma’am!“
Der Lieutenant wies Hannah den Weg zur Ambulanz, wo er sie beim leitenden Arzt anmeldete. Sie besprach kurz mit dem Arzt ihre Vorgehensweise. Zu dritt gingen sie durch die Abteilung. Ab und zu machte sie sich Notizen, gab Gladstone Anweisungen, was er zu erledigen hätte und fragte den Arzt gezielt nach Einzelheiten. Am Ende des Rundgangs zeigte sich Hannah recht zufrieden. Die Organisation im Wartebereich bemängelte sie. Sie bedankte sich beim Doktor für die Führung und bat ihn am kommenden Morgen in ihr Büro zu kommen. Zurück im Büro war es schon Zeit, um zum Bürgermeister aufzubrechen. Vor dem Eingang wartete Miller neben dem Wagen, als er der beiden Brigadiers gewahr wurde, riss er zuerst für Hannah den Schlag auf, umrundete den Wagen und öffnete für Crown. „Zum Bürgermeisteramt“, wies Hannah Miller an, als dieser am Steuer Platz nahm. „Sehr wohl, Ma’am“, antworte Miller und fuhr los.
„Geben sie mir bitte noch ein paar Informationen, Mister Crown. Wie heißt der Bürgermeister?“, sagte Hannah, sobald sich der Wagen in Bewegung gesetzt hatte.
„Yves Guillou, Miss Schwarz.“
„Was ist Monsieur Guillou für ein Mensch?“, fragte Hannah.
„Er weigerte sich nach der Besetzung, mit den Deutschen zusammenzuarbeiten und wurde von der Gestapo inhaftiert. Er hatte Glück und entging der Hinrichtung der politischen Gefangenen von Caen im Juni 1944. Nach der Befreiung ging er mit Macht daran, dafür zu sorgen, dass die Stadt vom Schutt befreit wurde. Über 2 Millionen Kubikmeter Schutt ließ er abtransportieren. Was sie hier in der Stadt sehen, sind also nur noch Reste der Trümmerberge, die die Alliierten bei der Befreiung vorfanden. Er ist ein Mann von großer Tat- und Durchsetzungskraft.“
„Ist er im Umgang angenehm?“
„Ja, schon, Miss Schwarz. Nur im Moment ist er sehr verärgert. Sie sind die Person, die unser Verhältnis wieder auf die Basis gegenseitigen Vertrauens zurückbringen kann. Vielleicht versprechen sie einen leichteren Zugang der Bevölkerung zu unserer Ambulanz, sie sehen ja, welche Not hier herrscht. Sie sollten das Gespräch auf unserer Seite führen. Ich habe kein Problem Französisch zu verstehen, nur selbst formulieren fällt mir schwer.“
„Sie würden ein solches Angebot unterstützen?“
„Ja sicher. Unser Lazarett ist nach dem Ende des Krieges nicht mehr ausgelastet. Miss Schwarz, ich halte alles, was die Not in dieser Stadt lindert, für ein Gebot der Humanität.“
„Wir haben die Unterstützung des Generals?“
„Ja, er wollte ihnen die Entscheidung überlassen.“
„Sie stellen mich dem Bürgermeister vor?“
„Ja, gerne, schließlich kenne ich ihn schon einige Zeit. Das Rathaus befindet sich in der ehemaligen Männerabtei Saint-Étienne, genauer gesagt, in den Ruinen der Abtei.“
Miller fuhr vor dem zerschossenen Portal des Rathauses vor, sprang aus dem Wagen, öffnete zuerst Hannah, dann Crown die Tür und nahm Haltung an. Hannah dankte entgegen der Vorschrift mit einem Lächeln, während der Brigadier die Hand an die Mütze hielt. Der vor dem Portal Wache haltende Gendarm nahm Haltung an, als er die beiden hohen Offiziere bemerkte. Sie gingen grüßend an ihm vorbei und betraten beide das Gebäude. Bei der Rezeption sagte Brigadier Crown, „bitte melden sie dem Bürgermeister, Brigadier Schwarz und Brigadier Crown wünschten vorgelassen zu werden.“ Der Rezeptionist telefonierte und sagte dann, „der Herr Bürgermeister kommt sofort.“ Kaum waren die Worte ausgesprochen, erschien Monsieur Guillou auf der Treppe, er wirkte erfreut, die beiden Brigadiers zu sehen. Crown begrüßte er herzlich und ließ sich Hannah vorstellen. Beide reichten sich freundlich die Hand, bereits nach einigen kurzen Sätzen, sah sich Monsieur Guillou genötigt, Hannahs hervorragendes Französisch zu loben. Sie bedankte sich artig für das Kompliment, das Eis zwischen beiden war gebrochen. In seinem Büro bat er Hannah und Crown am Konferenztisch Platz zu nehmen. Hannah kam schnell zum Grund ihres Besuchs, versuchte die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen und äußerte ihre tiefe Verärgerung über das Verhalten von Mitarbeitern des Lazaretts. Sie entschuldigte das mit aufkommender Langeweile, die sie dadurch bekämpfen wolle, dass die Ambulanz und das Lazarett für die Zivilbevölkerung geöffnet werden sollten. Um die positiven Aspekte ihres Vortags noch zu verstärken, fügte Hannah zum Schluss hinzu, wie sehr sie sich der Normandie verbunden fühle und wie viel Dank sie deren Bürgern schulde, die aktiv ihre Rettung vor den Nazis unterstützt hätten. Monsieur Guillou zeigte sich angetan von dem, was Hannah vorgetragen hatte, lobte noch einmal ihr perfektes Französisch und bot den Besuchern Kaffee an, wozu Caramel und Galettes Sablés gereicht wurden.
„Sie sind keine gebürtige Engländerin, Mademoiselle Schwarz, oder wie kam es sonst zu ihrer Flucht vor den Nazis?“
„Ich stamme aus Deutschland, Monsieur Guillou. Ich wurde verfolgt, weil ich Jüdin bin.“
Der Bürgermeister nickte, „das war eine schlimme Sache, sie sind entkommen, wie ist es ihrer Familie ergangen?“
„Meine Eltern und all meine Verwandten wurden ermordet, Monsieur Guillou.“
„Das tut mir leid. Ich verstehe nicht, was Menschen sich alles antun. Die Hassausbrüche nach der Befreiung zähle ich auch dazu. Ich weine eigentlich keinem Kollaborateur eine Träne nach, aber da wurden Menschen gequält und sogar getötet, die niemals mit den Deutschen zusammen gearbeitet hatten.“
„Wir sind zutiefst beschämt, dass sich ehemalige Mitarbeiter unseres Lazaretts an diesen Ausschreitungen beteiligt haben und hoffen, dass Geschädigten uns das verzeihen können“, antwortete diesmal Brigadier Crown. „Ich weiß von einem Fall aus dem persönlichen Umfeld von Brigadier Schwarz, eine junge Frau wurde fast zu Tode gequält. Brigadier Schwarz hat es sehr getroffen, als sie davon erfuhr.“
„Ich hoffe Mademoiselle Schwarz, sie und die betroffene Person kommen darüber hinweg. Für mich ist das eine Schande, die auf uns lastet. Sie bleiben uns zusammen mit Monsieur Crown erhalten? Die Zusammenarbeit mit ihnen beiden empfinde ich als äußerst angenehm.“
„Mister Crown ist ständig anwesend und ich werde wohl auch häufig in Caen sein, Monsieur le Maire. Nächste Woche bin ich dienstlich in Deutschland, in der Woche darauf bin ich mit Sicherheit in Caen. Danach werden wir weiter sehen. Auf jeden Fall erwartet der Generalarzt meinen Bericht und dazu muss ich nach London.“
Monsieur Guillou brachte die beiden Brigadiers noch bis vor die Rathaustür und verabschiedete sich dort herzlich. Miller stand wieder stramm neben der Limousine, Hannah ging das ganze militärische Getue eigentlich auf den Geist, sie hatte wieder einmal den Eindruck sich nie daran gewöhnen zu können. Seit ihrer Beförderung war das ihrem Gefühl nach noch schlimmer geworden. Sehr wohl Ma’am, wie Ma’am Befehlen und so fort. Vergeudung von Lebenszeit nannte sie das, was sie als Getue empfand. Sie ließ sich nichts anmerken und lächelte bei jeder Ehrenbezeigungen freundlich. Auf der Rückfahrt saß Brigadier Crown sehr entspannt neben ihr. Nach einiger Zeit bemerkte er, sie sei ein Genie auf dem Gebiet Menschen friedlich zu stimmen, was bei Hannah Lachen auflöste. Sie fragt bei ihm nach, ob sie mit ihrer Ankündigung das Lazarett für Zivilisten zu öffnen nicht zu weit gegangen sei. Brigadier Crown verneinte das und erklärte dann, wenn das der General nicht für richtig halten sollte, sei das zuerst einmal sein Problem und er selbst würde auf jeden Fall mit ihr zusammen dafür gerade stehen. Hannah dankte Crown, denn sie hatte das Gefühl, sie hätte an dieser Stelle besser geschwiegen.
„Bitte setzten sie sich, Miss Schwarz. Ich komme sofort zu ihnen“, Crown deutete auf die Sitzgruppe in der Ecke seines Büros und ging noch einmal zurück ins Vorzimmer. Als er zurückkam, setzte er sich Hannah gegenüber, „Miss Schwarz, ich bewundere ihr Verhandlungsgeschick.“
„Danke Mister Crown. Verteilen sie nicht zu viele Vorschusslorbeeren.“
„Nein, tue ich nicht. Kommen wir zur Instruktion. Haben sie eine Idee dazu?“
„Ja, habe ich. Ich werde davon sprechen, dass von den Mitarbeitern des Lazaretts auch in ihrer Freizeit ein angemessenes Verhalten erwartet wird, damit es keinen Grund mehr zu Klagen gibt. Als Gäste in einem befreundeten Land sind wir verpflichtet, der einheimischen Bevölkerung respektvoll zu begegnen. Zuwiderhandlungen werden wir nicht tolerieren und hart durchgreifen. Danach werde ich die Öffnung der Ambulanz für Zivilpersonen ankündigen und auch in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hinweisen, dass diese zivilen Personen Bürger eines befreundeten Landes sind und dementsprechend behandelt werden müssen. Sind sie damit einverstanden?“
„Ja Miss Schwarz.“
„Sie kommen doch mit, Mister Crown?“
„Ja, wenn es ihr Wunsch ist.“
„Danke Mister Crown. Ich möchte morgen die Orthopädie inspizieren, einverstanden?“
„Ja sicher.“
Hannah sprach eindringlich vor den Mitarbeitern der Ambulanz über den Umgang mit Bürgern befreundeter Länder, von der Aufgabe sein eigenes Land in der Fremde würdig zu vertreten und davon, dass gerade sie, in ihrer Funktion, ihr eigenes Land nach außen vertreten. Nachdem sie all das dargestellt hatte, verpackte sie die Drohung mit den Konsequenzen für eventuelles Fehlverhalten in den Satz, dass sie sich nicht vorstellen könne, dass sich einer der Anwesenden ungebührlich verhalten könne, jedoch würde eventuelles Fehlverhalten strengstens geahndet. Danach wechselte sie das Thema und kündigte an, dass die Ambulanz so umstrukturiert würde, dass in Zukunft auch Zivilisten behandelt werden könnten. Eindringlich machte sie noch einmal klar, bei jedem Kontakt mit Zivilisten müsse immer daran gedacht werden, dass es sich um Bürger eines befreundeten Landes handele. Als Hannah endete, erhob sich Brigadier Crown spontan und wies darauf hin, dass Miss Schwarz gleichberechtigte Leiterin des Lazaretts sei und ihren Anordnungen unbedingt Folge zu leisten sei. Auch er warnte vor den Folgen von Fehlverhalten, nutzte aber dabei weitaus drastischere Worte. Nach der Instruktion unterhielten sich die beiden Brigadiers noch kurz, bevor Hannah zum Depot zurückfuhr. Sie bestellte Miller für den nächsten Morgen um acht und ging dann zum Diner.
Die Woche verging mit weiteren Inspektionen und Besprechungen. Hannah und Crown besuchten in dieser Zeit so viele Gemeindeämter, dass Hannah am Ende der Woche nicht mehr wusste, wo sie überall gewesen waren. Am Freitag gab Hannah Gladstone die Anweisung, sich bei der Flugbereitschaft zu erkundigen, wie sie gemeinsam mit ihm im Laufe der kommenden Woche nach Düsseldorf käme. Gladstone war hocherfreut darüber, dass Hannah ihn mitnahm, er machte sich Hoffnung darauf, dass Hannah ihn als ständigen Adjutanten auswählen würde. Sie inspizierte an diesem Tag zusammen mit Brigadier Crown die Chirurgie. Die Chirurgie war das Fachgebiet von Brigadier Crown und somit so etwas wie sein Steckenpferd. Hannah war angetan von dem, was sie sah und schlug dem Brigadier vor, sie sollten den Plan, der Bevölkerung der Normandie die Einrichtungen des Lazaretts zugängig zu machen, schnellstens umsetzten. Der Brigadier war einverstanden und versprach, sich während ihrer Abwesenheit beim Generalarzt dafür einzusetzen. Hannah kündigte an, sie würde sich heute noch einmal mit dem leitenden Arzt der Ambulanz zusammensetzen, um die Abläufe im Wartebereich für die zusätzlichen Patienten zu optimieren. Kaum war Hannah in ihrem Büro, meldete sich Gladstone.
„Nun, Mister Gladstone, was haben sie erfahren? Bitte setzen sie sich.“
„Danke Ma’am“, antwortete der Lieutenant und setzte sich, nachdem Hannah sich hinter ihrem Schreibtisch niedergelassen hatte.
„Bitte berichten sie.“
„Es gibt einen Flug am Dienstag mit Zwischenlandung in Frankfurt und einen Direktflug am Donnerstag, beide ab Caen, Ma’am.“
„Um wie viel Uhr startet die Maschine am Dienstag, Mister Gladstone?“
„Mittags um eins, Ma’am. Aber es handelt sich um ein Transportflugzeug – das ist nicht sehr bequem, Ma’am.“
„Das nehme ich in Kauf, wir nehmen diesen Flug. Die Abflugzeit ermöglicht es mir, die Nacht vor dem Flug mit meiner Tochter zu verbringen. Melden sie uns für den Flug an und verständigen sie den leitenden Arzt der Ambulanz, dass ich ihn noch heute zu sprechen wünsche.“
„Sehr wohl Ma’am. Gestatten sie, dass ich mich entferne?“
„Danke, Lieutenant, das war alles. Ich fahre morgen am Mittag nach Arromanches. Ich benötige sie dann bis Montagmorgen nicht.“
Nachdem der Lieutenant gegangen war, widmete sich Hannah ihrer Post. Es war nichts Wichtiges dabei, bis sie auf einen Brief von Hans stieß. Obwohl sie ihre Neugier kaum unterdrücken konnte, streckte sie das Kuvert in eine Tasche ihrer Uniform. Als nächstes stieß sie auf ein Schreiben des Generalarztes, welches sie ebenfalls bei Seite legt. Als sie die Post bis auf die beiden Briefe abgearbeitet hatte, ließ sie sich einen Tee kommen. Während sie trank, dachte sie intensiv an Hans. Sie überlegte hin und her, wie sie Sarah auf ein Zusammentreffen mit ihrem Vater vorbereiten könnte. Sie hatte es sich bisher immer leicht gemacht und Sarah immer nur gesagt, dass ihr Vater Deutscher wäre. Da sie davon ausging, dass auch Hans zu dieser Frage keine zündende Idee haben würde, beschloss sie, Sarah auf der Fahrt zu Hans zu erzählen, dass er ihr Vater wäre. Sie war sich unsicher, wie sie ihrer noch so kleinen Tochter die Rolle ihres Vaters während der Besatzung verständlich machen sollte. Ein ganz normaler Vater wäre sicherlich einfacher gewesen. Hannah schob die geleerte Teetasse zur Seite und öffnete den Brief des Generalarztes. Es war ein dienstliches Schreiben und somit im Ton distanziert, aber er nahm Bezug auf das, was er inzwischen von Brigadier Crown über ihr Wirken in Caen gehört hatte und bestärkte Hannah darin, wie bisher weiterzumachen. Die Kontaktaufnahme zu den Vertretern der umliegenden Gemeinden hob er besonders hervor und bat sie, diese Kontakte weiterhin zu pflegen. Im Schlusssatz ging der Generalarzt zu einem persönlicheren Ton über und wünschte ihr eine glückliche Hand bei ihrem Besuch in Düsseldorf. Außerdem erkundigte sich nach dem genauen Termin der Reise. Sie ging daraufhin ins Vorzimmer und diktierte einem der Schreiber die Antwort direkt in die Maschine. Hannah war noch beim Diktat, als Gladstone mit dem leitenden Arzt der Ambulanz erschien. Er machte Meldung und berichtete Hannah, dass der Flug reserviert sei. Hannah zog sich nach dem Diktat mit dem Arzt in ihr Büro zurück und bat Gladstone als Protokollführer mitzukommen. Sie hatte sich zurechtgelegt, wie sie den Arzt im Rang eines Captains für ihre Pläne gewinnen konnte. Zu Hannahs Überraschung stieß sie mit ihren Plänen auf offene Ohren, der Captain konnte sich für die Neuorganisation richtig begeistern. Da somit die Besprechung schneller endete als gedacht, entschloss sich Hannah nach Miller rufen zu lassen, um nach Arromanches zu fahren. Während sie auf das Auto wartete, rief sie Captain McLoud an und teilte ihm mit, dass sie nicht zum Diner erscheinen würde, sich aber liebend gern mit ihm und seinen Kameraden am Abend im Kasino träfe.
Sergeant Miller grüßte gewohnt zackig und hielt den Schlag auf. Sobald er hinter dem Steuer Platz genommen hatte, nannte Hannah das Fahrziel. „Wie sie befehlen, Ma’am“, antwortete er und ließ sich dabei nicht einmal andeutungsweise anmerken, wie sehr ihn das Ziel der Fahrt erfreute. In Arromanches eilte Miller wieder um die Limousine und hielt für Hannah den Schlag auf. Während sie ausstieg, hielt sie einen Moment inne und erklärte im dienstlichen Ton, er möge ein wenig warten, bis er ihr in die Bar folge. Wie immer folgte eine zackige Antwort, „wie sie befehlen, Ma’am.“ Hannah betrat die Bar, in der ein reger Betrieb herrschte. François hatte am Tresen gut zu tun und sogar ein dralles junges Mädchen bei sich, das an den Tischen servierte. Hannah gegrüßte Félix, der am Tresen stand und mit einigen anderen Fischern plauderte, dann ging sie um den Tresen herum und begrüßte François mit Wangenküssen. François kniff ein Auge zu und meinte zu Hannah, sie solle in die Küche gehen, dort träfe sie auf den Rest der Familie. Obwohl Hannah sich zusammenriss, da sie in Uniform war, gab sie François unauffällig einen Stoß und sagte leise, „danke Aba.“ In der Küche fand Hannah Christine allein am Herd, hörte aber, dass im hinteren Zimmer intensiv Englisch gesprochen wurde. Christine legte einen Finger an den Mund, um Hannah zu bedeuten, dass sie leise sein solle. So drückten sich die beiden Frauen wortlos, dann flüsterte Hannah, „Bonjour, Ima.“ Hannah hörte jetzt, dass Nicole Sarah unterrichtete. Sie hörte zu, während Sarah einige Sätze aus einem Schulbuch vorlas. Danach sprachen die beiden Französisch, wobei Hannah über die Sprachkenntnisse ihrer Tochter erstaunt war. Nach einiger Zeit beendete Nicole den Unterricht und Sarah kam in die Küche gerannt, sie stutzte, als sie ihre Mutter erblickte.
„Maman, Maman, ich kann schon ganz viel mit Granny und Grandpa sprechen, Nicole hat es mir beigebracht.“
„Das ist schön, mein Schatz. Bekomme ich einen Kuss?“
Hannah hockte sich vor Sarah hin und diese schmuste sich bei ihr an, „Mum, holst du mich ab?“
„Nur, wenn du es möchtest, Süße. Möchtest du mit mir kommen?“
„Nein Mum, du musst ja arbeiten und hier kann ich schön am Strand spielen, aber nur, wenn Grandpa Zeit hat. Warum?“
„Sarah, darf ich dir das später erklären? Ich möchte Granny beim Kochen helfen, denn ich kann nicht sehr lange bleiben, aber morgen Mittag komme ich wieder und bleibe bis Sonntagabend. Nicole, ich würde an deiner Stelle jetzt in die Bar gehen, du wirst erwartet!“
Nicole rannte nach dieser Nachricht fast aus der Küche. Hannah wandte sich zum Herd und ging Christine zur Hand. Sarah bekam von Christine ein Schälmesser und eine halbe Zwiebel, die sie zu hacken versuchte. Nicole kam mit Norman in die Küche, zog die Tür hinter sich zu und umarmte ihn. Erst danach kam sie dazu Hannah zu begrüßen, Hannah nahm sie in den Arm und sagte, „ich wusste doch, dass ich dir eine Freude mache, meine Achot.“ Sie wandte sich wieder den Essensvorbereitungen zu, während Sarah sich von Norman einige Zaubertricks vorführen ließ. Hannah erinnerte sich dabei an ihren Vater, der hatte sie immer wieder damit in seinen Bann gezogen, dass er eine Münze durch die Tischplatte drückte. Norman beherrschte diesen Trick auch. Sobald das Essen fertig war, rief Christine zu Tisch, schon bald entwickelte sich ein munteres Gespräch.
„Ima, kann ich morgen bei euch schlafen? Wenn das zu viel Aufwand macht, übernachte ich im Hotel Reine Mathilde.“ Warf Hannah nach einiger Zeit ein.
„Was soll das? Du bist unsere Tochter, du bist hier zu Hause.“
„Danke, Ima.“
„Ich darf aber doch bei Nicole schlafen, Mum?“
„Ja, Schatz, so ist es abgemacht. Ich fliege am Dienstag nach Deutschland, du bist sicher, dass du allein hier bleiben willst, Sarah?“
„Ja sicher, ich lerne ganz viel Französisch, bis du wiederkommst. Wie lange bleibst du weg, Mum?“
„Eine Woche, denke ich.“
„Und danach?“
„Ich habe dann noch mindesten eine Woche hier zu tun. Danach fliegen wir zurück nach London.“
„Nicole, erzähl mal, wie war es denn beim Stadtrat? Ich konnte Captain McLoud noch nicht danach fragen“, Hannah lächelte ihrer Schwester aufmunternd zu.
Nicole errötete, „das war aufregend, Hannah. Bürgermeister Jeanne hat sich am Ende der Veranstaltung persönlich bei mir bedankt. Die Rede war eigentlich einfach zu dolmetschen, ich glaube Captain McLoud, hat extra einfache Sätze gewählt und ich durfte vor der Rede das Manuskript lesen. Das Gespräch nach der Ansprache war schwieriger, die Leute vom Rat konnten ja nicht wissen, dass ich eine Amateurin bin. Ich glaube, jetzt, da Sarah sich hier gut eingelebt hat, ist es auch einfacher, wenn Captain McLoud mich zum Übersetzen benötigt.“
„Sarah, kann ich dem Captain sagen, dass er Nicole rufen kann, wenn es nötig ist?“
„Ja Mum, wenn es nicht zu oft ist. Nicole soll mir Französisch beibringen.“
„Das werde ich ihm sagen, mein Schatz.“
Als Miller Hannah zurück zum Depot fuhr, war sie in guter Stimmung. Sie beugte sich von der Rückbank nach vorn und sprach Norman an. „Norman, macht es dir etwas aus, mir auch am Sonntag zur Verfügung zu stehen? Ich würde normalerweise sagen, ich brauche den Wagen vor Sonntagabend nicht. Wenn du zu meiner Verfügung bleiben würdest, wo würdest du dann die Nacht verbringen?“
„Im Posten von Bayeux, Hannah.“
„Gut, du fährst mich morgen Nachmittag nach Arromanches. Dann kannst du deine Zeit mit Nicole verbringen. Am Sonntag fährst du mich nach Regnéville, ich besuche dort eine Bekannte. Nicole und Sarah kommen mit. In Regnéville könnt ihr spazieren gehen, allein oder mit Sarah.“
„Sarah darf gerne mit uns gehen.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher, Liebespaare brauchen keine Begleitung. Wir lassen das auf uns zukommen, eigentlich ginge ich auch gerne wieder einmal mit Sarah spazieren. Regnéville ist für mich ein Sehnsuchtsort, ich habe glückliche Stunden mit Sarahs Vater dort verbracht.“
„Hannah, du veranstaltest das aber jetzt nicht, um uns eine Freude zu machen?“
Hannah lachte, „nein, aber es würde euch doch sicher Freude bereiten, einen Ausflug zu machen. Oder irre ich mich? Ich kann mir auch ein Auto bei einem Freund in Bayeux leihen.“
„Nein, Hannah, natürlich freue ich mich und wenn Nicole das morgen erfährt, wird sie vor Freude aus dem Häuschen sein. Wir sind gleich da, also ab jetzt wieder Ma’am!“
„Ok, Mister Miller“, Hannah lächelte amüsiert.
Hannah ging im Depot auf ihr Zimmer und von da aus sofort zum Kasino. Captain McLoud erhob sich, als Hannah den Raum betrat und führte sie zu einem Tisch, an dem einige Lieutenants und der zweite Captain saßen. Sowie der Captain mit Hannah erschien, erhoben sich alle am Tisch sitzenden und salutierten. „Bitte bleiben sie locker, meine Herren“, Hannah legte eine Hand an die Mütze und bat alle sich wieder zu setzen. Der Abend verlief mit lockeren Gesprächen, Captain McLoud lobte auf Hannahs Nachfrage Nicoles Auftritt in Bayeux in den höchsten Tönen und so hielt Hannahs fröhliche Stimmung auch noch an, als sie wieder auf ihrem Zimmer war. McLoud war hocherfreut gewesen, als Hannah ihm mitteilte, er könne sich in Zukunft direkt an Nicole wenden, wenn er sie in dringenden Fällen benötige. Sie machte es sich im Bett bequem und las dann den Brief von Hans.
