Storys > Romane > Krieg > Zu den Strömen Babylons

Zu den Strömen Babylons

181
2
30.08.23 19:48
16 Ab 16 Jahren
Heterosexualität
Fertiggestellt

GLOSSAR:

- Jeruschalajim = hebr. f. Jerusalem

- Kasdu, Pl. Kasdim = Bezeichnung für die Neubabylonier

- Ben-Hinnom = Tal unterhalb von Jeruschalajim, in dem sich v.a. Gräber und Kultstätten befanden

- Kidrontal = Tal unterhalb von Jeruschalajim

- Zidkijahu = letzter König Jehudahs, wurde von Newuchadrezzar eingesetzt

- Jehojachim = letzter rechtmäßiger König in Jehudah, wurde von Newuchadrezzar nach Bawel weggeführt

- Newuchadrezzar = landläufig bekannt als Nebukadnezzar II.

- Jehudah = Königreich Juda

Wir sind schon viele Tage unterwegs; wie viele, das kann ich gar nicht sagen. Jehudah, unsere Heimat, liegt weit hinter uns und vor uns … Sie führen uns nach Bawel. Das jedenfalls haben sie uns gesagt. Nach Bawel. Ich weiß nicht, wo genau das liegt. Ich weiß nicht, wie es dort ist. Ein fremdes Land, eine fremde Stadt. Wir, die wir die Zerstörung von Jeruschalajim überlebt haben müssen dort hin wandern … Immer nach Norden – zuerst entlang des Jarden, später folgen wir, so sagten sie uns, dem Orontes und dann dem Perat, dem größten aller Flüsse. Mir ist all das vollkommen egal, denn

Jeruschalajim, die Stadt, in der ich geboren wurde und aufwuchs, ist nicht mehr! Überrannt und zerstört von den Truppen der Kasdim. Als wir gingen, war der Berg Zijon noch immer in Rauch gehüllt und der Tempel unseres Stadtgottes, so hieß es, sei geplündert. Ich habe es nicht selbst gesehen, aber man sagte uns, dass die Kasdim die Lade des Bundes zertrümmert hätten und den Altar zerschlagen; und die beiden Menorot und die goldenen und silbernen Gefäße, die sollen sie mit sich genommen haben. Und dann, dann kamen sie noch einmal und brachten das Feuer über uns.




Als ich die Häuser unseres Viertels brennen sah und dazwischen die Menschen nach Verschütteten suchen, da, da … Ihre Rufe nach Überlebenden … „Moscheh, Moscheh, wo bist du? Hörst du mich?“ und als keine Antwort kam, da wusste ich, dass uns unser Stadtgott verlassen hatte und dass das Ende gekommen war. Wenn brennende Häuser einstürzen, dann gibt es ein ganz seltsames Geräusch, ächzend, so als wehre sich das Haus gegen die drohende Zerstörung. Dann tut es einen dumpfen Knall und dann sacken die Mauern in sich zusammen – wie ein alter Mensch, der nicht mehr kann. Als ich sah, wie ein Mann, der nach seiner Frau suchte, von einem Türpfosten erschlagen wurde, hätte ich weinen wollen, doch ich konnte nicht. Ich starrte nur hin und sein Blut spritzte mir bis hoch zu den Schienbeinen, aber ich rührte mich nicht. Ich blieb dort stehen und hörte sein leises Wimmern und dann, dann war da nur noch das Lodern der Flammen, die über ihm zusammenschlugen.


Von diesen Dingen trennen mich viele, viele Tage, so viele, dass sie mit den Fingern zweier Hände nicht gezählt werden können. Und doch sind sie immer da: das Feuer, das Stöhnen der Menschen, die den Flammen nicht entkommen konnten, die ausgebrannten Ruinen einst prachtvoller Häuser. Und dann die harten, auf dem Boden hallenden Tritte der Kasdim …

Manchmal fahre ich des Nachts aus dem Schlaf hoch, hocke für einen Moment lang da und starre in die Finsternis, während mir das Herz im Leibe tobt. Mir ist dann schlecht – so sehr, dass ich mich übergeben könnte und ich brauche lange, um mich wieder zu beruhigen …




Wir sind wieder auf dem Weg, wandern so wie gestern und vorgestern und vorvorgestern. Meine Füße schmerzen und mein Rachen brennt. Ich würde mich am liebsten einfach irgendwo hinlegen und schlafen, ganz egal wohin, so erschöpft bin ich. Ich will einfach nicht mehr! Aber das geht nicht, denn niemand darf zurückbleiben. Niemand. Und wenn es doch einmal jemand tut, wird er dafür bestraft. Öffentlich. Die Kasdim wissen zu bestrafen und manch einer wünscht sich hernach, einfach tot zu sein.




Zwei Jahre belagerten die Kasdim unsere Stadt. Aber ganz am Anfang war es so, als ginge unser Leben einfach so weiter wie bisher: mein Vater arbeitete als Handwerker am Hof König Zidkijahus. Meine beiden ältesten Brüder gingen zur Schule und ich half meiner Mutter im Haus oder betreute meinen jüngsten Bruder Simche, der damals gerade 3 Jahre alt war. Ein süßes Kind. Pausbackig, quirlig, kess. Er kletterte überall herum. Einmal fand ich ihn sogar auf dem Dach unseres Hauses. Wie er da hinaufgekommen war, ist mir ein Rätsel, denn die Treppe zum Dach war steil und die Tür im Grunde immer verschlossen. Nun, er hatte es trotzdem irgendwie geschafft und stand einfach da – dieser kleine, nicht einmal 2 Ellen große Junge – und sah hinüber zu jenem Berg, auf dem die Davidsstadt mit dem stolzen Königspalast und dem Tempel unseres Stadtgottes erbaut war. Ich trat neben ihn. Er bemerkte es, streckte seinen kleinen Arm aus und deutete hinüber. „Da Abba.“ „Richtig“, erwiderte ich. „Dort arbeitet Abba.“


Zwei, drei Monate lebten wir noch so. Das, was sich vor den Toren der Stadt abspielte, was da geschah, kümmerte uns nicht! Wir lebten einfach weiter, denn uns fehlte es durch die Arbeit meines Vaters an nichts. Der Palast gab uns Rationen aus, von denen wir sehr gut leben konnten. Und auch in den folgenden Monaten bemerkten wir nicht viel von der Belagerung. Gut, der Dreck in der Stadt mehrte sich – so auch in unserem Viertel. Nur verschwandt der schnell wieder, denn Leute aus der Unterstadt fanden sich immer, die ein paar Schekel hinzuverdienen wollten. Auch dass wir nach dem ersten Jahr der Belagerung etwas weniger Brot bekamen, störte uns nicht, denn die Hauptsache war doch, dass unser Militär die Kasdim endlich in die Flucht schlug. Aber die Kasdim blieben und belagerten unsere Stadt weiterhin.


„Warum kommt niemand mehr aus der Unterstadt, um den Dreck wegzumachen?“, fragten wir unseren Vater eines Abends. Der presste die Lippen fest aufeinander und deutete ein Lächeln an.


„Weil sie sich da unten vor Hunger gegenseitig auffressen.“


„Was?“


Er nickte.


„Die fressen sich da unten auf?“


Wieder nickte er. „Die da unten bekommen keine Rationen. Die da unten …“


Er unterbrach sich, holte einige Male tief Luft und setzte dann wieder an:


„Wenn nicht bald etwas geschieht, dann …“


„Was dann?“


„Dann sind wir die nächsten.“


Ich wollte es nicht glauben, doch ein halbes Jahr später gab es auch für uns keine Rationen mehr und der Kampf ums Brot begann. Ein Efah Getreide kostete plötzlich 50000 Schekel. Und ein Log Wasser 10000. Menschen schleppten sich durch die Straßen unseres Viertels und durchsuchten den Dreck, der sich an den Hauswänden türmte. Sie aßen, was sie finden konnten … Abgemagerte Kreaturen mit aufgedunsenen Bäuchen.

Rufe wurden laut, Rufe, sich endlich zu ergeben. Auch die Kasdim, so hieß es, bevorzugten eine friedliche Lösung. Sie beabsichtigten nicht, uns etwas zu tun, sollten wir uns freiwillig ergeben. Einige Leute versuchten hierauf, zu den Kasdim überzulaufen.


„Abba sollten wir es nicht auch versuchen?“, fragte ich meinen Vater.


Der lachte hart auf: „Weißt du nicht, dass unsere Militärs jeden abschlachten, der es wagt ...“


„Aber ich habe auch gehört, dass sie einige Leute aus der Unterstadt durchgelassen haben …“


„Die?“, brauste er auf. „Auf die kommt es doch nicht an! Ob so ein paar Würmer zum Feind überlaufen, interessiert niemanden. Aber wenn wir es tun, dann wird diese Stadt fallen. Fallen wird sie und nicht wieder aufstehen!“


„Abba“, murmelte ich. „Aber wenn wir bleiben, dann werden wir auch sterben.“


Und er presste die Lippen noch fester aufeinander. „Umso mehr müssen wir hoffen …“


Aber es gab keine Hoffnung mehr. Zidkijahu, den Newuchadrezzar 11 Jahre zuvor an Jehojachims, unseres Königs, statt eingesetzt hatte, weigerte sich, die Stadt in die Hände der Kasdim zu übergeben.


„Alles für’s Militär!“, hieß es obendrein und er ließ Razzien durchführen. Von ihm eigens Beauftragte durchzogen die Straßen und gingen von Haus zu Haus. Zuerst dachten wir, dass sie nach verborgenen Reichtümern suchten. Aber das interessierte sie nicht. Sie wollten Getreide. Das wenige, was wir noch hatten, das nahmen sie uns.


„Wovon sollen wir denn leben?“, hörte ich einen Mann aus der Nachbarschaft brüllen.


„Friss doch deine Kinder!“, erwiderten sie ihm ganz ruhig.


Auch in unserem Viertel begann das Sterben. Es wanderte von Haus zu Haus und ohne anzuklopfen nahm es sich, wonach ihm verlangte. Einmal, als ich auf der Straße war, sah ich eine Tote, die man vor die Tür gelegt hatte. Auf ihrem Bauch ein sterbender Säugling.


Als die Kasdim am 9. des Monats Aw eine Bresche in die Mauer schlugen, kam die Stadt einem Totenhaus gleich, auf das die Sommerhitze erbarmungslos herabdrückte. Die Luft flirrte und schmeckte nach Dreck und Verwesung. Als es begann, hockten wir als Familie beisammen und hörten die dumpfen Stöße der Rammböcke gegen die Mauer schlagen. Niemand sagte ein Wort. Wir saßen nur da und sahen uns an, solange, bis es plötzlich still wurde. Mein Vater ballte seine Hände zu Fäusten und holte tief Luft.


„Es ist vorbei“, sagte er leise. „Der Ewige möge uns beistehen!“


Aber der Ewige stand uns nicht bei und die Kasdim kamen von überallher, trieben uns aus unseren Häusern und drängten uns auf offenen Plätzen wie Vieh zusammen.


Dort standen wir zu hunderten beisammen – einen Tag, zwei Tage – ohne Essen, ohne Wasser. Niemand wusste, was sie mit uns vorhatten. Dann plötzlich begannen sie durch unsere Reihen zu gehen.


„Du und du und du – mitkommen“, riefen sie scheinbar willkürlich, bis meine Mutter plötzlich die Hände vor den Mund schlug: „Sie holen sich die Mädchen!“


Ich verstand nicht, spürte nur, wie mich mein Vater zur Seite drängte, als ein Kasdu an uns vorbeiging und ein Mädchen, das genau neben uns stand, aus der Reihe holte. Ich wagte kaum, meinen Blick zu heben.


„Ewiger“, hauchte meine Mutter, als die Kasdim die Mädchen wegtrieben. „Ewiger!“


Und wieder begannen sie durch unsere Reihen zu gehen und musterten jeden Einzelnen, Männer, Frauen, Kinder. Einige zwangen sie, den Mund zu öffnen, andere, sich zu entkleiden und Kniebeuge zu machen. Wer das nicht schaffte, wurde von den Kasdim solange getreten, bis er sich nicht mehr rührte. Ich sah, wie sie eine Frau an den Haaren fortschleiften. Ich sah, wie sie einem älteren Mann Tritte versetzten, bis sich um ihn herum eine Blutlache bildete. Ich sah, wie sie den Mann, der neben uns wohnte und die vielen Kinder hatte, zwangen, sich niederzuknien und seine beiden Hände auf einen Stein zu legen … Und dann … Das Bild seiner beiden blutigen Armstümpfe werde ich nie vergessen!


„Beruf?“, wurde mein Vater von einem Kasdu gefragt.


„Tischler bei Hof.“


„Muskeln?“


Mein Vater spannte seine Arme an.


„Alter?“


„35.“


„Familie?“


„Frau und vier Kinder.“


„Kniebeuge. Los, 10 Stück.“


Mein Vater tat es.


„Und noch einmal 50 Stück. Zack, zack und die da auch.“


Er deutete auf uns. „Mitmachen!“


Wir taten es.


„Arme nach vorne und beim Hochkommen springen!“


Wir taten es.


„Und jetzt 10 Liegestütze – du allein.“


Er deutete wieder auf meinen Vater.


„Und noch einmal 20.“


Und wieder ging mein Vater in die Knie.


„Hat die schon ihre erste Blutung gehabt?“, wollte der Kasdu dann plötzlich wissen und deutete auf mich.


„Nein“, erwiderte mein Vater.


Einen Moment lang musterte mich der Kasdu, dann notierte er sich etwas und nickte. „Los, da rüber!“


Rasch stellten wir uns zu den anderen, die den gleichen Befehl erhalten hatten. Und als ich zu meinem Vater aufsah, bemerkte ich, dass er kreidebleich im Gesicht war, ebenso wie meine Mutter.


Wieder ließ man uns stehen, warf uns aber Brot hin und reichte Wasser herum. Doch obwohl wir so großen Hunger und Durst hatten, aßen und tranken wir nichts.


„Ihr kommt nach Bawel“, hieß es dann. „Holt euch Sachen aus euren Häusern – keinen Hausrat, nur Kleidung und was ihr für die Reise benötigt. Wer zu fliehen versucht, wird ermordet!“


Ich holte mir nicht nur Kleidung, sondern nahm mir auch Tinte, eine Binse und Leder mit, um schreiben zu können.


Wir verließen Jeruschalajim noch im selben Tag, jeder mit einem Bündel auf den Schultern.




Ich weiß nicht, welches Schicksal das Schlimmere ist: ins Land der Kasdim weggeführt zu werden, in die Fremde, ins Ungewisse oder in einer Stadt leben zu müssen, die vollkommen zerstört ist und in der Hunger und Tod herrschen. Ich weiß es nicht. Ich bin zu schwach, um darüber nachdenken zu können. Ich konzentriere mich auf den Weg, der steinig und sandig ist. Jeder Schritt kostet Kraft. Ich gehe neben meiner Mutter her, gerade so schnell, dass wir nicht in den Verdacht geraten, zurückzufallen. Denn wenn das geschähe, wären sofort die Aufseher der Kasdim da. Ihnen aber möchte ich nicht noch einmal gegenüberstehen müssen. Niemandem von ihnen! Ich habe Angst vor diesen großen Männern, die sich selbst am Abend, wenn sie sich ihr Nachtlager bereiten, der Panzerwehr nicht entledigen.



Die Sonne brennt erbarmungslos vom Himmel herab, lässt uns schwitzen. Manch einer von uns blieb schon zurück, weil er die Hitze nicht mehr ertragen konnte. Vor wenigen Tagen erlebte ich es: Jehonatan, ebenfalls ein Handwerker, fühlte sich schon seit Tagen nicht wohl, aber war bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.


„Es geht, es geht“, sagte er immer wieder und winkte schweratmend ab.


Doch dann sah ich, wie er plötzlich aus dem Tross taumelte und schließlich zurückblieb. Als ich mich umsah, lag er bereits auf dem Weg. Ich hoffe, dass er schon tot war, ehe die Kasdim auf ihn einzutreten begannen.


Manchmal, wenn ich denke, dass es nicht mehr weiter geht, wenn jeder Schritt zur Qual wird, dann versuche ich an etwas Schönes zu denken, um mich abzulenken. Dann treten mir Bilder meiner Stadt vor Augen. Ihre bunte Pracht, das Frohlocken in ihren Straßen und Gassen – all das werde ich nie vergessen. Niemals. Wenn unsere Stadt tanzte, sich zu Tamburin und Trommeln in Reigen wiegte, dann hörte man das bis ins Kidrontal hinab. Und selbst im Tal Ben-Hinnom, wo sich unsere Kultstätten und die Gräber unserer Ahnen befinden, bekam man es mit, wenn oben in der Stadt gefeiert wurde. Und wie gefeiert wurde! Die Stadt schwebte von Fest zu Fest – wie eine Braut, leichtfüßig, grazil. Und bunt war sie, unsere Stadt, bunt von den Gewändern der jungen Mädchen und so gut riechend vom Parfum der edlen Damen und den vielen Gewürzen, die die Händler an allen Ecken anboten. Unsere Stadt besaß nicht umsonst den Beinamen Tochter Jeruschalajim. Die Tochter unseres Stadtgottes.


Nichts ist von all dem geblieben. Wir, die wir weggeführt werden, stinken vom Dreck und Schweiß der Wanderung und ich weiß, dass es Newuchadrezzar, dem König von Bawel, und Newusarardan, dem Obersten der Leibwache, einerlei ist, was mit uns geschieht. Ein Toter wird – und das weiß ich seit dem Vorfall mit Jehonatan – auf dem Weg liegen gelassen, den Geiern und dem Wild preis gegeben.


Ich kann mich dagegen nicht wehren. Wir alle können uns dagegen nicht wehren. Zwar sind wir so viele, mindestens 800 Menschen gegenüber einigen Kasdim, die uns begleiten, aber uns fehlt die Kraft zur Gegenwehr. Spätestens seitdem wir wissen, wie sie mit denen verfahren, die den Aufstand erproben. Secharjahu, ein junger Mann, vielleicht einige Jahre älter als ich, wagt es bei Schomron. Die Kasdim schlachteten zuerst seine Gefolgsleute ab, zerrten ihn dann aufs Feld und befahlen allen, die wir in seiner unmittelbaren Nähe auf dem Weg standen, sich um ihn zu scharen. Dann trat einer der Kasdim hervor, starrte Secharjahu, der da vor ihm kauerte, an, hob dann plötzlich das Schwert und ich, die ich nahe stand, um all das mitzubekommen, schloss die Augen und presste meine Hände auf die Ohren. Ich wollte nichts hören, nichts sehen. Einen Moment lang herrschte Stille, dann hörte ich einen langgezogenen, gellenden Schrei und ich war davon überzeugt, dass Secharjahu tot war. Als ich es wagte, die Augen wieder zu öffnen, da gaben die Kasdim zwei Männern von uns den Befehl, Secharjahu aufzurichten und ihn uns zu zeigen. Es wirkte so, als weinte er Blut.


„Seht genau hin! Das wird jedem geschehen, der es wagt, sich gegen Newuchadrezzar zu erheben!“, rief der Mann, steckte sein blutiges Schwert wieder in die Scheide und machte auf dem Absatz kehrt.


Die beiden Männer von uns führten ihn vom Feld wieder zur Straße hinauf. Dort gab ihm einer der Kasdim einen Schubs, sodass er taumelte und wie ein Irrer um sich tastete.


Erst da begriff ich, was geschehen war: Sie hatten ihm sein Augenlicht genommen – ebenso wie Zidkijahu. Ich sah, wie er geführt werden musste. Ja, sie ließen ihn weiterhin laufen, den ganzen Weg.


„Es war dumm, was Secharjahu getan hat“, sagte mein Vater, als wir am Abend beim Schein der Öllämpchen vor unserem Zelt sitzen und der heraufziehenden Nacht entgegensahen. „Sehr dumm.“


Nach diesem Ereignis habe beschlossen zu schreiben. Und heute ist Tag 1, obwohl wir schon so lange unterwegs sind. Heute ist Tag 1 meiner eigenen Zählung. Wenn ich nicht schreibe, dann halte ich es nicht länger aus; dann werfe ich mich auf den Weg und brülle und warte auf mein Schicksal.

Die Nacht hat sich über das Lager gebreitet. Alles erscheint so ruhig und friedlich. Neben mir das kleine Öllämpchen, das leise flackert, bevor ich es lösche, um zu schlafen – oder es wenigstens zu versuchen.

Tag 4
Ich habe das Tagebuch begonnen und schon schweige ich mich aus, aber ich konnte nicht schreiben.
 
Heute habe ich Secharjahu von weitem gesehen. Seine Augen sind noch immer blutverkrustet …
 
 
Tag 5
Wieder befinden wir uns auf dem Weg. Den Jordan, dem wir bis zum Kinneret gefolgt sind, haben wir längst hinter uns gelassen. Vor uns liegt nun der Aufstieg zum Lewanongebirge. Übermorgen, so haben uns die Kasdim gesagt, werden wir das Orontestal erreichen, vorausgesetzt, wir sind schnell. Aber was heißt schnell? Heißt es, dass wir in unserem jetzigen Tempo noch einen Tag mehr benötigen würden? Oder zwei? Niemand traut sich zu fragen. Wir gehen einfach weiter. Der Weg steigt rasch steil an und die ersten bleiben zurück …
 
Der Fluss!, seufzen einige aus der Gruppe. Endlich wieder frisches Wasser! Aber ob uns die Kasdim wirklich ans Wasser lassen, das weiß niemand mit Sicherheit. Vielleicht werden sie uns auch verschmachten lassen. Der Weg ist steinig, so wie gestern auch. Ich habe Kopfschmerzen und Durst und fühle mich schmutzig. Umso mehr sehne ich mich nach frischem Wasser.
 
 
Tag 8
Wir sehen auf das breite Tal des Orontes hinab, das von bewaldeten Bergen gesäumt ist. Unter anderen Bedingungen fände ich den Anblick der bunt blühenden Sommerwiesen schön, so aber gehe ich einfach nur weiter. Der Abstieg ist ebenso anstrengend wie der Aufstieg. Immer kommen kleine Steine ins Rollen und schlagen uns an die Hacken und die Waden oder sie durchbohren die dünnen Sohlen der Schuhe. Ich versuche nicht darauf zu achten, sondern konzentriere mich auf den vor mir liegenden Fluss, der am Morgen noch wie ein dünnes Rinnsal tief in der Ebene wirkte und sich jetzt, gegen Mittag, schon wie der dicke Körper eine blauen Schlange ausnimmt.
 
Am Abend haben wir die Quelle des Orontes erreicht. Die Kasdim teilen uns in Gruppen auf. Kleine Gruppen und noch einmal getrennt nach Männern und Frauen. Dann gibt man uns den Befehl, uns auszuziehen und in einer Reihe anzutreten. Eine ältere Frau weigert sich, weil sie sich nicht nackt zeigen möchte. Unser Aufseher kommt auf sie zu, packt sie am Haar und zieht sie mit sich fort. Aus der Ferne hören wir alle ihre Schreie gellen. Niemand wagt es, sich nach ihr umzudrehen. Dann kommt für uns der Befehl, ans Wasser zu treten, so nackt wie wir sind. Ich weiß, dass uns die Kasdim beobachten. Ich weiß es, aber die Angst, dass auch mir etwas Schlimmes geschehen könnte, wenn ich mich zu bedecken versuchte, lassen mich einfach nur auf die glitzernde Oberfläche des Wassers starren, ehe man uns den Befehl gibt, in den Orontes zu steigen. „Ihr stinkt wie Köter, wascht euch!“, heißt es.
 
 
Tag 9
Heute ist im Grunde nicht Tag 9, sondern Tag 12 oder 13. Ich habe seit Tagen schon nicht mehr geschrieben, weil ich zu müde war. Und ich weiß, dass ich auch weiterhin nicht jeden Tag werde schreiben können …
 
Die Menschen um mich her sind mir wie Fremde, obgleich ich doch all ihre Gesichter und Stimmen kenne. In Jeruschalijim noch kannten wir uns alle, hier nun schauen wir uns wohl in die Augen, wagen aber nicht, mehr als ein paar Worte miteinander zu wechseln. Wir sind ein schweigender Tross, weil es die Kasdim so wollen. Sie sagen, dass wir still zu sein hätten, also sind wir es. Nur unsere Schritte sind auf dem steinigen Boden zu hören. Manchmal hebe ich den Kopf und schaue mich in diesem Tal um. Von oben wirkte es so breit, hier in der Ebene sehe ich nur die von Pinien, Zedern und Eichen bewaldeten Berge, die hoch aufragen und den Blick einengen.
 
 
Tag 10 (nach meiner neuerlichen Zählung)
Wieder wurde uns der Befehl gegeben, uns zu entkleiden, diesmal auf dem Weg; gerade da, wo wir standen, sollten wir unsere Sachen niederlegen. Ich spürte, dass sich viele am liebsten geweigert hätten, doch sie taten es, zogen sich aus, weil sie alle wussten, was sonst geschehen würde. Vater, Mutter, Geschwister, sie alle nackt. Und nackt auch ich. So standen wir da und warteten auf weitere Befehle. Die aber kamen nicht. Man ließ uns einfach auf dem Weg stehen. Eine Stunde, zwei. Die Kasdim wanderten durch unsere Reihen und blieben vor einigen jungen Mädchen stehen. Dann gaben sie den Befehl: „Du und du und du – mitkommen!“
 
Man packte sie am Arm und führte sie weg. Als ich mich nach meiner Mutter umsah, bemerkte ich, dass ihre Lippen bebten und mein Vater hielt seine Hände zu Fäusten geballt.
 
Die Sonne wanderte bereits gen Abend, als man uns endlich den Befehl gab, weiterzugehen. Einige von uns rafften daraufhin ihre Kleider zusammen und wollten sie anziehen, doch die Kasdim lachten uns nur aus. „Nackt“, riefen sie.
 
 
Tag 11
Heute war ein seltsamer Tag. Seltsam, weil wir uns wieder auf dem Weg entkleiden sollten, doch diesmal wurden wir zum Fluss geschickt, um zu baden, ohne dass die Kasdim gekommen wären. Seltsam aber auch, weil ich heute einen Mann gesehen habe, der mir zuvor in unserer Gruppe noch nicht aufgefallen war. Im ersten Moment dachte ich, es wäre einer der Kasdim, der ebenfalls ein Bad nehmen wollte, doch das konnte nicht sein. So nah bei uns badeten sie nicht! Der Mann stand etwas abseits und mit dem Rücken zu uns und ließ seine Hände über das Wasser gleiten. Diesen Anblick werde ich meinen Lebtag nicht vergessen. Wir anderen standen da wie zu Stein erstarrt, weil wir fürchteten, dass die Kasdim etwas mit uns anstellen könnten, ihn aber schien all das nicht zu stören, denn wieder glitten seine Hände übers Wasser, so als streichelten sie es. Ich stand nah bei meiner Mutter und meinen Geschwistern und hatte ihn gut im Blick. Im ersten Moment überlegte ich, ob ich meine Mutter auf ihn aufmerksam machen sollte, unterließ es dann aber, weil das zu viel Aufsehen erregt hätte. Und jede Unruhe in der Gruppe ist gefährlich. So beobachtete ich ihn nur weiter, während ich mich wusch und ich wunderte mich, wie er bei all dem so ruhig, so entspannt sein konnte.
 
 
Tag 12
Ich hielt heute Ausschau nach diesem Mann, aber ich sah ihn nicht. Wie kann das sein? Wo ist er hin? Gehört er doch zu den Kasdim?
 
 
Tag 14
Wer bin ich eigentlich? Was will ich? Es ist seltsam, aber je weiter ich an diesem Fluss entlanggehe, desto weniger weiß ich, wer ich eigentlich bin. Was mich ausmacht? Früher, als ich klein war, habe ich meine Mutter immer gefragt, ob sie mich hübsch fände. Sie bejahte es, doch welche Mutter würde das nicht tun? Früher fragte ich meinen Vater, ob ich auch Handwerker werden könne, so wie er. Und er grinste mich nur an und ich wusste, was er mir damit sage wollte. Ich kenne meinen Vater. Wenn er grinst, heißt das Nein. „Aber ich will es!“, beharrte ich. „Ich will, will, will.“ Wieder grinste er nur.
 
Ich wollte also hübsch sein und Handwerker werden. Stattdessen ging ich – als Kind der Oberschicht – in eine Art Schule und lernte lesen und schreiben. Dafür bin ich dankbar, sonst könnte ich meine Gedanken jetzt nicht festhalten. Das Leder, auf dem ich schreibe, und die Tinte habe ich unter meinen Sachen fortgeschmuggelt.
 
Wenn ich das jetzt so niederschreibe, dann erscheint es mir so weit weg zu sein, ebenso wie die abendlichen Spaziergänge durch die engen Gassen Jeruschalajims, die sich erst zu einer bestimmten Zeit mit Leben fühlten. Ging man davor hinaus, war man allein, aber nie wirklich einsam, weil man von irgendwoher immer Stimmen hörte. Sei es aus einem Fenster, sei es aus einem Hauseingang. Ich vermisse die kühlen Mauern der Häuser, die schattenspendenden Bäume, das Meckern der Ziegen und Schafe in den Tälern rings um die Stadt. Ich vermisse die Oliven, die wir frisch vom Baum aßen. Ich vermisse meine Freunde, mit denen ich Murmeln spielte …
 
„Komm schon Michal, komm schon.“
 
„Ja, ja.“
 
„Mach schnell, wir wollen doch zum Ölberg.“
 
„Jaha.“
 
„Wenn du noch langsamer wirst, müssen wir dich schieben.“
 
„Nein, ich komm ja schon.“
 
Wir konnten es, wir durften es – allein durch die Stadt ziehen. Wer sollte uns auch etwas tun? Wer? Selbst die Unterstadt, die wir eigentlich mieden, war uns nicht Feind. Die Stadt gehörte uns – uns Kindern. Wir kannten jeden Händler, ja selbst jeden Torwächter, die uns in ihrer brummigen Art doch freundlich grüßten und uns daran erinnerten, die Stadt nicht allein zu verlassen. Aber wir taten es trotzdem, denn was sollte uns schon geschehen?
 
Wir freuten uns auf die Markttage an jedem dritten und fünften der Woche, denn dann kamen die fremden Karawanen mit Produkten aus aller Herren Länder in unsere Stadt. Kleider, gut riechende Gewürze, geheimnisvolle Öle, die sich nur die allerreichsten Frauen leisten konnten – oder deren Männer, wenn sie, wie mein Vater einmal verlauten ließ, ein schlechtes Gewissen hätten, weil sie einmal zu wenig bei ihrer eigenen und stattdessen bei einer jener Frauen gelegen hatten, die ihre Dienste für Geld anbot. Aber das störte mich nicht. Ich, ich stand mit meinen Freunden nur da und inhalierte den Duft der Fremde. Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, woher all diese schönen Dinge kämen. Woher nur? Einmal sagte uns ein Händler, ein schon etwas älterer Mann, dass er feinste Stoffe aus Mizrajim hätte. So weich wie eine Feder und so kühl wie der schattigste Schatten im Sommer, wenn die Sonne auf die Häuser niederbrennt.
 
„Wirklich?“
 
„Ja …“, grinste er. „Wollt ihr mal fühlen?“ Er hielt uns den Stoff hin. Und es stimmt: der Stoff war so weich, er perlte beinahe wie Wasser an meinen Finger ab. Unwillkürlich fuhr ich mit der Hand über ihn.
 
„Na, na, macht ihn mir mit euren Kinderhänden nicht schmutzig. Der ist nämlich bestellt. Nachher kommt nämlich jemand aus dem Königshaus und holt ihn ab.“
 
Wir sahen den Händler an.
 
„Guckt nicht so – aus dem Stoff lässt sich das feinste Gewand machen.“
 
Augenblicklich stellte ich mir vor, wie sich der Stoff am Körper anfühlen würde.
 
„Das allerfeinste – für die Mutter des Königs.“
 
„Oder für die Prinzessin“, flüsterte Hannah, meine beste Freundin, und sah den Händler ganz versonnen an.
 
Ja, der Stoff, der fühlte sich wundervoll an und jeder, der ihn tragen durfte, konnte sich glücklich schätzen. Er war ganz und gar nicht mit dem zu vergleichen, was wir als Kinder trugen. Zwar ebenso Leinen, das uns vor der Hitze schützen sollte, doch waren unsere Kleider grau und sehr viel gröber gearbeitet. Man sah an einigen Stellen sogar noch die Halme, aus denen es gewirkt war. Und dann kratzte es auch manchmal auf der Haut – furchtbar.
 
Dieser Stoff hier allerdings besaß eine so feine Maserung, war so fein gesponnen, dass man die einzelnen Fasern mit bloßem Auge kaum voneinander unterscheiden konnte. Wie kühles Wasser an einem heißen Tag glitt er über meine Hände.
 
„Hast du noch ein wenig davon?“, fragte ich den Händler. Dieser aber schüttelte den Kopf. „Dieser Stoff ist so selten und so teuer …“
 
„Wie viel kostet ein Stück?“
 
„Mehrere 100.000 Schekel und nun macht, dass ihr Land bekommt“, grinste der Händler und wollte uns schon vertreiben, als er plötzlich in seine Tasche griff. „Na, na, nicht traurig sein. Ich hab hier etwas für euch – auch aus Mizrajim. Eine Freude für alle Kinder.“
 
Und er hielt uns Murmeln hin. Die schönsten, die wir je gesehen haben. Sie leuchteten im Sonnenschein und waren durchsichtig. Wirklich, wenn man sie sich vor die Augen hielt, konnte man hindurchsehen. Und dann waren da auch bunte, die in allen Farben leuchteten.
 
„Nehm euch ein paar und dann verschwindet.“
 
Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Ich nahm mir eine halbdurchsichtige. Hannah eine hellgrüne und Tovia, ihr Bruder, suchte sich eine rote aus.
 
„Los, und jetzt zur Gihon-Quelle“, rief Hannah, die den schönen Stoff schon wieder vergessen zu habe schien.
 
„Ob sie uns da rein lassen?“, hörte ich Tovia, der Mühe hatte, seiner Schwester zu folgen.
 
„Das müssen sie!“
 
Ja, Hannah war eine ganz Resolute. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann kannte sie nichts. Ich hingegen ging langsam weiter und blieb an einem Stand mit frischem Obst stehen. Da lagen Datteln und Orangen und … wieder schloss ich die Augen und sah mich in einen Gewand aus diesem feinen Stoff. Wie ich hier langging und einkaufte. Das und das – was immer ich wollte.
 
„Kommst du endlich, du Trantute?“
 
Hannah stand breitbeinig vor mir, die Hände in den Seiten. Sie wirkte manchmal wie ein Junge. Und ich, ich gab ihr einen Klaps auf die Schulter und konnte nur grinsen.
 
Wer bin ich jetzt? Wer? In grobes Sackleinen gehüllt bin ich, wie die anderen auch – egal ob Mann, Frau oder Kind, und gehe immer neben meiner Mutter. Auch bin ich immer darum bemüht, dass meine Familie niemals am Rand geht, denn dort sind die Kasdim und wenn sie Lust haben, nehmen sie sich einen von uns heraus ...
 
Ich gehe den Orontes entlang, gehorche, wie alle anderen auch, den Befehlen dieser Männer und hoffe, nicht aufzufallen, denn ich würde es nicht aushalten, wenn einer der Kasdim vor mir stehen bliebe und mich zwei Stunden – oder gar nur einen Moment – anschauen würde.
 
Wo sind die Mädchen hin, die die Kasdim vor Tagen verschleppten? Niemand hat seither etwas von ihnen gehört. Die Familien, aus denen sie gerissen wurden, verhalten sich still, so wie wir alle. Nur einmal schrie eine Mutter laut auf. Weil sie das tat, musste auch sie aus der Gruppe treten. Und wir anderen mussten an ihr und dem Kasdu, der neben ihr stand, vorbei … Seither weiß niemand, was mit ihr geschah.
 
„Der Tod ist das Gnädigste“, sagte mein Vater.
 
Bloß nicht auffallen. Auch wenn ich schreien möchte, reiße ich mich zusammen und beiße mir lieber auf die Unterlippe oder – noch besser – auf die Innenseiten meiner Wangen, als auch nur einen Ton von mir zu geben. Ich weiß, dass die Kasdim auch mich holen könnten – jeden Moment könnten sie das tun. Jeden. Ich bin nicht anders als die Mädchen, die sie bisher wegnahmen. So etwas, was der Mann vor wenigen Tagen im Wasser getan hat, würde ich mich niemals trauen. Der Befehl lautete, sich zu waschen. Nur das!
 
Aber woran mochte er gedacht haben, als er da so stand und seinen Blick gen Abend richtete? Das frage ich mich, aber ich werde es wohl nie erfahren, denn auch heute habe ich ihn nicht gesehen.
 
Aber auch ich stand oft so da und sah von der Davidsstadt hinab ins Tal, in die gebirgige Weite von Jehudah. Das machte Spaß. „Fliegen wie ein Vogel so hoch und so weit!“
 
Hätte ich jetzt nur Flügel, ich würde mich zu den Bergen des Lewanon emporschwingen, so weit, so hoch, damit ich das Meer sehen könnte.
 
Ich weiß nicht, wer ich jetzt bin. Ich höre nur auf das, was uns die Kasdim sagen und tue es, in der Hoffnung dadurch weiter leben zu können. Und wenn sie uns in der Nacht mit Hörnerschall wecken und wir uns vor unseren Zelten aufstellen müssen, damit sie uns zählen können, dann tue ich es, ebenso wie mein Vater, meine Mutter und meine Geschwister. Wir tun es. Und wir bleiben dann auch die ganze Nacht über dort stehen oder wandern weiter, wenn es die Kasdim so wollen.
 
 
Tag 20
Ich glaube, ich habe seit sechs Tagen nichts mehr geschrieben, nicht, weil nichts geschehen wäre, sondern weil ich keine Kraft fand. Wir wanderten vom frühen Morgen an bis tief in die Nacht hinein. Dann befahlen uns die Kasdim, unsere Zelte aufzuschlagen. Einige aber hatten dazu keine Kraft mehr ... Und ich kann und will nicht aufschreiben, was mit denen geschah … Warum behandeln uns die Kasdim so? Was haben wir ihnen denn bloß getan?
 
Ich habe ein kleines Mädchen brüllen sehen. Es stand einfach neben ihren toten Eltern und steckte den Finger in den Mund.
 
„Wenn du es nicht zu dir nimmst“, rief einer der Kasdim meinem Vater zu, „… dann bring es um!“
 
Das war vor fünf Tagen, glaube ich, seitdem zählt unsere Familie ein Mitglied mehr. Das Mädchen heißt Hannah, so wie meine einstige beste Freundin, und zeigt uns auf die Frage, wie alt sie sei, einmal drei, dann wieder vier Finger. In den Nächten erwacht sie und ruft nach ihrer Ima und ihrem Abba. Meine Mutter nimmt Hannah dann in den Arm und versucht sie zu beruhigen. „Ich bin doch da“, flüstert sie und streicht Hannah über den Kopf. Am anderen Morgen erkenne ich dunkle Ringe unter Mutters Augen und habe Angst, dass sie den langen Weg nicht schafft, weil Hannah sie in der Nacht wach gehalten hat. Und in der Tat wankt sie leicht, als die beiden neben mir stehen. Was, wenn auch meine Mutter vor Schwäche zusammenbricht?
 
Hannah ist am Tag ein ruhiges Mädchen. Vielleicht aber hat sie auch verstanden, dass in der Gruppe Ruhe zu herrschen hat. Ich weiß es nicht. Manchmal, wenn sie nicht mehr kann, dann nimmt sie mein Vater auf den Arm, manchmal läuft sie auch an meiner Hand weiter. Sie läuft einfach mit, den Blick geradeaus gerichtet, so als wüsste sie um ihr Schicksal. Nur in den Nächten, da weint sie eben und wir haben uns abgesprochen: Jeder nimmt sie einmal und tröstet sie. Vater, Mutter und ich. Meine drei Geschwister, Schimschon, Jochanan und Simche sind zu jung dafür. Ich mache es nicht gern, denn diese nächtlichen Wachen lassen die tägliche Wanderung zur Strapaze werden. Vor allem, wenn die Sonne im Zenit steht, wünsche ich mir, einfach zurückzubleiben. Ganz egal, was dann geschieht ... Aber ich tue es nicht, ich gehe weiter.
 
Und dann sehe ich diesen Mann am Abend wieder. Plötzlich steht er ganz in der Nähe meiner Familie, hält die Arme auf dem Rücken verschränkt und sieht zum Nachthimmel hinauf. Einen Moment lang bin ich versucht, zu ihm hinüber zu gehen und ihn zu fragen, was er da tut, denn wieder steht sein Verhalten im Gegensatz zu dem aller übrigen um ihn herum. Aber dann kommt mir wieder der Verdacht, dass er einer der Kasdim ist, der uns ausspionieren will. Wer sonst könnte es sich leisten, einfach nur da zu stehen? Und ich wende mich ab. Doch just in dem Moment, als ich meinen Eltern beim Zeltaufbau helfen will, sehe ich, wie Hannah zu ihm hinüber geht, sich neben ihn stellt und ebenso wie er in den Nachthimmel blickt. Mir bleibt fast das Herz im Leib stehen! Schon habe ich den Mund geöffnet und will Hannah nachrufen, als sie den Arm hebt und hinauf in den Himmel deutet. Ich beiße mir auf die Faust und kann meiner Mutter gerade noch andeuten, dass Hannah bei diesem Mann steht, als dieser zu uns hinüber sieht.
 
„Ist das deine Tochter?“, fragt er mich und lächelt mich an. Ich bin wie gelähmt und kann nicht reagieren.
 
Ich hasse diese Angst! Diese ständige Angst, uns könnte etwas Schreckliches geschehen!

GLOSSAR
 
- Lewanon(-gebire): Libanon(-gebirge)
 
- Schalom alejchem!: hebr., Friede sei mit euch!
 
- David, Schelomoh: Vater und Sohn; die beiden einzigen Könige Jisraels,  unter denen es angeblich (lt. Bibel, vgl. 2 Sam u. 1 Kön etc.) eine geeinte Monarchie gegeben haben soll, was jedoch sehr zweifelhaft ist.
 
- Jitzchak, Ja’akow: gelten zusammen mit Awraham als die Erzväter der Jisraeliten (vgl. Gen) und mithin der heute lebenden Juden.
 
- Baruch hu!: hebr., Gelobt sei er! ‚Er‘ gilt als Synonym für Adonaj / den Ewigen = Gott.
 
________________________________________________________
 
Tag 21
Hannah möchte nicht ins Bett, bevor sie nicht in den Nachthimmel hat sehen können.
 
 
Tag 22
Wir haben das Lewanongebirge schon vor Tagen hinter uns gelassen. Vor uns öffnet sich eine weite Hochebene.
 
 
Tag 23
Wir übernachten heute nahe einer Ruine, die auf einem Hügel direkt am Orontes liegt. Es heißt, dass es sich bei diesen Mauerresten um einen Teil einer mehr als 1000 Jahre alten Stadt handelt, die einst Qatna hieß. Auf dem Hügel soll es einen Palast geben. Mir ist das alles egal, weil ich müde bin und schlafen möchte.
 
Außerdem hat es leicht zu regnen begonnen und meine Mutter ist verzweifelt, weil sie nicht weiß, wie sie Hannah erklären soll, dass der Blick in den Nachthimmel heute ausfallen muss. Vielleicht, so überlegt sie leise, sollte sie Hannah eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte über den großen König David und seine Heldentaten? Oder Schelomoh, seinen weisen Sohn? Oder über Ja’akow und Jizchak, die das Land Jisrael lange, bevor wir geboren wurden, mit ihren Herden durchzogen? Die gleichen Geschichten, die sie auch uns erzählte. Sie wirkt aufgelöst, weil auch sie so müde ist und nicht weiß, wie sie Hannah ruhig stellen soll.
 
 
Tag 24
Der Regen hält an.
 
Wir haben Hannah ein Tuch um den Kopf gebunden, damit sie nicht so nass wird. Die Kasdim zwingen uns, weiterzugehen. Durch den Schlamm, der bis hoch an die Rocksäume spritzt. Zu unserer Linken ist der Fluss und ich wünsche mir trotz des Regens und der kälteren Temperaturen, dass uns die Kasdim heute Abend wieder den Befehl geben, zu baden. Hannah läuft an der Hand meiner Mutter, mein Vater neben ihr. Meine drei kleineren Geschwister und ich hinter ihnen. Plötzlich sehe ich vor uns diesen Mann wieder. Er läuft am Rande, dort, wo die Kasdim entlang zu gehen pflegen. Auch Hannah hat ihn entdeckt und reißt sich von meiner Mutter los. „Der Sternemann“, ruft sie und läuft, noch ehe wir es verhindern können, zu ihm. Und er, er nimmt sie einfach auf den Arm ohne sich umzusehen. So geht er weiter mit ihr. Schon will ich los, doch meine Mutter hält mich zurück und deutet nur mit ihrem Blick nach rechts. Aus dem Augenwinkel kann ich gerade noch erkennen, dass neben dem Mann einer der Kasdim geht. Ich sehe, wie er zuerst das Wort an diesen Mann richtet und ihn dann mit Hannah auf dem Arm aus der Reihe treten lässt. Wir können nichts anderes tun, als an ihnen vorüberzugehen, so wie vor Tagen an dieser Frau, die ihre Tochter beweinte. Das Letzte, was ich sehe, ist, dass der Kasdu den Mann zwingt, Hannah abzusetzen und sich selbst niederzuknien. Und dann höre ich einen Schrei und schließe die Augen.
 
Erst viel später an diesem Tag komme ich wieder zu mir. Da sind Mutter und Vater und meine drei Geschwister. Sie laufen alle schweigend neben mir her. Ich fühle die Hand meiner Mutter in der meinen. Sie ist eiskalt. Und mir zittern bei jedem Schritt die Knie.
 
Als wir am Abend unser Zelt aufbauen, will ich etwas sagen, doch weiß ich nicht, was. Also schweige ich. Meinem Vater geht es offensichtlich ebenso, denn er tut so, als hätte er mit der Konstruktion des Zeltes zu tun. Meine Mutter hockt daneben und starrt vor sich hin. Nur Simche, mein kleinster Bruder, stellt die Frage, die wir uns alle nicht zu beantworten trauen: „Ist Hannah tot?“
 
Wir schauen ihn an und er zuckt unwillkürlich zurück.
 
„Ja, das ist sie“, flüstert mein Vater und meine Mutter schlägt die Hände vors Gesicht: „Sie war doch so klein. So klein! Zuerst ihre Eltern und jetzt sie … was musste sie auch zu diesem Mann gehen. Hätte ich sie doch nur besser festgehalten!“
 
Sie jammert und schlägt die Hände vors Gesicht.
 
„Es ist nicht deine Schuld“, versucht mein Vater sie zu beruhigen.
 
Ich halte es nicht mehr aus, muss ins Zelt. Ich greife mir mein Bündel, presse es mir aufs Gesicht und weine. Endlich kann ich, endlich darf ich. Immer wieder kehren meine Gedanken zu diesem Moment zurück, da Hannah zu diesem Mann gegangen, er sie hochnahm, einige Schritte mit ihr ging, um dann von dem Kasdu aus der Reihe geholt zu werden. Warum tun sie uns das an? Warum sind sie so grausam? Nur weil ein kleines Mädchen aus der Reihe tritt und ein Mann sie auf den Arm nimmt?
 