Liebe Hannah,
meine Vorfreude auf Dein Kommen kennt keine Grenzen. Ich sammele schon meine Lebensmittelmarken, damit ich Dir etwas zu bieten habe. Hoffentlich bleibt es warm, denn mein Zimmer hat keinen richtigen Ofen und wenn es draußen kalt ist, wird es zugig und eisig bei mir. Ich hoffe, Du bringst Neuigkeiten aus der Normandie mit. Private Post braucht eine gefühlte Ewigkeit von hier nach Frankreich und zurück. Was für ein Glück, dass unsere Korrespondenz über die militärische Post läuft.
Wie geht es Dir in der Normandie? Für mich ist diese Landschaft für immer mit unserer Liebe verbunden, wenn wir doch das Rad der Zeit zurückdrehen könnten. Ich bin voller Spannung, wie Du heute aussiehst. Ich sehe Dich immer noch, wie Du als junge Frau auf der Promenade von Arromanches gestanden bist. Du sahst so verloren aus, nicht auszudenken, dass Du heute eine ranghohe Offizierin der britischen Armee bist.
Ich umarme und ich küsse Dich.
Liebe Grüße
Hans
Hannah drückte den Brief auf ihre Brust. Trotz der Unsicherheit, ob das Wiedersehen wirklich ihre Liebe wieder aufleben lassen würde, sie sehnte den Moment herbei, in dem Hans sie in seine Arme schloss. Sie hatte keine Vorstellung von der Stadt, in der er lebte, schon gar nicht, welche Zerstörungen der Krieg dort hinterlassen hatte. Sie beschloss morgen nachzufragen, ob es im Depot oder am Flughafen einen Plan der Stadt gab, wenn nicht, musste sie sich nach ihrer Ankunft ortskundig machen. Hannah schlief bald ein und als sie am Morgen erwachte, lag der Brief neben dem Bett auf dem Boden. Noch einmal las Hannah den Brief, stand entschlossen auf und machte sich fertig für den Tag. Sie freute sich auf den Nachmittag und den Sonntag. So viele Stunden zusammen mit den Menschen, die sie liebte, zu verbringen, war ein seltener Luxus. Im Lazarett bat sie Gladstone, sich um einen Stadtplan oder eine militärische Karte von Düsseldorf zu bemühen. Dieser sagte, er würde sein Möglichstes tun und verschwand. Hannah ging ins Vorzimmer und fragte, ob Brigadier Crown zu sprechen sei. Der Adjutant des Brigadiers erhob sich, sagte, der Brigadier sei im Büro und meldete Hannah an. Brigadier Crown kam an die Tür, bat Hannah herein und bugsierte sie zur Sitzecke.
„Was kann ich für sie tun, Miss Schwarz?“
„Sie sind der dienstältere Mister Crown, da ich aber vom weiblichen Geschlecht bin, nehme ich mir entgegen der militärischen Gepflogenheiten die Freiheit, sie zu bitten, dass wir uns mit den Vornamen anreden.“
Crown lächelte, „ich habe mich nicht getraut, das vorzuschlagen. Schließlich gilt die Konvention für Offiziere, von Offizierinnen ist nirgendwo die Rede. Also ich heiße James, Miss Schwarz.“
„Danke, James, ich bin Hannah.“
„Das war alles, was ich für dich tun kann?“
„Nein James, ich wollte dir mitteilen, was ich mit dem Ambulanzarzt besprochen habe und Dienstagmittag fliege ich nach Düsseldorf.“
„Gut, bleibst du länger als eine Woche weg?“
„Nein, nachdem, was mir der General erklärt hat, handelt es sich um einen reinen Routinebesuch. Ich habe aber noch etwas Persönliches dort zu erledigen, das ich nicht weiter aufschieben will und kann.“
„Du hast noch persönliche Bindung nach Deutschland? Du hattest gesagt, all deine Leute seien umgekommen.“
„Ich hatte nicht nur jüdische Bekannte und Freunde, nicht alle Deutschen waren Antisemiten.“
„Auch enge Freunde?“
„Mehr als eng – ich treffe den Vater von Sarah“, Hannah nickte dazu.
Der Brigadier bestellte im Vorzimmer Tee für Hannah und sich. Hannah berichtete ausführlich von ihrem Gespräch mit dem Arzt der Ambulanz. Brigadier Crown machte noch ein paar Anmerkungen dazu, stimmte aber sonst Hannahs Anweisungen voll inhaltlich zu. Später gingen sie gemeinsam zum Lunch. Danach meldete sich Hannah sowohl im Lazarett, als auch im Depot ab und hinterließ für das Wochenende ihre Adresse in Arromanches und in Regnéville. Gladstone gab sie noch einige Anweisungen und entließ ihn bis Montag um acht. Miller wartete bereits am Wagen, als Hannah vor die Tür trat. Sie verzog das Gesicht etwas, ein unauffälliger Jeep, wäre ihr lieber gewesen. Warum sie als Brigadier in dieser auffälligen Limousine fahren musste, war ihr unklar, selbst von Field Marshal Montgomery gab es Bilder, auf denen er auf einem offenen Jeep zu sehen war. Miller öffnete gewohnt zackig den Schlag und als Hannah einstieg, sagte er, „Nach Arromanches, Ma’am?“ „Du übertreibst, Norman“, zischte Hannah, als sie an ihm vorbeiging. Miller verzog keine Miene dabei und schloss hinter Hannah die Tür. Sobald sie losgefahren waren, beugte sich Hannah wieder nach vorn. „Norman, morgen bin ich in Zivil, da lässt du diese Mätzchen, sonst sterbe ich an einem Lachkrampf.“ „Wie Ma’am wünschen“, gab Norman zurück. Hannah ließ sich in das Polster zurücksinken, sie schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr zu diesem Thema.
In Arromanches zog Hannah passend zum warmen Sommertag ihr hellblaues Sommerkleid an, nahm Sarah an die Hand und ging mit ihr entlang der Uferpromenade spazieren. Sie hatte den Entschluss gefasst, Sarah hier und heute zu sagen, wer ihr Vater ist. Noch war sie sich nicht im Klaren, wie sie beginnen sollte. Sie hielt an, als sie die Stelle erreichte, an der Hans sie damals angesprochen hatte. Die Aussicht hatte sich seit damals verändert, draußen in der Bucht lagen in einem großen Bogen die Senkkästen, die Teil des Mulberry-Hafens B gewesen waren, über den die Alliierten während der Invasion ihren Nachschub angelandet hatten. Die Millionen von Opfer des Krieges erschütterten Hannah, während sie Sarah an der Hand haltend an der Brüstung lehnte.
„Mum, heb mich hoch, ich kann nichts sehen.“
Hannah hob Sarah hoch und setzte sie auf die Brüstung, „besser so, mein Schatz?“
„Ja – und was guckst du hier?“
„Ich habe hier an dieser Stelle deinen Papa kennengelernt.“
„Wann, Mum?“
„Vor dem Krieg, Schatz.“
„Und warum ist er nicht bei uns?“
Hannah hielt Sarah bei den Händen und diese sprang von der Brüstung, „der Krieg hat uns getrennt.“ Hannah schlug die Richtung nach Tracy-sur-Mer ein, Sarah hüpfte an ihrer Hand neben ihr her. Da ihre Tochter nichts sagte, hatte sie den Eindruck, das Thema sei abgehandelt. Sie täuschte sich.
„Mum, warum ist mein Papa mit den Nazis gegangen? Er ist bestimmt auch ein Nazi.“
„Sarah, wie kommst du darauf, dass dein Papa ein Nazi ist?“
„Die Deutschen sind Nazis.“
„Schatz, ich muss dir etwas sagen. Dein Papa ist der Mann, der mich vor den Nazis gerettet hat. Grandpa, Granny und der Fischer Félix haben ihm dabei geholfen. Er hat viele von uns vor den Nazis gerettet, er ist ein Gerechter! Ich werde ihn treffen, wenn ich nach Deutschland fliege. Ich werde ihm von dir erzählen. Möchtest du ihn kennenlernen?“
„Nein.“
„Nein? Warum nicht?“
„Er hat sich nie um mich gekümmert.“
„Sarah! Ist das denn so schwer zu verstehen? Er weiß nichts von dir, im Krieg konnte ich ihm nicht schreiben und nach dem Krieg habe ich geglaubt, dein Papa sei tot.“
„Ich male ihm ein Bild. Dann sagst du mir, ob er sich darüber gefreut hat, wenn du zurückkommst.“
„Vielleicht kann ich einen Brief von ihm mitbringen. Er spricht auch Englisch.“
„Ja, Mum, wenn er mir schreibt, würde ich mich freuen. Aber nur, wenn er kein Nazi ist.“
„Er ist kein Nazi, Sarah! Warum hätte er mich dann gerettet? Auch du verdankst ihm dein Leben. Du warst damals schon in meinem Bauch.“
Sarah antwortete nicht mehr, sie schien das Interesse an dem Thema verloren zu haben. Freudig hüpfte sie an Hannahs Hand, und als sie in einer neu eröffneten Eisdiele ein Eis spendiert bekam, war sie mit dem Verlauf des Spaziergangs hochzufrieden. Zurück in der Bar ging sie sofort nach hinten, als Hannah nach ihr sah, war sie dabei ein Bild zu malen. Kurz vor dem Abendessen kamen Nicole und Norman vom Spaziergang zurück. Nicole strahlte vor Glück, sie wurde aber sofort von Sarah in Beschlag genommen, die ihr das Bild zeigte. So wandte sich Hannah an Norman und besprach mit ihm, wann er am Morgen wieder antreten solle. Jetzt, da Hannah in zivil gekleidet war, fiel es Norman leicht zu einem normalen Umgangston zu finden, wenn er mit ihr sprach. Während Hannah das Gemüse vom Topf in eine Schüssel füllte, hatte sich Nicole an Norman angelehnt. François kam aus der Gaststube und flachste über das Liebespaar, womit es sich einen bösen Blick von Hannah einhandelte. Christine fragte, ob die Bedienung schon da sei, was François bejahte. „Dann setzt euch. François, es gibt heute einen Aperitif zu Feier des Tages“, sagte sie danach. Nach einem gemütlichen Familienessen verabschiedete sich Norman. Nicole brachte ihn bis vor die Tür, während Hannah Sarah zu Bett brachte. Sie las ihr noch aus einer Geschichte vor, bei der Sarah bald einschlief.
Am Sonntag fuhr Norman mit der Limousine vor, als Hannah noch mit Sarah beim Frühstück saß. Nicole stürzte förmlich durch die Tür, sobald sie ihn kommen sah. Sarah wollte hinterherrennen, wurde aber von Hannah mit der Bemerkung zurückgehalten, dass zuerst zu Ende gefrühstückt wird. Das war nur ein Vorwand, denn eigentlich war sie schon dabei den Tisch abräumen. Sie wollte einfach erreichen, dass die Liebenden etwas Zeit für sich allein hatten. Sarah reagierte unwillig, blieb aber trotzdem sitzen. Sobald die Beiden in die Küche kamen, erlaubte Hannah ihr, vom Tisch aufzustehen. Sich selbst schüttete Hannah noch eine Tasse Kaffee ein. Als Norman Hannah begrüßte, nahm er unwillkürlich Haltung an, was ihm einen strafenden Blick einbrachte. „Draußen am Wagen bitte keinen Firlefanz, Norman. Du siehst, ich bin in Zivil“, sagte sie dann und versuchte dabei streng zu gucken. Christine hatte ein paar Mitbringsel für Florence eingepackt, die Norman im Kofferraum der Limousine verstaute, bevor sie nach Regnéville fuhren. Norman hielt sich beim Einsteigen zurück, redete Hannah aber auf der Straße mit Ma’am an, wofür Hannah Verständnis hatte, da er in Uniform war. Sarah wollte bei Nicole sitzen, das kam Hannahs Wunsch auf dem Beifahrersitz Platz zunehmen entgegen. So saß sie neben Norman und ihre Gedanken wanderten zu dem Tag, als sie mit Hans nach Regnéville gefahren war, um sich von Florence zu verabschieden. Voller Unruhe, nein besser, voller Furcht war sie damals. Ihre Liebe zu verlassen, um zu überleben, war damals in der Realität so unerträglich gewesen, dass es Momente gab, in denen sie lieber gestorben wäre und auch heute noch schauderte ihr, wenn sie nur daran dachte. Sie schob diese Gedanken beiseite, sie wollte nach vorn schauen. Obwohl sie unsicher war, sie freute sich auf Hans. Wie er sich weiter entwickelt hatte, musste sie herausfinden, wie er auf die Nachricht, dass er Vater geworden war, reagieren würde, war ungewiss. Sie hatten sich einmal geliebt, ob sich daran anknüpfen ließ? Hannah hoffte es, war aber voller Zweifel. Sie war so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie aufschreckte, als Norman sie ansprach.
„Entschuldige Norman, ich war in Gedanken versunken. Was hast du gesagt?“
„Wir sind da, sagst du mir, wo ich hinfahren soll?“
„Ja sicher, wir fahren zuerst geradeaus, immer auf die Bucht zu.“
„In Ordnung, Hannah. Geht es dir nicht gut?“
„Doch Norman, die Fahrt hier über Land weckt bei mir jedes Mal die Gedanken an die Tage vor dem Krieg. Ich war sehr verliebt zu dieser Zeit. Ich war verliebt in Sarahs Vater. Wir haben uns in all den Jahren nicht mehr wiedersehen dürfen. Bieg da vorne rechts ab, dann sind wir da.“
Sobald sie ausstiegen, trat Florence vor die Tür. Überrascht rief sie, „Oh, our liberators in uniform and in civilian clothes. Hast du Verstärkung mitgebracht, Hannah?“ Florence schloss Hannah und anschließen Nicole und Sarah in ihre Arme.
Hannah lachte, „als Brigadier ist man vornehm unterwegs.“
„Oha, Brigadier Schwarz – klingt wirklich bedeutend. Stellst du mir deinen Chauffeur vor oder ist das unter deiner Würde? Ein echt flotter Sergeant.“
„Du redest Unsinn, meine liebe Florence. Das ist Norman, er ist der Freund von Nicole. Norman, das ist unsere Freundin Florence.“
Florence schnappte sich Norman und begrüßte ihn mit Wangenküssen. „Nicht eifersüchtig sein, Nicole, aber so einen ansehnlichen Mann bekomme ich nur selten zu küssen“, sagte sie danach in Richtung Nicole.
Hannah war erfreut, Florence hatte sich in den wenigen Wochen, seit sie sich zuletzt gesehen hatten, total verwandelt. Ihre alte Tatkraft war offensichtlich wieder hergestellt. Am Zugang zum Restaurant hatte sie mit Kreide auf eine Tafel geschrieben, welches Menü sie an diesem Tag anbot. Im Gegensatz zu Arromanches wirkte Regnéville immer noch wie ausgestorben. Der kleine Ort liegt einfach zu abgelegen, meinte Hannah. Nicole und Norman verabschiedeten sich zu einem Spaziergang, Hannah gelang es geschickt Sarah abzulenken, so gab es keine Diskussion darüber, dass Sarah mitgehen wollte. Sie gingen gemeinsam ins Haus, Florence war bei der Vorbereitung des Menüs. Hannah wollte gerne essen, bestand aber darauf, für das Essen zu bezahlen. Florence widersprach nur schwach und ließ sich leicht überreden, aber bei Nicole und Norman bestand sie darauf, dass diese ihre Gäste wären. Hannah zuckte mit den Schultern und ließ die Sache auf sich beruhen. Sie ging Florence zur Hand, so wie sie es bei Christine auch machte. Da auch Sarah helfen wollte, bekam sie genau wie in Arromanches ein Schneidebrett, ein Schälmesser und eine halbierte Zwiebel. Nach einiger Zeit bemerkte Hannah zu ihrer Überraschung, dass Sarah Florence auf Französisch ansprach und dabei Tante nannte. Am Mittag kamen Nicole und Norman zurück, wieder lag ein Strahlen auf Nicoles Gesicht. Norman hatte die Mitbringsel aus dem Kofferraum geholt, Florence zerfloss fast vor Dankbarkeit. Sie aßen gemeinsam und danach hatte Florence Glück, es kamen noch einige Gäste, die zu Mittag essen wollten. Nicole erbot sich, den Service zu übernehmen, so nahm Hannah Norman mit zu einem Rundgang durch den Ort. Sie zeigte ihm, was ihr aus der Zeit vor dem Krieg im Gedächtnis geblieben war. In der Dorfkirche zupfte Sarah Hannah am Rock.
„Was möchtest du, mein Schatz?“
„Mum, ist das die Synagoge?“
„Nein, Schatz, das ist eine Kirche. Siehst du das Kreuz und den Altar dort vorn? Da stände in der Synagoge eine Menora und der Thoraschrein.“
„Aber Mum, wir dürfen doch gar nicht in eine Kirche gehen!“
„Eine Kirche ist ein Gotteshaus und steht allen Menschen offen, mein Schatz. Warum meinst du, dürfen wir nicht in eine Kirche gehen?“
„Weil wir Juden sind! Wir haben Gott ermordet!“
Hannah hatte ein Gefühl, als hätte sie ein schwerer Schlag getroffen, der ihr den Boden unter den Füßen wegzog. Sie holte einige Male tief Luft, um ihre Fassung zu wahren und hockte sich dann vor Sarah hin, damit sie auf Augenhöhe mit ihr war. Mit mühsam ruhiger Stimme fragte sie, „Sarah, mein Schatz, wie kommst du denn auf diese Idee?“
„James aus meiner Klasse sagt, die Juden wären schlecht, sie hätten Gott ermordet.“
Hannah war wieder kurz davor, ihre Fassung zu verlieren, antworte aber so ruhig wie möglich. „Mein Schatz, Gott kann man nicht töten. Gott steht für all das, was immer schon war, für all das, was ist und für all das, was noch kommt. Gott ist kein Lebewesen, er existiert nur in unserem Innern, in unseren Gedanken. Jeder Mensch trägt ein eigenes Bild von Gott in sich.“
„Aber Andrew hat gesagt, alle Juden kämen in die Hölle, weil sie das getan haben. Sind die Juden wirklich so schlecht?“ Plötzlich brach Sarah in Tränen aus.
Hannah setzte sich auf eine Kirchenbank und nahm Sarah auf ihren Schoss. „Mein Schatz, warum weinst du?“
„Ich will nicht, dass du in die Hölle kommst. Du bist doch immer zu allen so lieb.“
Hannah wischte Sarah die Tränen ab und drückte sie dann an sich. „Liebes, was die beiden sagen, ist Unsinn. Wir Juden sind nicht schlechter oder besser, als andere Menschen. Ich habe dir doch gesagt, Gott existiert nur in unseren Gedanken, da man Gedanken nicht ermorden kann, kann auch niemand dafür bestraft werden. So wie Gott kein Lebewesen ist, ist die Hölle kein Ort. Auch die Hölle existiert nur in unseren Gedanken, sie ist eine reine Erfindung von Menschen, die anderen Menschen Angst machen wollen. Es ist so Sarah, Christen und Juden beten zum gleichen Gott. Ha Tanach, also die jüdische Bibel, ist der erste Teil der christlichen Bibel, sie nennen diesen Teil das Alte Testament. Was James und Andrew gesagt haben, ist schon deshalb Quatsch. Du weißt, Granny ist eine fromme Christin. Sie hat uns beide sehr lieb und sie käme nie auf die Idee uns so einen Unsinn nachzusagen.“
„Aber wir beten doch in verschiedenen Häusern.“
Hannah legte Sarahs Hände in die ihren, „ja, das stimmt, Schatz, aber das macht doch nichts, Gott kann man in jedem Haus, das für ihn gebaut wurde, um etwas bitten – oder man kann ihm dort danken.“
„Bittest du um etwas?“
„Nein, ich möchte mich dafür bedanken, dass dein Papa den Krieg überlebt hat.“
„Du Mum, ich habe ein Bild für ihn gemalt. Ich möchte, dass du es nach Deutschland mitnimmst.“
„Das mache ich. Er wird sich bestimmt darüber freuen, mein Schatz.“
An der Ruine der Burg vorbei, gingen sie zur Bucht hinunter, in die gerade die Flut mit großer Macht hineinströmte. Hannah war, wie auch schon damals, als sie mit Hans hier war, fasziniert von der großen Geschwindigkeit, mit der das einströmende Wasser die Bucht füllte. Sie spürte, wie die Sehnsucht nach Hans in ihr aufstieg. Um das Gefühl zu unterdrücken, spielte sie mit Sarah Nachlaufen. Das Kind war zwar leicht zu fangen, schlug aber immer wieder einen Haken oder lief um Norman herum, sodass Hannah sie nicht greifen konnte, ohne Norman in Verlegenheit zu bringen. Schließlich griff sich Hannah ihre Tochter, klemmte sie unter den Arm und kitzelte sie einmal kräftig durch. Zurück im Restaurant drängte Hannah bald zum Aufbruch, da sie am Abend noch einen Bericht an den General zu schreiben hatte und alles packen wollte, was sie für den Flug nach Düsseldorf benötigte. Schließlich wollte sie am Dienstag direkt von Arromanches aus zum Flughafen fahren. Bevor sie losfuhren, verabredete sie noch mit Florence, dass sie nach ihrer Rückkehr baldmöglichst zu ihr käme und sie bei dieser Gelegenheit mit nach Arromanches nähme.
Am Dienstag brachte Norman vereinbarungsgemäß Lieutenant Gladstone mit nach Arromanches. Um Nicole einen Moment des Zusammenseins mit Norman zu ermöglichen, beauftragte sie Norman ihr Gepäck zum Auto zu tragen. Dieser lächelte ihr vorsichtig zu, während er an ihr vorbei ins Haus ging. Hannah ging ihm nach und verabschiedete sich von François und Christine. Nicole wollte mit Sarah zum Auto kommen, so gingen sie nach draußen, wo Norman Hannahs Gepäck gerade in den Kofferraum lud. Hannah hockte sich vor Sarah, ermahnte sie brav zu sein und verabschiedete sich von ihr mit einem Kuss und einer Umarmung. Auch Nicole wurde mit einer Umarmung verabschiedet. Sobald sich Hannah von ihr abwandte, riss Norman zackig den Schlag auf.
Direkt nach dem Einstieg in die Maschine bemerkte Hannah, dass Lieutenant Gladstone recht hatte, es gab nur unbequeme Sitze entlang der Kabinenwände, auf denen sie sich niederlassen konnten. In der Mitte der Kabine war die Fracht festgezurrt. Der Pilot grüßte respektvoll und fragte Hannah, ob sie irgendwelche Wünsche hätte. Hannah verneinte, bat aber darum, rechtzeitig informiert zu werden, wenn sie Frankfurt passierten. Sie wolle einen Blick auf ihre Heimatstadt werfen, begründete sie den Wunsch. „Wir überfliegen direkt die Innenstadt, Ma’am. Ich lasse sie rechtzeitig ins Cockpit holen“, antwortete der Pilot und führte die Hand an die Mütze. Schwerfällig setzte sich die Maschine mit dröhnenden Motoren in Bewegung und hob schließlich ab. Als die Maschine ihre Flughöhe erreicht hatte und die Motoren weniger laut dröhnten, besprachen Hannah und der Lieutenant das Programm der nächsten Tage. Sie gab Anweisung, dass der Lieutenant für sie herausfände, wie sie am morgigen Nachmittag eine bestimmte Adresse in Düsseldorf als Zivilperson erreichen könne. Direkt nach der Ankunft und am kommenden Vormittag wollte sie zusammen mit dem Lieutenant die ersten Abteilungen des Lazaretts inspizieren. Nach fast zwei Stunden ließ der Pilot Hannah rufen. Als Hannah in das Cockpit kam, flogen sie noch hoch über einem Mittelgebirge, von dem der Pilot sagte, es sei der Hunsrück. Sie überquerten das Mittelrheintal, flogen im Sinkflug eine Kurve über den Taunus und dann erkannte Hannah die Trümmerberge, die einmal ihre Heimatstadt gewesen waren. „Erkennen sie noch etwas, Ma’am?“, fragte der Pilot. Hannah schüttelte den Kopf, „nein, diese Trümmerberge haben nichts mehr mit meiner Heimat zu tun.“ „So sehen eigentlich alle Städte im Deutschland aus, Ma’am“, antworte der Pilot, als Hannah die Kanzel verließ.
Hannah war froh, als die Maschine endlich in Düsseldorf vor dem Empfangsgebäude ausrollte. Wie sie es bereit aus Caen kannte, rollte umgehend wieder eine Limousine an der Gangway vor. Gladstone erkannte mit Kennerblick, dass es sich um einen Daimler-Benz aus der Vorkriegszeit handelte. „Nobel geht die Welt zugrunde, Ma’am“, sagte er, als sie in der Limousine Platz genommen hatten. „Wieso, Mister Gladstone?“ „In dieser Art Wagen wurden eigentlich nur Nazigrößen chauffiert, Ma’am.“ Hannah lachte und meinte, sie freue sich, einen kompetenten Begleiter zu haben. Die nachmittägliche Inspektion verlief entsprechend Hannahs Erwartungen zufriedenstellend, was Hannah auch lobend zum Ausdruck brachte. Am Abend vor dem Diner mit den leitenden Ärzten des Lazaretts legte Gladstone Hannah eine Notiz vor. „Der Fahrdienst bringt sie bis zum Hauptbahnhof, Ma’am. Von dort benutzen sie die Straßenbahn, wie in der Notiz beschrieben. Laut Karte müssen sie von der Fährstraße, wo sie aussteigen, etwa zweihundert Meter zurückgehen, um zur Dianastraße zu kommen, Ma’am“, sagte er dazu. Hannah schaute kurz auf die Notiz und steckte sie ein. „Danke Mister Gladstone. Bitte bestellen sie den Fahrdienst für morgen nach dem Lunch.“ „Sehr wohl, Ma’am. Möchten sie nach ihrem Besuch vom Fahrdienst abgeholt werden?“ Hannah überlegte kurz, „Ja Mister Gladstone, um sieben Uhr an der Dianastraße 13. Bitte sorgen sie dafür, dass ich mit einem Jeep abgeholt werde. Eine Limousine wäre mir zu auffallend.“ „Wie sie befehlen, Ma’am.“ Hannah verdrehte die Augen, sagte aber nichts dazu.
Hannah hatte sich noch vor dem Lunch umgezogen, ihr sehr schickes Kleid wollte sie unter dem alten Trenchcoat verbergen, in dem sie Hans kennengelernt hatte. Die Limousine hielt am Hauptbahnhof, direkt vor der Wache der Militärpolizei. Der Fahrer riss den Schlag auf und wies Hannah die Richtung zu den Straßenbahnen. Hannah bedankte sich, nahm ihre Tasche unter den Arm und ging durch das dichte Gewimmel auf dem Bahnhofsvorplatz. Überall wurden Waren angeboten und es gab einen regen Tauschhandel. Hannah vermutete, dass es sich um einen typischen Schwarzmarkt handelte. Sie fand die Haltestelle der Straßenbahnlinie 9, Richtung Südfriedhof. Als die Bahn kam, waren die drei Waggons bereits überfüllt und Hannah war froh, dass es ihr gelang einen Stehplatz auf dem offenen Perron zu ergattern. Es dauerte zwei Stationen, bis der Schaffner sich durch das Gedränge zum Perron vorgearbeitet hatte. Hannah wäre gerne unauffällig geblieben, besaß aber kein deutsches Geld, so zückte sie ihren Militärausweis als Legitimation. Der Schaffner schaute nur kurz hin und kassierte dann weiter die übrigen Fahrgäste ab.
Als sie sich den Vororten näherten, leerte sich der Waggon zusehends und Hannah konnte endlich bequem stehen. Als der Schaffner wieder auf den Perron kam, fragte Hannah, wie weit es noch bis zur Fährstraße sei. Der Schaffner war überrascht, dass eine Zivilistin mit einem britischen Militärausweis Deutsch sprach und antwortete brummig, „noch drei Stationen, Fräulein. Ich rufe aus.“ Sobald die Straßenbahn in die Vorstadt kam, gab es weniger zerstörte Häuser, aber immer noch waren ganze Straßenzüge verwüstet. Hannah stieg aus, als die Bahn an der Fährstraße hielt. Hier waren die Häuser stark zerstört, ein paar heruntergekommene Mietskasernen gegenüber der Haltestelle standen noch. Als Hannah in die andere Richtung blickte, sah sie, dass sie sich offensichtlich am Übergang von der Stadt zum Bauernland befand. Ratternd setzte sich die Straßenbahn wieder in Bewegung und verschwand hinter einer Kurve in Richtung der Felder.
Die kurze Strecke bis zu Zielort führte durch eine Trümmerwüste. Auf der Dianastraße waren nach Hannas Schätzung die Hälfte der Häuser zerstört. Bis zur Hausnummer 13 ging sie an leeren Fensterhöhlen vorbei. Außer hohlwangigen Kindern, die auf den Trümmerbergen und in den Ruinen spielten, traf sie nur auf einige wenige ausgemergelte Frauen, die sie misstrauisch beobachteten. An der Haustür Nummer 13 hielt sie an, las die Klingelschilder und fand ‚Donrath dreimal klingeln‘. Sie drückte dreimal auf den Klingelknopf. Fast unmittelbar danach summte der Türöffner und sie trat ein. Alles um sie herum sah alt und heruntergekommen aus. Eine weißhaarige Frau, die wohl Ende der Fünfziger war, putzte den Flur. Mit undurchdringlichem Gesicht fragte sie Hannah, zu wem sie wolle. Als Hannah nach Hans Donrath fragte, antworte sie, der wohne auf der dritten Etage und wandte sich ab. Vom Hof kam ein Junge in den Flur. Er war wohl im Alter von Sarah, vielleicht etwas jünger und er war für ihre Begriffe unvorstellbar mager. Hannah fand, es sei ein hübscher Junge, der gar nicht wie ein Deutscher aussah. Seine dunklen Haare bildeten ein wirres Durcheinander auf seinem Kopf, seine tiefbraunen Augen lagen tief in den Höhlen und sein Atem ging rasselnd. Das Gesicht der Alten nahm weiche Züge an, sobald sie den Jungen wahrnahm. Er fragte etwas mit einer piepsenden Stimme, der deutlich anzumerken war, dass ihm die Luft zum Sprechen fehlte. Hannah verstand nicht, was er sagte, da sie schon zu weit die Treppen hinauf gegangen war, nur dass das Kind die Frau Oma nannte, bekam sie mit.
Von oben kam Hannah ein Mann entgegen, er blieb starr stehen, als er sie sah. „Hannah, meine Hannah“, seine Stimme klang, als könne er das Schluchzen kaum unterdrücken. Hannah ging auf ihn zu und drückte sich an seine Brust. „Hans“, flüsterte sie. Hand in Hand gingen sie die Treppe hinauf und betraten das Zimmer, in dem Hans wohnte. Hannah erschrak über die dürftige Einrichtung. Gegen das, was sie hier sah, war das Zimmer, das sie mit Hans in Bayeux bewohnt hatte, die reinste Luxusunterkunft gewesen. Das Fenster, unter dem ein wackeliger Tisch mit offensichtlich zu korrigierenden Heften stand, war zur Hälfte mit Pappe vernagelt, die noch vorhandene Glasscheibe war zerbrochen. Vom Stuck der Decke waren große Stellen abgeplatzt und an den Wänden hatte die sich Stockflecken gebildet. Neben dem Tisch gab es nur noch einen Stuhl, ein provisorisches Bett, einen fast in sich zusammenfallenden Schrank und einen kleinen schwarzen Ofen im Zimmer. Seine dürftigen Kleidungsstücke hingen an Nägeln, die in die Wände geschlagen waren. Auf dem Ofen stand ein altertümlicher Elektrokocher, der dem Kocher glich, den Hans in Bayeux besessen hatte. Sobald die Tür geschlossen war, warf sich Hannah an Hans‘ Brust und legte ihre Arme so um ihn, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Seine Kleidung verströmte den Geruch billiger Kernseife, aber das alles nahm Hannah kaum wahr, sie wollte ihm nur so nah wie möglich sein. Hans streichelte über ihre Haare, drückte sie schließlich auf den Stuhl und hockte sich vor sie hin.
„Hannah, meine Liebste, dass wir uns noch einmal wiedersehen! Ich habe nicht mehr daran geglaubt. Jetzt bist du bei mir, ich kann es kaum glauben.“ Hans legte seinen Kopf auf Hannahs Schoß.
Hannah streichelte Hans über seine inzwischen total ergrauten Haare. „Liebster, ich muss dir etwas sagen.“
Hans hatte das Gefühl, als öffne sich der Boden unter seinen Füßen, „du liebst einen anderen! Warum bist du dann gekommen? Das konntest du mir schreiben!“
„Nein, Hans, wie kommst du auf diese absurde Idee? Glaubst du, ich würde Liebster zu dir sagen, wenn ich einen anderen lieben würde? Ich hätte es dir schon vor langer Zeit sagen müssen und alle unsere Freunde haben gesagt, ich solle es dir schreiben, aber ich wollte es dir unbedingt persönlich sagen. Hans, liebster, ich habe eine Tochter – sie ist auch deine Tochter.“
Hans schwieg, ungläubig starrte er Hannah an. Hannah hatte das Gefühl, ihr Herz verwandele sich in einen Stein, Furcht breitete sich in ihr aus. „Du hast verstanden, was ich gesagt habe?“, fragte sie schließlich unsicher und voller Angst.
Da brach es aus Hans heraus, „Hannah! Wir haben eine Tochter? Wie heißt sie und wo ist sie?“
„Ich habe unsere Tochter Sarah genannt, bei den Nazis musste ich mich Sara nennen, so empfinde ich diesen Namen als Zeichen, dass mein Volk den Willen und die Kraft hat zu überleben, nur das ‚h‘ habe ich angehängt, entsprechend der hebräischen Schreibweise. Gefällt dir der Name?“
„Ja, es ist ein schöner Name für unsere Tochter. Wenn ich gewusst hätte, dass wir ein Kind haben, Hannah! Ich wäre nie zurück nach Deutschland gegangen! Warum hast du mir nichts von deiner Schwangerschaft geschrieben?! Bei deinen letzten Briefen, bevor du interniert wurdest, musst du doch hochschwanger gewesen sein!“
„Hans, ich wollte dich nicht mit den Sorgen um noch einen Menschen belasten. Bitte, versteh mich, ich tat es aus Sorge um dich.“
„Ich verstehe dich, aber es war ein Fehler! Hannah, ich habe mich immer nach einem Kind gesehnt! Ich habe keine Hoffnung mehr gehabt, dass dieser Wunsch noch in Erfüllung geht. Ich mache dir keinen Vorwurf, denn du warst allein, du konntest es nur allein entscheiden und so sage ich dir, Sarah ist das größte Glück, dass uns widerfahren konnte. Sie ist der lebende Beweis, Liebe ist stärker als der Hass; und wo ist Sarah jetzt?“
„Ich habe sie bei François und Christine zurückgelassen. Sie nennt die beiden Granny und Grandpa. Nicole kümmert sich auch um sie und erteilt ihr Unterricht, damit sie in der Schule nicht zu viel versäumt. Nicole ist das Mädchen, das nach der Befreiung so furchtbar misshandelt wurde.“
„Wann kann ich Sarah sehen?“
„Liebster, wir müssen vorsichtig vorgehen. Vergiss nicht, wir haben einen furchtbaren Krieg hinter uns. Die Kinder in England haben gelernt, dass die Deutschen schlimme Menschen sind, Nazis eben.“
„Auch wenn es mir schwerfällt, ich verstehe das und ich werde ihre Vorbehalte respektieren.“
„Ich habe ihr versucht zu erklären, was du für uns getan hast, aber da muss ich noch Zeit investieren. Wenn ich das nächste Mal nach Düsseldorf komme, bringe ich sie mit.“
„Liebste, alles wird gut. Wollen wir spazieren gehen? Hier gibt es einen alten verwunschenen Friedhof und wir können bis zum Rheindeich gehen.“
„Gerne, mein Schatz.“
Hans führte Hannah an der Hand, vorbei an der Straßenbahnhaltestelle auf den verwilderten alten Friedhof. Hannah lehnte sich leicht bei Hans an, tiefer Frieden breitete ich in ihr aus. Am Hinterausgang des Friedhofs stießen sie auf ein Villenviertel. Das einzige, was hier an den Krieg erinnerte, waren einige zerstörte Straßenbahnwaggons, auf denen mehrere abgemagerte Kinder spielten. Nach weiteren zwanzig Minuten gelangten sie auf den Rheindeich, direkt neben den Resten einer gesprengten Straßenbrücke. Hans breitete sein Jackett auf dem Hang des Deiches aus, der auf das Vorflutgelände hinunterführte. Er zog Hannah auf das ausgebreitete Jackett hinunter und legte einen Arm um ihre Schultern. Einige Zeit saßen sie schweigend aneinander gelehnt und schauten über den Fluss auf das gegenüberliegende Ufer.
„Hannah, wird Sarah mich mögen? Schließlich habe ich mich nie um sie gekümmert.“
„Das ist nicht das Problem, Liebster. Sarah kann noch nicht zwischen Nazis und Deutschen unterscheiden. Als ich ihr eröffnete, dass sie einen deutschen Vater hat, hat sie reagiert, als hätte ich mit dem Feind kollaboriert. Aber sie hat ein Bild für dich gemalt und sie hofft, dass du ihr mit einem Brief antwortest.“
„Das werde ich tun, kann sie schon lesen?“
„Eigentlich ganz gut, wenn man bedenkt, dass sie im ersten Jahr zur Schule geht.“
„Ich versuche, einfache Worte zu finden.“
„Bitte schreibe auf Deutsch und Englisch. Sie versteht Deutsch, kann es aber noch nicht lesen. Ich lese ihr den deutschen Text vor. Sie selbst kann dann den englischen Text lesen.“
„Ja, mein Schatz, so werde ich es machen. Aber selbst, wenn sie Abstand zu mir halten möchte, ich bin ihr Vater, wir müssen uns miteinander auseinandersetzten. Ich kann nicht erwarten, dass sie mich liebt.“
„Liebster, lassen wir es auf uns zukommen. Sarah wird, sobald sie es begreift, sich damit auseinandersetzten müssen, dass ihr Vater ein Gerechter ist.“
„Ich habe nichts Besonderes getan.“
„Du hast aktiv Verfolgte vor den Nazis gerettet. Du hast Menschen unseres Volkes vor der Shoah gerettet! Auch Sarah und mich.“
„Das hätten andere auch getan.“
„Haben sie aber nicht, das macht den Unterschied, Hans! Ich werde versuchen Sarah zu erklären, dass es keine schlechten Völker gibt, sondern nur schlechte Menschen.“
„Möchtest du mir erzählen, was Nicole widerfahren ist?“
„Ja Hans“, Hannahs Stimme klang sehr betroffen, bei dem Gedanken an ihre Schwester.
Hannah erzählte, was sie über Nicoles Vergangenheit wusste. Die Schilderung, wie sie geschändet worden war, trieb ihr die Tränen in die Augen. Hans wischte ihre Tränen ab und Hannah beruhigte sich, als sie davon erzählte, wie Christine und François sich danach um Nicole gekümmert hatten und erklärt hatten, sie wäre jetzt ihre Tochter. Dann erzählte Hannah, dass auch für sie die beiden ein Ersatz für ihre Eltern wären und sie, sie mit Ima und Aba ansprechen würde. Hans wollte dann alles wissen, was Sarah betraf, ein starkes Gefühl von Trauer breitete sich in ihm aus, da die Jahre, die er beim Aufwachsen seiner Tochter verpasst hatte, unwiederbringlich verloren waren. Schließlich erhoben sie sich und gingen sich an den Händen haltend über die Felder zu einem der ländlichen Vororte der Stadt und von dort über eine lange Allee, an der sich zu beiden Seiten Äcker ausbreiten, zurück zur Dianastraße.
„Liebste, ich habe nichts, was ich dir anbieten könnte, nur Wasser aus der Leitung“, sagte Hans plötzlich und riss Hannah damit aus ihren Gedanken.
„Du hast nichts zu essen?“
„Doch, ein Kanten Brot und einen Rest von der Marmelade, die ich bei der Alten unten im Haus auf meine Lebensmittelmarken gekauft habe.“
„Bei uns ist auch fast alles rationiert und ich habe nicht daran gedacht, dass du etwas Essbares brauchen könntest, mein Schatz. Um mich brauchst du dir keine Sorgen machen, ich bin am Abend zum Diner eingeladen. Ich komme morgen wieder und bringe dir etwas aus dem Garnisonsladen mit. Geld hast du doch sicher? Ich frage nur, weil ich möglichst unauffällig bleiben will, deshalb brauche ich Kleingeld für die Straßenbahn. Die Leute gucken doof, wenn ich dem Schaffner meinen Ausweis unter die Nase halte.“
„Geld gibt es im Überfluss, kaufen kann ich mir nichts dafür, das ist das Problem, Süße.“
„Ich gebe dir Pfundnoten. Damit kannst du auf den Schwarzmarkt gehen. Aber bitte erst, wenn ich abgereist bin. Solange ich hier bin, sorge ich für alles, was du benötigst.“
„Ich komme schon klar, Süße.“
„Das weiß ich, aber so kann ich etwas von meiner Schuld bei dir abtragen. Komm mein Schatz, bitte sei nicht bockig. Du hast vor dem Krieg so viel für mich getan, da machen wir es jetzt einmal umgekehrt.“
„Ich bin nicht bockig, wem es so dreckig geht, wie es den meisten Deutschen geht, der ist nicht bockig, der nimmt jeden Finger, der ihm gereicht wird. Wenn du Zigaretten besorgen kannst, wäre das gut, denn für Zigaretten bekommt man alles.“
„Ja, sicher, mein Liebster. Du kannst meine Tabakration haben, schließlich bin ich Nichtraucherin. Wer ist denn die weißhaarige Frau mit dem schwer atmenden Enkel?“
„Hat sie dich angemacht? Sie ist die Hausbesitzerin, der Laden im Erdgeschoss gehört ihr auch. Feinfühlig ist sie nicht, aber sonst ist sie ganz in Ordnung. Eigentlich das Gegenteil von Madame Meister. Der kleine Junge ist arm dran. Er hat starkes Asthma und bekommt keine Medikamente, die gibt es nicht einmal für Zigaretten. Er ist ganz intelligent und begreift fix. Komm meine Süße, wir gehen hinauf und wenn wir auf die Hausbesitzerin treffen sollten, stelle ich dich vor.“
Im Hausflur und im Treppenhaus trafen sie dann auf niemanden, was beiden mehr als recht war. Auf dem Zimmer setzten sie sich nebeneinander auf das Bett, Hannah öffnete ihre Tasche, entnahm ihr das von Sarah gemalte Bild und ein Foto des Kindes. Beide Bilder betrachtete Hans interessiert. Sarah hatte alle Personen, die sie für wichtig hielt, auf ihrem Bild verewigt und in ihrer noch ungeübten Handschrift bei jeder Person hinzugeschrieben, um wen es sich handelte. Er wies auf die Person, die Hannah darstellte und meinte, fast hätte ich dich nicht erkannt, Liebste. Beide lachten, dann stand Hans auf, nahm Heftzwecken aus einer Schublade des Schrankes und pinnte das Bild an die Wand über seinem Bett. Er nahm das Foto zur Hand und betrachtete es intensiv. „Darf ich das Bild behalten, Liebste?“ „Ja, mein Schatz, es ist für dich.“ „Ich werde es immer bei mir tragen, Süße.“ Hans stand auf und schob das Bild in die zerfledderte Brieftasche zu seinen Ausweispapieren zwischen die Mitteilungen und Briefe, die er von Hannah erhalten hatte. Als er wieder neben Hannah saß, schmuste sich diese wieder bei ihm an. Mit den Fingerspitzen erforschte sie vorsichtig sein Gesicht, die Falten, die vor dem Krieg kaum spürbaren gewesen waren, waren tief geworden und hatten sich vermehrt. Sein Lächeln wirkte immer noch jugendlich, an den Augen hatte sich Krähenfüße gebildet, die sein Lächeln noch gewinnender aussehen ließen. Hans hielt still, während Hannah ihre Erkundungen fortsetzte und sein Hemd aufknöpfte. Sie zog ihm das Hemd aus und erschrak, Hans war unglaublich mager. Jede seiner Rippen zeichnete sich deutlich unter seiner Haut ab. Hans ließ sich auf das Bett zurücksinken und zog Hannah zu sich herunter. Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und während Hans ihre Haare kraulte, öffnete sie seine Hose. Er zog sie weiter zu sich herauf, sodass er ihr bequem unter den Rock greifen konnte. Die Berührung ihrer Oberschenkel durch die Hände des Geliebten löste bei Hannah die Gefühle aus, die sie in qualvollem Verlangen herbeigesehnt hatte. Sie erhob sich, zog sich aus, legte sich wieder neben Hans und schmiegte sich an seinen mageren Körper. Vorsichtig, als sei sie zerbrechlich, drehte Hans Hannah auf den Rücken und erforschte den Körper seiner Liebe, den er so lange vermisst hatte. Als Hannah meinte, es nicht mehr aushalten zu können, flüsterte sie, „bitte komm zu mir, Liebster.“ Hans küsste sie auf den Hals und legte sich zwischen ihre geöffneten Schenkel. Es wurde ein kurzer, leidenschaftlicher Akt, nach dessen Ende Tränen über Hannahs Wangen rannen. Hans tupfte ihr die Tränen ab und danach lagen sie sich bei den Händen haltend auf dem Bett.
„Wann musst du fort, Süße?“, fragte Hans nach einiger Zeit.
„Ich habe den Fahrer für sieben Uhr bestellt, wir haben also noch etwas Zeit, mein Schatz und ich komme morgen wieder, wenn du es möchtest.“
„Und ob ich das möchte. Am Abend schreibe ich den Brief an Sarah. Du hilfst mir morgen bitte bei der Übersetzung? Kindgerechtes Englisch ist mir nicht unbedingt geläufig.“
„Ja, Süßer, ich mache das gerne.“ Hannah legte sich wieder so, dass sie mit ihrem Kopf auf seiner Brust lag.
„Hannah, welche Zukunft haben wir?“, die Stimme von Hans klang unsicher.
„Wenn du es möchtest, nehme ich meinen Abschied und ziehe zu dir. Ich könnte mich hier als Ärztin niederlassen.“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Liebste. Die Deutschen haben alle Juden ermordet, derer sie habhaft werden konnten. Du kannst hier nicht mehr leben.“
„Die Nazis sind besiegt, ich will helfen, mein Land wieder aufzubauen.“
„Das Volk wurde nicht ausgetauscht. Es sind immer noch die gleichen Menschen, vergiss das nicht, Hannah! Ich war, als ich zurückkam, hoffnungsvoll und was sehe ich jetzt? Das ganze Kollegium meiner Schule wurde übernommen. Der Mensch, dem ich den Faustschlag versetzt habe, als Chawa sich das Leben genommen hat, ist jetzt Direktor. Wer weiß, wer dem einen Persilschein besorgt hat. Auch ich wurde von Kollegen um einen Persilschein gebeten. Ich habe ihnen die Bestätigung gegeben, was soll’s“, Hans zuckte mit den Schultern, „aber dich, mein Schatz, will ich diesen Menschen nicht aussetzten. Wir können eine gemeinsame Zukunft haben, wenn wir es wollen, aber nicht in diesem Land.“
„Ich vertraue dir, Süßer. Du hast schon einmal entschieden, was zu tun sei. Wenn dieses Land nicht unsere Zukunft ist, dann müssen wir ein anderes Land finden, denn es ist mein größter Wunsch, mit dir zusammen in diese Zukunft zu gehen. Wir werden eine gemeinsame Lösung finden.“
„Ich werde nachdenken, Süße.“
„Ja mein Schatz, auch ich werde nachdenken und jetzt wird es Zeit für mich. Wann kommst du morgen nach Hause?“
„Kurz vor zwei. Kannst du so zeitig?“
„Das schaffe ich nicht, aber bis drei bin ich bei dir, mein Schatz.“ Hannah erhob sich, zog sich an und entnahm ihrer Tasche zehn Pfund. „Komm, mein Schatz, wir tauschen. Nimm das Geld, dann hast du einen Vorrat, zum Glück habe ich kleine Scheine dabei, denn wechseln kann dir das sicher niemand.“
Hans schüttelte den Kopf, „das ist viel Geld.“
Hannah lächelte ihn an, versetzte ihm einen Knuff und flüsterte ihm ins Ohr, „vergiss nicht, mein Schatz, du bist mein Mann, wir haben uns erkannt.“
Hans drückte Hannah an sich, „ist gut, Süße, der Formel deines Volkes, für das, was wir tun, ist nichts entgegenzusetzen. Hier ist mein Gelddepot, nimm, was du für nötig hältst. Ein Fahrschein kostet zwanzig Pfennig. Nimm ruhig mehr, zu kaufen gibt es dafür sowieso kaum etwas.“
Um sieben brachte Hans Hannah nach unten, auf halber Treppe hielt er an, küsste Hannah leidenschaftlich und meinte dann, wenn ich das auf der Straße mache, guckt dein Chauffeur doof. Der Fahrer wartete vor dem Jeep. Einige der mageren Kinder umringten ihn und schauten neugierig in den Jeep. Hannah und Hans sahen, dass der Fahrer Süßigkeiten verteilte. Als er Hannah gewahr wurde, fragte er sie, ob sie Brigadier Schwarz wäre. Als sie das bejahte, nahm er Haltung an und riss die Tür des Jeeps auf. „Zum Lazarett, bitte. Sergeant.“ „Zu Befehl, Ma’am!“ Hannah winkte Hans zu, als sich der Wagen in Bewegung setzte. Die Kinder liefen noch ein Stück johlend hinter dem Jeep her.
„Sie haben ein Herz für Kinder, Sergeant?“
„Zu Befehl, Ma’am.“
„Bitte sprechen sie normal mit mir, Sergeant. Ich kann ihnen nicht befehlen, ein Herz für Kinder zu haben. Haben sie selbst Kinder?“
„Ja, Ma’am, ein Mädchen und einen kleinen Jungen.“ Der Sergeant strahlte vor Glück.
„Ich habe auch eine Tochter, Sergeant.“
Der Sergeant wurde jetzt lockerer. „Finden sie es schön, ein Kind zu haben, Ma’am?“
„Oh ja, ich liebe meine Sarah sehr. Nur habe ich zu wenig Zeit für sie.“
„Ich glaube Ma’am, mir geht es genauso.“
„Ich bin nach dem Krieg das erste Mal in Deutschland. Ich habe noch nie so abgemagerte Kinder gesehen.“
„Das stimmt, Ma’am. Da fällt es mir schwer, in ihnen Feinde zu sehen und die Sweets kosten nicht viel.“
Hannah lächelte, „da haben sie recht und diese Kinder sind nun wirklich nicht Schuld am Krieg. In ihnen Feinde zu sehen, wäre nicht recht.“
Sie fuhren am Lazarett vor, der Sergeant sprang heraus, öffnete Hannah die Tür und nahm Haltung an. Hannah stieg aus. „Danke, Sergeant“, sagte Hannah dabei und schenkte ihm ein Lächeln.
Am Abend während des Diners reichte Lieutenant Gladstone Hannah ein dringendes Telegramm. Hannah las die Depesche. Die Nachricht war vom Generalarzt, der sie bat, ihn umgehend unter seiner Privatnummer anzurufen. Hannah schrieb Peters Telefonnummer auf die Rückseite des Telegramms und befahl Gladstone sofort eine Verbindung zu dieser Telefonnummer herzustellen. Ihr Tischnachbar fragte, ob etwas vorgefallen wäre. Hannah zuckte mit den Schultern und meinte, sie wisse es nicht, aber es müsse schon etwas Wichtiges sein, wenn der Generalarzt um diese Uhrzeit um einen sofortigen Anruf in seiner Wohnung bitte. Wenig später entschuldigte sich Hannah bei den Anwesenden und folgte Gladstone. Dieser bemühte sich immer noch vergeblich um den Anruf, als Hannah zu ihm stieß. Ihre Unruhe stieg, je länger Gladstones Versuche dauerten, die Verbindung zustande zu bringen. Als Gladstone ihr den Hörer reichte, war über eine Stunde vergangen. Am anderen Ende der Leitung meldete sich ein Adjutant und berichtete, der Generalarzt käme so schnell wie möglich an den Apparat, es würde einen Moment dauern, da seine Frau ein offizielles Diner gäbe. Er bat Hannah zu warten und legte den Hörer mit lautem Knall auf den Schreibtisch.