Es ist reine Willkür, mit der sie morden. Reine Willkür. Es hätte jeden von uns treffen können. Jeden. Ich weiß, dass sie uns, die wir weiter gehen, nicht nur demütigen, sondern auch brechen wollen. Brechen. Ich weiß es. Ich schniefe in mein Bündel. Es ist nass von meinen Tränen.
 
Ich höre Mutter neben mir sprechen. Sie sagt etwas. Zu mir. Aber ich kann nicht verstehen, was. Wieder sagt sie es und dann spüre ich eine Berührung am Arm. Sie ist mir nah, das weiß ich, denn ich spüre ihren Atem auf der Wange.
 
„Beruhige dich, es ist alles gut“, sagt sie und ich fahre hoch.
 
„Alles gut? Alles gut?“
 
Sie nickt nur, dann erhebt sie sich und geht zum Zelteingang. „Komm!“

 
So einen Tag wie diesen möchte ich nie wieder erleben, und doch weiß ich, dass es noch Dutzende solcher Tage geben wird. Tage der Verzweiflung, der Zermürbung. Jetzt, da ich erneut auf meinem Lager liege, treten mir wieder Tränen in die Augen. Hannah ist nicht tot. Hannah lebt. Sie liegt in meinem Arm und schläft. Noch brennt meine Öllampe, sodass ich sie in ihrem Schlaf betrachten kann. Ihre leicht gewölbte Stirn, die geschlossenen Augen, die langen schwarzen Wimpern, den geschwungenen Mund und die Bäckchen. Ich streiche ihr mit einem Finger über die Stirn und schniefe. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hinausgegangen, denn plötzlich ist mir hier im Zelt alles zu klein. Ich habe das Gefühl, zu ersticken, wenn ich nichts tue. Aber ich darf nichts tun, denn die Kasdim sind uns nah. Sie überwachen uns. Wer sein Zelt verlässt … Ach, verdammt! Ich hasse dieses Leben. Ich hasse diese Angst.
 
Vielleicht hätte ich vorhin einfach loslachen sollen, als dieser Mann mit Hannah auf dem Arm vor unserem Zelt stand und sagte: „Der Kasdu packte mich am Ohr und fragte mich, ob dieses kleine Mädchen meine Tochter sei. Ich bejahte und dann fragte er, wo ihre Mutter sei und ich sagte …“ Er unterbrach sich und deutete auf mich und senkte den Blick. „Es tut mir leid“, fügte er hinzu. Niemand sagte ein Wort. „Und dann fragte mich der Kasdu, warum wir dann nicht zusammen gehen würden und ich sagte ihm, dass wir uns gestritten hätten und er sagte nur: ‚Vertrag dich wieder mit ihr, sonst bringe ich dich um.‘ Das ist es. Mehr ist nicht geschehen. Nur, dass mich der Kasdu lange daran hinderte, weiterzugehen und wir dann den Weg fast gerannt sind.“
 
Wir standen wortlos vor dem Mann, der über und über verdreckt war.
 
„Es tut mir so leid“, wiederholte er.
 
Mein Vater schüttelte den Kopf, trat einen Schritt auf den Mann zu und reichte ihm die Hand.
 
„Schalom, Bruder. Heute ist ein Glückstag für uns. Du hast uns unsere Tochter wiedergebracht“, sagte er und legte ihm die Hand auf die Schulter.
 
„Ich bin Jehoschua, das ist Jedidah, meine Frau und das sind Michal, Jochanan, Schimschon und Simche, meine Kinder.“
 
„Schalom, Bruder, ich bin Jechonja.“
 
„Wie der Sohn unseres Königs Jehojachim?“, fragte mein Vater.
 
Er nickte. „Nur ein paar Tage älter als der“, lachte Jechonja. „So, und jetzt werde ich gehen. Schalom alejchem!“
 
„Nichts da, du isst mit uns, denn du bist ab heute unser Bruder“, erwiderte mein Vater.
 
„Danke“, begann Jechonja und lächelte. „Und es tut mir wirklich leid, euch da mit hineingezogen zu haben. Ich hätte ja auch sagen können, dass ich der Großvater oder Onkel von Hannah bin“, fügte er hinzu, sah sich um und fuhr sich durchs leicht ergraute Haar. In der Tat schien er um einiges älter als meine Eltern zu sein. „Aber darauf bin ich leider in diesem Moment nicht gekommen“, beendete er seinen Satz.
 
„Das macht doch nichts“, erwiderte mein Vater und zuckte mit den Schultern. „Baruch ha Schem! Ihr beide lebt!“
 
„Und Hannah? Sagte sie nichts?“, fragte meine Mutter.
 
„Nein, sie war ganz still. Ein kluges, kleines Mädchen.“
 
„Wir haben sie erst vor einigen Tagen aufgenommen, weil ihre Eltern umgebracht wurden“, sagte mein Vater.
 
Jechonja nickte nur und nahm einen Bisschen, dann holte er tief Luft, gab ein kleines Seufzen von sich und sagte: „Wir haben Glück.“
 
„Was? Glück?“, ließ ich mich vernehmen und er sah mich einen Moment lang an.
 
„Ja, Michal, Glück. Wie dein Vater schon sagte, leben wir. Immerhin hätte es ja auch anders kommen können.“
 
 
Tag 25
Jechonja ist heute den ganzen Weg mit uns gegangen und nahm Hannah auch ab und zu hoch, wenn sie nicht mehr laufen mochte. Einmal schien es mir auch so, als sei sie auf seinem Arm eingeschlafen. Es besteht kein Zweifel, sie mag diesen Mann. Sie nennt ihn Konja, weil sie das Jechonja noch nicht hervorbringen kann. Meine Mutter nennt sie Dida und meinen Vater Schua. Ich bin Kal und meine Brüder Schon und Hannah. Immer wenn sie Jochanan anspricht, dann lacht sie: „Hannah wie ich.“ Und der findet das gar nicht toll, wie ein Mädchen zu heißen und verkriecht sich dann immer hinter unserer Mutter. Nur Simche heißt Simche.
 
 
Tag 26
Ich habe meine Eintragung des vergangenen Tages noch einmal gelesen und muss noch zwei Dinge hinzufügen: Am Abend war der Himmel wieder klar und Hannah stand wieder neben Jechonja … und ich fühle mich seit langer Zeit wieder unbeschwert.
 
Wieder regnet es, nur diesmal so stark, dass wir nicht weiterziehen müssen. Die meisten nutzen die Zeit, um sich auszuruhen. Auch ich werde das tun, doch vorerst möchte ich einen Blick hinaus werfen.

 
Unser Lager befindet sich auf einer Art Hochufer, das den Blick auf den Verlauf des Flusses freigibt, der sich wie eine Schlange durch das Land hindurchbewegt. Ein seltsamer Anblick. Ich stehe nur da und weiß nicht, was ich denken und fühlen soll. Aber vielleicht kommt es darauf auch nicht an. Ich hole tief Luft. Ich bin hier. Ich lebe. Hannah lebt. Meine Eltern leben. Meine Geschwister ebenso und auch Jechonja. Dass es noch immer regnet, meine Sachen schon fast durchnässt sind, stört mich nicht. Ich bleibe stehen, dann setze ich mich auch und fahre mit der Hand durch die lehmige Erde nahe dem Fluss. Sie ist weich und klebt leicht. Ich nehme ein wenig in die Hand und beginne es zu formen, dann hebe ich es an meine Nase. Es riecht fremd, aber nicht abstoßend. Es ist das Land, in dem ich mich gerade befinde, am Orontes, der träge dahinfließt. Der Regen steht wie eine gläserne Wand über diesem Fluss und dahinter erhebt sich dunkel das Gebirge. Ein Anblick, den ich wohl meinen Lebtag nicht vergessen werde.
 
„Michal“ höre ich es rufen und wende mich nur widerwillig um. Da stehen Vater, Jechonja und meine Brüder. Ein jeder eine Schnur in der Hand.
 
„Die Kasdim haben uns erlaubt, zu fischen und uns frei zu bewegen.“
 
„Wirklich? Ist das wahr?“
 
Vater nickt.
 
„Wie kommen sie dazu?“
 
„Ich weiß es nicht“, erwidert er.
 
„Vielleicht wollen sie zur Abwechslung einmal fröhliche Gefangene sehen?“, sagt Jechonja und lächelt.
 
Ich sehe ihn einen Moment lang an und er nickt mir zu.
 
Gemeinsam steigen wir vom Hochufer zum Fluss hinab. Wir stehen alle klitschnass am Wasser, jeder eine Angel in der Hand und ich begreife, dass hier gerade etwas ganz Seltsames geschieht, denn unter normalen Umständen wären wir bei Regen nicht draußen. Aber jetzt, jetzt ist alles anders. Und wenn ich mich am Ufer umsehe, dann bemerke ich da noch vielmehr Menschen, die alle fischen. Aufgereiht wie die Perlen an einer Schnur, so stehen wir da. Und auch ihnen ist es ganz egal, ob sie nass werden. Und ehe ich’s mich versehe, bücke ich mich und nehme mir eine Hand voll Lehm, forme ihn und werfe ihn ins Wasser.
 
„Na, he, was machst du denn? Vertreibst uns ja alle Fische“, höre ich meinen Vater rufen, doch mich hält es nicht mehr. Und obwohl ich Angst davor habe, dass die Kasdim kommen könnten, um uns etwas anzutun, werfe die Angel weg und beginne zu springen, dann renne ich los und schließlich höre ich mich auch schreien. Ich kann es nicht mehr länger anhalten. Es muss raus! Und ich schreie so lange und laut, bis ich nicht mehr kann und mir die Tränen in die Augen schießen, dann lasse ich mich einfach fallen. Ganz egal, ob es glitschig ist, denn dreckig und nass bin ich sowieso schon. Und ganz egal, ob sie Kasdim jetzt kommen und mich packen! Sollen sie doch! Sollen sie mich an den Haaren wegziehen … Ich wühle im Lehm herum und sehe meinen Händen dabei zu, wie sie immer tiefer gleiten. Dann packe ich den Lehm, forme kleine Klekse und werfe sie, egal wohin, bis ich plötzlich von einem ebensolchen Kleks getroffen werde und innehalte. Simche steht vor mir, feuerrot im Gesicht und hinter ihm erkenne ich Jochanan und Schimschon. Plötzlich umringen sie mich und kreischen und rufen sich etwas zu und schon spüre ich viele Klekse auf der Haut. Ich hab gar nicht so viele Hände, wie ich Klekse formen müsste, um diese Übermacht abzuwehren. Ich schreie und werfe die Arme wild in die Luft. Dann schnappe ich mir Simche und raufe ihn, bis er laut krakeelt.
 
Als wir nach einer Weile wieder bei meinem Vater und Jechonja angelangt sind, schauen die uns nur mit großen Augen an. Jechonja findet die Sprache als erster wieder: „Und was, wenn uns die Kasdim jetzt nicht erlauben, ins Wasser zu gehen?“
 
Einen Moment lang herrscht Stille, dann beginnen wir alle gleichzeitig zu lachen.
 
„Dann ist das die schlimmste Folter!“
 
Wir sehen uns alle an, denn wir wissen, dass dieser Witz sehr bitter schmeckt.
 
„Na, zum Glück regnet es!“, kollere ich daraufhin los und schon wieder hüpfen wir umher und jagen einander. Zum Glück hatten mein Vater und Jechonja schon einige Fische gefangen, denn jetzt ist’s vollkommen aus mit der Fischerei.
 
Wir alle wissen genau, dass wir auch jetzt, da wir so ausgelassen sind, in Todesgefahr schweben. Aber das kümmert uns nicht. Nicht in diesem Moment. Und so als hätten die Kasdim die Notwendigkeit eines reinigenden Bades eingesehen, geben sie wenige Augenblicke später den Befehl, dass das Angeln einzustellen sei und jedermann zum Baden an den Fluss treten solle, Männer, Frauen, Kinder. Alle zusammen. Auch die sich nun formierende Reihe hat keinen Einfluss auf meine Stimmung. Mich kann heute nichts schrecken und so entledige ich mich kurzerhand meiner schmutzig verklebten Kleider und stelle mich neben meine Mutter, die Hannah an der Hand hält. Einen Moment später dürfen wir alle ins Wasser gehen. Und auch wenn ich Angst habe, kann ich mich nicht halten und renne los und lasse mich flach ins Wasser fallen. Dann schöpfe ich mir Wasser und trinke es. Oh, wie gut das schmeckt! Wie gut das tut! Davon brauche ich mehr. Und schon schöpfe ich mir wieder Wasser, trinke und lasse meinen Blick schweifen. Überall sehe ich Menschen, die sich waschen. Und dann sehe ich auch Jechonja. Wieder steht er etwas abseits und lässt seine Hände durchs Wasser gleiten. Diesmal überlege ich nicht lange und paddle zu ihm hinüber.
 
„Jechonja, was machst du?“, rufe ich. Er wendet sich um und lächelt.
 
„Wonach sieht’s denn aus?“
 
Ich zucke mit den Schultern. „Weiß nicht.“
 
Er erwidert nichts, schmunzelt nur und lässt seine Hände wieder durchs Wasser gleiten. Ich beobachte ihn.
 
„Versuch’s mal“, sagt er da und kommt mir etwas näher.
 
„Ja?“
 
Er nickt, macht es mir wieder vor und ich folge ihm. Unwillkürlich schließe ich die Augen und lasse meine Hände wieder ganz leicht über die Wasseroberfläche gleiten und spüre wie weich es ist, aber da ist noch viel mehr. Noch viel mehr. Ich spüre das Wasser. Es trägt meine Hände. Ja, ich muss schon etwas drücken, um sie untertauchen lassen zu können. Das fasziniert mich. Bisher war Wasser nur Wasser gewesen und jetzt scheint es mich förmlich zu streicheln und lässt meine Hände nicht untergehen! Als ich die Augen wieder öffne, steht Jechonja lächelnd vor mir und schaut mich mit leicht schräg gelegtem Kopf an.
 
„Na, hat es dir sein Geheimnis verraten?“
 
Ich nicke.
 
„Das ist schön, sehr schön, dann kannst du dich ja jetzt waschen.“
 
„Bin ich noch immer dreckig?“
 
„Aber ja, hier und hier.“
 
Er deutet sich auf Stirn und Wangen.
 
„Du auch“, entfährt es mir und ich grinse.
 
„Wo?“
 
„Genau auf der Nasenspitze.“
 
Der Tag ist ein Wunder! Anders kann ich es mir nicht erklären, dass sich alles so gut anfühlt. Nach dem Baden – der Regen hat aufgehört – sitzen wir alle dick angepackt vor unseren Zelten und braten unsere selbstgefangenen Fische und trinken dazu das köstliche Wasser des Flusses. Später spielen wir Murmeln und wärmen uns am Feuer. Den Gedanken, dass wir den Kasdim auch jetzt vollkommen ausgeliefert sind, verdränge ich. Den will ich heute – jetzt – nicht zulassen. Wir sitzen alle, die ganze Familie und die kleine Hannah und Jechonja um ein großes, in den Sand gemaltes Quadrat und versuchen mit etwas Geschicklichkeit kleine Lehmklumpen in Form von Murmeln in die vorgegeben Mulden zu werfen.
 
Wenn ich mich recht besinne, ist das der erste Moment auf der Reise, da wir als Familie beisammen sind und miteinander lachen können. So fern der Heimat sitzen wir bis in den Abend hinein am Feuer und reden und lachen. Es ist fast genauso wie in Jeruschalajim, als ich mit meiner Freundin Hannah und deren Bruder Tovia durch die Stadt zog und abends total müde wieder nach Haus kam. Dort saßen wir dann manchmal noch zusammen und unterhielten uns bis tief in die Nacht. Ich sehe in die vom Feuer hell erleuchteten Gesichter meiner Familie. Da ist Ima, die die schon schlafende Hannah auf dem Schoß hält. Neben ihr Abba, der sich mit Jechonja unterhält. Dieser Jechonja. Ihn zu fragen, woher er genau kommt und was er in Jeruschalajim getan hat, verbietet die Gastfreundschaft. Wenn er nicht von allein davon erzählt, werden wir es nicht erfahren. Aber ich ertappe mich dabei, mich zu fragen, was er gemacht haben könnte? Doch ich komme zu keinem Schluss. Nur eines weiß ich mit Sicherheit: Seit er bei uns ist, hat sich unser aller Leben geändert. Er bemerkt, dass ich ihn betrachte und nickt mir übers Feuer lächelnd zu. Er besitzt einen freundlichen und wachen Blick.
 
 
Tag 27
Wegen starker Regenfälle sind wir noch immer nicht weitergezogen. Wir nutzen die Zeit zum Ausruhen und Schlafen.

Tag 28

Heute sind wir wieder auf dem Weg. Der Regen hat aufgehört. Zwischenzeitlich kommt sogar die Sonne hervor, aber die Temperaturen sind nicht sehr hoch, sodass wir alle warm angezogen, nebeneinander her gehen. Und kaum bemerke ich, dass wir am Rand gehen, beschleicht mich wieder die Angst, dass die Kasdim kommen und einfach einen von uns aus der Reihe nehmen könnten. Einfach so. Ich sehe sie weiter vorn laufen, diese panzerbewehrten Männer, deren Anblick allein schon furchterregend ist. In den letzten Tagen hatten wir sie nicht gesehen, weil sie sich selbst in ihre Zelten zurückgezogen hatten. Sie wollten nicht hinaus und uns reglementieren, um nicht nass zu werden. Aber jetzt, jetzt sind sie wieder da.
 
Immer achte ich darauf, dass uns kein Kasdu zu nahe kommt. Gleichzeitig versuche ich meine Familie stets in der Mitte der Gruppe zu halten. Niemand von uns soll zu weit außen gehen.
 
Plötzlich aber ist der Kasdu, der Jechonja und Hannah aus der Reihe nahm, wieder neben uns und starrt uns an.
 
„Hast du dich wieder mit deiner Frau vertragen oder soll ich dich jetzt umbringen?“, fragt er dann ganz unvermittelt.
 
Jechonja nickt.
 
„Was, umbringen?“
 
Jechonja schüttelt den Kopf. „Wir haben uns wieder vertragen.“ Und augenblicklich nimmt er meine Hand und zeigt sie dem Kasdu. „Seht her, es ist alles wieder gut.“
 
„Und warum schlaft ihr beide dann nicht mit eurer Tochter in einem Zelt?“
 
Ein heißer Schreck durchfährt mich und ich muss darauf achten, nicht zu stolpern.
 
„Weil ich schnarche und meine Frau dann nicht schlafen kann. Aber ab heute Nacht werden wir im gleichen Zelt schlafen“, erwidert Jechonja ruhig.
 
„Wenn nicht, dann nehme ich mir deine Frau und dich und das Kind bringe ich um“, sagt der Kasdu ebenso ruhig und wendet sich dann um. Mein Herz rast. Am liebsten wäre ich stehen geblieben, ganz einfach, um Luft zu holen und um ... um mir gewiss zu sein, dass das, was ich eben hörte, nicht stimmt, dass ich es mir nur einbildete, dass … Aber das ist unmöglich. Wir müssen weiter. Anhalten dürfen wir nur, wenn es uns die Kasdim erlauben. Es gibt um die Mittagszeit eine Pause und dann noch eine am Nachmittag und manchmal noch eine kleinere zwischendurch. Da wir aber gerade erst losgelaufen sind, gibt es jetzt keinen Halt. Ich sehe zu meiner Mutter hinüber, die mich mit kreidebleichem Gesicht anblickt. Ich spüre, dass sie mich am liebsten in den Arm genommen und unter ihren Gewändern verborgen hätte. Und ehrlich, da hätte ich mich in diesem Moment auch am liebsten versteckt. Ich weiß genau, dass dieser Kasdu keinen Spaß macht. Er würde Hannah und Jechonja umbringen und mich zu sich nehmen, wenn wir nicht das täten, was er will.
 
„Hauptsache wir leben“, höre ich da Jechonja neben mir sagen und spüre den leichten Druck seiner Hand. Und ich, ich wage nicht, ihm meine Hand zu entziehen.
 
„Das kann doch, das darf doch nicht …“, setzt mein Vater an, doch verschluckt er sich an seinen Worten und ich sehe, wie ihm der Blick entgleitet. Auch ich wende mich um. Der Kasdu ist schon wieder neben uns.
 
„Ich will einen Beweis!“
 
„Was?“, ruft meine Mutter.
 
„Ja, jetzt!“
 
Er deutet hinter sich auf das freie Feld. „Hier, sofort.“
 
Noch ehe ich begreife, was all das zu bedeuten hat, stößt meine Mutter einen grellen Schrei aus.
 
„Nein!“
 
Dann höre ich einen dumpfen Aufprall, fahre herum und sehe meine Mutter auf der Erde liegen. Sie wimmert leise, als ihr mein Vater wieder auf die Beine zu helfen versucht. Aber augenblicklich reißt sie sich los und fällt vor dem Kasdu auf die Knie und umfasst seine Unterschenkel.
 
„Bitte, tut uns das nicht an! Alles, nur das nicht!“
 
Der Kasdu will einen Schritt zurücktun, gerät beinahe ins Stolpern, so fest hält ihn meine Mutter.
 
„Ihr könnt mich umbringen, wenn ihr dafür meine Tochter…“
 
Sie unterbricht sich, schnappt nach Luft und sieht zu ihm mit leicht geöffnetem Mund auf.
 
„Nicht das!“, wispert sie und beginnt die Füße des Kasdu zu küssen. „Nicht das.“
 
„Jetzt und hier!“
 
„Nicht jetzt, nicht hier“, höre ich Jechonja dagegen reden.
 
„Jetzt!“
 
„Das könnt ihr nicht verlangen! Auf so hartem Boden täte es meiner Frau nur weh. Sie würde vor Schmerzen schreien. Ein Beweis, so wie Ihr ihn fordert, wäre das also nicht.“
 
Einen Moment lang schweigt der Kasdu, dann nickt er. „Gut, dann heute Nacht!“
 
Um seinen Mund zuckt es, als er nun doch einen Schritt zurück tut und meiner Mutter auf die Unterarme tritt. Obwohl es ihr weh tut – ich kann es deutlich an ihrem Gesichtsausdruck erkennen –, gibt sie keinen Laut mehr von sich. Sie starrt den Kasdu nur mit offenem Mund an. Als dieser sich umwendet und uns verlässt, bleibt sie auf dem Boden kauern und auch ich lasse mich auf die Knie und berühre meine Mutter am Rücken. Ich spüre, dass sie zittert. Auch mir ist eiskalt.
 
„Das gibt’s doch nicht! Das kann doch nicht wahr sein!“, schreit mein Vater auf.
 
„Jehoschua, beruhige dich. Wir müssen weiter“, erwidert Jechonja, aber mein Vater fährt herum und blitzt ihn an.
 
„Was sagst du da? Ich soll mich beruhigen? Ich? Wo du gerade dabei bist, meine Tochter zu verhökern wie … wie eine Hure … Ich habe dich als Bruder aufgenommen und du … du …“
 
Mein Vater ist fassungslos, das spüre ich genau.
 
„Jehoschua, bitte, lass uns das heute Abend besprechen und jetzt weiterziehen. Die Kasdim sind nah und sie werden uns nicht noch einmal davonkommen lassen“, höre ich Jechonja sagen. Seine Stimme klingt so ruhig.
 
Mein Vater gibt ein leises Schnauben von sich und reibt sich die Nase. „Du hast Glück, dass die Kasdim nahe sind. Aber heute Abend entkommst du mir nicht, das sage ich dir, du Schweinehund. Wenn wir heute Abend ins Lager kommen, bring ich dich mit meinen eigenen Händen um! Du bleibst mir nicht am Leben! Du nicht!“
 
„Was ist ein Weinehund?“, höre ich Hannah krähen, doch niemand geht auf sie ein.
 