„Hannah, sie sind am Apparat?“, hörte Hannah nach einiger Zeit den Generalarzt fragen.
„Yes, Sir“, antworte Hannah.
„Sie sind nicht allein, Hannah?“
„No, Sir.“
„Dann schicken sie alle anderen Anwesenden aus dem Raum, Hannah.“
„Zu Befehl, Sir.“ Hannah nahm den Hörer vom Ohr und befahl Gladstone den Raum zu verlassen.
Sobald sie allein war, sprach Hannah in den Hörer, „was gibt es dringendes, Peter?“
„Es ist furchtbar, Hannah, Brigadier Crown ist am späten Nachmittag verstorben.“
„Das kann nicht sein, Peter. Er war bei bester Gesundheit, als ich mich von ihm verabschiedet habe.“
„Doch Hannah, er hat am Nachmittag einen Herzinfarkt erlitten, er war sofort tot.“
„Und nun?“
„Hannah, ich muss sie bitten, schnellstmöglich nach Caen zurückzukehren. Sie müssen die Leitung des Lazaretts übernehmen. Wann können sie reisen?“
„Ich beauftrage Lieutenant Gladstone sofort einen Flug zu organisieren, Peter. Ich habe aber dringend noch etwas Privates hier zu erledigen. Sie wissen, warum ich hierher musste. Die neueste Entwicklung ist so, dass Sarah schnellstens ihren Vater kennenlernen muss.“
„Das verstehe ich, aber machen sie es bitte kurz. Sobald sie die Leitung des Lazaretts übernommen haben, nehmen sie ein paar Tage Urlaub und fliegen mit Sarah nach Düsseldorf, aber jetzt werden sie dringend in Caen gebraucht. Wenn es wegen des Fluges Schwierigkeiten gibt, melden sie sich bitte sofort bei mir. Wenn sie in spätestens drei Tagen in Caen sind, wäre das kein Problem. Hannah, geht das?“
„Ja, Peter, ich denke, das geht. Ich versuche übermorgen zurückzufliegen.“
„OK, Hannah, ich muss zurück zur Gesellschaft. Rachel lässt sie grüßen.“
„Danke Peter, bitte grüßen sie Rachel von mir.“
„Das mache ich gerne, halten sie mich auf dem Laufenden. Auf Wiederhören.“
„Auf Wiederhören, Peter.“
Hannah legte auf und rief nach Gladstone. Als dieser erschien, weihte Hannah ihn in die neue Lage ein und beauftragte ihn, einen Flug für übermorgen zu organisieren. Wenn das nicht geht, spätestens für den Tag darauf, fügte sie noch hinzu. Später auf ihrem Zimmer machte sie sich Gedanken, wie es jetzt weitergehen könnte. Der Generalarzt hatte nicht gesagt, was er sich für ihre weitere Zukunft vorstellte. Auch die Zukunft ihrer neu entflammten Liebe zu Hans war somit ungewiss. Sie packte eine Tasche, sie wollte morgen bei Hans übernachten, wenn ihm das recht sein sollte. Auf jeden Fall wollte sie erreichen, dass sie kurzfristig mit Sarah nach Düsseldorf reisen konnte. Hans und Sarah hatten ein Recht aufeinander und da Hans so begeistert auf die Nachricht seiner Vaterschaft reagiert hatte, musste sie Sarah davon überzeugen, dass ihr Papa auf sie warte. Hannah schlief nicht viel in dieser Nacht und war am Morgen ziemlich müde. Mit Lieutenant Gladstone spulte sie routiniert das Tagesprogramm ab, danach ging sie in den Garnisonsladen und beschaffte Dinge, die sie für Hans brauchbar hielt, darunter zwei Stangen Zigaretten. Hannah hatte die Anweisung gegeben, dass der Fahrdienst sie am Garnisonsladen abholen solle. Sie ließ sich wieder zum Hauptbahnhof fahren und stieg dort in die Straßenbahn Richtung Südfriedhof. Sie war froh, dieses Mal das passende Geld dabei zu haben. In ihrer eleganten Zivilkleidung sah sie schon auffallend genug aus, fand sie. Nachdem sie ausgestiegen war, ging sie schnurstracks zu Dianastraße. Sie schellte und umgehend summte der Türöffner, Hans schien auf sie gewartet zu haben. Bereits auf dem ersten Treppenabsatz kam er ihr entgegen. Die beiden umarmten sich leidenschaftlich, Hans schnappte sich Hannahs Tasche und gemeinsam stiegen sie zum Zimmer hinauf. Hans schloss die Tür hinter ihnen, die Liebenden standen einige Zeit bewegungslos mitten im Raum und hielten sich liebevoll umschlungen.
„Hans, ich habe eine schlechte Nachricht. Ich muss umgehend zurück nach Caen. Ich hoffe nur für kurze Zeit. Die kommende Nacht möchte ich bei dir verbringen, ist dir das recht? Ich vermute, schon morgen geht mein Flug.“
Hans streichelte Hannah über die Haare, „ich hatte gehofft, wir hätten einige gemeinsame Tage. Wir sind wohl dazu verurteilt, uns immer wieder zu trennen. Wenn dir meine Behausung nicht zu primitiv ist, dann bleib, solange du möchtest. Je länger, desto lieber. Du siehst ja, wie erbärmlich ich lebe, nicht einmal fließendes Wasser habe ich. Dagegen war die Unterkunft bei Madame Meister richtig komfortabel.“
„Ich erwarte noch am Abend einen Kurier, der mir mitteilt, wann ich fliege. Diese Nacht gehört uns und es werden noch viele Nächte folgen“, Hannah kuschelte sich fester bei Hans an.
„Dann komm, Süße. Unsere Zeit ist kurz bemessen. Ich habe den Brief an Sarah geschrieben. Wir übersetzen ihn gemeinsam und wenn du weg bist, warte ich voll Sehnsucht auf euch beide.“
Hans ging zum Tisch und reichte Hannah das zur Hälfte beschriebene Blatt Papier. „Ist mein Deutsch für Sarah verständlich?“, sagte er dabei.
Hannah las das Schreiben, „Oh ja, Liebster. Ich lese Sarah den Brief so vor, wie du ihn geschrieben hast. Dazu reicht ihr Deutsch. Komm, wir übersetzen ihn, dann kann Sarah den Brief auch selbst lesen.“
Hans setzte sich an den Tisch und Hannah stützte sich mit den Händen auf seine Schultern. Nachdem sie gemeinsam die Redewendungen formuliert hatten und mit ihrem Werk zufrieden waren, wandten sie sich einander zu und Hans zog Hannah zu sich hinunter auf den Stuhl. Eine Weile saßen sie so eng aneinander geschmiegt und tauschten Liebkosungen aus. Dann stand Hannah entschlossen auf und stellte ihre Tasche auf den Tisch. Sie breitete den Inhalt auf dem Tisch aus und fischte eine Dose Pulverkaffee heraus. „Ich hoffe, du besitzt zwei Tassen, dann könnten wir jetzt Kaffee trinken“, sagte Hannah und hielt Hans die Dose unter die Nase. „Ich habe eine Tasse mit einem Sprung und eine Tasse ohne Henkel, ähnlich wie damals in Bayeux“, antwortete Hans und zog Hannah in seine Arme. „Was soll denn der Aufbau auf dem Tisch? Willst du einen Laden eröffnen, Schatz?“ „Das ist für dich, Süßer. Zwei Stangen Zigaretten habe ich noch in der Tasche, es ist meine Tabakration, ich brauche sie nicht, ich verschenke sie sowieso immer.“ Hans küsste Hannah auf die Stirn, dann ging er zum Elektrokocher, schöpfte mit einer Kelle Wasser aus einem neben dem Ofen stehenden Eimer und goss dieses in seinen einzigen Kochtopf, den er zum Erwärmen auf den Kocher stellte. „Du bist mir nichts schuldig, Süße. Du brauchst mir nichts mitzubringen“, sagte er, als er sich einmal zu Hannah umdrehte. „Mein Schatz, du bist mein Mann, habe ich einmal vor langer Zeit zu dir gesagt. Daran hat sich nichts geändert“, Hannah formte einen Kussmund und widmete sich dann dem ungemachten Bett. Anschließend räumte sie den Tisch auf, um Platz für Kaffeetassen und Kekse zu schaffen. Sie habe sich seit ihrer Zeit in Bayeux nicht verändert, feixte Hans, als er sich vom Kocher abwandte. Erst als der Kaffee serviert war, antwortete sie, „Hans, mein Schatz, warum sollte ich mich ändern?“ „Nein, bleib, wie du bist, ich liebe dich.“ Für Hans war der Kaffee ein ungewohnter Genuss und er trank langsam und andächtig aus der Tasse ohne Henkel. Die Kekse aß er mit großem Appetit und Hannah war selig, zusammen mit ihm allein in einem Zimmer zu sein. Gegen das kaputte Fenster klatschte Regen, der langsam unter der Pappe hindurch sickerte. An einen Spaziergang war nicht zu denken, so saßen sie verliebt nebeneinander und erzählten sich von ihrem Leben, nachdem sie sich in Arromanches getrennt hatten. Hans war wieder besonders an allem interessiert, was mit Sarah in Zusammenhang stand. Hannah brach in Tränen aus, als sie erzählte, wie groß ihre Freude gewesen war, als sie ihre Schwangerschaft bemerkt hatte. Hans nahm sie in die Arme und wischte ihr die Tränen ab.
Hannah war dabei, Brote für den Abend zu belegen, als es dreimal klingelte. Hans drückte den Türöffner und wartete auf dem Treppenabsatz. Der Sergeant, der Hannah am Vortag abgeholt hatte, kam die Treppe hinauf. „Good evening, do you want to brigadier Schwarz?” „Yes, sir, I do!” „A moment, please.” Hans öffnete die Tür und fragte Hannah, ob sie den Kurier im Treppenhaus oder im Zimmer empfangen wolle. Bitte ihn herein, meinte Hannah. Hans bat den Sergeanten ins Zimmer, dieser nahm Haltung an und legte die Hand zackig an seine Mütze, als er Hannah erblickte.
„Stehen sie bitte bequem, Sergeant. Was bringen sie?“
„Ich habe eine Nachricht für sie, Ma’am“, der Sergeant reichte Hannah ein Kuvert.
Hannah überflog kurz die Nachricht, „Hans, mein Flug geht morgen um zehn. Da muss ich zeitig weg. Schließlich muss ich mich vor dem Flug noch umziehen. Ich müsste für sieben den Fahrdienst bestellen.“
„Das ist kein Problem. Ich gebe um acht Uhr meine erste Stunde. Ich muss also auch gegen sieben weg.“
Hannah ging zum Tisch und schrieb auf die Rückseite der Nachricht einen Befehl an Lieutenant Gladstone, steckte das Blatt zurück in das Kuvert und reichte es dem Sergeanten, „eine Nachricht für Lieutenant Gladstone. Es eilt Sergeant.“
„Sehr wohl, Ma’am.“
„Haben sie wieder Süßigkeiten dabei, Sergeant?“
„Um diese Tageszeit nicht, Ma’am.“
Hannah lächelte, „ich finde es eine nette Geste von ihnen. Sehr lobenswert, Sergeant.“
„Danke Ma’am, bitte mich entfernen zu dürfen.“
„Sie dürfen, Sergeant.“
Nachdem der Sergeant gegangen war, brach Hans in Lachen aus, Hannah stimmte ein. Sie nahmen sich in die Arme und Hans flüsterte Hannah ins Ohr, „bitte sie küssen zu dürfen, Ma’am?“ Er erhielt für die Frage einen kräftigen Knuff und anschließend einen Kuss auf den Mund. Hannah wandte sich ab und belegte am Tisch stehend weitere Brotscheiben. „Gutes Brot kann ich dir leider nicht bieten, englisches Brot ist eigentlich zum Abgewöhnen.“ „Wir sind hier froh, wenn es überhaupt Brot gibt, in dieser Beziehung sind wir einiges gewöhnt.“ Hans stellte sich hinter sie und küsste sie auf den Nacken. Sie versetzte ihm einen Stoß mit dem Hinterteil und widmete sich weiter dem Brot. Als Hannah meinte, es seien genug Brote belegt, wandte sie sich ab, nahm den Topf, füllte mit der Kelle Wasser in ihn, legte zwei Eier hinein, stellte den Topf auf den Kocher und schaltete den Strom ein, dann setzte sie sich aufs Bett und zog Hans zu sich heran.
„Liebster, ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. So viele Jahre habe ich mich nach dir gesehnt und nun haben wir nur diese eine Nacht.“
„Meine Süße, wir lieben uns und wir werden uns bald wieder in den Armen liegen. Alles wird gut.“
„Und wenn Sarah dich nicht mag?“
„Hannah, so etwas solltest du nicht denken. Es braucht bestimmt einige Zeit. Wir dürfen es nicht über das Knie brechen. Unsere Tochter braucht Zeit sich an die neue Situation zu gewöhnen. Ich weiß, dass ich Deutscher bin, macht die Sache nicht einfacher. Ihr beide seit aber schließlich auch Deutsche oder hast du deine Staatsbürgerschaft zurückgegeben?“
Hannah lachte, „einmal davon abgesehen, dass die Nazis den Juden die Staatsbürgerschaft entzogen hatten, an wen hätte ich mich wenden können, um die Staatsbürgerschaft zurückzugeben? Im Krieg gab es in England keine deutsche Vertretung und seit Ende des Krieges gibt es nicht einmal eine deutsche Regierung. Ich habe immer davon geträumt, eines Tages nach Deutschland zurückzukehren. Sogar den Generalarzt habe ich in diesen Plan eingeweiht.“
„Und nun, Süße?“
„Ich weiß nicht. Du musst für uns entscheiden.“
„Schatz, kommt Zeit, kommt Rat. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass wir in diesem Land keine Zukunft haben und ich möchte nicht, nein ich will nicht, dass unsere Tochter in der Schule auf Lehrer trifft, die an der Ermordung ihrer Großeltern und Urgroßeltern mitgewirkt haben!“
„Komm Süßer, wir haben nur noch diese Nacht.“
Hannah erhob sich und nahm mit der Kelle die Eier aus dem Wasser. Hans ging auf den Flur und goss das Wasser in den Ausguss. Sie aßen die belegten Brote und die beiden Eier. Hans genoss es, sich einmal satt essen zu können. Sobald alles verzehrt war, erhob sich Hannah und zog sich aus. Hans reagierte zuerst verdutzt auf ihren spontanen Entschluss, zog sich aber auch aus. Als er sich wieder umdrehte, rekelte Hannah sich bereits auf dem Bett. Er dachte zurück an den Tag damals in Bayeux, als er ihr Rekeln auf dem Bett in scherzhafter Weise schamlos genannt hatte. Ihre Antwort hatte er immer noch im Ohr: ‚Wir haben uns schon mehrmals erkannt, da können wir miteinander gar nicht mehr schamlos sein‘. Als er sich auf die Bettkante setzte, schmuste sich Hannah sofort bei ihm an. Gerne ließ er sich von ihr auf die Matratze herunterziehen. Sie liebten sich voller Leidenschaft und schliefen schließlich eng umschlungen ein. Als der Wecker rasselte, war Hannah kurz desorientiert, schmuste sich dann aber noch einmal spontan an Hans an. Er küsste sie auf die Stirn, erhob sich, zog seine Hose über und holte vom Wasserhahn auf dem Flur einen Eimer voll frischem Wasser. Gemeinsam stellten sie sich an eine ziemlich demolierte Waschschüssel, die Hans auf den Tisch gestellt hatte. Unter Lachen und Kitzeln wuschen sie sich gegenseitig ab. Während Hans das Wasser im Ausguss entleerte, belegte Hannah noch nackt einige Brotscheiben. Er lachte, als es wieder ins Zimmer kam. „Frau Brigadier werden sich erkälten. Oder wollen Ma’am in dieser Aufmachung nach Caen fliegen?“, sagte er und versetzte Hannah einen Klaps auf den Po. Diese drehte sich um und schmuste sich noch einmal heftig bei ihm an. „Mein Mann“, sagte sie dabei. Als es Zeit war zu gehen, verabschiedeten sie sich noch auf dem Treppenabsatz besonders liebevoll, da Hans meinte, von so einer Respektsperson könne er sich nicht auf der Straße mit einem Kuss verabschieden. Hannah versetzte ihm für diese Bemerkung einen Schlag vor die Brust. Als sie vor das Haus traten, stand dort bereits die Limousine der Fahrbereitschaft. Unauffälliger geht es nicht, feixte Hans. An den umliegenden Häusern lagen die Menschen trotz der frühen Stunde in den Fenstern, um die Aufsehen erregenden Vorgänge zu beobachten. Die weißhaarige Hausbesitzerin stand mit ihrem Enkel in der Tür ihres Ladens. Hannah war es etwas peinlich, ein Jeep wäre unauffälliger gewesen, fand sie. Spontan bot sie Hans an, ihn bei der Schule abzusetzen. Hans meinte dazu, sie hätten jetzt schon so viel Aufsehen erregt, da könnten sie bei der Schule gerne weiter machen. Der Chauffeur hielt den Schlag auf und Hans erklärte ihm, wie er zur Schule fahren sollte.
Am Flughafen wurden Hannah und Lieutenant Gladstone wieder direkt an das wartende Flugzeug gefahren. Ihr war das alles zu auffällig. Sie fremdelte immer noch mit ihrem hohen Rang. In der Maschine saß zu Hannahs Überraschung der Wing Commander, den sie bereits auf dem Flug von London nach Caen getroffen hatte. Dieser erhob sich, sobald er Hannah erblickte. Hannah begrüßte ihn freundlich. „Nennen sie mir bitte ihren Namen, Sir. Ich bin Miss Schwarz“, sagte Hannah, während sie ihm nach der offiziellen Begrüßung die Hand reichte. „Wing Commander Snowdon, Ma’am. Ihr Name war mir natürlich bekannt, ein weiblicher Brigadier ist mehr als eine Sensation.“ „Danke Mister Snowdon. Ich habe den Eindruck, wir fliegen häufiger miteinander.“ „Gerne Ma’am, heute ohne Sarah?“ „Sarah ist bei ihren Großeltern in Arromanches.“ „Grüßen sie Sarah bitte von mir.“ „Gerne, Mister Snowdon.“ Sie wurden aufgefordert, sich zu setzen und sich anzuschnallen. Hannah setzte sich neben Gladstone, während die Motoren dröhnend angeworfen wurden.
„Fliegen wir direkt nach Caen, Mister Gladstone?“
„Nein, Ma’am, wir müssen in Paris umsteigen.“
„Haben wir lange Aufenthalt?“
„Nein, wir fliegen sofort weiter, Ma’am.“
„Das letzte Mal bin ich von Paris nach Caen mit der Eisenbahn gefahren.“
„Sie waren schon einmal in Paris, Ma’am?“
„Ja, vor dem Krieg habe ich zeitweise dort gelebt. Bitte Mister Gladstone, wenn wir privat miteinander sprechen, dann lassen sie Ma’am weg. Geht das?“
„Ja Ma’am.“ Hannah verdrehte die Augen.
„Ich habe bis zwei Wochen vor dem Krieg in Paris gearbeitet und bin dann über die Normandie nach England geflohen.“
„Sie stammen ihrem Namen nach aus Deutschland. Wie kamen sie nach Paris, Miss Schwarz?“
„Ich bin Jüdin, Mister Gladstone.“
„Oh, das wusste ich nicht. Wenn sie nicht so einen sonderbaren Namen hätten, käme bei ihrem Englisch kein Mensch auf die Idee, sie seien Ausländerin. Warum nennen sie sich nicht einfach Miss Black?“
Hannah lachte, „damit müssen sie leben, ich heiße Schwarz und nicht Black.“
„Ich will nicht zu privat fragen, Miss Schwarz, aber sie haben noch Bindungen nach Deutschland. Gehen sie eines Tages nach Deutschland zurück?“
„Mein Plan war, nach meinem Abschied zurück nach Deutschland zu gehen. Aber der Mann, den sie so rücksichtsvoll meine Bindung nach Deutschland genannt haben, rät mir dringend davon ab.“
„War er während des Krieges in Deutschland?“
„Nein, er ist vor den Nazis geflohen und hat sich der Résistance angeschlossen. Mir zur Flucht nach England zu verhelfen, war wohl seine erste Tat im Widerstand. Er ist der Vater von Sarah.“
„Es kann nur eine große Liebe sein, die die Zeit der Trennung und den Krieg überdauert hat“, Gladstone stutzte, „Ma’am, ich wollte mich nicht ihre Privatangelegenheiten einmischen. Entschuldigen sie bitte.“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Mister Gladstone. Es ist eine große Liebe.“
Vom Flugfeld aus ließ sich Hannah direkt zum Lazarett chauffieren. Zu ihrer Überraschung traf sie dort auf den Generalarzt. „Sie hier, Sir?“, reagierte Hannah leicht verwirrt. Der General bat Hannah, ihm in das bisherige Büro von Brigadier Crown zu folgen.
„Ich habe mich mit Rachel besprochen, Hannah. Ich wollte nicht kommen, da ich nicht den Eindruck erwecken wollte, als würde ich ihnen in die Leitung des Lazaretts hineinreden. Rachel meinte aber, ich sei es Brigadier Crowns Familie schuldig, dass ich mich persönlich um die nun leider nötigen Dinge kümmere; und dieser Meinung bin ich auch. Verstehen sie das, Hannah?“
„Peter, ich habe kein Problem damit, sie nehmen mir eine Sorge ab. Es wäre mir unangenehm, in Crowns persönlichen Sachen herumzuwühlen.“
„Danke Hannah. Ich reise auch sofort ab, wenn ich Crowns Dinge hier geregelt habe. Crown hat sich in seinem letzten Bericht sehr lobend über sie geäußert und sie für seine Nachfolge empfohlen. Sie planen weiterhin zurück nach Deutschland zu gehen, Hannah?“
„Ich glaube nicht, Peter. Sarahs Vater meint, dass das Land kein geeigneter Ort für seine Tochter sei und so, wie er es mir dargelegt hat, dürfte er recht haben. Peter, was ich jetzt zu sagen habe, ist sehr persönlich. Mein größter Wunsch ist es, so schnell es geht, mit Sarahs Vater zusammenzuleben. Er ist meine große Liebe.“
„Es ist natürlich schwierig, da er Deutscher ist. Aber sie sagten doch, dass er sich der Résistance angeschlossen hat. Da wird ihm Frankreich sicher dankbar sein. Sie, Hannah, sind auch gut vernetzt in der Normandie. Sie leiten das Lazarett, wann wir es schließen, steht noch in den Sternen. Schließlich ist es in Caen das einzige funktionierende Krankenhaus und wenn das Lazarett irgendwann geschlossen wird, nehmen sie ihren Abschied und lassen sich hier mit einer eigenen Praxis nieder.“
„Das ist eine Überlegung wert, Peter.“
„Was ist ihr Freund denn von Beruf, Hannah?“
„Mein Mann ist Lehrer, Peter.“
„Welche Fächer unterrichtet er?“
„Deutsch, Englisch und Französisch.“
Peter nickte, „wie gesagt, Hannah, sie sind gut vernetzt in der Normandie. Ich an ihrer Stelle würde versuchen hier Fuß zu fassen und ihr Mann als Mitglied der Résistance dürfte auch willkommen sein.“
„Danke Peter, ich werde das mit Sarahs Großeltern besprechen, sie sind hier in der Normandie führend im Widerstand tätig gewesen.“
„Ja, machen sie das. Ich habe jetzt noch eine Bitte, Hannah. Ich kann verstehen, dass sie so schnell wie möglich zu Sarah möchten, trotzdem bitte ich sie diesen Abend mit mir zu verbringen, denn ein General, der allein unterwegs ist, ist während der Freizeit ziemlich einsam. Geht das?“
„Ja, Peter, Sarah erwartet mich noch gar nicht. Ich bin ja früher zurückgekehrt, als geplant.“
Der Generalarzt und Hannah verabredeten sich zu einer gemeinsamen Visite aller Abteilungen und zum Abendessen. Hannah bat nur darum, zuerst in ihrem Büro die Post durchzuschauen, der General nickte und sagte, er würde in einer halben Stunde bei ihr vorsprechen. Ein Brief von Yves Guillou, dem Bürgermeister, war der einzige wichtige Brief, den sie nach ihrer kurzen Abwesenheit vorfand. Der Bürgermeister sprach sein Mitgefühl am Tod von Brigadier Crown aus und bedankte sich für Hannahs Einsatz, das Lazarett den Bürgern der Normandie zugänglich zu machen. Er schrieb, damit sei glücklicherweise die medizinische Versorgung der Stadt Caen und des Umlandes sichergestellt und das nähme ihm eine schwere Last von den Schultern. Hannah freute das, wenn sie auch meinte, dass mindestens die Hälfte des Lobes Brigadier Crown zustand. Anderntags machte sich Hannah sofort daran, die Leitung des Lazaretts zu übernehmen. Am späten Nachmittag begleitete sie Peter zum Flughafen.
„Sir, wenn sie der Meinung sind, ich solle auf unbestimmte Zeit die Leitung hier übernehmen, muss ich natürlich meine Wohnung in London auflösen und hierhin ziehen“, sagte Hannah, nachdem sich die Limousine in Bewegung gesetzt hatte.