„Oder arbeitest du etwa mit den Kasdim zusammen? Du machst mir nichts vor!“, ruft mein Vater und macht wieder einige Schritt auf Jechonja zu.
 
„Nichts dergleichen. Aber nur zu! Schlag mich und brüll auch weiter! Dann wirst du gleich am eigenen Leib spüren, dass ich nicht mit den Kasdim zusammenarbeite, denn dann werden sie kommen und uns alle umbringen: deine Frau, deine Kinder, Hannah, mich und auch dich.“
 
Keuchend lässt mein Vater die Arme sinken. „Der Ewige steh uns bei, das Unglück ist über uns hereingebrochen!“
 
„Ich würde es nicht so bezeichnen, sondern nur als Verkettung widriger Umständen. Aber uns alle eint doch, dass wir überleben wollen.“
 
„Und wie?“, schaltet sich meine Mutter ein. „Wie sollen wir das anstellen?“
 
„Ich überlege mir etwas.“
 
„So?“, entgegnet mein Vater. „Tust du das? Dir geht es doch nur um deinen eigenen Hintern! Meine Tochter ist dir doch vollkommen egal!“
 
Jechonja schweigt einen Moment lang und sieht meinen Vater nur an, ehe der den Mund öffnet und ruhig zu sprechen beginnt: „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mir mein eigenes Leben weniger wichtig ist als das deiner Tochter.“
 
„Du Scheißkerl!“, erwidert mein Vater. „Du gibst es also zu, dass du das Leben meiner Tochter für deines opfern wirst?“
 
„Nein, das habe ich ganz und gar nicht gesagt! Und wie dir sicher nicht entgangen sein wird, sind unser beider Leben dummerweise aneinandergekoppelt. Stirbt der eine, stirbt auch der andere.“
 
„Ja, weil du dummer Hund sagen musstest, dass … dass … Hannah deine und Michals Tochter ist!“, schnaubt mein Vater und funkelt Jechonja an. Dieser steht noch immer vor ihm und hält die Arme vor der Brust verschränkt.
 
Und meine Mutter gibt ein mattes Seufzen von sich. „Schon allein, dass sie mit in dein Zelt muss, ist laut unserem Gesetz gleichbedeutend mit einer Eheschließung“, lässt sie sich vernehmen. „Kein Mann darf bei einer Frau liegen, es sei denn er hat die Absicht, sie sich zur Frau zu nehmen.“
 
„Sie geht nicht mit in das Zelt dieses Kerls!“, brüllt mein Vater.
 
„Dann wäre unser Schicksal besiegelt!“, entgegnet Jechonja und wendet sich an meine Mutter: „Ich kenne das Gesetz sehr genau. Allerdings bezieht sich dieses bei einer Frau liegen auf den Geschlechtsakt. Da der aber nicht geplant ist, sehe ich kein Problem, zumal es sich um eine Notsituation handelt.“
 
„Ich mag deine überhebliche Kaltschnäuzigkeit nicht!“, bringt mein Vater hervor.
 
„Ich würde es nicht als kaltschnäuzig bezeichnen, sondern als Mittel zum Überleben. Und solange das Urteil noch nicht gesprochen ist, ist es unser aller Aufgabe, für unser Leben zu kämpfen! Und wer sagt, dass Michal mit in mein Zelt muss? Vielleicht findet sich eine andere Lösung?“
 
Aber letztlich muss ich doch mit in Jechonjas Zelt, denn ihm will keine andere Lösung einfallen. Und uns anderen ebenso wenig. Das Denken ist wie gelähmt.
 
Kurz nachdem wir unseren Lagerplatz erreicht und unsere Zelte aufgebaut hatten, hocken wir nun alle zusammen und essen schweigend unser Brot, dazu Fisch. Ich sitze zwischen Ima und Abba, der noch immer oder wieder wütend ist. Aber so wie wir alle hat auch er begriffen, dass es darum geht, dem Kasdu etwas vorzumachen. Wir müssen eine Familie spielen.
 
„Ich tue das nur, um meine Tochter zu retten. Du bist mir vollkommen egal. Wenn du morgen früh tot in deinem Zelt liegst, werde ich dem Ewigen dafür danken“, sagt er und versucht dabei finster zu wirken, doch jeder merkt, dass es nur Schau ist. So wie wir alle ist auch er sehr erschöpft von diesem Tag.
 
Jechonja nickt nur. Ich sehe immer wieder zu ihm hinüber. Er wirkt vollkommen in sich gekehrt. Kann ich ihm vertrauen? Nun, mir bleibt ja gar nichts anderes übrig, obwohl ich das Messer, das mir meine Ima heimlich zusteckte, sicher in meinem Gewand weiß.
 
„Wenn er dich anfasst, dann stich ihn nieder!“
 
Diese Worte sage ich mir während des Essens immer wieder, auch in dem Moment, da sich Jechonja erhebt und zu mir hinüber sieht.
 
„Wir beide werden nicht sterben!“, sagt er und streckt mir seine Hand entgegen. „Und nun komm, Michal.“
 
Sogleich nimmt mich meine Mutter in den Arm. Ich weiß, dass sie weint und auch ich muss meine Zähne fest zusammenbeißen, dass ich nicht zu heulen beginne.
 
„Was hast du vor? Was?“, fragt sie und in ihrem Blick erkenne ich mütterliche Verzweiflung.
 
„Ganz einfach: Ich werde die Schwäche des Kasdu ausnutzen.“
 
Und mein Vater zischt: „Du hast doch gar keinen Plan! Nie einen gehabt. Du willst meine Tochter doch nur opfern und dich dadurch frei kaufen.“
 
„Vertraut mir! Eurer Tochter wird kein Haar gekrümmt.“
 
Mein Vater gibt ein unartikuliertes Geräusch von sich, dann sagt er: „Wenn du Hurensohn meine Tochter entehrst, bringe ich dich eigenhändig um.“
 
„Nichts dergleichen wird geschehen“, versichert Jechonja und an mich gewandt sagt er: „Wir müssen, die Zeit drängt.“
 
Ich erhebe mich.
 
„Ich bring diesen Kerl um“, schnaubt mein Vater.
 
„Komm.“
 
Ich spüre Jechonjas Hand in der meinen, als wir einige Schritte gehen.
 
„Du musst keine Angst haben“, sagt er leise.
 
„Hab ich nicht.“
 
Unsere Blicke treffen sich und ich sehe, dass es um seinen Mund zuckt.
 
„Dann bist du sehr mutig.“
 
„Es geht ja ums Überleben“, entgegne ich und mein Herz schlägt mir bis zum Hals dabei.
 
Er sieht mich nur an.
 
„Weißt du, ich hab wirklich keine Angst“, sage ich.
 
„Das ist schön! Aber nun hör mir genau zu“, fährt er fort, als wir uns in seinem Zelt wiederfinden und er eine kleine Öllampe, so eine, wie ich sie zum Schreiben auch nutze, entzündet und in unsere Mitte stellt. Dann beugt er sich zu mir hinüber und flüstert: „Dies ist mein Plan ...“
 
„Ja?“
 
„Du darfst nicht erschrecken, egal, was ich dir jetzt gleich sagen werde.“
 
„Werde ich nicht.“
 
„Mein Plan erfordert, dass wir beide gut zusammenarbeiten.“
 
„Was soll ich tun?“
 
„So tun, als ob, damit der Kasdu denkt, es wäre echt. Kannst du das?“
 
„Wie?“
 
„Wir spielen dem Kasdu etwas vor, was er für real hält. Hast du das verstanden?“
 
Ich nicke. „Und was ist meine Aufgabe?“
 
„Mitspielen, damit es echt wirkt. Nenn mich mal bei meinem Namen.“
 
„Jechonja“, erwidere ich.
 
„Nicht so, als würdest du mich rufen wollen, sondern so, als wäre mein Name eine süße Frucht, die du gerade in deinem Mund zugehen lässt.“
 
Ich bin verwirrt und das bemerkt er wohl auch, denn er nimmt meine Hände in die seinen. „Ich mach es dir einmal vor.“ Und er sagt meinen Namen auf eine Weise, die mich irritierte. Und dabei sieht er mir tief in die Augen und beginnt mit seinen Daumen über meine Hände zu streichen. „Michal.“
 
Ich beiße mir auf die Unterlippe und er, er beginnt leise zu lachen. „So geht das. Und jetzt du. Los!“
 
„Kann nicht.“
 
„Doch, das kannst du. Denk an die süße Frucht in deinem Mund. Welche magst du am liebsten?“
 
„Datteln.“
 
„Also, denk dir, du hättest eine Dattel im Mund. Wie würdest du beispielsweise deiner Freundin allein durch deinen Tonfall verständlich machen, dass dir diese Frucht so gut schmeckt? … Nur, dass diese Dattel nicht Dattel heißt, sondern meinen Namen trägt ...“
 
„Je …“, setze ich an, schließe die Augen und versuche mich daran zu erinnern, wie wir einst zu meinem Onkel aufs Land gefahren waren und ich unter einem Dattelstrauch stand und mir so viele reife Früchte pflücken durfte, wie ich wollte. Wie schmeckten Datteln? Nach Honig, nach unendlicher Süße. Ja! Und sie sind so weich. „… chonja.“
 
„Michal“, flüstert er.
 
„Jechonja.“
 
„Gut so. Der Kasdu muss davon überzeugt sein, dass wir hier drinnen …“
 
„… beieinanderliegen?“
 
Er nickt.
 
„Nennt man sich immer beim Namen, wenn man sich nah kommt?“
 
„Manchmal, ja, wenn man sich sehr lieb hat.“
 
„Und dann fühlt man sich genauso, wie wenn man eine Dattel im Mund hat?“
 
„Ja, so ungefähr.“
 
„Jechonja … Konja.“
 
„Michal.“
 
Bei diesem Wort löscht er die kleine Öllampe. Die Dunkelheit verschluckt sein Gesicht, aber seine Hände, die spüre ich noch immer in den meinen.
 
„Hab keine Angst.“
 
„Ich hab keine.“
 
Und das stimmt, auch als ich seine Hand an meiner Wange spüre und er wieder meinen Namen sagt. Und auch, als ich draußen ein Geräusch vernehme und er mir noch näherkommt und flüstert: „Ich glaube, der Kasdu ist da. Ich sehe mal nach.“
 
Schon ist er am Eingang des Zeltes. Ich nehme eine Bewegung wahr, dann höre ich gemurmelte Worte, die ich nicht verstehe. Wir würden also so tun müssen, als lägen wir beieinander. So tun als ob, mit einer Dattel im Mund. Eine Zeit vergeht, dann kommt er zurück und ich nehme wahr, dass er leise lacht.
 
„Was?“, flüstere ich.
 
„Ich hab mit ihm gesprochen und er ist gegangen.“
 
„Was? Wie hast du das angestellt?“
 
„Ich habe einfach gesagt, dass es dir nach der Weise der Frauen ginge und wir nicht beieinanderliegen könnten. Und das hat er akzeptiert. Die einfachsten Lösungen fallen einem immer erst zum Schluss ein.“
 
Die letzten Worte bringt er schnaubend hervor und ich spüre, dass eine Anspannung von mir abfällt, derer ich mir zuvor nicht bewusst gewesen bin. Ich fühle mich müde und dennoch bin ich so aufgeregt. Ich greife mir an die Brust, schließe kurz die Augen.
 
„Und hat er gesagt, ob … ob er wiederkommen will?“
 
„Nein!“
 
Diese kurze Antwort reicht mir. Ich verstehe, dass die Gefahr keineswegs gebannt ist, dass sie noch immer überall lauert. Aber wir haben Zeit gewonnen, Zeit. Und ich begreife, wie wichtig das in unserer Situation ist.
 
„Und wir sollten keine schlafenden Hunde wecken.“
 
„Und was heißt das?“
 
„Ihm keinen Anlass für irgendeinen Zweifel geben.“
 
Ich nicke. „Heißt das, dass wir …“
 
„Ich fürchte, ja. Ab heute müssen wir vor den Kasdim so tun, als wären wir Mann und Frau.“
 
„Aber, aber es könnte doch sein, dass der Kasdu sich nur einen Spaß erlaubt hat und es nicht so meint?“
 
„Was für ihn Spaß ist, ist für uns Ernst!“, entgegnet er. „Das darfst du niemals vergessen. Dieser Kasdu kann uns umbringen, wenn es ihm gefällt – das ist sein Verständnis von Spaß.“
 
Wieder nicke ich und beiße mir auf die Unterlippe.
 
„Es tut mir leid, Michal“, lässt sich Jechonja vernehmen.
 
„Ich war noch nie verheiratet, weder im Ernst noch im Spaß“, erwidere ich.
 
„Es ist gut, dass du es so locker nimmst“, lacht er. „Aber jetzt, sollten wir schlafen. Bau dir dein Lager, dort an der Wand.“
 
Er hat die Öllampe noch einmal entzündet und weist auf eine Ecke, in der schon eine Decke liegt. Ich nicke, greife mir einige Kissen und lege mich nieder. Jechonja tut es mir gleich – an der anderen Zeltwand – und löscht das Licht.
 
„Gute Nacht, Michal.“
 
„Du, darf ich dich noch etwas fragen?“, flüstere ich.
 
„Nur zu.“
 
„Ich weiß, dass es sich nicht schickt, dich das zu fragen, aber was genau hast du in Jeruschalajim gemacht?“
 
„Das solltest du als meine Ehefrau aber wissen.“
 
„Ich bin’s aber nicht“, erwidere ich und höre ihn wieder leise lachen.
 
„Hast du dich schon einmal gefragt, warum Gott all das zulässt?“
 
„Das hier? Jetzt?“
 
„Nein, unser aller Schicksal. Die Grausamkeiten, die wir alle seit Beginn unserer Reise zu erdulden hatten? Und davor, der Untergang unserer Stadt.“
 
„Nein … ja … Ich weiß, dass der Ewige zu schwach war, um uns zu schützen. Sein Tempel wurde geplündert, weil er den Kasdim nichts entgegensetzen konnte. Marduk, ihr Gott war stärker als der Ewige. Und deswegen befinden wir uns jetzt hier. Der Ewige ist schwach, wir sollten ihn vergessen.“
 
Ich höre Jechonja leise lachen.
 
„Einige Leute, gar nicht mal so wenige, deuten es nicht als Schwäche des Ewigen, dass wir uns jetzt hier befinden …“
 
„Sondern?“
 
„Sie betrachten es als wohlverdiente Strafe für Vergehen, die wir alle begangen haben.“
 
„Welche Leute? Wer denkt so?“
 
„Kennst du Jirmejahu, den Propheten?“
 
„Jirmejahu?“, erwidere ich und setze mich wieder auf. „Etwa den Spinner, der immer in abgerissenen Kleidern im Jaffator stand und seine wirren Reden hielt, die niemand hören wollte? Und hat nicht König Jehojachim eine Buchrolle von ihm verbrannt? Das war ein ganz großes Ding!“
 
„Ja, aber Baruch Ben Nerija, seinem Schüler, diktierte er sie noch einmal neu. Und Jirmejahu ist kein Spinner.“
 
„Doch, das ist er!“
 
„Er ist einer meiner Freunde, weißt du?“
 
„Auch wenn er nur Mist erzählt?“
 
„Mist?“
 
„Es hat doch einen Grund, warum König Jehojachim seine Buchrolle verbrannte.“
 
„Eben weil der die Wahrheit nicht hören wollte.“
 
„Die Wahrheit?“
 
„Dass er ein schlechter König ist, weil er die Armen aus der Unterstadt unterdrückte und dem Ewigen den Rücken zukehrte …“
 
„Ja, ja …“, unterbreche ich ihn. „… aber so was macht man einfach nicht, einen König auf seine Fehler hinweisen. Das ist nicht klug.“
 
„Jirmejahu wurde dafür auch mehrfach bestraft, inhaftiert und gefoltert.“
 
„Wirklich? Das habe ich nicht gewusst.“
 
„So etwas dringt auch nicht leicht an die Öffentlichkeit“, entgegnet Jechonja. „So etwas wird verheimlicht.“
 
„Lebt er noch?“
 
„Ja, er lebt noch …“
 
„Und warum ist er nicht mit uns gegangen?“
 
„Er wurde nicht ausgewählt. So ist er zurückgeblieben.“
 
Es entsteht eine Pause, in der ich höre, dass sich Jechonja auf seinem Nachtlager bewegt.
 
„Um noch einmal auf Jirmejahus Anklagen zurückzukommen, so richteten sie sich nicht nur gegen den Königshof, sondern auch gegen die Oberschicht allgemein …“
 
„Meinst du damit etwa…?“, setze sich und Jechonja unterbricht mich: „Ja, das meine ich. Er sprach auch gegen die, die in der Oberstadt wohnten.“
 
„Und was warf er uns vor?“
 
„Du weißt, was sich im Ben-Hinnom-Tal befindet?“
 
„Gräber der Ahnen und Kultstellen für unsere Götter: den Milkom und Ba’al.“
 
„Aha! Aber Jirmejahu ging es darum, alle Bewohner daran zu erinnern, dass der einzige Gott, den sie anbeten sollen, auf dem Zijon thront. Und da die Bewohner Jeruschalajims um den Ewigen auf dem Berg Zijon wussten, aber nicht nur ihn allein verehrten, sondern auch anderen Göttern opferten und den Armen, Witwen und Waisen gegenüber ungerecht waren, haben sie Gott regelrecht provoziert“, entgegnet Jechonja.
 
„Was ist denn das für ein Mist? Wir ... ich soll daran Schuld haben, dass … dass …“
 
Jechonja schweigt.
 
„Ist das auch deine Meinung?“
 
„Ich habe mal einen Mann aus der Oberstadt dabei beobachtet, wie er sich von einem Armen den Dreck vorm Haus hat wegkehren lassen und ihn dann ohne Lohn nach Hause schickte, obwohl er gewusst haben musste, dass dieser Mann das Silber nötig gehabt hätte. Ich sprach den Mann daraufhin an, er aber hielt es nicht für nötig, zu antworten.“
 
„Und?“
 
„Und? Das war kein Einzelfall!“
 
„Schon möglich! Aber es ist ungeheuerlich, zu behaupten, dass all das, was wir jetzt erleben, unsere gerechte Strafe ist. Wenn der Ewige nur ein winziges Interesse an uns hätte, würde er uns nicht so leiden lassen … Ich zum Beispiel habe mich nie schlecht benommen!“
 
Wieder lacht Jechonja leise.
 
„Was ist?“, erwidere ich.
 
Jechonja schweigt.
 
„Ich … ich bleibe jedenfalls dabei, dass der Ewige einfach zu schwach ist gegen die Kasdim und sich einige eben gerade das nicht eingestehen wollen und uns etwas von einer wohlverdienten Strafe predigen, doch das führt zu nichts. Der Ewige ist zu schwach, um uns zu bewahren. Und deswegen sollte er nicht mehr Ewiger heißen. Er ist nämlich nicht ewig.“
 
„Ich sehe es ein bisschen anders“, entgegnet Jechonja.
 
„So, wie denn?“
 
„Der Ewige straft nicht nur …“
 
„Sondern?“
 
„Tröstet auch.“
 
Ich schnaube. „Na, wo denn? Wo hat er uns denn schon einmal getröstet? Und … und wo hat er uns denn schon einmal etwas Gutes getan? Warum müssen wir diesen Gott denn überhaupt anbeten?“
 
„Eine sehr gute Frage! Aber um dir das zu erklären, müsste ich etwas weiter ausholen. Wenn du möchtest erzähle ich dir davon ein andermal, denn jetzt ist es schon spät.“
 
„Gut! Aber dass wir an allem selbst Schuld haben sollen, das … das … Kein Wunder, dass Jirmejahu für solche Äußerungen gefoltert wurde!“
 
„Michal!“
 
„Klar! Wer hört so etwas gerne? Das ist … das ist …“
 
Ich balle die Hände zu Fäusten, so wütend bin ich.
 
„Weißt du“, beginne ich dann. „Ich habe gesehen, wie sie einem Mann beide Hände abgehackt haben. Würde Jirmejahu dem ins Gesicht sagen, dass er daran selbst die Schuld trägt?“
 
„Natürlich nicht!“
 
„Du würdest es aber tun, oder?“, frage ich dann.
 
„Ich auch nicht.“
 
„Hättest du Angst davor, dass dich der Mann mit seinen blutigen Stümpfen anfallen könnte …“
 
„Michal, hör auf!“
 
„Ich finde dieses ganze Gerede einfach abstoßend und eklig!“, erwidere ich.
 
„Niemand würde diesem Mann sagen, dass er Schuld hat.“
 
„Dann verstehe ich nicht, wie jemand so denken kann, dass wir an allem selbst Schuld sind.“
 
„Es geht hier nicht um die Einzelschuld, sondern darum, wie wir uns als Volk verhalten haben – als Gemeinschaft. Und als Gemeinschaft haben wir gefehlt. Und jeder einzelne wird nun dafür zur Verantwortung gezogen.“
 
„Was für ein Blödsinn. Du willst doch nicht allen Ernstes sagen, dass Gott all das, was uns geschehen ist, so wollte? Dass er die Kasdim schickte, um uns zu strafen?“
 
„Doch, so ließe es sich denken.“
 
„Was bist du? Auch so ein Spinner wie Jirmejahu?“
 
„Ich bin kein Prophet. Ich denke nur über das Wesen Gottes nach.“
 
„Auf welcher Grundlage?“
 
Wieder lacht Jechonja leise. „Du stellst Fragen.“
 
„Ja“, erwidere ich. „Also?“
 
„Wir haben alte Schriften, das weißt du, oder?“
 
„Ja!“
 
„Und diese handeln von Gott. Diese sind mein Ausgangspunkt. Ich habe sie in Jeruschalajim immer wieder gelesen und sie auch zu interpretieren begonnen.“
 
Ich blase die Wangen auf.
 
„Und warum?“
 
„Weil sie für uns noch immer von großer Bedeutung sind.“
 
„Aber wieso sind sie das?“
 
„Eben weil sie uns in unserer heutigen Situation sagen, dass der Ewige ein lebendiger Gott ist, der einst große Wunder wirkte und es wieder tun wird …“
 
Ich will widersprechen, denn es ist Quatsch, was er da von sich gibt. Und doch schweige ich, weil ich mich plötzlich sehr müde fühle. Und, weil ich weiß, dass es in unserer jetzigen Situation Wichtigeres gibt ...
 

Tag 29
 
Hannah hat Durchfall. Es begann in der Nacht. Sie klagt über Bauchschmerzen und mag keinen Schritt gehen. Also tragen wir sie abwechselnd und immer, wenn sie muss, bleibt uns nichts weiter übrig, als zurückzubleiben. Ich halte es kaum aus, denn die Kasdim sind an diesem Morgen überall. Werden sie ein Einsehen mit einem Kind haben?
 
Hannah weint.
 
Gegen Mittag, als der Tross eine Pause macht, kocht ihr meine Mutter einen Kräutertrunk, den sie nur widerwillig zu sich nimmt. Kein Wunder, er riecht seltsam und schmeckt auch so. Aber er half mir, als ich Kind war.
 
Über all der Aufregung haben meine Eltern vergessen zu fragen, was sich in der Nacht ereignet hat. Dass ich nun fortan bei Jechonja schlafen werde, muss ich ihnen noch erklären. Aber das ist jetzt Nebensache, denn Hannah erfordert unsere ganze Aufmerksamkeit. Als ich sie auf dem Schoß meiner Mutter sitzen sehe, so klein und mager, wird mir neuerlich klar, dass sie zu unserer Familie gehört.
 
Als wir von der Mittagspause aufbrechen wollen, ist Hannah eingeschlafen. Jechonja nimmt sie auf den Arm. Sie greint leise, öffnet kurz ihre Augen, murmelt: „Sternemann“ und legte ihre kleinen Ärmchen um seinen Hals.
 