„Ja, Miss Schwarz, sie haben als Brigadier Anspruch auf gehobene Unterkunft. Das Haus direkt neben dem des Standortkommandanten steht leer, er wohnt in Luc-sur-Mer. Das wäre für die leitende Ärztin des Lazaretts angemessen. Es sei denn, sie möchten die Wohnung von Brigadier Crown innerhalb des Lazaretts übernehmen.“
„Nein, das möchte ich nicht. Sarah wäre da nicht gut untergebracht. Ich werde sie bei einer französischen Schule anmelden müssen. Vielleicht habe ich Glück und finde eine adäquate Wohnung in Arromanches. Da hätte ich eine zuverlässige Betreuung für Sarah und sie hätte andere Kinder zum Spielen.“
Peter lächelte, „ihnen steht eine Kinderbetreuung zu, Miss Schwarz. Sie brauchen damit nicht Sarahs Großeltern zu belästigen und Miss Boudin wird bereits dringend wieder als Dolmetscherin benötigt. Die Dinge haben sich geändert, ihre Beurlaubung konnte ich nur für die Zeit ihrer Inspektionsreise durchsetzen.“
„Sir, das ginge auch nicht, meine Schwester soll ihr Talent nicht als Nanny verschwenden.“
„Miss Schwarz, wenn sie meinen Rat wünschen, sage ich ihnen folgendes: ziehen sie in das Haus, nehmen sie das Angebot zur Kinderbetreuung in Anspruch und besuchen sie Sarahs Großeltern sooft sie Zeit dazu haben.“
„Ich werde darüber nachdenken, Sir.“
Mit elegantem Schwung steuerte Sergeant Miller die Limousine an die wartende Maschine auf dem Vorfeld des Flughafens. Er stieg aus, öffnete zuerst dem Generalarzt und dann Hannah die Tür. Hannah ging noch die paar Schritte mit Peter zur Maschine. Sobald sie außer Hörweite waren, wechselte Peter in die persönliche Anrede, „Hannah, ich weiß, sie machen das gut. Sie erhalten von mir jede Unterstützung.“ „Danke Peter, ich tue, was ich kann. Bitte grüßen sie Rachel von mir.“ „Gerne Hannah, wir bleiben in Kontakt.“ Er verabschiedete sich von Hannah mit Handschlag, wandte sich um und stieg die Gangway hinauf. Hannah nahm Haltung an und salutierte. Kaum war der General eingestiegen, wurden die Motoren gestartet, die Douglas Dakota rollte zur Startbahn und hob schließlich dröhnend ab. Norman nahm stramme Haltung an und öffnete den Schlag, als Hannah sich näherte.
„Nach Arromanches, Mister Miller.“
„Zu Befehl, Ma’am.“
Hannah ließ sich in die Polster zurücksinken, sobald Norman den Wagen auf die Nationalstraße steuerte. Sie war nicht zum Reden aufgelegt und so verlief die Fahrt schweigsam, bis sie Arromanches erreicht hatten. Dort fragte Norman, ob sie länger blieben, was Hannah bejahte. Sie fügte dann noch hinzu, sie wolle zum Abendessen bleiben, er könne die Zeit mit Nicole verbringen. Norman hob dankend eine Hand an die Mütze. Beim Aussteigen flüsterte Hannah, „ich schicke dir Nicole sofort hinaus.“ „Danke, Ma’am“, antwortete Norman in vorschriftsmäßiger Haltung. François blickte erstaunt auf, als Hannah durch die Tür trat.
„Du bist schon zurück? Das war jetzt aber eine kurze Woche.“
„Ja, Aba“, Hannah ging um den Tresen, begrüßte François mit Wangenküssen und sagte dann, „die Dinge haben sich anders entwickelt als geplant, Aba. Der leitende Arzt des Lazaretts ist ganz plötzlich gestorben. Ich bin seine Nachfolgerin.“
„Oh, du bleibst länger?“
„Ja, Aba, ich bin auf unbestimmte Zeit in Caen. Ich muss nur noch meine Wohnung in London auflösen.“
„Wie geht es Hans, wie steht er zu Sarah?“
„Es geht ihm gut, den Umständen entsprechend. Sein größter Wunsch ist es, so schnell wie möglich Sarah zu sehen. Ist Sarah hinten?“
„Ja, sie übt mit Nicole Französisch. Das wird sie brauchen, wenn ihr hier bleibt.“
Hannah nickte, ging in die Küche und traf dort auf Christine, Nicole und Sarah, „Guten Tag, meine Lieben.“
„Mum, Mum, du bist wieder da“, Sarah eilte auf Hannah zu und umarmte diese.
„Hey Süße, erdrücke mich nicht“, lachte Hannah.
Hannah ging zu Christine, umarmte und drückte sie, dann küsste sie Nicole und schickte sie sie mit der Bemerkung, sie werde auf der Straße erwartet, nach draußen. Ihre Tochter gesellte sich zu Christine und Hannah hörte zu ihrer Freude, dass Sarah Französisch sprach. Als Hannah abgelegt hatte, wollte sie Christine bei der Arbeit helfen, diese wehrte aber ab, „geh besser mit Sarah spazieren, sie hat dir viel zu erzählen.“ So nahm Hannah das Mädchen bei der Hand und ging mit ihr zur Uferpromenade, da das Wasser ablief, zog Sarah ihre Mutter hinunter zum Strand. Die Saison war vorbei, es war nicht mehr viel Betrieb und so konnten sie in Ruhe den Strand entlang wandern. Hannah tat es leid, dass sie keine Zivilkleidung dabei hatte, trotz oder gerade weil wenig Betrieb herrschte, fiel sie als ranghohe Offizierin in ihrer Uniform auf, zumal sie ein Kind bei sich hatte. Nach einiger Zeit kam Sarah heran und nahm ihre Mutter bei der Hand.
„Mum, hast du ihn getroffen?“, fragte Sarah nach einigen Schritten.
„Wen meinst du, mein Schatz?“
„Deinen Freund, Mum!“
„Süße, ich habe keinen Freund, höchstens Onkel Peter und Jonny. Nun ja, der Fischer Félix ist auch mein Freund“, gab sich Hannah ahnungslos.
„Die meine ich doch nicht! Ich meine, meinen Papa.“
„Oh ja, den habe ich getroffen. Ich habe ihm dein Bild gegeben. Er hat sich sehr gefreut und es sofort über seinem Bett aufgehängt. Er lässt dich grüßen und er hat mir einen Brief für dich mitgegeben. Ich lese ihn dir vor und wir haben ihn übersetzt, dann kannst du ihn auf Englisch selbst lesen.“
„Du Mum, Grandpa hat mir ganz viel von meinem Papa erzählt, als du weg warst. Was ich nicht verstanden habe, hat mir Nicole übersetzt. Ich werde nie mehr sagen, er sei ein Nazi.“
„Ich habe dir doch immer gesagt, dass er kein Nazi ist. Wir sind Juden, das weißt du und die Nazis haben uns gehasst. Dein Papa liebt uns, denkst du, ein Nazi würde uns lieben?“
„Nein Mum, wann liest du mir den Brief vor?“
„Wir gehen bis zur Mole von La Bréche, da setzen wir uns auf eine Bank und ich lese dir den Brief vor.“
Hannah ging mit Sarah zurück zur Promenade und von dort in Richtung Tracy-sur-Mer. Kurz vor der Mole setzten sie sich auf eine Bank. Hannah nahm den Brief aus einer Tasche ihrer Uniform und entfaltete ihn. Sarah guckte gespannt auf das Blatt, da Hannah ihr die auf Deutsch geschriebene Seite hinhielt, zupfte sie ihre Mutter ungeduldig am Ärmel, „nun lies schon, Mum.“ Hannah las leise vor, sie meinte, es brauche nicht unbedingt jeder mitbekommen, dass sie Deutsch sprach.
Liebe Sarah,
ich habe erst heute erfahren, dass es Dich gibt. So trifft mich eigentlich keine Schuld daran, dass ich mich nie um Dich gekümmert habe. Aber trotzdem, ich hätte es wissen und für Dich da sein müssen. Ich verspreche Dir, ich werde immer für Dich da sein, wenn Du das möchtest. Ich liebe Deine Mama sehr und da auch sie mich sehr gern hat, hoffe ich, dass wir eine Familie werden.
Dich kennenlernen wäre schön, aber Du weißt, jetzt nach dem Krieg ist alles schwierig. Ich kann nicht zu Dir kommen, denn reisen ist Deutschen verboten. Deine Mama hat versprochen, Dich mitzubringen, wenn sie das nächste Mal nach Deutschland kommt. Ich würde mich darüber freuen. Von jetzt an werde ich darauf warten, dass Ihr mich besucht.
Ich möchte, dass alles so geschieht, wie es für Dich gut ist und Du es Dir wünschst. Wenn Du nicht Papa zu mir sagen möchtest, dann nenne mich einfach Hans. Nur bitte komm gern und freudig mit nach Deutschland, denn wir müssen uns kennenlernen, ob Du mich magst oder nicht.
Bitte grüße Deine Granny und Deinen Grandpa von mir, sie sind meine besten Freunde.
Liebe Grüße
Hans (Papa)
Als Hannah schwieg, kuschelte sich Sarah an, der Brief gefiel ihr sehr. Hannah zog ein Bild aus der Tasche. Es war ein nicht mehr ganz neues Bild von Hans, aber vom Aussehen passte es. Sarah schaute sich das Foto intensiv an und meinte dann, er sieht nett aus, ist aber ziemlich alt, fast so alt wie Grandpa. Hannah war darüber ein wenig belustigt und sagte, „dein Papa ist fünfzehn Jahre älter als ich, so sehr alt ist er also nicht.“ Als sie weitergingen, hüpfte Sarah an Hannahs Hand, wie sie es gern tat. Auf dem Rückweg zur Bar trafen sie auf Nicole und Norman. Norman nahm Haltung an, da er und Hannah uniformiert waren. „Ich benötige den Wagen um neun, Mister Miller. Geht das?“, sagte Hannah im dienstlichen Ton. „Wie sie befehlen, Ma’am“, gab Norman zurück. Hannah lächelte, „ich verziehe mich, sonst verderbe ich euch noch die Laune.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sich Hannah ab und ging mit Sarah an der Hand weiter.
„Mum, warum sprichst du so komisch mit Norman?“, sagte Sarah plötzlich.
„Weil es dienstlich war, aber vor allem, weil wir beide die Uniform anhaben, mein Schatz.“ Hannah blieb an der Brüstung der Promenade stehen und setzte Sarah neben sich auf die Mauer. „Mein Schatz, ich muss dir noch etwas sagen. Wenn wir nach Deutschland kommen, wirst du sehen, dass die Leute dort alle sehr arm und die Städte zerstört sind. Auch deinem Papa fehlt es an allem, er wohnt in einem ziemlich kaputten Zimmer direkt unter dem Dach und es gibt kaum etwas zu essen.“
„Ich werde Granny bitten, etwas für ihn einzupacken, wenn wir ihn besuchen. Geht er denn nicht arbeiten? Dann hat er doch Geld.“
„Er arbeitet, er ist Lehrer. Aber es gibt in Deutschland nichts zu kaufen.“
„Ein Lehrer für kleine Kinder?“
„Nein, Sarah, er unterrichtet an einem Gymnasium.“
„Wann fahren wir zu ihm, Mum?“
„Bald, meine Süße. Vorher muss ich noch einiges in Onkel Peters Auftrag erledigen. Was würdest du dazu sagen, wenn wir für ganz hier in die Nähe von Arromanches ziehen, mein Schatz?“
„Dann sind wir immer in der Nähe von Granny und Grandpa und ich brauche nicht mehr zur Schule zu gehen.“
„Wieso gehst du dann nicht mehr zur Schule?“
„Mum! Nicole unterrichtet mich doch.“
„Das geht nicht. Nicole muss wieder im Depot arbeiten. Ihre Arbeit ist sehr wichtig, Schatz.“
„Und wo gehe ich dann in die Schule?“
„Andere Offiziere haben auch ihre Kinder dabei, mit denen gehst du zur Schule. Wenn dein Französisch besser ist, kannst du auch auf eine französische Schule gehen, wenn du möchtest. Was meinst du dazu?“
„Ich möchte auf eine französische Schule gehen. Ich habe hier schon viele Freunde.“
„Dann sollten wir beide in Zukunft mehr Französisch miteinander sprechen.“
„Oui maman.“
„Das scheint ja gut zu klappen. Ich werde Nicole bitten, nur noch Französisch mit dir zu sprechen. Einverstanden?“
„Oui maman.“
In der Bar waren keine Gäste, als Hannah und Sarah zurückkamen. Das gab Hannah die Möglichkeit, ausführlich von Hans und den Zuständen in Deutschland zu berichten. François schüttelte den Kopf und meinte, Hans wollte unbedingt zurück, wir haben ihm davon abgeraten. Danach berichtete Hannah von dem Haus in Luc-sur-Mer, das sie beziehen würde, erklärte die Umstände, die sie zur leitenden Ärztin gemacht hatten und von ihrem Wunsch, so bald wie möglich mit Hans zusammenzuleben. Sie besprachen die Vorschläge, die der Generalarzt zu diesem Thema gemacht hatte. Christine und François sahen sich kurz an und dann nickte François.
„Es ist so, wir haben Hans nach dem Krieg bekniet hier zu bleiben. Er wollte aber unbedingt zurück. Er nannte die gleichen Gründe, die auch du vorgetragen hast, als du noch zurückwolltest. Hans spricht wohl nicht darüber, aber General Leclerc hat ihm einen Orden verliehen. Es dürfte eigentlich für ihn nicht schwer sein, zurückzukommen. Wenn sich eine einflussreiche Person für ihn einsetzen könnte, wäre das hilfreich.“
„Yves Guillou vielleicht, Aba?“
„Warum nicht? Er hat auf alle Fälle Kontakte nach Paris. Kennst du ihn?“
„Ich habe ihn einmal getroffen und als ich zurückkam, fand ich ein Dankesschreiben in meiner Post. Ich werde ihn bei nächster Gelegenheit ansprechen.“
Es dauerte drei Wochen, bis Hannah und Sarah sich in Luc-sur-Mer eingerichtet hatten. Zwischenzeitlich war Hannah kurz in London gewesen und hatte ihre Wohnung aufgelöst. Sarah war in der britischen Schule angemeldet und befand sich währenddessen unter der Aufsicht der neuen Nanny in Luc-sur-Mer. Die Übernahme der Verwaltung des Lazaretts nahm mehr Zeit in Anspruch, als sie es sich vorgestellt hatte und so vergingen weitere drei Wochen, bis sie Lieutenant Gladstone beauftragte für sie und Sarah eine Reisemöglichkeit nach Düsseldorf zu organisieren. Fast jeden Tag hatte sie trotz vieler Arbeit einen Brief an Hans geschrieben, meist nur einige wenige liebende Wort. Manchmal schrieb Hannah aber auch einen längeren Brief. Sarah verschönerte all diese Schreiben mit Bildchen und schrieb ein paar eigene Sätze darunter. Hans schrieb genauso häufig zurück und immer enthielten seine Briefe einige Sätze, die an Sarah gerichtet waren. An einem Sonntag Ende Oktober fuhr Norman Hannah und Sarah in der Morgendämmerung zum Bahnhof von Caen. Kalt und grau erhob sich die Ruine des Bahnhofsgebäudes am Rand der Place de la Gare. Ein durchdringender Nieselregen ließ den Tag noch kälter erscheinen, als er war. Die Wartezeit auf dem zugigen Bahnsteig gestaltete sich zu einer ungemütlichen Angelegenheit. Hannah zog Sarah unter ihren Mantel, um sie zu wärmen. Da sie privat unterwegs war, hatte sie darauf geachtet, möglichst wenige ihrer Privilegien in Anspruch zu nehmen und so hatte sie darauf bestanden, zumindest von Caen bis Paris mit der Eisenbahn zu fahren. Um es sich etwas einfacher zu machen, reiste sie uniformiert. Gladstone hatte ihr ein Hotel für die Nacht reserviert. Zur Gare Saint-Lazare hatte er eine Limousine beordert, die Hannah und Sarah zum Hotel und am darauffolgenden Morgen zum Flughafen befördern sollte. Hannah hatte das für unnötig gehalten und war versucht, das mit der Kraft ihrer Befehlsgewalt zu unterbinden, aber Lieutenant Gladstones Argumente überzeugten sie. Im zerstörten Düsseldorf war sowieso nicht daran zu denken, dass sie ohne Limousine und Unterkunft beim Flughafen klarkommen würde. Die Eisenbahnfahrt zog sich den ganzen Tag hin, nicht zu vergleichen mit der Fahrzeit, die Hannah vor dem Krieg bei ihrer Fahrt nach Bayeux benötigt hatte. So war es bereits später Abend, als der Zug in die Gare Saint-Lazare einfuhr. Hannah war heilfroh, dass sie sich nicht gegen Lieutenant Gladstone durchgesetzt hatte – Sarah war hundemüde und stolperte auf dem Weg nach draußen neben ihr her. Da sich nur wenige Autos vor dem Bahnhof befanden, hatte Hannah die wartende Limousine schnell ausgemacht. Der Fahrer sprang heraus, sowie er Hannah wahrnahm und nahm Haltung an. Zu Hannahs Überraschung handelte es sich um einen Lieutenant. Nachdem er Hannah gegrüßt hatte, erklärte er, dass er ein Freund von Gladstone sei und dieser ihn gebeten hätte, sich persönlich um Ma’am zu kümmern. Im Wagen schlief Sarah sofort ein, so bat Hannah am Hotel den Lieutenant ihren Koffer zu tragen. Sie selbst nahm Sarah auf ihre Arme. An der Rezeption kümmerte sich der Lieutenant um die Formalitäten, nahm den Zimmerschlüssel und Hannahs Gepäck. Gemeinsam gingen sie zum Lift. Auf dem Zimmer schloss Hannah die Tür, legte Sarah auf das Bett und wandte sich dem Lieutenant zu.
„Danke Lieutenant, würden sie sich bitte vorstellen.“
„Gerne Ma’am, Lieutenant McLoud.“
„Mit Captain McLoud in Caen verwandt?“
„Yes Ma’am, er ist mein älterer Bruder.“
„Gut Mister McLoud. Ich danke ihnen für ihre Hilfe. Wann werde ich morgen abgeholt, Mister McLoud?“
„Sie fliegen um elf von Le Bourget ab. Wenn sie einverstanden sind, Ma’am, hole ich sie um halb zehn ab.“
„Gerne Mister McLoud. Ich würde mich auch gerne noch etwas mit ihnen unterhalten, aber sie sehen, Sarah braucht mich jetzt.“
„Danke Ma’am, wir werden uns bestimmt einmal in Caen sehen, ich besuche meinen Bruder, so oft es geht.“
Lieutenant McLoud nahm Haltung an, Hannah jedoch kam auf ihn zu und reichte ihm zum Abschied die Hand. Sobald sie mit Sarah allein im Zimmer war, weckte sie Sarah vorsichtig auf und als sie halbwegs wach war, fragte Hannah sie, ob sie noch Hunger hätte. Sarah gähnte schläfrig und sagte dann, dass sie nur noch wenig Hunger hätte. Es war noch Proviant, den Christine für sie eingepackt hatte, übrig. Sarah nahm ein Stück Käse und ein Stück inzwischen vertrocknetes Baguette. Das Kind kaute lustlos daran herum, während ihr Hannah ein Glas Wasser auf den Nachttisch stellte. Als Sarah schon wieder kurz vor dem Einschlafen war, half Hannah ihr beim Ausziehen, deckte sie zu und gab ihr einen Gutenachtkuss. Danach nahm sie ein Buch zur Hand, in dem sie zerstreut las. Der Tag war anstrengend gewesen und all ihre Sehnsucht galt Hans. Sie legte das Buch beiseite, zog sich aus, legte sich zu Bett und fiel bald darauf in einen unruhigen Schlaf. In den Wachphasen wanderten ihre Gedanken immer wieder zu Hans. Die Zeit bis zum Wiedersehen dehnte sich für Hannah fast unerträglich und so war sie froh, als um sieben Uhr der Portier anrief, um sie zu wecken. Auch Sarah wurde davon wach und war direkt nach dem Aufstehen fröhlich, wie eigentlich jeden Morgen. Sie war kaum zu bremsen und Hannah musste sie im Frühstücksraum ernsthaft zur Ordnung rufen. Endlich war es halb zehn und pünktlich erschien McLoud in der Empfangshalle. Er begrüßte Hannah gemäß der Dienstvorschrift und gab Sarah die Hand. Ohne große Umstände nahm er das Gepäck auf, reichte Sarah die Hand und ging mit ihr zum Auto. Während das Mädchen fröhlich hüpfend an der Hand des Lieutenants zur Limousine ging, zahlte Hannah an der Rezeption und folgte den beiden nach draußen. Sarah war total davon begeistert, dass es heute mit dem Flugzeug weiter in Richtung Deutschland ging. Sie behauptete felsenfest, sie hätte sich bei ihrem letzten Flug so viel bei den Piloten abgeschaut, dass sie leicht selbst ein Flugzeug steuern könnte. Lieutenant McLoud schmunzelte und sagte ihr eine große Zukunft bei der Royal Air Force voraus. Sobald die Douglas Dakota abgehoben hatte, wollte Sarah zu den Piloten. Hannah hielt sie zurück, „du musst fragen, mein Schatz.“ „Wen, Mum?“ „Frag den Steward, Schatz. Der fragt dann den Flugkapitän, ob er einverstanden ist.“ Hannah winkte nach dem Steward und forderte Sarah auf, ihre Frage selbst zu formulieren. Der Steward ging zum Cockpit, kam zurück, hielt Sarah die Hand hin und sagte, „Kapitän Clow fühlt sich geehrt, junge Lady.“ Sarah kam erst zurück, als der Pilot die Landung in Düsseldorf einleitete. Sie hatte rote Wangen vor Aufregung und hielt Hannah einen Vortrag über die Physik des Fliegens. Ihre Mutter fand, der Pilot müsse wohl ein begabter Lehrer sein, wenn er es schaffte, einem kleinen Mädchen technisch physikalische Vorgänge verständlich zu machen. Hannah war froh, als die Maschine aufsetzte und ausrollte. Sarahs Begeisterung für das Fliegen konnte sie nicht teilen. An der Gangway wartete der Sergeant, der die Kinder gerne mit Süßigkeiten versorgte, vor einer Limousine. Sobald er Hannah erblickte, kam er ihr mit einem Regenschirm entgegen. Ihr war das zwar unangenehm, aber anderseits war sie froh darüber, nicht mit Sarah bei Nieselregen über das Vorfeld gehen zu müssen. Der Sergeant hielt den Schirm über Hannah gespannt und begleitete sie zur Limousine. Dort öffnete er den Schlag, nahm Haltung an und sagte, „bitte warten sie im Wagen, Ma’am. Ich kümmere mich derweil um ihr Gepäck.“ Hannah bedankte sich und stieg mit Sarah ein. Bereits kurze Zeit später kam der Sergeant mit Hannahs Koffer und dem Köfferchen von Sarah zurück. Er stieg ein und fragte Hannah nach ihrem Ziel. Hannah wollte zuerst zur Unterkunft. Der Sergeant reichte Sarah ein Bonbon und fuhr los.
Hannah befahl dem Sergeanten an der Offiziersunterkunft auf sie zu warten, seinen Versuch ihren Koffer zu tragen unterband sie mit einer energischen Geste. Sie packte schnell aus, während Sarah vom Fenster aus interessiert den Betrieb auf dem Vorfeld des Flughafens beobachtete. Sobald alles ausgepackt war, nahm sie Sarah an die Hand und ging mit ihr zum Auto. „Zum Garnisonsladen bitte, Sergeant“, sagte sie. Der Sergeant salutierte, reichte Sarah erneut ein Bonbon und steuerte den Wagen zum Laden.
„Wäre es für sie in Ordnung, wenn ich Sarah bei ihnen lasse, während ich einkaufe, Sergeant?“, fragte Hannah, als die Limousine vor dem Geschäft ausrollte.
„Gerne Ma’am. Da ich bereits weiß, dass Sarah für das Fliegen schwärmt und Pilotin werden will, kann sie mir etwas über Flugzeuge erklären“, der Sergeant lächelte bei diesen Worten.
„Nun, dann wird es ihnen nicht langweilig werden. Aber geben sie Sarah nicht zu viele Süßigkeiten.“ Sarah zog nach dieser Bemerkung ein Gesicht.
„Auf gar keinen Fall, Ma’am!“, antwortete der Sergeant, während er für Hannah den Schlag aufhielt.
Der Sergeant wurde von Hannah mit einem freundlichen Kopfnicken und einem Lächeln bedacht. Als Hannah ihre Einkäufe erledigt hatte und zur Limousine zurückkehrte, saß Sarah auf dem Fahrersitz und der Sergeant erklärte ihr die Funktion der einzelnen Schalter und Instrumente, Sarahs Wangen waren wieder vor Aufregung gerötet. Der Sergeant steuerte, nachdem Hannah als Fahrziel die Dianastraße genannt hatte, die Limousine durch die Trümmerwüste, die einmal die Innenstadt gewesen war. Schattenhaft huschten vereinzelt Menschen durch die Ruinen und versuchten sich so gut es ging vor dem Regen zu schützen. Hannah erschütterte der Blick aus dem Fenster. Krieg, so sah es für sie aus, war genau das, was kein Mensch brauchte und trotzdem griffen Menschen immer wieder zu den Waffen. Im Falle der Deutschen fand sie die vergangenen Jahre besonders tragisch. Sie waren den braunen Verführern gefolgt, hatten ihre jungen Leute dem Wahn eines brutalen Despoten geopfert und denen, die überlebt hatten, hatten sie die Jugend geraubt und so nebenbei hatten sie nicht nur die Juden Europas dahin gemetzelt, sondern auch die ihrer eigenen Landsleute, die zufällig jüdischen Glaubens waren, in die Gaskammern geschickt. Hannah merkte, sie konnte nicht mehr hassen, Hans konnte nicht mehr rächen, so wollte sie auch nicht mehr hassen. Der Regen hörte auf und die Sonne brach durch die Wolken, Hannah wurde klar, dass sie von ihrer Heimat Abschied nehmen musste. Ihr tat das weh, aber Hans‘ Worte, er wolle nicht, dass seine Tochter von Lehrern unterrichtet würde, die an der Ermordung ihrer Vorfahren mitschuldig waren, konnte sie nicht beiseiteschieben. Die wenigen Sätze über das Kollegium, die Hans hatte fallen lassen, machte klar, in welchem Zwiespalt er sich befand. Als sie auf die Dianastraße einbogen, war die Straße fast abgetrocknet. Wie beim letzten Mal erregte die Ankunft der Limousine auf der ärmlichen wirkenden Straße Aufsehen. Als dann auch noch Hannah in der Uniform eines hohen Offiziers der Besatzungsarmee, mit einem Kind an der Hand dem Wagen entstieg, war das eine Sensation, die sich kein Anwohner entgehen lassen wollte. Hannah bat den Sergeanten, um sieben wieder vor der Tür zu warten. Dieser steckte den neugierigen Kindern schnell noch ein paar Süßigkeiten zu und fuhr davon. Hannah würdigte dem Auflauf, den sie verursacht hatte, keinen Blick. Sarah betrachtete ihre Umgebung mit Interesse, für sie war es eine fremde Welt. Hannah drückte dreimal die Klingel, fast unmittelbar darauf summte der Türöffner. Im Hausflur traf Hannah wieder auf den kränkelnden Jungen, der sie neugierig betrachtete. Sie grüßte mit einem freundlichen „guten Tag“, woraufhin sich der Junge verlegen abwandte und auf den Hof hinaus lief. Von oben kam Hans, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, ihnen entgegen. Stürmisch umarmte er Hannah, ihm stiegen Tränen in die Augen. Dann setzte Hans sich auf die unterste Treppenstufe, so, dass er Sarah in die Augen sehen konnte.