Meine Mutter zieht mich beiseite und läuft jetzt neben mir.
 
„Was ist geschehen heute Nacht?“
 
„Nichts. Wirklich nichts.“
 
Ich sehe zu meinem Vater hinüber, der unbeteiligt tut – oder ist er einfach nur erschöpft von der durchwachten Nacht?
 
„Aber ich muss weiterhin in Jechonjas Zelt schlafen, weil die Kasdim sonst misstrauisch werden könnten“, füge ich hinzu.
 
Meine Mutter nickt nur und mein Vater schaut weg. Er wirkt wirklich sehr müde.
 
Wieder schreit Hannah, diesmal so laut, dass sich auch andere aus unserem Tross nach uns umschauen. Und auch die Kasdim werden aufmerksam …
 
Sie fragen, was los sei. Jechonja gibt Antwort. „Das Kind hat schlecht geträumt.“
 
„Dann lass es selbst gehen, so kann es nicht einschlafen.“
 
„Es ist aber sehr müde.“
 
„Kein Geschrei mehr!“
 
Jechonja nickt und gibt Hannah, als der Kasdu weg ist, noch ein wenig des Kräutertrunks. Dann schaukelt er sie leicht, wispert ihr etwas ins Ohr und ihr fallen die Augen wieder zu.
 
Am Abend mag Hannah nicht wach werden. Sie greint wieder leise und atmet schnell.
 
„Vielleicht sollten wir sie heute Nacht nehmen, damit ihr schlafen könnt?“, schlägt Jechonja vor.
 
„Ich werde auch so kein Auge zu tun“, erwidert meine Mutter. „Aber vielleicht könnten Simche, Jochanan und Schimschon bei euch schlafen?“
 
Jechonja nickt, auch ich stimme zu. Mir ist das außerdem ganz recht, auch wenn ich dann nicht mehr so oft zum Schreiben komme …
 
 
 
Tag 30
 
Hannah hat sich übergeben und Simche klagt ebenfalls über Bauchschmerzen. Das ist kein gutes Zeichen! Er möchte auch nicht mehr laufen und so nimmt ihn mein Vater auf den Arm. Zum Glück ist er der Jüngste von uns vier Geschwistern und für seine 5 Jahre noch nicht allzu groß und schwer. Auch andere Familien im Tross scheint diese geheimnisvolle Krankheit ergriffen zu haben.
 
In der Mittagspause sehe ich viele, die den gleichen Kräutertrunk zu sich nehmen, wie den, den meine Mutter kochte.
 
Hannah ist weiß im Gesicht und mag weder essen noch trinken. Selbst Jechonja vermag nicht, sie zu überreden. Sie weint leise und ich muss erleichtert hinzufügen: Gottlob leise! Aber im Grunde ist auch das kein gutes Zeichen! Sie ist zu schwach für mehr. Manchmal, wenn sie schläft und ihre Ärmchen herabhängen, denke ich, dass sie … Ich mag den Gedanken nicht niederschreiben.
 
Meine Mutter sieht sehr müde aus, auch mein Vater. Ich beginne mir Sorgen um sie zu machen und schlage neuerlich vor, dass wir Hannah diese Nacht nehmen können. Mutter weigert sich, Vater schaut wieder in die Ferne. Jechonja spricht mit meiner Mutter und sie willigt schließlich ein. Es ist also abgemacht, dass wir Hannah heute Nacht zu uns nehmen. Und wohl auch Simche, denn er weist die gleichen Anzeichen der Krankheit auf.
 
Einige aus dem Tross beten zu ihren Göttern und opfern ihnen sogar kleine Dinge wie Stoffreste und Brotkrumen. Ich habe Angst, dass die Kasdim kommen und es ihnen verbieten, ja, dass sie diese Menschen bestrafen werden – vor aller Augen, so wie sie es schon oft getan haben. Aber nichts dergleichen geschieht.
 
Am Abend kommt ein Arzt zu uns und schaut sich Hannah und meinen Bruder an. Er sagt, dass es bisher nur Kinder getroffen hätte, keine Erwachsenen. Vielleicht, so vermutet er, liegt es am Wasser des Flusses? Vielleicht ist eine Substanz darin, die dafür verantwortlich ist? Kinder seien sehr empfindlich. Wir müssten das Wasser fortan abkochen. All das hilft uns im Moment nicht weiter, denn, und das hat mein Vater richtig erkannt, lässt die Kinder nicht wieder gesund werden. Hannah braucht dringend Hilfe – und Simche auch. Aber der Arzt sagt nur, dass wir weiterhin versuchen sollten, den beiden den Kräutertrunk einzuflößen. Und dann sagt er noch etwas: „Bei Hannah müsst ihr mit dem Schlimmsten rechnen!“
 
Auch wenn das auch meine Gedanken sind, fühle ich mich wie vor den Kopf gestoßen und kann meine Tränen nur mit Mühe verkneifen. Was nützen denn Tränen? Ich nehme mir den Trunk und benetze die Lippen der Kleinen. Sie gurgelt leise. Wichtig ist, dass sie trinkt, aber im Grunde müsste sie auch etwas essen.
 
Später liegen wir vier in Jechonjas Zelt und ich denke mir: Wie fern ist der vorgestrige Tage. Wie fern. Und wie unwichtig auch. Wenn der Kasdu heute käme, hätte ich die Kraft, ihm entgegen zu treten und ihm zu erklären, dass … Ja, das würde ich ihm sagen!
 
Und als ich auf Hannah, die neben mir schläft, hinab blicke, denke ich mir, dass ich tatsächlich ihre Mutter sein könnte. Das Alter habe ich. Als ich aufsehe, bemerke ich Jechonjas Blick, der von mir zu Hannah wandert und wieder zurück.
 
„Was?“, möchte ich fragen, unterlasse es aber. Ich streiche Hannah über die Wange und träufle ihr mit dem Finger ein wenig des Trunks auf die Lippe. Wieder greint sie leise, aber sie nimmt die Flüssigkeit im Schlaf auf. Erneut träufle ich ihr etwas auf die Lippen und ihre kleine Zunge erscheint. Unwillkürlich muss ich lächeln, auch aus Jechonjas Ecke vernehme ich ein leises Lachen. Wieder kreuzen sich unsere Blicke.
 
Ich kann in dieser Nacht nicht schlafen – und auch Jechonja bleibt wach. Er kümmert sich um Simche, ich mich um Hannah. Immer wieder träufeln wir den Kindern etwas auf die Lippen. Sie dürfen nicht vertrocknen, das hatte der Arzt uns noch gesagt. Aber so kleine Kinder vertrocknen schnell und bei Hannah habe ich schon den Verdacht. Immer wieder versuche ich sie wach zu bekommen und ihr etwas Flüssigkeit einzuflößen. Ihr Atem geht röchelnd und leise und ihre Lider zucken. Außerdem ist sie glühendheiß.
 
Ich weiß nicht, wie sich eine Mutter fühlt, wenn sie sieht, dass ihr Kind des Todes ist. Ich ziehe Hannah in meine Arme, wiege sie leicht und möchte nur weinen, weil ich nicht weiß, was ich anderes tun kann, als zu warten. Jechonja ist neben mir und streicht ihr über den Kopf. Auch er weiß, dass es nicht mehr lange geht. Sie ist so klein, ihr Körper zu schwach. Wir sehen uns beide an. Keiner sagt ein Wort, denn wir wissen, dass wir verloren haben. Zum ersten Mal, seit ich Jechonja kenne, sehe ich sein schmales Gesicht in tiefer Sorge.
 
„Ist das auch eine Strafe Gottes?“, möchte ich fragen, unterlasse es aber. Es wäre unpassend. Aber die Frage, warum der Ewige es zulässt, dass ein Kind stirbt, die behalte ich in meinem Herzen, denn die lässt mich nicht mehr los.
 
 
Tag 31
 
Hannah stirbt in meinen Armen – noch an diesem Morgen, bevor wir das Lager abbrechen. Sie hat ganz einfach aufgehört zu atmen. Ist nicht noch einmal erwacht.
 
Im ersten Moment fühle ich gar nichts, sehe nur das kleine Kind in meinen Armen, das vor wenigen Tagen noch lachte und munter herumsprang. Erst als ich den Kopf wende und Jechonja neben mir sehe und seine Hand auf meinem Rücken spüre, kann ich nicht mehr an mich halten. Ich will es nicht, aber die Tränen kommen und mit ihnen der Schmerz. Warum dieses Kind? Warum Hannah?
 
„Guten Morgen“, kommt’s da aus einer Ecke. Beide wenden wir uns um. Simche. Den hatten wir beide vollkommen vergessen. Er lächelt und kommt auf uns zu. „Habe keine Bauchschmerzen mehr.“ Zuerst begreift er nicht, doch dann sieht er Hannah.
 
„Warum schläft sie noch?“
 
Jechonja nimmt ihn in den Arm. Mehr kann er nicht tun.
 
Als wir das Zelt verlassen, sehen wir uns meinen Eltern gegenüber.
 
„Simche hat es glücklicherweise überstanden, aber Hannah ist tot“, sagt Jechonja. Er wirkt sehr gefasst. „Wir müssen sie beerdigen.“
 
In dieser Nacht starben noch zwei weitere kleine Kinder, wie wir später erfahren.
 
Die Kasdim erlauben uns, unter ihrer Aufsicht, Gräber auszuheben. Kleine Rechtecke, in die wir die Kinder legen und Erde über sie häufen.
 
„Ihr könnt ja neue machen“, sagt einer der Kasdim und grinst dazu.
 
Zeit zum Trauern haben wir nicht – wie müssen weiter –, aber ich drehe mich noch einmal nach den drei kleinen Erdhügeln um.
 
„Vor 20 Tagen haben die Hunde ihre Eltern ermordet“, murmelt mein Vater, schüttelt den Kopf und wendet sich ab. „Na ja, vielleicht ist es besser so, wer weiß, was uns in Bawel erwartet.“
 
Mir kommen die Tränen. Ich gehe neben meiner Mutter, die Simche an der Hand führt. Einem Instinkt folgend wechsle ich die Seite und ergreife seine andere Hand. Ich brauche das jetzt einfach!
 
„Wo ist Hannah jetzt?“, will er wissen.
 
Meine Mutter holt hörbar Luft. „In der Scheol“, bringt sie schließlich hervor.
 
„Was ist die Scheol?“, schaltet sich nun auch Jochanan ein.
 
„Die Unterwelt.“
 
„Und wie ist es da?“
 
„Kalt und finster und …“, setzt meine Mutter ein, aber Jechonja unterbricht sie: „Das wissen wir nicht.“
 
„Warum wissen wir das nicht?“
 
„Überleg mal selbst.“
 
„Weiß nicht.“
 
„Warst du schon einmal dort?“
 
„Nein.“
 
„Also, da hast du’s. Niemand von uns war bisher dort, also weiß auch niemand, wie es dort ist.“
 
„Ich möchte nicht in die Scheol“, lässt sich Simche vernehmen.
 
„Ich auch nicht“, erwidert Jochanan.
 
„Wir müssen früher oder später alle da hin, ob wir es nun wollen oder nicht“, fügt Jechonja hinzu.
 
„Ich nicht!“
 
Simche sieht zu uns hinauf. „Ich nicht“, wiederholt er.
 
„Ich auch nicht“, wirft Jochanan ein.
 
„Auch ihr“, erwidert Jechonja. „Aber erst in langer Zeit. Bis euch die Scheol überhaut einlässt, seid ihr über 100 Jahre alt und Urgroßväter.“
 
„Also so alt wie du?“
 
„Älter. Viel, viel älter. Es werden Jahre ins Land gehen. Schöne Jahre, weniger schöne und wieder schöne. Ihr werdet den Wechsel der Jahreszeiten miterleben, während ihr mit euren Frauen am Ufer des Perat sitzt und mit euren Kindern spielt. Und ihr werdet vielleicht Jisrael wiedersehen und euch dort wieder ansiedeln. Vielleicht. Vielleicht sind es aber auch erst eure Kinder oder Kindeskinder.“
 
Jechonja hat wieder in seiner ganz eigenen Weise gesprochen. Seine Stimme klingt sanft und in seinen Augen erkenne ich trotz der Trauer ein winziges Lächeln.
 
„Was spinnst du da unseren Kindern vor? Wir haben gerade genug zu tragen“, schaltet sich mein Vater ein.
 
„Es ist keine Spinnerei“, erwidert Jechonja und kratzte sich am Kopf.
 
„Spinnerei!“
 
„Jedes Reich, und mag es noch so festgegründet erscheinen, wird früher oder später untergehen und von einem neuen abgelöst.“
 
„Das lass nicht die Kasdim wissen!“, ruft mein Vater.
 
„Sie wissen es, denn sie sind nicht dumm. Zusammen mit den Madaj haben sie die Aschschurim vertilgt, ein Reich, das sich groß und mächtig und unangreifbar dünkte – nun sieh, wo es ist? Niedergestampft ist es! Und ebenso wird es Bawel ergehen. Wenn nicht unter ihrem König Newuchadrezzar, so unter einem seiner Nachfolger.“
 
„Ja, ja“, winkt mein Vater ab.
 
„Man muss die Geschichte immer von ihrem Ende her denken, um zu wissen, was als nächstes kommen wird“, fährt Jechonja fort. „Das lehrte mich mein Freund, der Prophet Jirmejahu.“
 
„Etwa der Spinner im weißen Hemd?“
 
Jechonja schweigt.
 
„Hätte ich gewusst, dass du ein Anhänger dieses … dieses … Rät unserem König Zidkijahu dazu, sich zu ergeben und uns, freiwillig in die Golah zu gehen und er selbst?“, schimpft mein Vater. „Wo ist er jetzt? Häh? Das will ich gern mal wissen. Der geht diesen Weg nicht mit. Der nicht. Der kann quatschen, aber handeln tut der nicht!“
 
„Er wurde nicht mit ausgewählt.“
 
„Quatsch, nicht mit ausgewählt. Gekniffen hat der? Feiges Ei!“
 
Hierauf erwidert Jechonja nichts, wohl ahnend, dass meinem Vater nicht beizukommen ist. Das Gespräch erstirbt und jeder hängt seinen Gedanken nach. Und meine kehren unweigerlich zu Hannah zurück. Gut, dass ich Simches Hand noch immer in der meinen spüre.
 
Am Abend sitze ich wieder in Jechonjas Zelt – an der einen Zeltwand. Er an der anderen, mir gegenüber. Zwischen uns ein Gang von ungefähr zwei Ellen. Wir sehen uns an. Er wirkt traurig, ich bin es. Doch auch jetzt haben wir keine Zeit zu trauern, da die Nacht schon weit fortgeschritten ist und am nächsten Morgen soll es wieder früh losgehen. Ich schüttle mein Kissen auf und kann mir die Tränen nicht verkneifen.
 
„Weißt du, womit ich Hannahs Herz wirklich erobern konnte?“
 
Ich sehe auf. Jechonja ist ganz ernst.
 
„Wie? Was?“
 
Er verzieht keine Miene, aber dann, plötzlich … Täusche ich mich, oder … Er sitzt reglos da und sieht mich unverwandt an, aber es besteht kein Zweifel: er wackelt mit den Ohren! Dieser große Mann. Und im nächsten Moment lächelt er. Ich schlage die Hände vor den Mund, nicht wissend, ob ich auch lachen soll.
 
„Das ist es. Das fand sie ganz toll und wollte es immer wieder sehen.“
 
Und so, als wolle er es bestätigen, wackelt er erneut mit den Ohren. Und ich lasse das Lachen zu. Wie gut das tut!
 
„Aber das hast du nicht von Jirmejahu?“
 
„Nein, der konnte dafür aber mit der Nase wackeln.“
 
„Und ich“, rufe ich. „… ich kann mit den Augenbrauen ...“
 
Und sogleich mache ich es ihm vor. Er grinst: „Sieht gefährlich aus. Damit vergraulst du garantiert jeden Kasdu.“
 
 
 
Tag 32
 
Hannah ist gerade einmal einen Tag tot und ich lache schon wieder. Das verwirrt mich. Ich weiß nicht, wie das möglich sein kann. Eben noch weinte ich um das kleine Mädchen und im nächsten Moment scheint alles wie weggeblasen zu sein. Woran liegt das? Daran, dass sie nur 20 Tage bei uns war? Nein, das kann es nicht sein. Bin ich herzlos? Vielleicht? Aber mehr noch denke ich, können wir uns die Trauer einfach nicht leisten. Wir müssen weiter, immer weiter. Das seltsame, was ich in diesem Zusammenhang auch feststelle, ist die schwindende Trauer um unsere Stadt. Wenn ich mir überlege, wie viele Meilen wir schon gelaufen sind, wie weit Jeruschalajim hinter uns liegt … Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Sehnsucht mehr nach ihr. Sie ist Vergangenheit!
 
Alles scheint egal zu werden: ob ein Mensch stirbt oder ob eine Stadt untergeht. Ja selbst die Maßregelungen der Kasdim schrecken mich im Moment nicht. Ich gehe einfach weiter. Wenn der Kasdu, der vor Tagen von Jechonja und mir verlangte, uns im Schutt der Straße niederzulegen, jetzt käme, würde ich es tun. Ist doch alles gleich. Soll er doch seinen Beweis bekommen und sich daran ergötzen, wenn er es braucht.
 
Ich schaue mich um. Die Weite des Landes starrt mir entgegen. Und ich starre zurück. Was ist bleibend, was hat Bestand? Woran lässt sich festhalten? Womit weitermachen? Was sind die Dinge, die ein Mensch zum Leben – oder Überleben benötigt? Und was nicht?
 
Bisher habe ich festgestellt, dass das nicht viel ist: Eine Wasserflasche, Schuhwerk, das die Füße schützt. Etwas zu essen. Und am Abend ein warmes Lager.
 
Ich gehe wieder an der Seite meiner Mutter. Zwischen uns ist Simche, der wieder über leichte Bauchschmerzen klagt, aber reichlich trinkt und auch etwas isst. Auch fühlt er sich nicht heiß an. Ab und an nimmt ihn mein Vater hoch und trägt ihn ein Stück des Wegs. Manchmal auch Jechonja.
 
Der Tag vergeht, ohne dass etwas Erzählenswertes geschehen wäre. Wir wandern weiter entlang des Orontes. Schöpfen unser Wasser aus ihm, kochen es ab, trinken, essen, ruhen am Mittag ein wenig, obwohl es im Grunde zu kühl ist, um länger zu verweilen.

Ḥalab = Aleppo (am oberen Euphrat / Perat). Eine der bedeutensten, da ältesten Städte des Orients, die sich auf dem Gebiet des ehemaligen Syrien befindet. Bekannt v.a. durch seine Zitadelle (Festung), die bereits seit dem Neolithikum besiedelt war und den über einen Kilometer langen Suq. Beides wurde - zusammen mit anderen Kulturgütern - im Krieg fast vollständig zerstört. Vor der gemeinsamen Zeitrechnung war Ḥalab eine bedeutende Handelsmetropole - eine florierende Stadt.

 

--------------------------------------------

 

Tag 33

 

Wir folgen weiterhin dem Orontes, der durch die Regenfälle teilweise so stark angeschwollen ist, dass er unseren Weg an einigen Stellen vollkommen überschwemmt hat. Die Kasdim wählen dann einen anderen, der uns weit vom Fluss wegführt.

 

Manchmal kommen wir an Tümpeln vorbei. An einem kleineren Teich machen wir Rast. In ihm wimmelt es von kleinen Fischen. Simche, der seit Stunden schon recht müde wirkte, ist plötzlich hellwach, kniet sich hin, steckt seine kleine Hand ins Wasser und versucht nach den schnell flüchtenden Fischlein zu greifen. Ich bin mir sicher, dass das auch Hannah sehr gut gefallen hätte. Ich lasse mich neben meinem kleinen Bruder nieder. Meine Hand ruht auf seinem Rücken und wenn ich mich vorbeuge, kann ich unser beider Spiegelbild auf der sich kräuselnden Wasseroberfläche erkennen. Mein Bruder ist schmal, fast mager. Ist es die Krankheit, die noch nicht ganz überstanden ist oder die Anstrengung der langen Wanderung? Oder beides? Ich umfasse ihn, damit er nicht ins Wasser fällt und spüre jede seiner Rippen. Er muss noch mehr essen, sonst wird auch er diese Reise nicht durchhalten. In einiger Entfernung sehe ich Jechonja stehen – er blickt zu uns hinüber und ich überlege, ob ich ihn heranwinken soll, lasse es dann aber. Er geht einige Schritte, hält dann inne und senkt den Blick, so als überlege er. Dann geht er weiter. Die Hände hält er dabei auf dem Rücken.

 

Später beim Essen sitzen wir alle im Kreis. Da es kalt ist, haben wir uns unsere Schlafdecken umgeschlungen und in unsrer Mitte brennt ein Feuer, das auch ein wenig Wärme gibt. Ich sehe mich in unsrer Runde um. Mutter, neben ihr Vater, dann kommen Schimschon, Jochanan, Simche, ich und Jechonja. Wir alle sind müde und erschöpft. Ich mache mir wirklich Sorgen um meine Brüder, aber ganz besonders um Simche, der sehr blass aussieht.

 

 

 

Tag 35

 

Am Abend erreichen wir wieder einen Hügel, auf dem sich eine uralte Ruine befindet. Ihre Mauerreste ragen in den nächtlichen Himmel. Hier sollen wir nächtigen. Jechonja sagt, dass es sich dabei wohl um Alalach handelt. Auf die Frage, woher er das wüsste, lächelt er nur und sagt, dass er darüber gelesen hätte.

 

„In Jeruschalajim?“

 

Er nickt.

 

 

 

Tag 36

 

Am Morgen weckt mich Jechonja und sagt: „Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“

 

„Was ist los?“, gähne ich.

 

„Du wirst erstaunt sein“, entgegnet er und ist schon am Zelteingang. Draußen deutet er auf den Fluss.

 

„Was?“

 

„Sieh genau hin.“

 

Ich tue es und plötzlich begreife ich. Verwirrt sehe ich auf. „Wie kann das sein?“

 

Jechonja grinst nur.

 

„Aber wir sind dem Orontes doch die ganze Zeit von Süden nach Norden gefolgt, also von seiner Quelle an bis hierher, wie kann es da sein, dass er …“

 

„… plötzlich andersherum fließt?“, vervollständigt Jechonja den Satz und grinst mich an. „Na, überleg mal.“

 

Mit diesen Worten wendet er sich ab, um das Zelt zusammenzubauen. Ich aber bleibe noch einen Moment lang stehen und sehe auf den Fluss, der sich in einem großen Bogen nach Westen wendet und auch nach Westen fließen müsste, stattdessen aber fließt er rückwärts! Ein Rätsel.

 

Wir verlassen den Orontes nach etwa einer Stunde und wenden uns nach Osten, einem hügeligen Land zu. Unser nächstes Ziel, so teilen uns die Kasdim mit, sei Ḥalab, die alte Hauptstadt des Reiches von Jamchad. Noch heute sei es bewohnt und dort würden wir einige Tage bleiben und neuen Proviant erhalten. Außerdem teilt man uns mit, dass dort das Wachpersonal wechseln würde.

 

„Aha“, meint mein Vater. „Vielleicht ist das der Grund, warum uns die Kasdim seit Tagen in Ruhe lassen?“

 

Ich stimme meinem Vater zu, denn in der Tat kam es in den letzten Tagen zu keinerlei Zwischenfällen. Sie lassen uns in Ruhe! Ich bin verwirrt, dass mir das nicht aufgefallen ist. Bin ich schon so blind? Lebe ich schon so sehr im Trott, dass mir das nicht mehr auffällt? Oder ist mir tatsächlich alles einerlei?