„You are Sarah?“ Hans betrachtete das Kind von oben bis unten, er starrte es regelrecht an, er wollte das nicht, aber zum ersten Mal seine Tochter zu sehen, brachte seine Gefühlswelt durcheinander.
„Ja sicher und wer sind sie?“, antwortete Sarah, zu Hans‘ Überraschung in flüssigem Deutsch.
„Ich heiße Hans.“
„Sind sie mein Papa?“
„Ja Sarah, so ist es und da ich dein Papa bin, solltest du nicht sie zu mir sagen.“
Sarah streckte vorsichtig eine Hand aus und berührte eine Wange ihres Vaters, „du bist so dünn. Mum hat etwas zu essen für dich mitgebracht.“
Die Berührung erschütterte Hans, ihm traten Tränen in die Augen, er beherrschte sich mühsam, um nicht zu weinen. Er spürte in sich ein starkes Verlangen sein Kind zu umarmen, hielt das aber für unpassend und sagte schließlich, „komm Sarah, wir gehen nach oben.“ Hans reichte seiner Tochter die Hand und gemeinsam stiegen die drei die Treppe hinauf.
Etwa zehn Stufen höher hielt Sarah an und betrachtete interessiert eine verschmorte Stelle auf den Stufen, die sich geschwärzt von den übrigen, rot gestrichenen Treppenstufen abhob. „Was ist das, Mum?“, fragte sie.
„Das weiß ich nicht, meine Süße. Da musst du Papa fragen.“
Sarah zögerte einen Moment, dann gab sie sich selbst einen Ruck, „Papa, was ist das?“
„Da ist im Krieg eine Brandbombe eingeschlagen, Sarah. Die Hausbewohner haben sie mit Sand gelöscht.“
„Was ist eine Brandbombe, Papa?“
„A firebomb, Sarah.“
„Warst du dabei, als die Bombe einschlug?“
„Nein, Sarah, während des Krieges war ich in Frankreich. Komm, wir gehen nach oben. Lauf schon einmal vor, ich wohne ganz oben, direkt unter dem Dach.“
Kaum war Sarah um die nächste Kehre der Treppe verschwunden, kuschelte Hannah sich bei Hans an. „Ich glaube, sie mag dich, Liebster“, flüsterte sie Hans ins Ohr. Hans streichelte ihr über den Rücken, nahm ihr die Tasche ab und legte ihre Hand in seine Hand. Gemeinsam stiegen sie nach oben. Sarah wartete auf dem obersten Treppenabsatz und eine Nachbarin versuchte Kontakt zu ihr aufzunehmen. Sarah zeigte sich dem Versuch gegenüber aufgeschlossen, obwohl sie den Dialekt der Frau kaum verstand. Sie versuchte der Frau in ihrem besten Deutsch zu antworten. Hans stellte Sarah als seine Tochter und Hannah als seine Frau vor. Die Nachbarin reagierte freundlich und erfreut, reichte Hannah die Hand und stellte sich selbst als Frau Grünewald vor. Sie wechselten noch ein paar unverbindliche Worte, dann zog Hans Hannah und Sarah in sein Zimmer. „Frau Grünewald ist einer der wenigen Lichtblicke, sie ist überzeugte Kommunistin und hat unter den Nazis gelitten.“ Wieder hockte er sich hin und betrachtete sein Kind. Hannah packte die mitgebrachten Lebensmittel auf den Tisch und belegte Brote. Kommt bitte Essen, sagte sie, als sie fertig war. Hans setzte Sarah auf den Stuhl und er setzte sich mit Hannah auf das Bett. Nach dem Essen schlug Hans vor, spazieren zu gehen. „Ich könnte Benno fragen, ob er mitkommen möchte, Sarah. Dann wird es dir nicht langweilig, denn ich habe mit deiner Mum einiges zu besprechen“, sagte Hans zu Sarah. Sarah war davon angetan. So ging Hans nach unten in den Laden und fragte, ob er Benno auf einen Spaziergang mit seiner Frau und seiner Tochter mitnehmen könne. Die weißhaarige Frau reagierte verwirrt, eine hochrangige Offizierin der Besatzungstruppen kommt mit einem Kind an der Hand in ihr Haus, ihr Mieter nennt sie seine Frau und eröffnet ihr, das Mädchen wäre seine Tochter. Sie ließ sich aber nichts weiter merken, ging zur Küche und kam mit dem Jungen zurück. Benno freute sich über das Angebot und kam gerne mit. Oben angekommen atmete der Junge schwer. Hans wartete mit ihm einen Moment auf dem Treppenabsatz, bis sich der Atem des Jungen wieder beruhigt hatte, dann nahm er ihn mit in sein Zimmer. „Guck, Sarah, das ist Benno. Er möchte mit uns auf den Spaziergang gehen. Benno, ich bin der Papa von Sarah und das ist meine Frau, sie heißt Miss Schwarz.“ Benno guckte etwas ängstlich und verschüchtert auf die uniformierte Frau. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Benno. Ich bin Ärztin beim Militär, daher trage ich die Uniform“, sagte Hannah und reichte Benno die Hand. Der Junge sagte nichts, sondern ging zu Sarah, die interessiert aus dem Fenster schaute.
Hans ging wieder zu dem alten verwildertem Friedhof. Über den unübersichtlichen Kreuzungsbereich an der Straßenbahnhaltestelle nahm er Sarah bei der Hand, während Hannah Bennos Hand ergriff. Auf dem Friedhof forderte Hans Benno auf, Sarah den Spielplatz zu zeigen. Die beiden Kinder liefen vor und Hans nahm Hannah bei der Hand, sie folgten den Kindern nur langsam. „Wann musst du zurück, Liebste?“, fragte Hans nach einigen Metern. „Bald, mein Schatz, ich kann nur zwei Tage bleiben. Unser Rückflug geht Mittwochmorgen um neun.“ Hans nahm Hannah bei den Schultern und drückte sie an sich, „können wir uns am Flughafen verabschieden? Denn Mittwoch habe ich erst um elf eine Unterrichtsstunde.“ „Ja, das geht, mein Schatz.“ Danach gingen sie langsam Hand in Hand weiter, bis sie zum Spielplatz kamen. Der Spielplatz machte einen heruntergekommenen Eindruck und schien wohl seit der Zeit vor dem Krieg nicht mehr gepflegt worden zu sein. Die beiden Kinder störten sich nicht daran. Sich weiter bei den Händen haltend, standen Hannah und Hans am Rand des Platzes und schauten den Kindern zu. Hans konnte seinen Blick kaum von Sarah abwenden, das fröhliche Kind erinnerte ihn an seine letzten glücklichen Tage in Bayeux.
Hannah lehnte sich bei Hans an, „Hans, Liebster, ich war so froh, als François mir berichtete, du hättest dich nicht an den Nazis gerächt. Die ganzen Jahre hatte ich Angst, die Rachegedanken könnten deine Seele zerfressen.“
„Ich wollte Chawa rächen, aber meine Liebe zu dir hat mich daran gehindert, Süße.“
„Florence hat das so formuliert, dir wäre das Schwert aus der Hand geschlagen worden. Liebster, wir müssen unsere Zeit nutzen und uns über unsere Zukunft Gedanken machen. Ich habe nachgedacht. Wir haben nur wenige Möglichkeiten, wenn wir nicht in Deutschland zusammen leben wollen. Der Generalarzt und auch François schlagen vor, dass wir uns in der Normandie niederlassen. François meint, du hättest gute Aussichten, dass du legal einreisen kannst. Eine Alternative wäre, wir heiraten und ziehen gemeinsam nach England.“
„Würdest du mich heiraten, Schatz?“
„Ja, sicher, sonst wäre ich nicht hier.“
„Hast du denn eine Vorstellung davon, wo es für uns günstiger wäre hinzugehen?“
„Außer dem Generalarzt und seiner Frau Rachel habe ich in England nur wenige private Kontakte. In der Normandie ist das anders und Sarah fühlt sich dort sehr wohl. Nicht umsonst sagt sie, Christine und François wären ihre Großeltern. Ich empfinde die beiden als Ersatz für meine Eltern. Ich liebe sie sehr und zu Nicole habe ich ein Verhältnis wie zu einer Schwester. Sarah nennt Florence Tante, obwohl sie niemand dazu aufgefordert hat. Das alles habe ich lange bedacht, wenn ich meinen Abschied nehme, dann möchte ich mich in der Normandie als Landärztin niederlassen.“
„Dann lass uns versuchen, in die Normandie zu ziehen. Ich kann hier nicht weiter als Lehrer arbeiten. Wenn ich mitbekomme, wie meine Kollegen den Schülern die Nazizeit erklären, dann weiß ich, dass ich am falschen Ort bin. Selbst der sinnlose Untergang der 6. Armee in Stalingrad wird von ihnen als heroische Tat dargestellt und den Mord an deinem Volk tun sie damit ab, dass auch die Sieger Kriegsverbrechen begangen hätten. Ich hätte nicht zurückkommen dürfen. In Frankreich werde ich versuchen eine Anstellung, als Lehrer zu finden.“
„Süßer, sobald ich zurück bin, werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, damit wir zusammenleben können.“
„Komm wir eisen die Kinder vom Spielplatz los und gehen zum Rhein oder möchtest du etwas anderes sehen, mein Schatz?“
Hans rief die Kinder, Benno war etwas außer Atem geraten, daher gingen sie zuerst nur langsam weiter, wobei Sarah an der Hand von Hans hüpfte, so wie sie es gerne tat, wenn sie an der Hand gehalten wurde. Hannah folgte langsam, mit Benno an der Hand, dessen Atem sich bald wieder beruhigte. Mit Freude guckte sie auf Hans und Sarah, die sich beim Weitergehen angeregt unterhielten. Ihre Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft wuchs. Nach einiger Zeit hatte sich Benno so weit erholt, dass sie wieder flotter gehen konnten. Sie kamen auf den Rheindeich und gingen ein Stück weit in südlicher Richtung. Als Hans sich etwas mit Benno beschäftigte, kam Sarah zu Hannah. „Du Mum, ich glaube, der Papa ist ganz lieb.“ „Das glaube ich nicht nur, das weiß ich, mein Schatz.“ Als Hans vom Deich abbog, landeten sie in einem Bereich, in dem nichts daran erinnerte, dass sie sich in einer Großstadt befanden. Das Dörfchen, durch das sie gingen, wirkte mittelalterlich verschlafen. Die Kinder gingen voraus, Benno schien sich in der Gegend gut auszukennen. Nah nebeneinanderher gehend stieg bei Hannah die Wärme auf, die sie so lange vermisst hatte. So nah wie möglich ging sie neben Hans her, der ihr den Arm um die Schultern legte. Zurück auf der Dianastraße nahm Benno Sarah mit auf den Hof, während Hannah und Hans nach oben gingen. Sie setzten sich nebeneinander auf das Bett, wo sie eng umschlungen ihre gegenseitige Sehnsucht zu stillen versuchten. Kurz nach sechs löste sich Hannah aus der Umarmung, belegte Brote und sagte dann, sie ginge Sarah holen. Hans erklärte, er würde derweil Pulverkaffee aufbrühen. Auf dem Hof traf Hannah auf die Kinder, die mit einer Frau in Hannahs Alter sprachen. Sie sei die Mutter von Benno, erklärte die Frau und wunderte sich bei Hannahs Antwort über deren Deutsch mit einem leichten hessischen Akzent. Die Frauen unterhielten sich und Hannah erfuhr, dass die junge Frau bereits Witwe war. Über ihre eigene Herkunft ließ Hannah nichts verlauten, sie betitelte Hans als ihren Mann, was der Frau einigermaßen sonderbar vorkam. Sie sagte aber nichts dazu. Hannah rief Sarah, sagte, sie solle sich verabschieden und ging, als das geschehen war, mit ihr nach oben. Sie aßen gemeinsam die Brote und tranken den Kaffee, bis es Zeit war Abschied zu nehmen. Die Limousine stand schon bereit. Der Sergeant verteilte wieder Süßigkeiten, auch Benno hatte sich unter die Kinderschar gemischt. Hans setzte sich auf die Bordsteinkante und zog Sarah leicht an sich, diese drückte ihm einen Kuss auf jede Wange. Danach verabschiedete er sich von Hannah und nannte sie scherzhaft Ma’am. Er erhielt dafür einen Knuff. „Bis morgen“, mein Schatz, flüstere sie ihm ins Ohr, setzte Sarah in den Wagen und stieg selbst ein. Hannah ließ die Scheibe herunter und winke Hans zu, als der Wagen abfuhr.
Am Mittwoch ließ Hannah frühzeitig den Wagen der Fahrbereitschaft kommen, um Hans abzuholen. Zu der frühen Stunde löste die vornehme Limousine etwas weniger Aufsehen auf der Dianastraße aus, als an den beiden vergangenen Tagen. Der Sergeant hielt Hannah den Schlag zum Aussteigen auf, Sarah wollte unbedingt auch aussteigen und die Klingel an der Haustür drücken. „Drück dreimal auf den Knopf, dann kommt dein Papa nach unten“, sagte Hannah. Sie hob das Kind hoch, damit es den Klingelknopf erreichte. Schon kurze Zeit später trat Hans vor die Tür. Er begrüßte Hannah mit einem kurzen Kuss, bückte sich, nahm seine Tochter auf den Arm, die ihm einen Kuss gab. „Möchtest du neben Papa sitzen, Sarah?“, fragte Hannah, als sie zum Auto ging. Als das Kind das bejahte, bat sie Hans, mit Sarah im Fond des Wagens Platz zu nehmen, daraufhin hielt der Sergeant die Beifahrertür auf und Hannah setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie kamen zeitig am Flughafen an. Hannah wies den Sergeanten an, nach ihrem Abflug Hans zu Schule zu fahren, was dieser mit einem knappen, „zu Befehl, Ma’am“, beantwortete und danach Sarah ein Bonbon in die Hand drückte. In der Halle herrschte zu dieser Zeit nur wenig Betrieb, Hannah erledigte schnell einige Formalien, während Sarah bei Hans wartete. Als Hannah zurückkam, hatte Hans sich auf eine Bank gesetzt und Sarah saß auf seinem Schoss.
„Nun, ihr zwei Süßen, vertragt ihr euch?“, fragte Hannah. Sie fand die Beiden, wie sie vertraut beieinander saßen, berührend.
„Immer, ich meinte, wir vertragen uns sehr gut, Ma’am“, witzelte Hans.
Hannah setzte sich neben ihn, versetzte ihm einen Knuff und sagte, „du nervst, sag nicht immer Ma’am zu mir.“
„Sehr wohl, Ma’am. Ich werde mich bessern, Ma‘am.“
Hans erhielt einen weiteren Knuff. „Sarah, drüben an den Fenstern kannst du die Flugzeuge sehen, lass uns einen Moment allein, bitte.“ Hannah schwieg, bis Sarah außer Hörweite war. „Ich glaube, mein Schatz, euer Verhältnis hat sich in der kurzen Zeit gut entwickelt. Ihr werdet euch leider einige Zeit nicht sehen, denn ab nächste Woche möchte ich, dass Sarah wieder regelmäßig zur Schule geht. Ich möchte ich sie bald auf eine französische Schule schicken, das ist sicher der beste Weg, um die Sprache zu lernen.“
„Das wenige Französisch, das ich von ihr gehört habe, klingt schon ganz gut, Süße. Ich möchte auch, dass sie eine französische Schule besucht. Wenn du deinen Abschied nimmst, muss sie sowieso auf eine französische Schule gehen. Wann sehen wir uns wieder, mein Schatz?“
„Sowie es meine Arbeit erlaubt, Hans. Vertrau mir, ich tue alles, was ich kann, um mit dir zusammenzuleben.“
Sarah kam zur Überraschung von Hannah an der Hand von Wing Commander Snowdon zu ihnen zurück. Der Commander nahm Haltung an, als er Hannah erblickte. Sie erhob sich, legte die Hand an die Mütze und meinte dann: „Nicht doch, Mister Snowdon, ich bin privat unterwegs.“ Dann stellte sie Hans als ihren Mann vor und im lockeren Ton fragte sie, ob Mister Snowdon sie verfolge. Der Commander verneinte das mit der Bemerkung, sie würden nur bis Brüssel gemeinsam fliegen, da er nach London müsse. Sarah freute sich über den unerwarteten Begleiter, „jetzt brauche ich nicht den Steward fragen, ob ich zu den Piloten darf.“ „Du musst aber Mister Snowdon bitten, ob er mit dir geht, Schatz. Vielleicht hat er keine Zeit oder keine Lust, mit dir zu gehen“, warf Hannah ein. „Ich habe schon gefragt, Mum.“ Hannah schüttelte den Kopf, während Hans seiner Tochter über die Haare strich. Ein Pilot Officer erschien, grüßte zackig und meldete, „Ma’am, Sir, ihre Maschine ist startklar.“ Hannah und Snowdon bedankten sich. Sie konnte nur schwer die Tränen zurückhalten, als sie sich verabschiedete. Hans hob Sarah hoch und kitzelte sie, sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, das ihn zum Lachen brachte. Er ging mit Sarah an der Hand noch mit bis zum Ausgang zum Vorfeld, die Trennung fiel schwer. Bereits unter der Tür stehend, winkten ihm seine beiden Frauen noch einmal zu, dann gingen sie gemeinsam mit dem Commander zur Gangway einer Douglas DC-54 Skymaster, stiegen die Stufen nach oben und verschwanden im Innern der Maschine. Sehnsüchtig schaute Hans hinter der Maschine her, als diese zur Startbahn rollte, die Motoren heulten auf, die Maschine rollte an, hob ab und verschwand kurz darauf in den niedrig hängenden Wolken. Hans wendete sich ab und ging zum Auto, das ihn zur Schule fahren sollte.
Sobald die Maschine die Reiseflughöhe erreicht hatte, nahm Snowdon Sarah mit nach vorn zum Cockpit. Hannah war das ganz recht, so konnte sie ihren Gedanken nachhängen. All ihre Sehnsucht konzentrierte sich auf Hans, wenn sie doch nur bald mit ihm zusammen leben könnte. Sie wusste, das Ziel war nur schwer zu erreichen, es sei denn, sie würden sich doch noch dazu entschließen in Deutschland zusammenzuleben. Hannah wollte diese Möglichkeit aber nur dann in Betracht ziehen, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgereizt waren. Kurz vor Brüssel kamen Wing Commander Snowdon und Sarah zurück. Sarahs Wangen waren wieder vor Aufregung gerötet. Hannah bedankte sich beim Commander für seine Freundlichkeit, der Commander salutierte. Hannah stieg mit Sarah an der Hand aus, als die Maschine ausgerollt war. Sie verabschiedeten sich von Wing Commander Snowdon, dann kam ein Steward auf Hannah zu, „Ma’am, ihre Maschine für den Flug nach Rouen ist startklar. Sie erlauben, dass ich vorgehe?“ „Ja gerne. Wir fliegen nicht nach Caen?“ „Nein, Ma’am, aber ihr Wagen wurde nach Rouen beordert.“ Der Steward ging vor zu einer Douglas Dakota, die nur einige Meter weiter auf dem Vorfeld stand. An der Gangway trat er beiseite, salutierte und sagte, „bitte, Ma’am.“ Kaum hatten Hannah und Sarah Platz genommen, starteten dröhnend die Motoren. Sarah hatte wohl genug vom Fliegenlernen und kuschelte sich an Hannah.
„Du Mum, will Papa nicht bei uns sein?“
„Doch Sarah, das möchte er gerne.“
„Warum fliegt er dann nicht mit uns nach Hause?“
„Er muss noch arbeiten, mein Schatz.“ Hannah beschloss nicht weiter drum herumreden, „Sarah, du weißt, Papa ist Deutscher. Deutsche dürfen nicht reisen. Er darf nicht mit uns kommen.“
„Aber du hast doch gesagt, er sei ein Gerechter.“
„Er ist ein Gerechter, Sarah! Aber zuerst müssen die französischen Behörden davon überzeugt werden.“
Sarah schwieg kurz, dann sagte sie, „wir können doch bei Papa wohnen.“
„Du hast doch Papas Zimmer gesehen, da können wir nicht wohnen und dann gibt es noch etwas, Schatz. Papa möchte es nicht. Er möchte nicht, dass du in Deutschland zur Schule gehst. Er hat Sorge, dass deine Lehrer ehemalige Nazis sind.“
„Aber die Nazis sind doch weg.“
„Mein Schatz, sie können uns nichts mehr tun, aber sie sind trotzdem noch da.“
„Und wie sollen wir dann mit Papa zusammen kommen?“
„Papa und ich möchten in der Nähe von Granny und Grandpa zusammen mit dir wohnen. Wir werden das schaffen, weil wir es möchten. Weil das so ist, möchten wir, dass du in Zukunft auf eine französische Schule gehst. Was meinst du dazu?“
„Mein Französisch ist nicht so gut, aber ich habe dann Freunde, die ich auch nach der Schule treffen kann.“
„Oh, dein Französisch ist gar nicht so schlecht, mein Schatz. Wir haben uns vorgenommen, in Zukunft mehr Französisch zu sprechen. Wollen wir das?“
„Oui, maman.“
Die Maschine setzte auf der Rollbahn von Rouen auf. Als die Douglas ausrollte, fuhr Norman mit der Limousine vor. Sobald Hannah mit Sarah an der Hand die Gangway herunterstieg, nahm Norman Haltung an und riss den Schlag auf. Hannah schenkte ihm ein Lächeln, als sie einstieg. Norman kümmerte sich um das Gepäck und steuerte den Wagen vom Flugfeld auf die Nationalstraße. Nachdem er dort beschleunigt hatte, sprach Hannah Norman an.
„Alles in Ordnung, Norman? Mit dir und Nicole?“
„Ja Hannah. Ich werde Nicole fragen, ob sie mich heiratet. Aber ich möchte auf keinen Fall, dass sie ihre Karriere als Dolmetscherin aufgibt. Ich werde ihr das sagen.“
„Da müsst ihr euch etwas überlegen, Norman. Ich fände es auch schade, denn Nicole ist eine großartige Übersetzerin. Hast du mit Nicole über ihre Vergangenheit sprechen können?“
„Ja, sie hat mir alles erzählt, Christine hat ihr wohl dazu geraten. Ich wollte das nicht, aber sie ließ sich nicht davon abhalten. Es war fürchterlich, das anzuhören. Ich liebe sie.“
Hannah beendete das Gespräch, um zu verhindern, dass Sarah zu viel von den Einzelheiten der Geschehnisse mitbekam. Es ließ sich nicht vermeiden, dass Sarah davon wusste, schon allein deshalb, weil sie dabei gewesen war, als Nicole von ihrem Vater auf der Straße angegriffen worden war, aber Hannah versuchte immer, mit einfachen Worten Sarah darzulegen, dass es nicht nur gute Menschen gibt. So lenkte sie während der langen Fahrt von Rouen nach Luc-sur-Mer Sarah mit kleinen Spielen ab. In Luc-sur-Mer übergab sie Sarah der Nanny und ließ sich zum Lazarett fahren. Lieutenant Gladstone erschien zum Rapport, Hannah war zufrieden mit dem, was sie hörte und stellte nur wenige Rückfragen. Am Ende seines Vortrags nannte Gladstone einige wichtige Termine, die Hannah wahrnehmen sollte. Am dringendsten aber wäre es wohl, Bürgermeister Guillou zu kontaktieren, meinte er zum Abschluss.
„Hat der Bürgermeister gesagt, um was es geht, Mister Gladstone?“
„Nein, Ma’am, aber er hat persönlich bei mir angerufen und nur gesagt, er möchte sie in einer dringenden Angelegenheit unter vier Augen sprechen und das möglichst sofort nach ihrer Rückkehr, Ma‘am. Meine Nachfrage, um was es sich handele, ließ er unbeantwortet.“
„Ist denn irgendetwas während meiner Abwesenheit vorgefallen, Mister Gladstone?“
„Nein, absolut nichts, Ma’am.“
Hannah dachte kurz nach, „ein gutes Verhältnis zu Yves Guillou ist ungeheuer wichtig. Bitte rufen sie das Büro des Bürgermeisters an, Mister Gladstone. Sagen sie, ich wäre zu jeder Zeit bereit Monsieur Guillou aufzusuchen, dass er ein Gespräch unter vier Augen wünscht, ist ungewöhnlich. Rufen sie bitte sofort an, nehmen sie meinen Apparat.“
Gladstone wählte die Nummer des Bürgermeisteramtes und wurde sofort zu Monsieur Guillou durchgestellte, er brachte sein Anliegen vor, hielt nach einigen Sekunden die Sprechmuschel zu und sagte, „Monsieur Guillou sagt, für sie hätte er immer Zeit und er fragt, ob sie sofort kommen könnten.“
„Sagen sie bitte zu, Mister Gladstone.“
„Monsieur Guillou, Brigadier Schwarz macht sich umgehend auf den Weg zu ihnen.“ Gladstone verabschiedete sich und legte auf. „Der Bürgermeister scheint sich richtig auf ihren Besuch zu freuen, Ma’am“, sagte er dann.
„Das wird sich zeigen. Lassen sie bitte den Wagen kommen. Ich fahre vom Bürgermeisteramt aus direkt nach Hause, Mister Gladstone.“
„Sehr wohl, Ma’am“, der Lieutenant salutierte und ging.
Hannah packte ihre Sachen zusammen und ging nach unten. Vor der Tür wartete sie auf Norman, der kurze Zeit später eintraf. Hannah ließ sich in die Polster sinken, öffnete ihre Aktenmappe und ging einige Schriftstücke durch, während Norman den Wagen zum Bürgermeisteramt steuerte. Hannah nahm sich vor, nachher auf der Fahrt nach Luc-sur-Mer mit Norman über ihre Schwester zu sprechen. Am Bürgermeisteramt riss Norman die Tür auf, Hannah grüßte dieses Mal vorschriftsmäßig, konnte sich aber das Lachen nicht verkneifen. Am liebsten hätte sie Norman einen Knuff in die Seite gegeben. Hannah meldete sich an und kurz darauf kam Yves Guillou die Treppe herunter, beide begrüßten sich herzlich mit Wangenküssen. Der freundliche Umgang beruhigte Hannah etwas, aber sie blieb vorsichtig abwartend. Im Vorzimmer bestellte der Bürgermeister Kaffee und Gebäck, dann bat er Hannah in sein Zimmer, wo er sie zur Sitzecke lotste und sich sofort an Hannah wandte.
„Mademoiselle Schwarz, ich freue mich, dass sie so schnell kommen konnten. Wir sind ihren zu Dank verpflichtet. Die Öffnung des Lazaretts für die Bevölkerung der Normandie hat die medizinische Versorgung grundlegend verbessert.“
„Danken sie dem Generalarzt, Monsieur Guillou. Er hat das veranlasst.“
„Da ist der Generalarzt anderer Ansicht. Er hat mir erzählt, es wäre ihre Initiative gewesen. Er grinste, als er mir erklärte, sie hätten eigenmächtig gehandelt.“ Der Bürgermeister lachte, „sie können ihre Leistung also gar nicht kleinreden, gnädige Frau.“ Die Sekretärin brachte ein Tablett mit Kaffee und Gebäck. Yves Guillou sprach erst weiter, als die Sekretärin den Raum verlassen hatte. „Bitte bedienen sie sich, Mademoiselle“, der Bürgermeister trank einen Schluck Kaffee, dann sprach er weiter. „Sie kennen Monsieur Donrath, Mademoiselle Schwarz?“
Hannah reagierte total verblüfft, fast hätte sie ihren Kaffee verschüttet. „Ja natürlich, er ist schließlich der Vater meiner Tochter“, antwortete sie, nachdem sie sich gefangen hatte. „Woher wissen sie das, Monsieur Guillou?“
„Ein Sonntagsausflug, Mademoiselle. Am Sonntag war ich mit meiner Frau in Arromanches, zum ersten Mal nach dem Krieg. Wir kehrten bei meinem Freund François ein. Er nannte sie zu meiner Überraschung notre fille. Die junge Übersetzerin, die bei Captain McLoud arbeitet, war auch da, sie nannte meinen Freund Papa und nannte sie Mademoiselle, ma grande sœur und im weiteren Verlauf des Gesprächs ma chère sœur. Wir haben über vieles gesprochen. Ich kenne Monsieur Donrath seit Anfang der Besatzungszeit und schätze ihn sehr, es wäre gut, wenn er zurück in die Normandie käme. Ich biete ihm und ihnen ganz offen und offiziell meine Hilfe als Bürgermeister von Caen an.“
„Ich selbst nenne Christine und François Ima und Aba, so wie es bei meinem Volk üblich ist, sie und Monsieur Donrath haben maßgeblich zu meiner Rettung beigetragen. Ich nehme ihr Hilfsangebot gerne an. Danke, Monsieur Guillou.“
„Ich kann natürlich nichts Genaues sagen, Mademoiselle Schwarz, aber für einen Mann, der einen Orden von General Leclerc erhalten hat, könnte ich mir eher eine Zukunft in Frankreich als in Deutschland vorstellen. Monsieur Donrath ist Lehrer?“
„Ja, Monsieur Guillou.“
„Was unterrichtet er?“
„Deutsch, Englisch und Französisch.“
„Deutsch dürfte im Moment nicht sehr populär bei uns sein, bis auf Deutsche Literatur vielleicht, aber Englisch ist gut, denn da herrscht Mangel. Sie wissen ja, Fremdsprachen haben es bei uns schwer. Ich hoffe, wir können bald unsere altehrwürdige Universität wieder eröffnen. Vielleicht wird ein Dozent für Deutsche Literatur benötigt, wäre doch eine tolle Sache, nicht wahr Mademoiselle?“, der Bürgermeister lachte. „Kommen wir zu ihnen, Mademoiselle. Das Lazarett wird nicht ewig bestehen, haben sie sich bereits Gedanken gemacht, was sie nach der Schließung machen wollen.“
„Mein Wunsch wäre es, mit Monsieur Donrath hier in der Normandie zu leben. Vielleicht als Landärztin. Auf jeden Fall ist es so, wenn ich nach der Shoah noch so etwas wie eine Familie habe, dann ist das hier und wer lebt nicht gerne dort, wo seine Familie lebt? Das ist natürlich alles nicht zu Ende gedacht, es hängt davon ab, wohin es Monsieur Donrath verschlägt. Meinen ursprünglichen Plan, mit ihm zusammen in Deutschland zu leben, lehnt er entschieden ab.“
„Mademoiselle Schwarz, was sie vorbringen, klingt logisch. Vertrauen sie mir, ich werde alles tun, damit sie und Monsieur Donrath der Normandie erhalten bleiben. Bitte grüßen sie ihn von mir.“
Der Bürgermeister erhob sich und deutete damit an, dass das Gespräch beendet sei. Er begleitete Hannah zur Tür und entschloss sich dann, sie bis vor die Rathaustür zu begleiten. Sobald Hannah an der Seite des Bürgermeisters auf den Stufen des Rathauses erschienen, nahm Norman Haltung am. „Darauf müssen sie als Landärztin verzichten, Mademoiselle“, der Bürgermeister wies lachend auf Sergeant Miller und die Limousine. „Auf diesen Luxus kann ich leicht verzichten und wenn alles gut geht, wird mein Kontakt zum Sergeanten nicht abreißen. Er hofft, dass meine Schwester seine Werbung erhört und ihn heiratet“, gab Hannah zurück und reichte Monsieur Guillou die Hand. Sobald Norman die Limousine in Richtung Luc-sur-Mer steuerte, rutschte Hannah in ihrem Sitz nach vorn und sprach Norman an.
„Norman, jetzt wo wir allein sind, möchte ich noch einmal über Nicole und dich sprechen.“
„Sehr wohl.“
„Norman, uns hört niemand zu. Sprich bitte normal mit mir“, Hannah reagierte unwirsch.
„Entschuldigung Hannah. Es ist einfacher für mich, wenn du nicht uniformiert bist. Ich würde gerne mit dir über Nicole sprechen.“
„Gut Norman! Du hast vorhin kurz gesagt, Nicole hätte dir alles erzählt. Habe ich das richtig verstanden?“
„Ja Hannah. Ich weiß auch, dass sie dir ihre Geschichte erzählt hat. Sie nennt dich ma chère sœur.“
Hannah lachte, „dein Französisch klingt zwar sehr Englisch, aber die Aussage stimmt, Nicole und ich empfinden uns als Schwestern und deshalb möchte ich mit dir sprechen. Sieh Norman, Nicole hat furchtbares erlebt. Die Wunden, die ihr zugefügt wurden, werden nie wieder verheilen. Sie haben sich auf ihrer Seele eingebrannt. Im Moment ist sie geschützt, von liebenden Menschen umgeben. Du bist Teil dieser Menschen und das ist gut für Nicole. Du musst dir aber darüber im Klaren sein, dass du eine große Verantwortung übernimmst, wenn du mit Nicole dein Leben teilen willst. Bist du dir sicher, dass du dieser besonderen Situation gewachsen bist?“
„Wie soll ich sicher sein, Hannah? Ich kann dir nur versprechen, dass ich bereit bin, alles dafür zu tun, Nicole glücklich zu machen.“
„Und du bist bereit, vorsichtig vorzugehen bei der Erfüllung eurer sexuellen Wünsche. Bitte Norman, ich weiß, das geht mich nichts an, aber du bist bestimmt nicht mit Nicole zusammen, um den Rosenkranz mit ihr zu beten.“
Norman antwortete sehr ernst, „Hannah, ich bin bereit dazu, ich liebe Nicole. Ich liebe sie so, dass ich alles versuchen werde, sie glücklich zu machen. Mit allem, was in meiner Macht steht.“
„Danke, Norman, meine Schwester braucht dich. Das ist das besondere an eurer Beziehung. Ich glaube, du bist der Mann, der sie glücklich machen kann.“
„Und du Hannah, wie ist es mit deiner Liebe? Entschuldigung, Ma’am. Ich bin zu weit gegangen.“
„Norman! Was soll das jetzt? Wir sprechen hier privat! Du darfst mich das fragen, du bist mein Schwager. Mit meiner Liebe gibt es ein Problem. Wir können nicht zusammenleben, Hans darf nicht reisen und meinen Vorschlag, mit ihm in Deutschland zusammenzuleben, hat er abgelehnt.“
„Warum das?“
„Wegen Sarah. Er will nicht, dass unsere Tochter mit den Mördern ihrer Vorfahren zusammen leben muss.“
„Das ist ein Argument, das nicht von der Hand zu weisen ist.“
„Ich weiß, er hat recht. Ich werde eine Lösung finden. Er hat vor dem Krieg eine Lösung gefunden, die mich gerettet hat. Jetzt versuche ich ihm und somit auch mir und Sarah zu helfen. Ich möchte ihn vorerst so oft es geht besuchen. Dazu brauche ich die Hilfe von euch allen. Ich kann Sarah die beschwerliche Reise im jetzt aufziehenden Winter nicht zumuten.“
„Wir werden dir helfen, Hannah.“
Norman fuhr an Hannahs Haus vor, stieg aus und öffnete für Hannah, dabei nahm er Haltung an, „bitte Ma’am.“ „Bringen sie bitte meine Tasche ins Haus, Mister Miller.“ „Gerne Ma’am.“ Hannah hätte am liebsten laut gelacht, tat aber so, als sei das alles normal für sie. Im Haus kam ihnen Sarah entgegen, sie umarmte beide heftig. „Norman, ich war bei meinem Papa, der ist ganz lieb.“ Norman hockte sich vor Sarah hin, „das ist schön, Sarah. Nicole wird sich freuen, wenn ich ihr das erzähle.“ „Wann kommt sie mich besuchen?“ Hannah griff ein, „wenn ihr wollt, könnt ihr das Wochenende bei uns verbringen, Norman. Sprich das mit Nicole ab. Sagt uns bald Bescheid, dann kochen wir zwei etwas Schönes. Aber nur, wenn du in Zivil kommst.“ Norman sagte erfreut zu und meinte, da brauche er Nicole gar nicht erst zu fragen. Er solle trotzdem fragen, gab Hannah zu bedenken, da es schließlich sein könne, dass Christine und François am Sonntag Hilfe von Nicole benötigten. Aus der Küche kam die Nanny, die, während Sarah die Schule besuchte, auch den Haushalt führte. Norman ging aus diesem Grund wieder zu dienstlichem Verhalten über, was Hannah nervte. Sie nahm sich aber zusammen und begleitete ihn zur Tür, wo sie ihn bat Nicole Grüße auszurichten und ihm sagte, wenn ihre Zeit es zuließe, würde sie morgen nach dem Dienst gerne nach Arromanches fahren. „Wir nehmen dann Nicole mit, wenn ihr das möchtet“, fügte sie hinzu. Da Norman bereits vor dem Haus stand, nahm er Haltung an, legte die Hand an die Mütze und schnarrte, „zu Befehl, Ma’am.“ Hannah schüttelte den Kopf, als sie die Tür schloss. Sie legte Zivilkleidung an, nahm Sarah bei der Hand und ging mit ihr spazieren.
„Kann nicht Nicole wieder meine Nanny sein, Maman?“, Sarah kuschelte sich bei der Frage an Hannah an.
„Nein, Sarah, das möchte ich nicht. Du weißt, dass ich Nicole als meine Schwester sehe und ich möchte, dass meine Schwester ihre wichtige Arbeit weiter macht. Charlotte ist doch auch nett, oder?“
„Ja, Maman, aber Nicole ist meine Tante und ich habe sie lieb.“
„Gerade, weil du sie lieb hast, musst du einsehen, dass jetzt Charlotte deine Nanny ist. Komm, wir bauen am Strand eine Burg.“
Am Abend schrieb Hannah voll Sehnsucht einen langen Brief an Hans. Sie berichtete ausführlich von ihrer Unterredung mit Yves Guillou und der Hoffnung, die angebotene Hilfe würde zum Erfolg führen.
Es war bereits Ende November, als Hannah es möglich war, ein weiteres Mal zu Hans zu reisen. Trotz der langen Trennung waren beide guter Dinge und zuversichtlich, dass sie bald gemeinsam als Familie zusammenleben würden. Hannah hatte für Hans einige Bezugsscheine für Kohlen organisiert, sie wusste aber nicht, wie lange das Brennmaterial reichen würde, denn obwohl es noch Herbst war, herrschten bereits eisige Temperaturen, als sie zurück nach Caen musste. Sie verfolgte von dort aus, wie sich die Versorgungslage in der Britischen Zone zuspitze und setzte alles daran, Hans zu helfen. Christine und François packten Pakete mit allem, was sie erübrigen konnten, die Hannah dann per Kurier nach Düsseldorf verschickte. Im Januar reiste sie erneut nach Düsseldorf. Hans war seit November weiter abgemagert. Sie hielt seinen Zustand für bedenklich, zumal er von Hustenanfällen geschüttelt wurde. Sein Zimmer war trotz des glühenden Ofens eine Eishöhle. An den Dachschrägen hatten sich Eiskristalle gebildet und die zerbrochenen Fensterscheiben waren hinter bizarr wirkenden Eisblumen verborgen.
Trotz der misslichen Umstände waren beide in den Tagen des Zusammenseins fast euphorisch, wenn sie über ihre Zukunft sprachen. Sie beschlossen möglichst bald zu heiraten, da sie beide der Meinung waren, dass das für ihre Zukunftspläne förderlich sei. Hannah hatte sich bereits bei Yves Guillou erkundigt, welche Papiere sie benötigten, um in Frankreich getraut zu werden. Die Urkunden, die Hans vorlegen musste, hatte sie aufgelistet und er hatte versprochen sich umgehend darum zu kümmern. Der Bürgermeister hatte Hannah noch um zwei Passbilder von Hans gebeten. Erneut hatte er gesagt, er könne nichts versprechen, meinte aber, aktuelle Fotos wären äußerst hilfreich. Hannah hatte für den kleinen Benno ein Asthmamedikament aus ihren Vorräten mitgebracht, das Hans der Mutter des Kindes übergab. Diese bedankte sich überschwänglich, als sie auf Hannah traf. Ihr war das peinlich, freundlich, aber bestimmt sagte sie, es sei nicht der Rede wert. Von diesem Tag an begegnete auch die weißhaarige Hausbesitzerin Hannah mit großer Freundlichkeit. Hannah blieb so lange, bis ein Fotograf für die Passbilder gefunden war und dieser die Bilder entwickelt hatte. Voll Sorge um ihren Liebsten reiste Hannah danach zurück.
Am ersten Arbeitstag nach ihrer Rückkehr schickte sie einen Kurier mit den beiden Passbildern zu Yves Guillou. Einige Tage später erhielt Gladstone einen Anruf aus dem Bürgermeisteramt von Caen. Die Sekretärin fragte, ob Hannah in der Lage sei, am kommenden Tag nach der Mittagszeit beim Bürgermeister vorzusprechen. Gladstone schaute kurz auf ihren Terminkalender und sagte zu. Er berichtete Hannah erst von dem Termin, als sie ihn zum Rapport rief. Wie immer, wenn der Bürgermeister um einen Termin bat, war Hannah voll Unruhe. Am Abend hatte sie Mühe, sich auf Sarah zu konzentrieren. Sie bat Charlotte noch etwas mit Sarah zu spielen. Sie selbst setzte sich an den Schreibtisch und schrieb einen Brief an Hans. Nach einiger Zeit stockte sie in ihrem Schreibfluss. Sie las durch, was sie bereits geschrieben hatte, es ergab in ihren Augen keinen Sinn. Sie kam zu der Überzeugung, es wäre sinnvoller, am nächsten Tag nach dem Termin bei Monsieur Guillou einen Brief zu verfassen. Allein der Versuch an Hans zu schreiben, hatte Hannah so weit beruhigt, dass sie sich danach viel Zeit für ihre Tochter nehmen konnte.
Bürgermeister Guillou empfing Hannah wie immer äußerst zuvorkommend. Zu ihrer Verwunderung bat er sie aber diesmal auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Er selbst ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und reichte Hannah ein Kuvert hinüber. „Für sie Mademoiselle“, sagte er dabei.
„Was ist das, Monsieur Guillou?“, fragte Hannah verwirrt.
„Schauen sie nur hinein, Mademoiselle Schwarz.“
Hannah öffnete den Umschlag und entnahm ihm eine Urkunde und einen Pass. Sie las zuerst die Urkunde. „Das ist eine zeitlich unbegrenzte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für Monsieur Donrath?“
„Ja, Mademoiselle – zeitlich unbegrenzt! Schauen sie in den Pass.“
Hannah blätterte durch den Pass, der auf Hans‘ Namen ausgestellt war, „das glaube ich jetzt nicht, Monsieur Guillou. Mit diesem Pass darf Monsieur Donrath jederzeit nach Frankreich einreisen und er kann sich auch in den Besatzungszonen frei bewegen.“
„Sie können das ruhig glauben, Mademoiselle, es fehlt nur noch die Unterschrift von Monsieur Donrath. Sie sollten den Pass per Kurierpost an ihn senden, damit er nicht verloren geht. Solche Dokumente sind heiß begehrt. Die Urkunde können sie bei sich verwahren, bis Monsieur Donrath hier eintrifft.“
„Monsieur, ich weiß nicht wie ich ihnen danken soll.“
„Mademoiselle! Sie haben das Lazarett für die Bevölkerung geöffnet und Monsieur Donrath sind wir ebenso zu Dank verpflichtet. Schließlich hat er ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben und Wohlergehen, Menschen vor den Nazis gerettet, er war wirklich ein wichtiges Mitglied der Résistance. Ich glaube, wir können jetzt zum gemütlichen Teil der Unterredung übergehen.“
Der Bürgermeister erhob sich, lotste Hannah zur Sitzgruppe und bestellte bei der Sekretärin Kaffee und Gebäck. „Wann meinen sie, könnte Monsieur Donrath hier eintreffen, Mademoiselle?“, fragte er, während er sich im Sessel niederließ.
„Ich weiß es nicht, Monsieur. Ich kann ihn zwar unterstützen, aber er wird allein reisen müssen. Schließlich kann ich ihn nicht von einer Dienstreise einfach mitbringen. Schon Sarah bei dienstlichen Reisen mitnehmen zu dürfen, empfinde ich als Privileg. Auf jeden Fall müssen aber vorher die Dokumente für unsere Hochzeit vollständig sein. Ich betrachte Monsieur Donrath zwar als meinen Mann, aber unverheiratet in meiner Dienstwohnung zusammenzuleben, ist nicht möglich.“
„Ich schlage vor, Mademoiselle, Monsieur Donrath reist über Freiburg. Das liegt in unserer eigenen Besatzungszone und der Stadtkommandant ist ein Freund von mir, an den kann er sich wegen der Weiterreise wenden. Natürlich hoffe ich, sie lassen sich von mir trauen. Da sie in Luc-sur-Mer wohnen, ist eigentlich der dortige Bürgermeister für sie zuständig, aber das kriegen wir schon hin.“
„Gerne Monsieur Guillou. Wie lange vor der Trauung benötigen sie die Dokumente?“
„Ein paar Tage vorher. In diesem Fall sollten sie über ihren Schatten springen und ihre Stellung ausnutzen, Mademoiselle. Lassen sie sich die Unterlagen per Kurier zusenden. Dann geht alles ganz schnell, ich traue sie, sobald Monsieur Donrath hier eintrifft.“
Hannah war vom Glück beseelt, als sie zurück im Lazarett war. Sofort machte sie sich daran, einen kurzen Brief an Hans zu verfassen. Als sie fertig war, las sie das Geschriebene noch einmal.
Liebster Hans,
ich kann unser Glück nicht fassen. Bürgermeister Guillou übergab mir vorhin eine Urkunde und einen Pass für Dich. Die Urkunde gewährt Dir eine zeitlich unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für Frankreich. Den Pass füge ich diesem Brief bei (Du musst ihn nur noch unterschreiben), die Urkunde bewahre ich für Dich auf, bis Du hier eintriffst.
Sobald Du die nötigen Dokumente für die Hochzeit zusammen hast, wende Dich bitte an das Lazarett in Düsseldorf. Ich werde Weisung erteilen, dass die Dokumente von dort per Kurier zum Lazarett von Caen befördert werden. Den Namen Deiner Kontaktperson im Lazarett werde ich Dir nennen, sobald ich die Weisung erteilt habe.
Ich liebe und ich küsse Dich
Deine Hannah
Hannah faltete das Blatt, stockte dann und fügte hinzu, PS: Ich schreibe von meinem Büro aus. Daher kann Sarah Dich nicht grüßen, einen gemeinsamen Brief von uns wirst Du in den nächsten Tagen erhalten. Nach diesen Zeilen faltete Hannah das Blatt endgültig zusammen, steckte es in ein Kuvert und klingelte nach Lieutenant Gladstone. Sie gab Anweisung, Kuvert und Pass als äußerst dringende Kuriersache zu versenden. Ich erwarte eine schriftliche Empfangsbestätigung hier auf meinem Schreibtisch, fügte sie hinzu, bevor Gladstone den Raum verließ. Hannah ließ sich auf ihren Stuhl zurücksinken, atmete mehrmals tief durch und ging danach zum Tagesgeschäft über. Als Feierabend war, ließ Hannah Norman kommen, damit dieser sie nach Hause fuhr. Sobald sie im Auto saß, fragte sie Norman, ob er Nicole abholen wolle und sie dann alle gemeinsam nach Arromanches fahren würden. Norman freute sich aufrichtig über diesen Vorschlag. So fuhren sie zuerst nach Luc-sur-Mer, wo sie Sarah ins Auto lud und der Nanny für den Rest des Tages freigab. Sie fuhren beim Depot vorbei, luden Nicole ein und fuhren dann weiter nach Arromanches. Vor der Bar spielte sich die Zeremonie ab, auf die Hannah und Norman sich inzwischen geeinigt hatten. Norman sprang aus dem Wagen und riss die Tür für Hannah auf. Er wartete dann beim Wagen, bis Hannah und Sarah in der Bar verschwunden waren und folgte ihr erst danach mit einiger Verzögerung. Diesmal zusammen mit Nicole. Christine und François waren erfreut und überrascht, unerwartet ihre beiden Töchter und ihr Enkelkind zu begrüßen. Hannah war aufgewühlt von den Ereignissen des Nachmittags, es sprudelte förmlich aus ihr heraus.
„Es ist etwas Unbeschreibliches geschehen, Bürgermeister Guillou hat mir heute die Papiere übergeben, die es Hans erlauben hier bei uns zu leben und zu arbeiten.“ Freudentränen stiegen ihr in die Augen.
Gerührt schloss François Hannah in die Arme, „alles wird gut, Liebes.“ Ungeschickt versuchte er Hannahs Tränen zu trockenen.
Sie verlebten zwei fröhliche Stunden miteinander, dann drängte Hannah zum Aufbruch, da Sarah morgens früh zum Schulbus gebracht werden musste. Sobald Hannah zu Hause war, bereitete sie das Abendessen zu. Sarah hatte wohl nicht alles richtig verstanden, was Hannah in Arromanches erzählt hatte, so fragte sie nach: „Kommt Papa uns besuchen. Maman?“
„Nein, mein Schatz, er wird hier wohnen.“
„Hier im Haus?“
„Nein, Süße, zuerst müssen wir heiraten. Komm, hilf mir ein wenig.“
„Warum?“
„Was, warum? Möchtest du mir nicht helfen?“
„Maman! Warum müsst ihr zuerst heiraten?“
„Wir heiraten, weil wir uns lieb haben und vor der Heirat wohnt man nicht zusammen.“
„Und wo wohnt Papa bis dahin?“
„Bei Granny und Grandpa.“
Sarah gab sich mit den Antworten fürs Erste zufrieden und bat nach dem Essen darum, dass Hannah ein Spiel mit ihr machte. Hannah war nicht ganz bei der Sache und verlor zweimal hintereinander. Nachdem sie ihrer Tochter eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte, saß Hannah allein im Wohnzimmer und schrieb einen weiteren Brief an Hans. Als der Brief verfasst war, fehlte nur noch der Name der Kontaktperson, der Hans die Heiratsdokumente übergeben sollte und natürlich sollte Sarah noch etwas unter den Brief schreiben oder malen. Überglücklich sank Hannah an diesem Abend in ihr Bett. Anderntags beauftragte sie Gladstone damit, einen Kontakt zum Lazarett in Düsseldorf herzustellen. Kurz nach Tisch übergab dieser Hannah eine Notiz, Colonel Meyer wird sich um den Kurier für Mister Donrath kümmern, sagte er dazu.