 

Auch am Abend bin ich nicht auf die Lösung des Rätsels um den Orontes gekommen. Ja, ich weiß noch nicht einmal, wo ich ansetzen soll. Ein Fluss, der zuerst von Süden nach Norden fließt, dann einen Bogen nach Westen beschreibt und weiter in diese Richtung fließen sollte, es aber nicht tut und stattdessen in entgegengesetzter Richtung fließt? Unmöglich! Und doch habe ich es mit eigenen Augen gesehen! Jechonja sitzt mir im Zelt gegenüber und beobachtet mich. Er lächelt, weil er genau weiß, dass ich noch immer grüble.

 

„Ich gebe dir einen Tipp: Der Fluss mündet ins Meer.“

 

 

 

Tag 37

 

Vielleicht wirkt es dumm, wenn ich schreibe, dass ich fast die ganze Nacht über diesem Rätsel brütete, doch in den Morgenstunden glaubte ich, die Lösung zu haben.

 

„Na?“, fragt Jechonja. „Fließt der Fluss in zwei Richtungen zugleich?“

 

„Wenn er zwei Quellen hätte, dann ja. Da er die aber nicht hat, sondern nur eine und seine Mündung das Meer ist …“

 

Ich unterbreche mich und sehe Jechonja lange an. Dieser lächelt und wartet ab.

 

„Also, da er ins Meer mündet“, fahre ich fort, „… muss es etwas mit dem Meer zu tun haben.“

 

„Und was genau?“

 

„Vielleicht drückt das Meerwasser in den Fluss?“

 

„Warum sollte das Meer das tun, Michal?“

 

Ich zucke mit den Schultern.

 

„Schade, das wäre meine Erklärung gewesen“, erwidere ich und beginne mein Lager zusammen zu bauen.

 

„Denk nach, was herrscht am Meer?“

 

Ich zucke mit den Schultern.

 

„Warst du schon einmal da?“, fragt er.

 

Ich nicke und sehe ihn wieder an. Er hält den Kopf leicht schräg. „Und was für Wetter herrschte da?“

 

Ich überlege kurz. Wie war das damals, als wir Onkel Gedaljahu in Akko besuchten? Es war warm, die Sonne schien, aber es war auch …

 

„Windig“, rufe ich und Jechonja macht ganz große Augen und nickt: „Ja, es ist windig am Meer. Und kannst du dir vorstellen, was der Wind mit der scheinbaren Fließrichtung des Orontes zu tun hat?“

 

Ich schaue ihn nur an.

 

„Na?“

 

Ich schweige und Jechonja nimmt einen Stein. „Schau her“, sagt er und winkt mich heran. Er zeichnet den Verlauf des Flusses in den Sand, deutet das Meer an und dann gibt er mir den Stein in die Hand. „Nun zeichne ein, woher der Wind kommt.“

 

„Er kommt vom Meer?“, überlege ich und Jechonja lächelt mich an. „Richtig. Und nun weißt du, wieso es so scheint, als würde der Fluss seine Fließrichtung ändern.“

 

Wir sehen uns einen Moment lang nur an, dann erhebe ich mich.

 

Von dem Hügelland, das wir betreten haben, geht ein ganz eigenartiger Geruch aus, der kaum zu beschreiben ist. Es riecht nach Trockenheit, Einsamkeit, Stille. Unglaublich, dass sich hier irgendwo Ḥalab befinden soll. Aber man sagte uns, dass wir es in einigen Tagen erreichen sollten.

 

 

 

Tag 38

 

Meine Eltern möchten nicht mehr, dass ich bei Jechonja schlafe, da es einige in der Gruppe gibt, die darüber sprechen. Jechonja meint, dass wir frühestens in Ḥalab zu unserer alten Ordnung zurückkehren könnten, da sonst die Gefahr bestünde, dass der Kasdu wiederkäme. Meine Eltern willigen ein, denn auch sie haben vor der Willkür der Kasdim Angst. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, bei Jechonja zu schlafen. Es ist anders, als mit Mutter und Vater und meinen drei Geschwistern. In Jechonjas Zelt habe ich mehr Freiraum – eine ganze Zeltseite nur für mich allein! Außerdem mag ich die Gespräche mit ihm. Wenn ich schreibe, dass mir all das fehlen wird, wirkt es vielleicht etwas seltsam, aber es ist so!

 

Alle sind schon ganz aufgeregt, wegen Ḥalab. Es soll eine Großstadt sein, größer als Jeruschalajim. Viel größer. (Wie kann etwas größer als Jeruschalajim sein? Ich kann mir das nicht vorstellen.)

 

„Und wenn wir da herumlaufen dürfen“, höre ich einige sagen. „… und es uns dort gefällt …“

 

Jechonja schaut mich von der Seite her an.

 

„Es ist eine uralte Stadt“, sagt er.

 

Ich nicke und kann nicht bestreiten, dass auch ich auf diese Stadt gespannt bin.

 

 

 

Tag 39

 

Wir befinden uns noch immer in diesem Hügelland, in das sich, wohl durch den Regen bedingt, grüne Farbtöne mischen. Wenn ich mich umsehe, dann bemerke ich lauter kleine buschige grüne Inseln, die aus dem Boden sprießen. Manchmal bin ich versucht, einfach stehen zu bleiben, um den Anblick dieses Landes in mich aufzunehmen, denn so etwas habe ich noch nie gesehen, noch nie. Und ich denke, dass es vielen anderen ebenso geht und sie ebenso wie ich staunen. Dieses Land ist so karg, so öde und wirkt gerade deswegen so offen. Aber ich spüre, dass es sich einem nur so zeigt, im Grunde aber ein Geheimnis in sich birgt … Man muss nur genau hinhören, dann erzählt es einem der Wind, der diese herrlich klare Luft mit sich bringt.

 

Wir gehen an einer Anhöhe vorbei, auf der eine einzelne Zeder steht und ich wünschte, wir würden hier Pause machen …

 

Simche ist an meiner Seite. Ich nehme seine Hand. Ihm geht es wieder besser, gleichwohl er nach wie vor schmal aussieht. Er ist zu klein für sein Alter.

 

 

 

Tag 40

 

Morgen sollen wir Ḥalab erreichen. Noch aber wirkt es nicht so, als würde das Land eine Stadt so riesigen Ausmaßes beherbergen. Es wirkt so einsam, verlassen, ruhig, ja still. Oder schweigt es vielleicht nur? Man sagt uns auch, dass wir einer Handelsroute folgen würden, die die Urahnen der Kasdim anlegten. Jechonja lächelt und flüstert, dass es diese Art von Handelswegen schon lange vor ihnen gegeben habe.

 

„Das lass nicht die Kasdim hören“, erwidert mein Vater.

 

 

 

Tag 42

 

Ḥalab!

 

Wir sind bereits gestern angekommen, nachdem wir die Stadt schon eine Weile vor uns hatten liegen sehen. Sie wirkte wie ein ockerfarbener Fleck in einer grünen Landschaft. Erst nach und nach schälten sich Einzelheiten heraus. Ich erkannte, dass die Stadt auf einer Art Terrasse angelegt ist. Und dann sah ich erste Häuser, die eng um diese Terrasse aneinandergereiht sind und kaum Raum für Straßen lassen.

 

„Wie die Davidsstadt“, denke ich jetzt, da ich zu diesem Hochplateau aufsehe, „wie sie …“ und spüre Tränen in den Augen. Wie lange habe ich schon nicht mehr an Jeruschalajim gedacht?

 

Von den Kasdim haben wir die Erlaubnis bekommen, uns innerhalb eines Viertels frei zu bewegen. Und dieses Viertel ist ziemlich groß. Überall reihen sich Häuser an Häuser. Kleine, große. Alle mit einem Flachdach und winzigen Fenstern versehen. Ich gehe durch enge Gassen, die auf mich wie ein Irrgarten wirken. Manchmal sind sie so schmal, dass man die Arme noch nicht einmal ganz ausstrecken kann und schon die gegenüberliegenden Hauswände berührt. Ich fahre mit den Händen über den Lehm, spüre das grobe Material, den Häcksel in ihm und weiß in mir ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit. Erst im nächsten Moment wird mir bewusst, dass ich schon seit Tagen keine Angst mehr habe und ich frage mich, wie das sein kann. Sind wir nicht noch immer der Willkür der Kasdim ausgeliefert? Könnten sie uns nicht noch immer jeden Moment herausgreifen und töten? Ich schließe die Augen, taste wieder nach den Häusern links und rechts von mir … Manchmal bin ich so auch durch Jeruschalajim gegangen. Manchmal – als kleines Kind und auch später. Wann immer ich Zeit fand. Ich liebe es, Häuser um mich herum zu haben. Zu wissen, dass sich hinter jeder Mauer und hinter jedem Fenster eine eigene Geschichte verbirgt, gibt mir ein wundervolles Gefühl.

 

Auch unser Haus besaß ein Flachdach, auf das wir an Sommerabenden gegangen sind, um dort lange bis nach Einbruch der Nacht zu sitzen, uns zu unterhalten und zu spielen. Das Dach war der Lebensraum der Familie. Hier schliefen wir auch und manchmal, wenn ich nachts wachgeworden bin und den Blick in den Himmel wagte, dann war ich überwältigt von dem, was ich dort sah. Wunderbar glitzernde und schimmernde Punkte aufgereiht an einer Schnur, die sich quer über den Himmel zog.

 

Und am Morgen stand ich auf, packte mein Bündel und ging zur Schule, zuerst allein und später mit Schimschon und Jochanan zusammen. Wir lernten rechnen und vor allem lesen und schreiben. Was für eine friedliche Zeit. Auch als die Kasdim zum ersten Mal über unsere Stadt herfielen und Menschen mit sich nahmen, blieb das Leben für die anderen gleich. Wir Kinder gingen weiter zur Schule beziehungweise in die Kindergruppe, mein Vater arbeitete weiterhin bei Hofe. Und meine Mutter bekam ihr viertes Kind, meinen Bruder Simche.

 

Unser Leben verlief in ruhigen Bahnen und wir dachten nicht viel über die Kasdim nach. Gut, sie waren gekommen, hatten einige Menschen, darunter vor allem das Tempelpersonal, verschleppt, aber uns andere ließen sie unbehelligt. Wir lebten unser Leben einfach so weiter wie bisher und die Kasdim zogen sich irgendwann auch zurück.

 

Wir fuhren weiterhin aufs Land zu Onkel Joschi und Tante Tamar, besuchten weiterhin Onkel Gedaljahu in Akko und fuhren sogar einmal nach Norden an die Grenze zwischen Jehudah und dem ehemaligen Jisrael. Dort leben Menschen, die vor über hundert Jahren von den Aschschurim hierher gebracht worden waren, während die einheimische Bevölkerung nach Aschschur und in die umliegenden Länder verschleppt wurde. Nur wenigen gelang die Flucht nach Jehudah. Darunter wohl auch der Familie meines Vater, die in der Nähe von Schomron gewohnt hatte. Wer jetzt dort lebt … Ich mochte diese Menschen nicht. Sie gehörten nicht dort hin. Ganz andere Sitten und Traditionen. Was wollten sie hier bei uns? Andere wieder sagten, dass man bedenken müsse, dass diese Menschen nicht freiwillig hier wären, dass sie viel lieber in ihren Ländern geblieben wären, ja, dass sie im Grunde ebenso Opfer der Machtpolitik der Aschschurim geworden waren wie die, die von dort wegverschleppt wurden. Aber das war ja vor so langer Zeit gewesen. Als ich geboren wurde, gab es die Aschschurim schon lange nicht mehr. Warum, so stellte ich mir immer wieder die Frage, kehrten die Leute dann nicht in ihre Länder zurück und warum kamen die, die einst hier gelebt hatten, nicht wieder? Warum?

 

Ich gehe hinter meinem Vater und Jechonja her. Die beiden sind vor mir. Ich will es so, da ich allein sein möchte, wenigstens für wenige Momente und diese Stadt erspüren. Doch just in dem Augenblick dreht sich Jechonja um und bleibt stehen. Offensichtlich wartet er, dass ich aufschließe. Aber ich tue es nicht. Bleibe stehen. Und ich sehe, wie sich auch mein Vater nach mir umwendet, wie auch er verharrt. Beide sehen mich an und ich, ich hebe plötzlich die Hand, so als wolle ich winken, dann drehe ich mich auf dem Absatz um und renne weg. Schon höre ich Schritte hinter mir, aber anstatt nun anzuhalten, zwinge ich mich zu noch schnellerem Lauf. Ich weiß nicht, was mich treibt, aber je länger ich laufe, desto besser geht es mir. Ich jage durch das Labyrinth dieser Stadt, kreuze Straßen und Plätze, schlage Haken und bin schon wieder im Meer der Gassen verschwunden. Ich renne so lange, bis ich Schmerzen in der Seite habe und kaum noch Luft bekomme. Dann erst bleibe ich stehen und lasse mich in einem schmalen Winkel zwischen zwei Hauswänden nieder. Ich hebe den Kopf und obwohl ich nur einen winzigen Teil des Himmels sehen kann, fühle ich mich hier, an diesem fremden Ort, frei, denn es ist hier wie in Jeruschalajim. Ich ziehe die Knie an, verschränke die Arme auf ihnen und lege meinen Kopf darauf. So verharre ich eine Weile, um mich auszuruhen und wieder zu Atem zu kommen. Das letzte Mal, dass ich so gelaufen bin, war bei meinem Onkel Gedaljahu am Meer. Da war ich 15 Jahre alt. Es war so windig und er holte ein neues Spielzeug aus der Tasche. Ein Stück Stoff über zwei dünne Hölzer gespannt und mit einer Schnur versehen. Er warf es in die Luft, der Wind ergriff es und ließ es wie einen Vogel fliegen. Rasch stieg es immer höher und höher, schon konnten wir es kaum noch sehen, da gab er Jochanan die Schnur, der sie prompt los ließ …

 

„Macht nichts“, hatte mein Onkel gesagt. „Wir können ein neues bauen, an das wir dann Jochanan binden.“

 

Und das hatten wir dann auch getan. Nein, natürlich haben wir Jochanan nicht an den Vogel, wie mein Onkel das Spielzeug nannte, gebunden – er wäre er viel zu schwer für dieses kleine Gerät gewesen –, aber am Abend standen wir wieder am Meer und ließen diesen neuen Vogel hoch in den Himmel steigen.

 

Ich bleibe lange dort sitzen, in diesem schiefen Winkel, und schaue, als ich mich etwas erholt habe, wieder hinauf zu dem kleinen Streifen des Himmels, den die beiden Hausdächer freigeben. Dieses Stückchen Himmel wirkt wie eingesperrt, wie festgehalten, ja wie dieses kleine Stückchen Stoff, dass Onkel Gedaljahu über die beiden Hölzer spannte. Ein Vogel also, den diesmal ich an der Schnur habe.

 

Als ich mich erhebe und zum Ausgang der Gasse gehen möchte, steht da plötzlich Jechonja und sieht mich an.

 

„Was?“, stammle ich. „Wie lange hast du schon dort gestanden?“

 

„Schon eine Weile.“

 

„Und warum hast nichts gesagt?“

 

Er geht nicht auf meine Frage ein, sondern öffnet seine Hand.

 

„Sieh her, was ich habe.“

 

„Datteln?“, rufe ich und sehe ihn an. „Woher hast du die?“

 

„Von einem Händler, an dem ich eben vorbeikam, als ich dich suchte.“

 

Ich hätte mit allem gerechnet. Damit, dass er mich ausschimpft oder dass er mich beim Arm packt und zu meinem Vater führt. Stattdessen hält er mir Datteln hin.

 

„Probier, sie schmecken köstlich“, sagt er ganz ruhig.

 

Und dem kann ich nur zustimmen. Sie sind so weich, so süß. Ich lächle ihn an und mir wird erst in dem Moment bewusst, was er da eigentlich gemacht hat.

 

„Sie schmecken nach Heimat“, flüstere ich und er nickt mir zu. „Danke.“

 

Dann legt er mir die Hand auf die Schulter. „So, und nun zeig du, was genau dich an dieser kleinen Ecke dort hinten …“

 

Er unterbricht sich und deutet auf das Ende der Gasse.

 

„…so fasziniert hat.“

 

„Ich hab dort einfach nur gesessen“, beginne ich. „Weil ich es brauchte.“

 

Wieder nickt er nur.

 

„Möchtest du noch eine Dattel?“

 

Wieder sehe ich seine Hand genau unter meiner Nase, schaue kurz hoch zu ihm, nehme sein Lächeln wahr und greife mir die letzte Dattel, dann laufe ich noch einmal in den kleinen Winkel zurück, sehe hinauf … Ich weiß nicht, was mich an diesen Anblick bindet. Dieses kleine Stückchen Himmel über meinem Kopf und ich hier unten zwischen den Häusern. Und dann spüre ich, dass Jechonja neben mir steht. Auch er sieht nach oben und dann lächelt er mich an. Wieder hält er mir seine geöffnete Hand hin.

 

„Ich habe auch ein paar Nüsse bekommen“, sagt er. „Wenn du magst …“

 

Und wieder nehme ich mir etwas, lächle ihn an und er nickt mir zu.

 

„Denkst du manchmal noch an Hannah?“, frage ich ihn.

 

„Natürlich“, entgegnet er. „Sie war ein kleines, kluges Mädchen.“

 

Ich nicke und sehe ihn einen Moment lang an. „Es ist seltsam, wie schnell man jemanden in die eigene Familie aufnehmen kann – und trotzdem vergeht die Trauer so schnell. Wenn ich an sie denke, dann empfinde ich nichts.“

 

Ich spüre Jechonjas Hand auf der Schulter.

 

„Ich denke, dass das ganz normal ist. Mach dir darüber keine Gedanken. Du denkst an sie, das zählt.“

 

Ich nicke. „Wie geht es dir mit all dem?“

 

Er holt tief Luft. „Ähnlich. Hier, auf der Reise sind wir andere Menschen. Wir kennen uns und kennen uns doch nicht.“

 

„Genau das meine ich auch! Genau das! Und das macht mich traurig. Aber nicht so, dass ich weinen müsste, sondern … Ach, ich kann es nicht richtig artikulieren. So als wäre ich nicht ich und wüsste trotzdem darum. Auch, dass ich um Jeruschalajim nicht trauern kann. Am Anfang war ich noch so traurig …“

 

„Es sind neue Dinge in dein Leben getreten – in unser aller Leben –, die zu bewältigen wichtiger sind, als die Trauer um diese Stadt.“

 

„Ja, aber immerhin haben wir dort gelebt. Ich bin dort geboren und aufgewachsen. Ich kenne fast nichts anderes. Ich liebte diese Stadt und jetzt denke ich an sie und ich kann nicht weinen, nicht richtig traurig sein. Ich bin wie zu Stein erstarrt. Auch als ich vorhin sagte, dass die Datteln wie aus der Heimat schmecken würden, spürte ich nichts in mir. Ich sage Worte, nichts als Worte, aber sie sind bedeutungslos.“

 

Jechonja schweigt einen Moment lang, dann legte er den Kopf schief und streicht mir über die Wange.

 

„Denk darüber nicht zu viel nach. Das, was du vermisst, kommt wieder.“

 

„Geht es dir auch so?“

 

Er nickt. „Ja, ich denke, vielen wird es ähnlich gehen.“

 

Und plötzlich weiß ich, was mich an diesem kleinen, halbdämmrigen Winkel und dem winzigen Himmelsausschnitt darüber, so fasziniert und ich schwöre mir, die Schnur, die ich mir vorhin dachte, niemals loszulassen, um die Freiheit immer und immer spüren zu können. Am liebsten wäre ich hier noch eine Weile geblieben. Schon war ich versucht, an der Mauer hinab zu rutschen und mich wieder hinzusetzen, aber Jechonja schüttelt den Kopf.

 

„Wir müssen.“

 

„Immer müssen wir.“

 

Er nickt.

 

„Wann hat das ein Ende?“

 

Er zuckt mit den Schultern.

 

Ḥalab ist wirklich eine sehr schön – und tatsächlich viel größer als Jeruschalajim. Viel größer! Und genauso gern, wie ich sie mir ansehe, lausche ich Jechonjas Erklärungen. Er sagt, dass die Stadt sehr alt sei – das weiß ich ja schon – von vielen Völkern eingenommen und auch zerstört worden sei. Viele hätten ihre Spuren hinterlassen. Und könnte man sie befragen, würde sie einem viel zu erzählen haben. Eine Stadt sei wie eine alte Frau oder ein alter Mann … lebensklug, weise ... Leg dein Ohr an ihre Stein - sie wissen dir zu berichten ...

 

„Aber sie ist trotz der vielen Zerstörungen noch immer da.“

 

Jechonja nickt. „Zwar nicht mehr so wie vor 1000 oder 4000 Jahren, aber sie ist da.“

 

„Und wird sie bleiben?“

 

Er zuckt mit den Schultern. „Wenn man sich die Geschichte anschaut, kann es sein, dass sie einmal ganz verschwindet. Dass Menschen kommen, sie ihrer Schönheit berauben und sie dem Erdboden gleichmachen, sie auslöschen.“

 

Ich sehe mich um. Wir kommen gerade an einem Händler vorbei, der Tuch anbietet. Neben ihm steht ein Gewürzhändler. Und am liebsten wäre ich stehengeblieben, um diesen fremden und so intensiven Geruch in mir aufzunehmen, denn ich kenne ihn sehr gut. Einst in Jeruschalajim … als ich mit Hannah und ihrem Bruder Tovia durch die Straßen gezogen bin …, da trat mir genau dieser Duft entgegen und ließ mich träumen. Woher er wohl kommt? Ja, woher? Von hier? Ich möchte es glauben. Dieser tiefe, berührende Duft gehört einfach zu Ḥalab. Und dann tue ich es tatsächlich – ich bleibe stehen und hole wieder tief Luft. Ich rieche so viel Fremdheit, aber diese Fremdheit, die macht mir keine Angst. Sie ist mir vielmehr Heimat, ja, gerade so, als wäre ich schon einmal hier gewesen. Hier. Ich sehe mich um. Da steht ein Obsthändler und neben ihm ein Brotbäcker und neben ihm ein Schmuckhersteller, der uns eine Kette hinhält und da ein Sattler und ein Schmied – wenn ich richtig sehe, befinden wir uns auf einer langen Straße voller Händler. Und alle bieten ihre Waren feil. Sie rufen, sie lachen, sie gestikulieren. Einige, so wirkt es, winken nach uns. Sollen wir näher kommen? Wollen sie das? Ich bin versucht, weiter zu gehen – hinein in diese Straße, um mir all die Waren anzusehen. Einzutauchen in diese bunte Pracht und immer wieder den Geruch nach Duftölen in mir aufzunehmen und zu träumen wie einst Jeruschalajim.

 

Doch dafür habe ich jetzt keine Zeit. Wir müssen weiter. Aber ich wende mich noch einmal um.

 

„Was“, so denke ich, „… was, wenn Jechonja recht hat und all das einst verschwindet? Was dann? Was wird dann aus den Ladengeschäften und den Händlern werden? Wenn alles von Feuer verzehrt, nur noch in Asche daniederliegt?“

 

Ich versuche mir diese Straße vom Feuer verzehrt vorzustellen, doch gelingt es mir nicht. Und in diesem Moment wird mir bewusst, dass ich hier gerne bleiben würde. Hier, in dieser Stadt, in Ḥalab.

 

Wir gehen durch eine Straße, die hell wirkt, obwohl die Sonne nicht scheint. Woran mag das liegen? Ich sehe mich weiter um – die Häuser. Sie alle sind mit hellem Material verputzt. So freundlich, so offen … Sie sind wie das Sonnenlicht selbst. Allesamt.

 

„Wird Ḥalab einst verschwinden?“, frage ich wieder.

 

Jechonja schweigt.

 

„Wird es?“

 

Er reagiert wieder nicht und ich begreife, dass es keinen Sinn hat, weiter zu fragen.

 

„So wie jeder Mensch einst in die Scheol gehen muss“, setzt er da plötzlich an, „… so wird auch jedes Reich und jede Stadt sterben. Nichts ist ewig, auch wenn einem gerade das immer wieder entgegenschlägt, vor allem von denen, die uns gerade wegführen, aber auch von ihren Vorgängern. Immer steht die Ewigkeit dessen im Mittelpunkt, der gerade herrscht und dabei verhöhnt ihn seine eigene Endlichkeit. Im Grunde ist es zum Lachen: Derjenige, der sich am meisten aufbläst, hat auch am meisten Angst.“

Ich nicke nur, weil ich seine Worte erst einmal zu verstehen versuche.

„Und Jeruschalajim?“

Er lässt diese Frage unbeantwortet.

Mein Vater schimpft mit mir, als ich ihm wieder unter die Augen trete und meine Mutter klagt und weint. Aber ich bin gerade in einer Stimmung, in der mir all das egal ist. Vollkommen!

Städte können wie Menschen sterben. Und ebenso wie diese können sie ermordet werden.

Ein Teil von uns, darunter auch wir, brauchen erstmals nicht in Zelten zu schlafen, sondern haben Räume in einem großen Haus zugewiesen bekommen. Wir sind als Familie untergebracht und da sie denken, dass auch Jechonja zu uns gehört, darf er bei uns bleiben. Wir sagen nichts dagegen, denn im Grunde ist es schon so, dass er zu uns gehört. Und ich überlege mir, ob ich traurig darüber wäre, wenn er plötzlich nicht mehr bei uns wäre …

... und ja, das wäre ich ... sehr sogar ...

Tag 43

 

Es geht weiter, doch anders als zuvor, haben wir jetzt, wie andere auch, einen kleinen Wagen zugeteilt bekommen, auf den wir unser Gepäck laden können. Gezogen werden diese Wagen von Kühen und Ochsen. Es heißt, dass diese Tiere nach Bawel gebracht werden sollen, wir also keinerlei Rechte an ihnen hätten. Doch der Umstand, jetzt einen eigenen Wagen zu haben, nimmt uns etwas von der Last, denn wir wissen, dass der Weg noch weit ist. Unser nächstes Etappenziel, so sagen die Kasdim, sei der Perat, von dem es heißt, er sei der größte Fluss überhaupt. Jechonja murmelt daraufhin: „Der Strom in Mizrajim ist länger.“ Unwillkürlich muss ich grinsen. Woher er das bloß alles weiß?

 

Wenig später finde ich mich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern auf dem kleinen Wagen wieder, während Vater und Jechonja neben der Kuh herlaufen. Da ich mich nun nicht mehr anzustrengen brauche, ertappe ich mich dabei, wie ich immer mal wieder zu Jechonja hinüberlinse und so als hätte er das bemerkt, wendet er sich um. Wieder lächelt er und kommt zu uns heran. Dann reicht er mir ein kleines Säckchen. „Hier hab ich noch was für euch.“

 

Ich öffne es – wieder sind es Datteln und Nüsse.

 

„Danke“, sage ich und berühre ihn kurz an der Hand. Dann wendet er sich ab und ich reiche das kleine Säckchen weiter an meine Mutter.

 

So auf dem Wagen vergeht der Tag recht schnell. Und am Abend sind wir kaum müde – nur mein Vater und Jechonja sehen erschöpft aus.

 

Da die uns begleitenden Kasdim jetzt wirklich andere sind – sie sagten uns vor Anbruch der Reise, dass sie uns nichts tun würden, solange wir ihre Befehle befolgen würden … Na ja, aufgrund dessen wollen meine Eltern, dass ich wieder bei ihnen im Zelt schlafe. Und im Grunde haben sie ja auch Recht, aber ich mache ihnen einen Gegenvorschlag.

 

„Wie wäre es, wenn wir Simche zu uns nehmen würden?“

 

Das Thema wird beim Abendessen diskutiert und schließlich kommen wir tatsächlich überein, dass noch immer eine Restgefahr bestehen könnte … mein Vater scheint nicht sehr überzeugt zu sein, willigt aber schließlich ein, dass Simche mit ins Zelt von Jechonja zieht. Zwar haben wir jetzt weniger Platz, doch das ist unwichtig. Wir teilen es uns so auf, dass Simche an der oberen Zeltwand schläft. Da er zum ersten Mal bewusst von seinen Eltern getrennt ist, krabbelt er rasch in meine Arme, ohne zugeben zu wollen, dass er ein klein wenig traurig ist und auch Angst hat. Nein, er sei ja schon ein großer Junger, sagt er und ich streiche ihm über den Kopf.

 

„Jechonja“, beginne ich nach einer Weile, als ich Simches tiefe Atemzüge vernehme.

 

Er wollte gerade das Öllämpchen löschen, sieht jetzt aber auf.

 

„Danke für die Datteln.“

 

Er schmunzelt.

 

„Sie haben so gut geschmeckt.“

 

Er beugt sich hinüber, berührt meine Wange.

 

„Sehr sogar“, sage ich und halte seinem Blick stand. „Und ich möchte wieder mit dir den Geheimnissen des Wassers lauschen.“

 

„Am Perat“, flüstert er und in diesem Moment beginnt mein Herz schneller zu schlagen.

 

 

Tag 44

 

Es hat wieder zu regnen begonnen und die Temperaturen sind stark gesunken. Mein Vater sagt: „Das war überfällig. Die ganze Zeit war es zu warm für diese Jahreszeit.“

 

Es geht leicht bergab – das habe ich schon kurz nach Ḥalab bemerkt – und wenn der Regen nicht wäre, würden wir noch schneller voran kommen. Unsere neuen Begleiter scheinen, anders als die früheren, kein großes Interesse daran zu haben, uns ständig zu überwachen. Sie gehen an unserem Tross nur dreimal täglich vorbei und zählen uns. Dann sind sie wieder weg und wir uns selbst überlassen.

 

Ich ertappe mich wieder dabei, wie ich, mit meinen Geschwistern auf dem Wagen sitzend, Jechonja beobachte. Er ist ganz nass, ebenso wie mein Vater. Und er geht ganz krumm mit hochgezogenen Schultern. Wenn es weiter so regnet, werden wir wohl einen Tag abwarten müssen.

 

Die Kasdim sagen, dass wir bald am Perat seien und dann wieder in einer Ruinenstadt lagern würden. Ihr Name lautet Emar.

 

Es ist kaum möglich, die Zelte aufzubauen. Immer wieder reißt uns der Wind die Planen aus der Hand. Wir schaffen es schließlich, aber nur mit Hilfe von anderen, denen wiederum wir helfen. Es ist ein komisches Gefühl. Seit Wochen reisen wir zusammen und nun helfen wir uns das erste Mal … ich denke schon, dass das auch etwas mit den neuen Wächtern zu tun hat, die eben nicht mehr so sehr darauf achten, dass wir immer still sind. Wir dürfen uns unterhalten, auch mit anderen zusammengehen. Und schon spüre ich wieder, wie es damals in Jeruschalajim war: allein waren wir nie! Nie! In unserem Viertel kannte einer den anderen. Wir hielten zusammen, unterstützten uns. Ganz sicher kam das auch daher, weil unsere Väter alle am Palast tätig waren und wir, die Kinder, gemeinsam die Schule besuchten und Schreiben und Rechnen lernten. Ich hatte viele Freundinnen, Hannah war nur meine liebste. Mit ihr war alles so schön. Wenn wir gemeinsam durch die Straßen gingen, konnten wir über alles lachen … Ein schlechter Tag in der Schule war durch sie wie ausgelöscht.

 

Ich kenne sie seit meiner frühen Kindheit. Das erste Mal sahen wir uns auf der Straße vor unseren Häusern – ganz friedlich neben unseren Müttern stehen. Aber das war nur die halbe Wahrheit! Dass wir uns schon zuvor kennengelernt hatten, sagten wir niemandem. Das sollte unser Geheimnis bleiben. Und ich habe mich bis heute daran gehalten.

 

Ich entdeckte das kleine Loch in der Mauer, die unsere Höfe voneinander trennte, durch Zufall. Ich musste mich hinknien, um hindurchzusehen und das tat ich auch, weil ich gespannt war, was ich sehen würde. Nun ja, dass mir ein anderes Auge entgegenstarren würde, damit hatte ich nicht gerechnet …

 

Unwillkürlich muss ich bei dem Gedanken daran lächeln: Was hatten wir uns damals beide erschrocken!

 

Der Wind und der Regen sind so stark, dass wir unser Abendessen im Zelt einnehmen müssen und dann gehen Simche, Jechonja und ich in unser Zelt. Seit ich gestern Herzrasen hatte, möchte ich Jechonja nicht mehr so nahe kommen, denn ich weiß, dass es dadurch wiederkommt.

 

 

Tag 46

 

Wir haben Emar am Perat erreicht! Und Regen und Wind sind fort. Wir nächtigen tatsächlich mitten in der alten Stadt – in noch halbüberdachten Ruinen, die wohl einmal Häuser gewesen sind. Vielleicht sogar große. Das aber weiß ich nicht.

 

Da es uns gestattet ist, gehen einige von uns in der Ruine umher. Ich überlege, ob ich auch gehen soll, sehe dann Jechonja und schließe mich ihm an. Warum nicht? Mit uns kommen Simche und meine anderen beiden Brüder. Schnell haben wir uns im Dämmerlicht des sich neigenden Tages in den schmalen Gängen verloren. Jechonja vorneweg, scheint Ahnung zu haben – oder tut er nur so? Denn alles kann er doch nun auch nicht wissen. Oder? Er geht mit uns ziemlich weit. In der Hand halten wir Öllämpchen, die wir bemüht sind, nicht ausgehen zu lassen. Simches ist natürlich als erste aus. Er greint leise, auch, weil es uns anderen nicht gelingt, sie ihm wieder zu entzünden. Ich nehme ihn an die Hand, achte darauf, dass meine beiden anderen Brüder ihre Leuchte nicht verlöschen lassen und gemeinsam folgen wir Jechonja.

 

„Was ist das hier eigentlich?“, lässt sich Jochanan da plötzlich vernehmen.

 

„Vielleicht ein ehemaliger Herrschersitz.“

 

„Ein Palast?“

 

„Glaube ich nicht, aber auf jeden Fall etwas Bedeutendes“, erwidert Jechonja.

 

„So wie die Davidsstadt?“

 

„Ja, so ähnlich, nur größer.“

 

„Immer ist alles größer. Ich habe auf der Reise noch nichts gesehen, was nicht mindestens ebenso oder viel, viel größer war als das, woher wir kommen“, sagt Jochanan und erntet dafür ein schnaubendes Lachen von Jechonja.

 

„Langsam frage ich mich, was so besonderes an Jeruschalajim sein soll, wo doch alles, aber auch wirklich alles viel größer und viel bedeutender ist als sie.“

 

Jochanan wirkt ehrlich enttäuscht. Aber wieder lacht Jechonja. Er ist stehen geblieben. Sein Gesicht wird durch das leicht flackernde Licht der Öllampe erhellt.

 

„Sie ist etwas ganz Besonderes“, erwidert er.

 

„Und warum?“

 

„Nun, schon allein deswegen, weil es unsere Stadt ist.“

 

„Na ja, und?“

 

„Und weil König David und sein Sohn Schelomoh dort König waren.“

 

„Ja, und außerdem?“

 

„Weil wir dort lebten“, erwidert Jechonja.

 

„Und was sind wir?“

 

„Jehudim.“

 

„Und was heißt das?“, will nun auch Schimschon wissen.

 

„Wir kommen aus Jehuda. Jehuda ist unser Land …“

 

„… gewesen“, vervollständigt Jochanan den Satz. „Jetzt sind wir ohne Land und ob wir es je wieder zurückbekommen, ist unklar.“

 

Im Schein der Öllampen kann ich erkennen, dass er die Stirn kraus zieht.

 

„Würde es dir denn wehtun, zu wissen, dass du nicht wieder in das Land zurückkehren könntest?“, fragt Jechonja und Jochanan zuckt mit den Achseln. „Ja, vielleicht, weiß nicht ganz. Aber ich denke, doch.“

 

„Und warum?“

 

„Weil es unser Land ist. Weil es uns gehört.“

 

„Warum gehört es uns?“

 

„Weil wir dort lebten.“

 

„Man kann auch an einem Ort leben, ohne dass er einem gehört“, erwidert Jechonja.

 

„Weil es schon unseren Vorvätern Ja’akow und Jitzchak gehörte. Weil sie dort ihre Schafe und Ziegen hüteten und von dem Ertrag des Landes lebten“, schalte ich mich ein und Jechonja nickt mir zu.

 

„Ja, das ist richtig. Unsere Vorväter lebten schon dort. Von denen werdet ihr doch schon gehört haben?“

 

Schimschon und Jochanan nicken. „Ja, Ima hat etwas von ihnen erzählt.“

 

„Und vor wie lange haben sie gelebt?“, will Schimschon wissen.

 

„Wie bitte?“

 

„Vor wie viel Zeit war das?“, wiederholt Schimschon und ich wende mich an Jechonja: „Er will wissen, wann genau das war.“

 

„Oh, lange, lange vor unserer Zeit. So weit können wir gar nicht zurückdenken, da gab es Jitzchak und Ja’akow schon…“

 

„Und von denen stammen wir ab?“

 

Jechonja nickt.

 

„Dann sind wir ja alle verwandt.“

 

„Deswegen könnt ihr mich Onkel nennen“, lacht Jechonja. „Im Ernst: Jitzchak und Ja’akow waren Kinder viel größerer Familien, so großer Familien, dass man sich untereinander heiraten konnte, ohne dass es verboten gewesen wäre. Aber ja, verwandt sind wir dennoch alle, wenn auch um so viele Ecken herum, dass wir sie gar nicht mehr zählen können. Und ich finde, das macht uns zu etwas Besonderem, oder nicht?“

 

„Na ja.“

 

Jochanan zuckt mit den Schultern. „Doch, schon.“

 

„Unser Land und unsere Stadt mögen vielleicht kleiner sein als andere Länder und andere Städte, aber wir sind eine riesengroße Familie“, fügt Jechonja hinzu.

 

Wir gehen weiter. Immer hinter Jechonja her und auch Schimschon geht das Lichtlein aus.

 

„Mist!“, flüstert er und ich streiche ihm über den Kopf.

 

„Und weil wir eine riesige Familie sind“, höre ich Jechonja sagen. „… ist es wichtig, dass wir alle zusammenhalten und uns gegenseitig helfen, wie man das so in einer Familie tut.“

 

„Ja? Meinst du, dass ich auch einem Unbekannten helfen muss, wenn er bloß ein Jehudim ist?“, fragt Jochanan.

 

„Ja!“

 

„Und anderen dafür nicht?“

 

„Das habe ich nicht gesagt.“

 

Plötzlich bleibt Jechonja stehen und winkt uns heran, dann leuchtet er.

 

„Und wisst ihr auch, wer Jitzchak und Ja’akow das Land gab?“

 

Einen Moment lang herrscht Stille und ich sehe mich um. Meine drei Brüder sehen Jechonja unverwandt an.

 

„Na?“, fragt dieser.

 

„Äh, weiß nicht …“, beginnt Jochanan.

 

„Ihre Eltern?“, fragt Schimschon und hält den Zeigefinger am Mund.

 

Doch Jechonja schüttelt den Kopf. „Nicht ihre Eltern, sondern …“

 

„… der Ewige?“, schalte ich mich neuerlich ein und Jechonja nickt.

 

„Ja, der Ewige. Er gab ihnen das Land, damit sie dort lebten. Sie zeugten Kinder und vererbten das Land an sie und die zeugten wieder Kinder und die vererbten das Land weiter – immer weiter wurde das Land gegeben. Immer weiter bis zu uns heute.“

 

„Und nun haben wir es verloren“, bemerkt Jochanan und presst die Lippen fest aufeinander.

 

Wieder entsteht eine Pause, in der ich nur den Atem der anderen höre, dann öffne ich den Mund, denn ich möchte sagen, dass dieser Gott, der unseren Ahnen das Land gegeben hat, uns nun preisgegeben habe. Das möchte ich sagen, doch unterlasse es, als ich Jechonjas Blick bemerke.

 

 

Tag 47

 

Ich habe in der Nacht nicht viel geschlafen, weil ich über Jechonjas Worte nachdenken musste. Zwar weiß ich, dass ich eine Jehudit bin und auch von Jitzchak und Ja’akow abstamme, aber ich kann nichts dagegen tun, dass mich der Gedanke daran nicht berührt. Ganz im Gegensatz zu meinen Geschwistern – allen voran Jochanan. Ihm scheint es sehr nah zu gehen. Aber ich, ich habe Jeruschalajim nicht geliebt, weil ich weiß, dass dort König David regierte und er – ebenso wie ich – ein Nachfahre unserer beiden Ahnen war, nein, sondern weil ich die Stadt so sehr mochte. Weil ich das Leben, das sich im Frühling auf ihren Straßen und Plätzen abspielte, liebte. Dieser Trubel von Menschen. Und weil Jeruschalajim dann so gut roch und weil es so leicht war, an gute Datteln heranzukommen und weil die Oliven dort so gut schmeckten und weil Hannah meine Freundin war und ich mit ihr zusammen sein konnte, und auch mit ihrem Bruder, der mir diese rote Murmel, die er einst von diesem Händler erhalten hatte, schenkte … Ja, weil es eben einfach Jeruschalajim ist. Deswegen vermisse ich Jeruschalajim … Und während ich das denke, kommen mir die Tränen.

 

Der Perat – er ist wirklich ein großer Fluss. Mir ist es vollkommen egal, ob es da noch einen größeren gibt. Der Perat ist groß, er ist breit und …

 

… und als wir wieder badeten, da traute ich mich nicht, zu Jechonja hinüber zu paddeln, aber ich versuchte auch allein, auf das Wassers zu lauschen … doch es gelang mir nicht so recht ...

 

Es ist kalt, sehr kalt als wir alle wenig später beim Feuer sitzen. Wir sind noch immer in Emar, in diesem halb überdachten Raum. Ich hebe den Kopf, sehe die uralte Deckenkonstruktion aus langen Holzstämmen – wahrscheinlich sind es Zedern. Wie gut sie sich erhalten haben!

 

 

Tag 48

 

Heute Morgen sah ich durch Zufall Secharjahu wieder, der, den die Kasdim vor Wochen geblendet hatten. Er stand allein da und wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Er tastete um sich, tat einige Schritte, fand keinen Halt, taumelte und wäre gefallen, wenn ihn nicht im letzten Moment jemand gestützt hätte.

 

Unwillkürlich schlug ich die Hände vors Gesicht. Wie hatte ich die letzten Tage über nur so unbekümmert leben und mir Gedanken darüber machen können, dass ich in Jechonjas Nähe Herzklopfen bekommen könnte? Wo doch gleichzeitig Menschen litten …

 

Secharjahu geht es nicht gut. Seine Augen oder besser seine Augenhöhlen sind noch immer blutunterlaufen. Niemand reinigt ihm die Wunden. Wahrscheinlich lässt er niemanden heran, weil er starke Schmerzen hat. Ich überlege, ob ich zu ihm gehen und mit ihm sprechen soll, aber ich traue mich nicht. Was sollte ich ihm denn auch sagen? Wir kennen uns ja nicht, auch wenn wir, wie Jechonja sagt, alle miteinander verwandt sind.

So viele Tage bis Mari ...

Tag …

 

Die Kasdim sagten uns heute, dass wir in den nächsten Tagen, wahrscheinlich schon übermorgen, Mari erreichen würden. Mari, die uralte Palaststadt, die einst Hammurabi, einer der Urahnen Newuchadrezzars, eroberte … So hatte es uns Jechonja gesagt. Ich erinnere mich noch genau an diesen Moment. Es war beim Mittagessen. Da war er so fröhlich gewesen und hatte jeden von uns angelächelt.

 

Und am Abend dann hatte ich ihm diese Frage gestellt. Diese eine Frage! Wie hatte ich nur so dumm sein können und wissen zu wollen, wie er den Mord an seiner Frau und seinem ungeborenen Kind hat überwinden können.

 

Jetzt, da ich im Zelt meiner Eltern neben Simche liege und auf den Schlaf warte, spüre ich Jechonjas Schmerz fast körperlich und ich schlage mir die Hände vors Gesicht. Er hatte alles verloren, was er sich je gewünscht hatte. Ich hätte es anfangs nicht gedacht, dass ihm so etwas wiederfahren war. Wie er so entspannt im Wasser gestanden hatte, wie er immer wieder gelächelt und gesagt hatte, dass wir Glück hätten, leben zu können … Wie kann man so sein, wenn man doch gleichzeitig einen so großen Kummer in sich trägt?

 

 

Mari

 

Heute sind wir in Mari angekommen und die Kasdim gaben uns die Erlaubnis, uns frei auf dem Gelände des uralten Palastes zu bewegen. Sie sagten auch, dass sie uns nichts tun würden, solange wir ihren Befehlen Folge leisten würden.

 

„Die neue Truppe scheint wirklich vernünftiger zu sein als die alte“, sagte mein Vater.

 

„Aber können wir ihnen wirklich trauen?“, fragte meine Mutter.

 

„Ich fürchte, uns bleibt nichts anderes übrig.“

 

Da meine Brüder die Ruine unbedingt erkunden wollten, ging ich mit, nicht ohne jedem eine Öllampe anzuzünden. Wer auch immer hier gewohnt haben mochte, musste sich schon sehr gut orientieren können, um sich in dem Wirrwarr an Räumen zurechtzufinden. Aber wahrscheinlich war das damals, als der Palast noch intakt war, leichter als jetzt, da die Mauern an einigen Stellen nur noch mannshoch waren und auf dem Boden Schuttberge lagen. Und augenblicklich fragte ich mich, wie man hier gelebt hatte, als der Palast noch stand. Wahrscheinlich waren die Menschen reich gewesen, viel reicher als wir in Jeruschalajim. Klar, bei so einem großen Palast! Vor 1000 Jahren lebten sie hier, so alt sollte diese Ruine sein. Unvorstellbar. Ich hob meine Hände. 1000 Jahre – wenn jeder Finger zehn Jahre waren, dann waren es 100 Finger mal 10 … Vor so langer Zeit lebten hier Menschen – und wir, meine Brüder und ich, liefen nun hier umher – müde, erschöpft und dennoch wollten wir wissen, wie es hier aussah. Abwechslung von der Wanderung entlang des Perat. Und ein wenig Freiheit. Unwillkürlich blieb ich stehen und schloss die Augen. Freiheit! Ja, die kannten die Menschen, die hier lebten, ganz sicher – bis … bis … Wenn ich mich recht erinnere, dann waren es die Vorfahren der Kasdim, die diesen Ort zerstörten. Hammurabi war ihr König. Sie belagerten den Palast, ehe sie seine Mauern brachen. Wie bei uns in Jeruschalajim. Nur 1000 früher. Und wie bei uns trieben sie Rammböcke in die Mauern und schossen Brandgeschosse in die Stadt, ehe sie selbst kamen und alles verheerten. Den Schutt, den ich ringsum mich her sah, stammte von diesem Ereignis. Unwillkürlich bückte ich mich, nahm etwas auf und zerrieb es zwischen den Fingern. Wenn dieser Staub erzählen könnte. Wenn … Ich würde ihm so gerne lauschen. Die Menschen müssen gelitten haben. Schon als die schwerbewaffneten Truppen sich von Süden her näherten. Das Land ist hier flach. Man muss sie schon lange vorher als dunklen, später schwarzen Fleck am Horizont gesehen haben. Ein Fleck, der rasch größer wurde. Und was taten die Menschen hier im Palast? Bewaffneten sie sich ebenfalls? Wehrten sie sich gegen den Feind? Oder wussten sie, dass jede Gegenwehr sinnlos wäre? Versuchten sie es trotzdem, sich zu wehren? Irgendwie? Um ihren Palast und letztlich sich selbst zu retten? Wo versteckten sie sich, als die Truppen von Hammurabi in den Palast einbrachen? Gibt es geheime Räume – vielleicht tief unter der Erde bei den Toten, wo niemand freiwillig hingeht? Hockten sie dort neben den Gebeinen ihrer Ahnen und warteten darauf, dass der Feind wieder abzöge, während sie die Schreie ihrer Brüder und Schwestern vernehmen mussten. Rückten sie noch enger zusammen in dem Wissen, nichts für sie tun zu können, ohne Gefahr zu laufen, selbst entdeckt zu werden? Und rochen sie nach einiger Zeit das Feuer, das über ihren Köpfen loderte? Brannte sich der Rauch in ihre Kehlen, sodass sie kaum noch Luft bekamen? Was taten sie, als sie bemerkten, dass sie hier unten ersticken würden? Dass es keinen Ausweg mehr gab? Und hörten sie dann wieder diese Schreie? Was geschah da oben mit ihren Brüdern und Schwestern?