Am Abend setzte Hannah diesen Namen in ihren Brief ein. Sarah hatte unter Mithilfe ihrer Nanny einen eigenen Brief an Hans verfasst. Das Kuvert überreichte Hannah tags darauf Lieutenant Gladstone, der sich um den Versand kümmerte. Am späteren Nachmittag erhielt sie bereits die Empfangsbestätigung von Hans, er hatte in Eile nur einige Worte auf die Rückseite geschrieben. Zwei Tage später folgte ein langer Brief. Ungeduldig wartete Hannah darauf, dass Hans seine Dokumente zusammen hatte. Es verging eine weitere Woche, bis ein Bote erschien. „Ein Expressbrief für sie, Ma’am“, sagte er mit schnarrender Stimme, „bitte unterschreiben sie hier.“ Hannah ging mit dem dicken Kuvert in ihr Büro und öffnete es dort. Es enthielt ein Bündel Urkunden und Dokumente, sowie einen Brief von Hans.
Liebe Hannah, liebe Sarah,
das dürften jetzt alle Dokumente sein, die Monsieur Guillou benötigt. Ich bin dabei, meine Sachen zu packen. Viel ist es nicht, was ich besitze, meine Lieben. Ein neuer Mieter für mein Zimmer wartet dringend darauf, dass ich endlich abreise. Er übernimmt all das von mir, was ich nicht mitnehmen kann. Ich hoffe, innerhalb einer Woche, nach Freiburg zu gelangen. Der Pass ist mein Türöffner, er erspart es mir heimlich, die Grenzen der Besatzungszonen zu überschreiten. Trotzdem weiß ich nicht, wie lange ich für die Reise benötige. Sobald ich beim Stadtkommandanten von Freiburg vorstellig geworden bin, wird der Rest wohl schneller vonstattengehen.
Ich brenne darauf, bei Euch zu sein. Nichts kann mich aufhalten. Ich würde sogar zu Fuß bis in die Normandie laufen, nur um Euch nahe zu sein. Hast Du, liebe Hannah, eine Unterkunft für mich? Denn ich glaube, bevor wir verheiratet sind, sollten wir nicht unter einem Dach wohnen. Was hältst Du davon, wenn ich bei Madame Meister nach einem Zimmer frage? Ach, Unsinn, ich werde schon irgendwo unterschlüpfen.
Und Du meine liebe Tochter Sarah, werden wir uns vertragen? Ich hoffe sehr, dass wir zueinander finden. Zu lange waren wir getrennt. Ich weiß nicht, ob Du mich als richtigen Papa anerkennen wirst, aber wir werden es miteinander versuchen.
Ich erwarte nachher noch meinen Nachmieter. So fahre ich jetzt mit der Straßenbahn zum Lazarett, alles Weitere klären wir, sobald ich bei Euch bin.
Liebe Grüße und Küsse
Euer Hans und Papa
Hannah steckte die Dokumente zurück in das Kuvert, dann ließ sie sich mit Bürgermeister Guillou verbinden. Dieser war hocherfreut und bat um schnellstmögliche Zustellung. Hannah sagte, sie würde sofort einen Boten zu ihm schicken. Nachdem sie das erledigt hatte, versuchte sie sich auf ihr Tagesgeschäft zu konzentrieren. Das fiel ihr schwer und je mehr Zeit verstrich, umso unruhiger wurde Hannah. Den Sonntag verbrachte sie bei Florence, um diese von den guten Neuigkeiten in Kenntnis zu setzen, aber auch die Fahrt nach Regnéville brachte sie nur kurzfristig auf andere Gedanken. Hannah bat Gérard ihr einen unauffälligen Wagen für einige Tage zu leihen. Nach Feierabend packte sie Sarah in den Renault Juvaquatre aus der Vorkriegszeit und fuhr mit ihr über Land oder die Küste entlang. Sarah fand das chic, Hannah brachte es aber keine Erleichterung und Norman fühle sich ausgegrenzt, da Hannah ihn nur noch für Dienstfahrten anforderte. Einige weitere Tage gingen ins Land, Hannah gab den Renault zurück und ließ sich wieder von Norman chauffieren. Dann klingelte morgens das Telefon, Gladstone nahm ab und fragte, nachdem er zugehört hatte, ob Hannah den Bürgermeister empfangen wolle. Sie reagierte überrascht, bat aber Bürgermeister Guillou hocherfreut zu sich herein. Sie bestellte Kaffee und Kuchen und bat ihn in der Sitzecke Platz zu nehmen.
„Ich hoffe, es ist nichts Unangenehmes, was sie zu mir führt, Monsieur Guillou?“, sagte Hannah, während sie sich setzte.
Der Bürgermeister lachte, „nein, Mademoiselle Schwarz, es ist mir eine Ehre, ihnen die Nachricht persönlich zu überbringen. Monsieur Donrath fliegt noch heute nach Paris und fährt mit dem Nachtzug weiter nach Caen.“
„Er fliegt?“, fragte Hannah ungläubig.
Wieder lachte der Bürgermeister, „Mademoiselle, auch der Stadtkommandant von Freiburg verfügt über eine Flugbereitschaft und ist, wie ich bereits gesagt habe, mein Freund.“
„Wann kommt der Zug in Caen an, Monsieur?“
„Morgen früh um sechs, Mademoiselle.“
„Dann muss ich dringend zu meinen Eltern. Monsieur Donrath wird dort wohnen, bis wir verheiratet sind.“ Hannahs Augen wurden feucht.
„Mademoiselle, ich denke, Monsieur Donrath sollte ausschlafen, danach besprechen sie sich mit ihm, ich traue sie, sobald er dazu in der Lage ist.“
„Danke, Monsieur Guillou.“
Früh am Morgen standen Hannah und Sarah fröstelnd auf dem zugigen Bahnsteig, Sarah drängte sich nah an Hannahs Seite. So öffnete Hannah ihren Uniformmantel und drückte sie, soweit es ging, darunter. Mit einiger Verspätung fuhr der Zug schnaufend in den Bahnhof ein. Es herrschte ein ziemliches Durcheinander auf dem Bahnsteig, sobald der Zug stand und die Türen der Waggons geöffnet wurden. Unruhig versuchte Hannah den Überblick zu erlangen, bis sie Hans endlich in der Menschenmenge ausmachte. Mit einem Karton in der Hand und einem zerschlissenen Rucksack auf dem Rücken stand er im dämmerigen Licht der wenigen Laternen, die die Szene dürftig erhellten, auf dem Bahnsteig und schaute suchend um sich. Er sah ziemlich verlassen und hilflos aus. Hannah nahm Sarah bei der Hand und drängte sich eilends in seine Richtung. Sie erschrak, als sie ihm näher kam, Hans war weiter abgemagert, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Seine Wangen waren eingefallen, grau wirkte seine Haut. Sein grauer Stoppelbart verstärkte im fahlen Licht diesen Eindruck. Sowie er Hannah wahrnahm, glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Er stellte den Karton ab und kam auf Hannah zu, als er sie in seine Arme nahm, hatte Hannah den Wunsch, Hans würde sie nie wieder loslassen. Sarah zupfte Hannah am Uniformmantel, so löste sich Hannah von Hans und dieser nahm Sarah auf die Arme, sie drücke ihm einen Kuss auf die Wange und sagte, „Papa, dein Bart kratzt.“ Das brachte Hans zum Lachen, was bei ihm einen heftigen Hustenanfall auslöste. Hannah hob den Karton auf und ging voraus, nachdem der Anfall vorüber war. Hans nahm seine Tochter bei der Hand und folgte. Auf der Straße wartete Norman, der Hannah entgegenkam. Er nahm Haltung an und sagte, „darf ich, Ma’am?“, nahm Hannah den Karton ab und verstaute diesen im Kofferraum, Hans nahm seinen Rucksack ab und legte ihn auf den Karton. Norman nahm danach sofort Haltung an, öffnete den Schlag und wie gewohnt sagte er, „bitte Ma’am.“ Hannah bat Sarah vorn neben Norman Platz zu nehmen. Das passte ihr gar nicht, sie wollte bei ihrem Papa sitzen. So setzte Hannah die Kleine neben sich, während Norman auf der gegenüberliegenden Seite für Hans die Tür aufriss. „Bitte Sir“, sagte er dazu und stand stramm. Hannah schüttelte belustigt den Kopf. Bevor Norman losfuhr, sagte sie, „Hans, darf ich dir Norman vorstellen? Er heißt Sergeant Miller, aber er ist unser Schwager. Norman, das ist Hans.“ Die beiden Männer reichten sich über die Lehne des Fahrersitzes die Hände. „Nach Arromanches, Ma’am?“ „Norman, es reicht, hast du mich verstanden?“ „Ja doch Hannah, also nach Arromanches!“ Ohne auf Hannahs Antwort zu warten, fuhr Norman los. „Du bringst mich bei Christine und François unter, Liebste?“ „Ja, Hans, das ist das einfachste für die wenigen Tage und ich kann dich dort leicht besuchen.“ Hans sagte nichts und strich ihr stattdessen über die Haare. In Arromanches gab es ziemliche Aufregung, die Ankunft von Hans ging Freunden und Bekannten nahe. Christine sah, wie geschwächt Hans war und schickte alle, bis auf Hannah und Sarah, hinaus. Sie drückte Hans auf einen Stuhl in der Küche. Danach bot sie ihm Brot, Käse und Kaffee an. Hans kaute lustlos daran herum und trank dann einen großen Schluck Kaffee.
„Musst du zum Dienst, Liebste?“, fragte Hans nach einiger Zeit.
„Ja, mein Schatz.“
„Kann Sarah bei mir bleiben?“
„Oh ja, Papa! Ich möchte! Darf ich Maman?“
„Ja natürlich, Sarah. Papa kann das allein bestimmen. Wir haben die gleichen Rechte. Aber du weißt schon, dass ich dich eigentlich an der Schule absetzten wollte.“
„Ist doch nicht so wichtig“, nörgelte Sarah.
„Das war unbedacht von mir. Sarah, du weißt, dass die Schule sehr wichtig ist. Aber heute darfst du bei mir bleiben. Ausnahmsweise!“ Hans rang sich ein Lächeln ab.
„Dein Papa muss aber schlafen, Sarah“, gab Christine zu bedenken.
„Ich helfe dir beim Kochen, solange Papa schläft, Granny. Dann bin ich da, wenn er aufwacht.“
„Gut Sarah. Hans, möchtest du gleich schlafen gehen oder möchtest du vorher ein Bad?“
„Ein Bad wäre gut, Christine“, antwortete er müde.
„Ich lasse dir Wasser einlaufen, mein Schatz. Ich fahre zum Dienst, sobald du dich hingelegt hast und komme am Abend zurück. Ich versuche Nicole mitzubringen, du musst schließlich deine Familie kennenlernen.“
Um keine weiteren Diskussionen aufkommen zu lassen, ging Hannah ins Bad, heizte den Badeofen ein und ließ das Wasser einlaufen, als es warm genug war. Sarah kuschelte sich während der Wartezeit bei Hans an. Als Hans aus der Wanne stieg, reichte ihm Hannah ein Badetuch. Er hüllte sich darin ein und sie schmuste sich kurz bei ihm an. Nachdem sich Hans auf das Bett gelegt hatte, schlief er fast umgehend ein. Leise zog Hannah die Tür hinter sich zu, ging zurück in die Küche und bat Norman, sie zum Lazarett zu fahren. Auf der Fahrt nach Caen sagte sie zu ihm, er möge Nicole mitbringen, wenn er sie am Abend vom Lazarett abholen würde. Norman grinste breit bei dem Gedanken, mit Nicole gemeinsam im Auto zu sitzen.
Als Hannah am Abend zurück nach Arromanches kam, fand sie Hans in der Küche. Er saß am großen Esstisch, hatte Sarah auf dem Schoss und zeigte ihr einige Zaubertricks. Auch Hans kannte den Trick, den Hannah aus ihrer eigenen Kindheit kannte. Er drückte ein Geldstück durch die Tischplatte. Sie küsste ihn auf die Haare, gab ihm einen leichten Knuff und meinte, er solle seine Tochter nicht veräppeln. Er ließ sich davon nicht beeindrucken und rieb nun das Geldstück durch seinen Ärmel. Sarah war nicht davon überzeugt, dass es sich um Zauberei handele, aber Hans lenkte sie im entscheidenden Augenblick immer wieder geschickt ab und das Mädchen fiel auf den Schwindel hinein. Hannah bat Sarah, Nicole und Norman hereinzubitten, damit sie Nicole mit Hans bekannt machen konnte. Sarah lief begeistert nach draußen, als sie hörte, dass Nicole mitgekommen war. Den Moment, den sie für sich allein hatten, nutzte Hannah und setzte sich zu Hans auf den Schoss. Dieser kitzelte sie leicht und fragte, ob sie vielleicht eifersüchtig sei. Er erhielt einen heftigen Knuff und einen Kuss auf den Mund für seine Bemerkung. Nicole kam mit Sarah an der Hand herein. Sarah ließ keinen Zweifel aufkommen, wie sie sich die neue Familie vorstellte. „Nicole, das ist mein Papa. Er passt jetzt auch auf dich auf. Er heißt Monsieur Donrath, aber du darfst Hans zu ihm sagen, weil du meine Tante bist.“ Hans erhob sich mühsam vom Stuhl und reichte Nicole die Hand. Nicole zog ihn zu sich heran und begrüßte ihn mit Wangenküssen. „Nicole, wenn du mit Norman etwas spazieren gehen möchtest, ist das kein Problem und wenn ihr Sarah mitnehmt, könnte ich mit Hans einiges besprechen“, sagte Hannah danach. Nicole und Norman waren erfreut über die unerwartete gemeinsame Zeit, die sie verbringen konnten. So hielt Norman Sarah die Hand hin und meinte: „Kommen sie mit, junge Lady.“ Hannah und Hans waren kurz darauf allein in der Küche. Sie saßen am Tisch und hielten sich bei den Händen. Wärme stieg in ihr auf, sie konnte kaum glauben, dass sie nach all den Jahren wieder gemeinsam mit Hans in Christines Küche saß.
„Hans, mein Schatz, es ist so lange her, dass wir hier in der Küche beieinander waren. Bitte halte mich fest, damit ich es glaube“, sagte Hannah schließlich.
„Ich werde dich nicht wieder weglassen. Ich habe zu lange von dir geträumt“, Hans knetete leicht Hannahs Hände.
„Süßer, ich habe vorhin mit Bürgermeister Guillou telefoniert. Wenn wir bereit sind und es wünschen, würde er uns am Samstagnachmittag trauen.“
„Ich bin bereit, Liebste. Bis dahin habe ich mich erholt und ich hoffe, dass dann auch der quälende Husten weg ist.“
„Gut Süßer, wir heiraten am Samstag. Danach passiert etwas Neues, du schläfst in meinem Bett. Vertauschte Rollen sozusagen.“
Christine kam herein. „Wir heiraten am Samstag, Ima“, rief Hannah ihr entgegen.
„Das freut mich, wartet einen Moment“, Christine ging in die hinteren Räume und kam mit einem Döschen zurück. Sie öffnete es und entnahm ihm zwei Ringe. „Es sind die Eheringe meiner Großeltern. Jetzt sollen es eure sein. Probiert sie an.“
Hans nahm den größeren der beiden Ringe und schob ihn auf den Ringfinger, er war etwas zu weit. Dann nahm er den kleineren Ring und versuchte ihn Hannah auf den Finger zu schieben. Da der Ring zu weit war, hielt Hannah ihm den Mittelfinger hin, dort passte er perfekt. „Der Ring am Mittelfinger ist meine persönliche Note“, sagte sie lachend und drückte Christine einen Kuss auf die Wange. Christine war voller Tatendrang, sie plante sofort das Hochzeitsessen für Samstagabend. Sie fragte, wen die Beiden einladen wollten. Beide zuckten mit den Schultern. „Gut, dann sage ich es euch“, meinte sie.
„Ihr ladet Félix und seine Frau, Nicole und Norman, Bürgermeister Guillou und seine Frau und natürlich Florence ein. Sonst noch jemand? Ich schätze, Gérard einzuladen ist sinnlos!“, Christine schaute beide auffordernd an.
„Das kann ich nicht bezahlen, Christine“, antwortete Hans.
„Wir sind die Brauteltern, das Bezahlen geht dich nichts an und dich auch nicht, Hannah!“, entgegnete Christine aufgebracht. Hannah nahm Christine in den Arm und besänftigte sie.
„Und wer sind eure Trauzeugen?“, fragte Christine, nachdem sie sich beruhigt hatte.
„Du und Aba“, antwortete Hannah.
„Oh nein, Hannah. Es wäre gut, wenn ihr Florence darum bittet und es ist zwar eigentlich üblich eine Frau und einen Mann als Trauzeugen auszuwählen, aber in diesem Fall schlage ich Nicole als zweite Zeugin vor. Das gäbe ihr zusätzliches Selbstvertrauen.“
„Wir machen es so, wie du es sagst, Christine. Es sei denn, Hannah hätte etwas dagegen.“
„Nein Liebster, wir machen es so, wie Ima es sagt.“
François kann herein und fragte, ob er etwas verpasst hätte. „Unsere ältere Tochter heiratet am Samstag und im Moment macht der Bräutigam Zicken.“ François verstand zwar nicht, um was es ging, war aber hocherfreut über die Neuigkeit.
Christine hatte Sarah eingeimpft, sie müsse während der Trauung bei ihr und François stehen. Sobald der Bürgermeister die Trauung vollzogen hätte, dürfe sie nach vorn und ihren Eltern die Ringe überreichen. „Hast du das verstanden, Sarah?“, fragte Christine nach ihrer Erklärung. „Ja doch, Granny, und warum darf ich nicht bei Papa stehen?“, nörgelte Sarah. „Nichts da, Kleine! Dein Papa heiratet deine Maman, nicht dich.“ Das leuchtete Sarah zwar nicht ganz ein, sie gab sich aber geschlagen. Am Samstagmittag holte Norman Christine, François und Hans ab. Am Depot lud er noch Nicole ein. Er setzte sie am Rathaus ab und holte dann Hannah, Sarah, sowie Florence in Luc-sur-Mer ab. Sarah kuschelte sich bei ihrer Mutter an.
„Du Maman, Granny hat gesagt, ich müsse bei ihr bleiben, bis der Bürgermeister fertig ist. Ich möchte aber bei Papa sein.“
„Mein Schatz, wenn Granny das sagt, dann ist das so. Es gibt Vorschriften, an die man sich einfach hält. Das ist wie, mit Messer und Gabel essen. Wenn du mit den Fingern essen würdest, wäre das nicht richtig und die ganze Zeremonie dauert auch nur ein paar Minuten. Granny hat dir doch sicher gesagt, dass du danach zu uns darfst und uns die Ringe übergibst.“
„Ja Maman, ich sehe es ein.“
„Schatz, morgen ist Sonntag, du kannst den ganzen Tag mit Papa zusammen sein. Wenn du möchtest, geht ihr zum Strand, während ich koche. Wir können aber auch alle gemeinsam kochen und nach dem Essen zum Strand gehen. Überleg es dir.“
In einer eleganten Kurve fuhr Norman vor dem Rathaus vor. Hans, der oben auf den Stufen wartete, sprang förmlich die Stufen hinunter und eilte Hannah entgegen. Er umarmte sie stürmisch, nahm seine Tochter auf den Arm und gab ihr einen Kuss. Danach ging er mit ihr die Stufen hinauf zum Rathaus, übergab Sarah an Nicole und eilte wieder Hannah entgegen. „Schatz, nimm dich zusammen, du muss mich jetzt für den Rest deines Lebens ertragen“, sagte sie, versetzte Hans einen Knuff und gab ihm einen Kuss. Hand in Hand gingen sie zum Büro des Bürgermeisters.
Nach der kurzen Zeremonie hatte Norman weitere Autos organisiert, sodass die ganze Gesellschaft gemeinsam in Arromanches ankam. Hannah und Hans baten um einen Moment für sich allein. Sie nahmen Sarah in ihre Mitte und gingen entlang der Uferpromenade zu der Stelle, an der sie zum ersten Mal aufeinander getroffen waren. Hans setzte seine Tochter auf die Brüstung. Gemeinsam blickten sie auf die Reste von Mulberry B, Hannah und Hans dachten an die wenigen glücklichen Tage im August vor dem Krieg. Er drückte seine beiden Frauen an sich. „Der Kreis hat sich geschlossen“, flüsterte er Hannah ins Ohr – beiden stiegen Tränen in die Augen.
Hans starb am 17. Juni 1965 in Hannahs Armen. Auch Sarah, mit ihrer Tochter Ilanah auf dem Arm, saß an seiner Seite, während das Leben in ihm erlosch. Hannah war für einige Tage vor Trauer wie gelähmt, dann nahm sie all ihre Energie zusammen und beschloss ihre Landarztpraxis wieder zu öffnen. Sie war sich sicher, dass Hans es nicht gewollt hätte, dass sie vor Kummer zerbrach. Noch am Tag, bevor er starb, als ihm bereits das Sprechen schwerfiel, hatten sie nebeneinander auf dem Bett gelegen und Hans hatte gelächelt, als er Hannah ganz nah zu sich heranwinkte. „Danke für deine Liebe, danke für unser Leben“, hatte er dabei schwer atmend gesagt. Hannah hatte daraufhin einen Arm unter seinen Kopf geschoben, ihn auf die Stirn geküsst und ihm gesagt, er sei ein unverbesserlicher Spinner. Hans strengte das Sprechen an und so hatte er einige Zeit still neben Hannah gelegen. Als er wieder bei Luft war, hatte er ein Grinsen aufgesetzt und gemeint, es wäre jetzt leider zu spät für ihn, sich zu ändern. Als Sarah am Abend nach ihren Eltern guckte, hatten die beiden nebeneinander auf dem Bett gelegen und sich bei den Händen gehalten. Hans hatte Sarah zu sich herangewinkt, sie hatte sich über ihren Vater gebeugt, um zu verstehen, was er sagte. „Tochter, du könntest uns bei Intimitäten überraschen. Klopfe in Zukunft bitte an, bevor du die Tür unseres Schlafzimmers öffnest.“ Sie hatte ihren Vater kaum verstehen können, so leise waren die Worte über seine Lippen gekommen. Vorsichtig hatte sie ihm einen leichten Stoß versetzt, gelacht und gesagt, „Aba, ich werde in Zukunft immer anklopfen.“ Sie hatte die Hände ihrer Eltern genommen und sich auf die Bettkante gesetzt.
Auf dem Weg zur Praxis dachte Hannah an die Jahre zurück, in denen sie und Hans sich geliebt und geachtet hatten. Sie hatten eine Ehe durchlebt, die sie stets eine normale Ehe nannten. In Sarahs Beisein führte diese Aussage dazu, dass ihre Tochter fragte, ob sie es wirklich normal fänden, Tag für Tag verliebt zusammen zu glucken. Es war immer ein Zauber zwischen ihnen gewesen, dessen Ausgangspunkt ein zufälliges Treffen auf der Seepromenade von Arromanches-les-Bains gewesen war. So oft es Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben hatte, immer hatte das Gefühl zueinander zu gehören und die Gewissheit sich zu lieben den Streit nach einiger Zeit beendet oder besser gesagt, einschlafen lassen. Einmal nach einer solchen Auseinandersetzung, hatte Hans Hannah in die Arme genommen und dabei gesagt, „sei mir nicht böse, Süße, aber du bist es, die mich liebt und die ich liebe und du hast mich mit Chawa versöhnt. Ich war immer zornig, weil sie gesprungen ist. Unsere Liebe hat diesen Zorn in liebendes Gedenken verwandelt und mir die Fähigkeit zu töten genommen.“
Was Hannah nicht zu hoffen gewagt hatte, war eingetreten, zwischen Sarah und Hans hatte sich eine innige Beziehung entwickelt, die weit über das übliche Verhältnis zwischen Vätern und Töchtern hinausging. Während Sarah pubertierte, hatte es Tage gegeben, an denen der Neid Hannah fast zerfressen hatte. Sie selbst hatte zu dieser Zeit oft das Gefühl, zwischen ihr und Sarah wäre eine unüberwindbare Mauer errichtet worden, während Hans immer wieder einen Weg fand, Sarahs unsichtbaren Schutzwall zu überwinden. Irgendetwas hatte sich ihrer Gefühlswelt geändert, als Christine und François in nur wenigen Tagen Abstand starben. Sie hatte die Anrede für die beiden nie geändert und obwohl sie Französisch als ihre Muttersprache benutzte, hatte sie die beiden weiterhin Granny und Grandpa genannt. Mit all ihren Sorgen und Nöten war sie stets zu ihren Großeltern gegangen. An einem Abend, wenige Tage nach ihrem Tod, kam sie aus ihrem Zimmer. Hannah und Hans saßen lesend auf dem Sofa. Sarah hatte sich auf den Boden vor ihre Mutter gesetzt und sich an ihr Bein geschmust. Sie war in Tränen ausgebrochen, Hannah hatte ihr tröstend die Haare gestreichelt, während Hans ihr eine Hand auf die Schulter gelegt hatte, die unüberwindbare Mauer war in sich zusammengebrochen. Hannah und Hans waren für Sarah immer Maman und Papa gewesen. Seit diesem Abend nannte Sarah ihre Eltern Ima und Aba.
Ein paar Wochen nach dem Tod ihres Mannes erhielt Hannah ein amtlich wirkendes Schreiben der israelischen Botschaft, das an Hans adressiert war. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, so fuhr sie, nachdem sie abends die Praxis geschlossen hatte, mit dem verschlossenen Kuvert zu Sarah und bat sie den Brief zu öffnen. Sarah las den Brief durch, der Inhalt erschütterte sie. Als sie sich gefangen hatte, zog sie Hannah zu sich heran und umarmte sie.
„Ima, Aba ist von der Gedenkstätte Yad Vashem zu einem Gerechten unter den Völkern ernannt worden, gemeinsam mit Tante Florence.“
„Wer immer ein Menschenleben rettet, hat damit gleichsam die ganze Welt gerettet. So steht es im Talmud, mein Schatz. Dein Vater hat viele Leben gerettet und ohne das Geringste davon zu ahnen, hat er auch deines bewahrt.“
Die Nachricht aus Yad Vashem änderte nichts an dem Schmerz, den die beiden Frauen in sich trugen. Allerdings wurde die Trauer erträglicher in dem Sinne, dass sich der Kreis geschlossen hatte und alle noch offenen Fragen und Zweifel eine Antwort gefunden hatten. Mutter und Tochter konnten nun ihren Weg in einer neuen Welt zu Ende gehen.
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Wörter: | 64.456 | |
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