 

Oder entdeckte man sie noch während sie sich verstecken wollten und zerrte sie hervor. Waren es ihre eigenen Schreie, die sie vernahmen, als sie die enthaupteten Leichen ihrer Eltern und Freunde sahen und augenblicklich wussten, welches Schicksal ihnen selbst drohte, als man sie zwang, sich hinzuknien und vornüberzubeugen?

 

Mit welchem Recht zerstören Menschen Städte und ermorden andere Menschen? Warum hat der Stadtgott von Mari es zugelassen, dass so etwas geschieht? Und warum unser Gott? Sind sie wirklich zu schwach, sich Menschen entgegenzustellen?

 

Wir überquerten einen Hof, der gepflastert war, als Simche wie angewurzelt stehen blieb.

 

„Konja!“, rief er und riss an meiner Hand.

 

„Wo?“, fragte Jochanan.

 

„Da.“

 

Unwillkürlich sah ich in seine Richtung und tatsächlich: da stand er – allein – und mein Herz … ach … es schlug noch heftiger, als er auf uns zukam. Er wirkte noch schmaler als vor Wochen, aber er lächelte.

 

„Konja“, rief Simche wieder und packte seine Hand.

 

„Da seid ihr ja, ihr vier! Und wie ich sehe, geht es euch gut, auch wenn du etwas traurig schaust, Michal. Aber das musst du nicht – wir sind in Mari. Mari! Einst war das hier der schönste und größte Palast weit und breit. Voll des Lebens.“

 

Wieder sprach er so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. „Was meinst du? Haben es sich die Menschen, die hier lebten, schwer sein lassen? An diesem Ort? In diesem Land? Hier am Fluss? Am Perat?“

 

Er unterbrach sich.

 

„Die Menschen hier lebten zufrieden, waren fröhlich, feierten ihre Feste, beteten zu ihren Göttern – vor allem zu Dagan, dem Gott des Korns …“

 

Wieder unterbrach er sich und ich sah ihn nur an.

 

„Wenn du mir nicht glaubst …“

 

„Doch“, erwiderte ich, er aber lächelte: „Ich glaube dir nicht, dass du mir glaubst. Aber ich habe vorhin etwas gefunden …“

 

„Was?“, rief Simche und auch Jochanan und Schimschon drängten sich um uns, während Jechonja etwas aus seiner Tasche holte.

 

„Hier“, sagte er. „Weiß jemand, was das ist?“

 

„Zeig!“

 

Und Jechonja beugte sich zu uns hinab und beleuchtete seine geöffnete Hand.

 

„Na, was ist das?“

 

Ich sah ein kleines Viereck, nicht größer als sein Handteller.

 

„Ihr könnt es ruhig nehmen, aber lasst es nicht fallen“, forderte er uns auf und Jochanan schnappte es sich.

 

„Es ist … oh man …“, sagte er dann mit großen Augen.

 

„Sag es nicht!“, erwiderte Jechonja und legte einen Zeigefinger an seine Lippen. „Gib es weiter.“

 

„Hier.“

 

„Ein Stempel“, rief Schimschon, aber Jechonja schüttelte den Kopf. „Nein, kein Stempel.“

 

„Schade, hätte ich auch gedacht.“

 

„Zeig!“, forderte Simche und Schimschon legte es ihm auf seine beiden Hände. Einen Moment blieb Simche – beinahe möchte ich sagen – andächtig stehen und besah sich das Ding, ehe er aufblickte. „Da ist nen Tier drin … Es sieht so aus, als könnte man was reintun.“

 

„Richtig!“, sagte Jechonja. „Und habt ihr eine Ahnung, was man da reingetan hat?“

 

Ich beugte mich ebenfalls über den kleinen Gegenstand, nahm ihn dann auch selbst. Er war aus Lehm und er besaß eine Vertiefung und in dieser war ein Tier, ein Esel oder ein Pferd, eingeprägt. Seltsam.

 

„Keine Ahnung?“

 

Wir schüttelten die Köpfe.

 

„Habt ihr eurer Mutter noch nie in der Küche geholfen?“

 

„Nein“, rief Simche.

 

„Aber ihr esst doch alle gern Kuchen?“

 

„Na klar! Am liebsten Rosinenkuchen.“

 

„… und Dattelkuchen.“

 

„Honigkuchen.“

 

Und in dem Moment, da meine Brüder ihre liebsten Kuchen aufzählten, dämmerte es mir. „Ist das eine …?“

 

„Ja“, nickte Jechonja. „Das ist eine Backform. Man füllte in sie den Teig und stellte ihn dann in den Ofen. Und wenn er fertig gebacken war, stürzte man ihn und hatte einen kleinen Kuchen – einen Kinderkuchen mit einer Verzierung oben drauf. Wir in Jeruschalajim hatten auch solche Backformen, stimmt’s?“

 

Während er das sagte, sah er mich an.

 

„Hier lebten Frauen, die ihren Kindern Kuchen backten. Das muss man sich einmal vorstellen …“, fügte er hinzu und lächelte.

 

„Bis Hammurabi kam und alles zerstörte“, erwiderte ich.

 

„Ach, Michal …“, seufzte er und legte mir seine Hand auf die Schulter.

 

„Zeig uns noch etwas“, rief Jochanan.

 

„Ja, hast du noch was?“

 

„Und eurer Vater, was sagt der dazu, wenn ihr mit mir zusammen seid?“

 

„Ach, der muss es ja nicht wissen“, sagte Jochanan und lächelte überlegen.

 

Rasch sah sich Jechonja um. „Gut, ihr habt Glück. Ich habe wirklich noch etwas entdeckt.“

 

„Was denn?“

 

„Einen Schatz“, sagte er und machte große Augen. Das sah so komisch aus, dass auch ich grinsen musste.

 

„Einen Schatz? Och … Einen großen?“

 

„Riesengroß.“

 

„Och“, machte Jochanan und stieß Schimschon an, der daraufhin beinahe sein Öllämpchen hätte fallen lassen und seinem Bruder einen Klaps versetzte.

 

„Manno!“

 

„Depp!“

 

„Du Pups!“

 

„Na, na“, schaltete sich Jechonja ein. „Beruhigt euch, denn mit unartigen Kindern gehe ich nicht los.“

 

„Ja, seid liebe Kinder!“, krähte Simche und zerrte an Jechonjas Hand.

 

Einen Moment später befanden wir uns auf Erkundungstour, so wie damals in Emar – im Gänsemarsch, immer einer hinter dem anderen her. So gingen wir durch noch halbüberdachte Räume und schmale Korridore. Und unwillkürlich streckte ich meine Hand aus und strich mit den Fingern aber die Wände. Sie fühlten sich rau an und wieder wünschte ich mir, sie könnten mir von dem erzählen, was sie erlebt hatten. Aber wollte ich das tatsächlich erfahren? All das Elend? Die Zerstörung? Vielleicht buck eine Mutter ihren Kindern gerade einen Kuchen, als die Truppen über den Palast herfielen?

 

Wir gelangten auf einen großen Hof – viel größer als der letzte. Und Jechonja drehte sich um.

 

„Hier ist es.“

 

„Hier? Der Schatz?“, rief Simche und Jechonja nickte.

 

„Wo?“

 

„Na, sucht ihn! Wer ihn zuerst hat, der bekommt etwas“, sagte er.

 

„Was bekommen wir?“

 

Jechonja lächelte erneut: „Das ist eine Überraschung. Michal, möchtest du nicht auch suchen?“, entgegnete er und deutete auf meine umher rennenden Brüder.

 

Erst in diesem Moment begriff ich, dass ich die ganze Zeit vor Jechonja gestanden und ihn angesehen hatte.

 

„Hier nichts“, rief Schimschon.

 

„Hier auch nichts“, echote Jochanan.

 

„Kannst du mir einen Tipp geben?“, fragte ich ihn, doch er schüttelte den Kopf. „Du wirst es finden.“

 

Ich sah mich um, konnte aber nichts Außergewöhnliches ausmachen. Überall nur Schutthaufen an den Wänden und ich wandte mich ab.

 

„Geh ein bisschen umher, bleib nicht stehen, sonst wirst du es nicht finden“, hörte ich Jechonja sagen.

 

„Hier!“, rief Simche und deutete auf die uns gegenüberliegende Wand. „Hier!“

 

Sofort waren Jochanan und Schimschon bei ihm und schubsten ihn weg.

 

„Na, na, immer mit der Ruhe“, rief Jechonja und zu mir gewandt: „Deine Brüder sind schneller als du.“

 

Ich zuckte mit den Schultern. „Es sind ja auch Jungs.“

 

„Nichts als Ausreden!“

 

„Da hat jemand was an die Wand gemalt“, rief Simche und hüpfte umher, wie es seine Art war, wenn es ihm richtig gut ging.

 

„Richtig! Und? Kann mir jemand sagen, was zu sehen ist?“

 

Einen Moment blieben wir alle vor der Malerei stehen und betrachteten sie.

 

„Ist das ein Schatz?“, ließ sich dann Schimschon vernehmen.

 

„Ja.“

 

„Find ich nicht so spannend.“

 

„Es ist aber uralt.“

 

„Wie alt?“

 

„1000 Jahre und mehr.“

 

„1000 Jahre?“, fragte ich. „Also so alt wie der Palast selbst?“

 

Jechonja nickte.

 

„Eine uralte Malerei, von jenen Menschen stammend, die hier lebten, als …“

 

Er unterbrach sich.

 

„…als was?“

 

„Als hier Zimrilim, der letzte König regierte …“

 

„Ach so, ist trotzdem nicht spannend“, erwiderte Schimschon etwas enttäuscht und wandte sich ab.

 

„Gut, aber bleibt in der Nähe.“

 

„Ja.“

 

Im ersten Moment wollte ich meinen Brüdern schon zustimmen, doch dann bemerkte ich, wie große das Bild war, mehr als 5 Ellen lang und mindestens ebenso hoch. Also riesig. Und dann diese Farben. So leuchtend, als wären sie gerade erst aufgetragen worden. Schon war ich versucht, meine Hand auszustrecken, um es zu prüfen. Ich stand genau vor zwei Figuren mit Hörnerkronen, die Gefäße in den Händen hielten, aus denen etwas hervor kam. (*)

 

„Das ist Wasser“, sagte Jechonja.

 

„Es wirkt so, als würde er fließen.“

 

„Das soll es auch. Es sind Wassergötter.“

 

„Und das ist wirklich 1000 Jahre alt?“

 

„Wohl noch älter.“

 

Ich stand nur da, nickte und beleuchtete das Bild mit meinem Lämpchen. Wenn ich mir vorstellte, dass Menschen vor 1000 oder mehr Jahren hier gestanden und dieses Gemälde angebracht hatten und ich mir ihr Werk gerade ansah, dann überkam mich ein Schauer.

 

„Und darüber?“

 

Ich reckte mich und Jechonja sah mich einen Moment lang an. „Möchtest du es sehen?“

 

Ich nickte und er, er umfasste mich bei den Hüften und hob mich einfach hoch.

 

„Siehst du’s?“

 

Ich nickte und stützte mich auf seine Schulter. „Vier Personen, zwei auf der einen, zwei auf der anderen … zwei tragen die gleiche Hörnerkrone wie die Wassergötter.“

 

„Das sind ebenfalls Götter, die einem Herrscher, wahrscheinlich Zimrilim, die Herrschaft über den Palast übertragen.“

 

„Aha …“

 

Dann sah ich weiter und mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich begriff, was ich da vor mir hatte.

 

„Palmen“, rief ich. „Ein ganzer Palmenwald.“

 

Und er breitete sich genau über meinem Kopf aus. Lauter Palmen. Ich kam mir so vor, als stünde ich genau in diesem Wald, als ich weiter leuchtete.

 

„Und hier, diese geflügelten Wesen links und rechts. Sie haben Menschengeschichter und Katzenkörper.“

 

„Das sind Wesen, die den König beschützen, damit diesem nichts Böses widerfährt.“

 

Schon wollte ich sagen, dass dem König aber schließlich etwas Schlimmes geschehen sei, verkniff es mir aber, denn wieder waren da die Farben, die mich dazu brachten, zu glauben, dass alles echt sei. So wie ich das Licht bewegte, schienen sich auch die Tiere zu bewegen – und ebenso die Palmen. Wenn ich es so wollte, dann hörte ich den Wind, der durch ihre Kronen strich und sie leicht rascheln ließ.

 

„Das ist so schön“, sagte ich, als ich wieder neben Jechonja stand.

 

„Ja, aber etwas hast du übersehen.“

 

Und wieder nahm er mich hoch, wieder spürte ich seine Hände auf meinen Hüften. „Sieh von dir aus nach rechts.“

 

Ich leuchtete. „Palmen.“

 

„Ja, und noch?“

 

„Oh, Menschen, die am Stamm hochklettern.“

 

„Was wollen sie da?“

 

Ich leuchtete nach oben und beinahe kam es mir so vor, als kletterte ich ebenfalls hinauf in die Baumkrone, als ich es plötzlich sah.

 

„Früchte!“, rief ich und berührte Jechonjas Hände. „Na klar, Früchte, was denn auch sonst!“

 

In diesem Moment ließ mich Jechonja wieder herab. „Welche werden es sein?“

 

Er lächelte und kam mir etwas näher. Durch das Licht seiner Öllampe sah ich seine Augen genau und ich bemerkte, dass sie blau waren. Blau – so wie der Himmel in diesem Gemälde. Und mein Herz begann wieder schneller zu schlagen.

 

„Jechonja“, murmelte ich.

 

„Na?“

 

Ich zuckte mit den Schultern und er schmunzelte: „Kann es sein, dass das Datteln sind?“

 

„Datteln?“, erwiderte ich. „Wo gibt’s hier denn Datteln?“

 

„Überall – wir sind schon an vielen Dattelpalmen vorbeigekommen.“

 

„Wirklich?“

 

„Ja, du musst dich nur umsehen. Überall …“

 

Und in dem Moment gab er mir eine.

 

„Ich will auch“, maulte plötzlich Simche neben mir.

 

„Und ich auch“, rief Jochanan.

 

„Du bekommst dein Geschenk noch“, sagte Jechonja und deutete auf Simche.

 

„Wieso der?“

 

„Weil er die Wandmalerei als erstes entdeckt hat.“

 

Und mit diesen Worten holte Jechonja einen kleinen Stein hervor, der an einer Schnur hing und legte ihn Simche um den Hals. Dieser nahm den Stein.

 

„Was ist das?“

 

„Ein Rollsiegel. Das trugen früher ganz edle Herren.“

 

„Ha ha ha“, lachte Jochanan. „Der ist doch nicht edel. Der kackt ja noch in die Windeln.“

 

„Du hast vor drei Jahren auch noch in die Windeln geschissen“, erwiderte ich.

 

„Michal, du stinkst.“

 

„Stimmt ja gar nicht“, widersprach Simche und stolzierte wie ein kleiner edler Herr neben mir her – die Brust vor Stolz geschwellt, da er solch einen Schatz um den Hals tragen durfte. Doch um unseren Eltern keinen Vorschub zu liefern, nahm ich ihm seinen Schatz ab. Natürlich greinte er, doch ich erklärte ihm, dass ich ihm das Steinchen nicht wegnehmen wolle. Nur, dass wir es verstecken müssten. Er dürfe es niemals im Beisein meiner Eltern tragen. Das verstand er und steckte es in seine Tasche.

 

 

Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, wird mir bewusst, was an diesem Abend tatsächlich geschehen ist. Jechonja brachte uns schließlich zurück zu dem Hof, in dem wir uns begegnet waren. Da verabschiedete er sich und umarmte jeden von uns. „Der Ewige segne euch alle vier!“, sagte er dann und wandte sich um.

 

„Wohin gehst du?“, rufe ich ihm nach.

 

Er bleibt stehen, lächelt mich an und sagt: „Nach Bawel, wohin sonst?“

 

„Aber … warum nur können wir nicht zusammen ...“

 

Da kommt er noch einmal auf mich zu. „Iss deine Dattel“, sagt er.

 

„Wie?“

 

„Du hast sie noch in der Hand.“

 

Ich sehe auf. „Es war … so schön mit dir, so wunderschön … Ich möchte nicht, dass du gehst.“

 

Und da er schweigt, suche ich verzweifelt nach etwas, was ich ihm sagen könnte – und es drängt mich auch. Hatte mich schon die ganze Zeit gedrängt. Nur getraut hatte ich mich nie. Nun aber, da wir uns trennen müssen, durchzuckt es mich ... Er hatte sich immer um mich gekümmert, mich getröstet, mir Kraft gegeben und ich, ich hatte ihn ... Ich spüre doch seinen Schmerz, diesen tiefen, tiefen Schmerz, der ihn immer begleitete … Aber ich hatte nie etwas getan, um ihn aufzumuntern ..., ja hatte ihn sogar noch ... Und nun geht er, einfach so ... ohne, dass ich ... Ich hätte das nie ... niemals ...

 

„Mir ... mir tut es so leid, dass du deine Familie verloren hast, deine Frau, dein Kind. Bitte verzeih mir, dass ich … das ich nie zuvor …“, stoße ich hervor.

 

Einen Moment lang tut er nichts, steht nur vor mir, sieht mir in die Augen, ehe er die Hand hebt und mir über die Wange streicht. Dann wendet er sich plötzlich ab, will tatsächlich gehen. Was, was kann ich tun, um ihn am Gehen zu hintern, um ihn zu halten? Was? Es muss doch etwas geben?

 

„Jechonja“, sage ich und noch einmal: „Konja, was ich dich noch fragen möchte: Woher weißt du das alles? Das mit dem Orontes, das mit den Ruinenstätten – einfach alles. Du denkst doch nicht nur über das Wesen Gottes nach, oder?“

 

Mein Herz rast, als er sich neuerlich umdreht, mir nur wieder in die Augen sieht, um dann meine Hand zu nehmen und sie ganz leicht zu drücken.

 

„Du willst wissen, woher?“

 

Ich nicke.

 

 „Magst du Rätsel, Michal?“

 

Ich nicke erneut und um seinen Mund spielt ein Lächeln:

 

„Ein Haus, setzt er an,

wie der Himmel (auf) einem Fundament fest gegründet.

Ein Haus,

das jemand wie eine Schatzkiste mit einem Leinentuch bedeckt hat.

Ein Haus,

wie eine Ente auf festem Sockel stehend.

Geschlossenen Auges trat einer ein,

geöffneten Auges kam er (wieder) heraus.“ (**)

 

Er unterbricht sich und sieht mich an: „Na, was ist die Lösung?“

 

Ich bin verwirrt, zucke mit den Schultern. Ein Haus? Eine Schatzkiste? Geschlossene und geöffnete Augen ...?

 

„Bitte“, stoße ich hervor und achte darauf, dass er meine Hand nicht loslässt.

 

„Wenn du die Antwort kennst“, fährt er fort, „weißt du nicht nur, was ich in Jeruschalajim war, sondern wirst mich ganz sicher auch in Bawel wiederfinden …“

 

„Jechonja, bitte“, krächze ich.

 

Er sieht mir nur in die Augen, schweigt aber und wendet sich dann auch wieder um, macht gar Anstalten zu gehen. Ich aber halte seine Hand fest, ganz fest.

 

„Konja!“ Ich will ihn nicht gehen lassen. „Ein Haus wie eine Schatzkiste, man geht mit geschlossenen Augen rein und kommt mit geöffneten wieder Augen hinaus ...? Bitte …“

 

Er drehte sich wieder um, nickt. „Ja, in solch einem Haus wirst du mich finden … in Bawel …“

 

„Und wir dich auch?“, ruft Schimschon da plötzlich und springt uns vor die Füße. In seinen Augen blitzt es auf und er grinst – kess, wie ich finde. Und schon will ich ihn mit meiner freien Hand wegschieben. Er stört mich, doch Jechonja lächelt ebenfalls, nickt. „Ja“, sagt er, „ihr alle könnt mich dort finden. Ihr alle …“

 

„Oh, dann weiß ich die Lösung“, fährt Schimschon eilfertig fort. „Ich weiß es! Es ist die Schule. Stimmt’s, sie ist es … man geht mit geschlossenen Augen rein und kommt mit geöffneten heraus, weil man plötzlich ganz viel weiß … Stimmt’s?“

 

„Du bist schlau, Schimschon“, erwidert Jechonja ganz ruhig und legt ihm die Hand auf die Schultern. „In Jeruschalajim war ich Lehrer und werde es auch in …“

 

„Aber wie denn Lehrer?“, begehrt Jochanan da plötzlich auf. „Wenn du einer gewesen wärst, müssten wir dich doch aus Jeruschalajim kennen. Du kannst kein Lehrer gewesen sein …“

 

„Und doch war ich einer“, unterbricht ihn Jechonja.

 

„Na, das erklär mir mal“, ruft Jochanan, stellt sich vor ihn und sieht ihn von unten her an. Jechonja schmunzelt nur und streicht ihm über den Kopf. „Ich war einer, allerdings nicht für die Kinder der Oberstadt, die hatten ja genug, sondern für die …“

 

„… unten, in der Unterstadt“, entfährt es mir.

 

Wieder nickt Jechonja und ich halte seine Hand ganz fest.

 

„Was? Die hast du unterrichtet?“, fragt Jochanan ungläubig. „Die? Die brauchen das doch gar nicht … die …“

 

„Gerade die, denn derer gibt es so viele. So viele. Und glaubst du nicht, dass auch diese Kinder lesen und rechen lernen möchten?“

 

Jochanan zuckt mit den Schultern. „Haben die nicht etwas Anderes zu tun?“

 

„Ich will das auch werden, Lehrer“, ruft Schimschon dazwischen. „Lehrer, so, wie du, für die, die sich Lehrer gar nicht leisten können, die Armen …“

 

„Das ist schön. Wenn du das wirklich werden möchtest“, erwidert Jechonja und streicht auch ihm über den Kopf. „Dann solltest du zu mir in Bawel in die Schule kommen, damit ich dir alles beibringen kann. Ich freue mich auf euch alle …“

 

Ich hatte bisher geschwiegen, doch nun durchzuckt mich ein Gedanke, der sich mir beinahe schmerzhaft aufdrängt. „Was …“, setze ich an, „… wie, wie kannst du dir so sicher sein, dass du in Bawel wieder eine Schule haben wirst, ja, dass wir uns überhaupt wiedersehen werden? Wie, Jechonja?“

 

Mein Herz schlägt so schnell, als er sich an mich wendet. Und wieder lächelt er. Dann tritt er vor mich, nimmt auch meine andere Hand und ich, ich weiß nicht. „Man muss vertrauen …“, sagt er ganz leis.

 

„Was?“, frage ich und spüre, wie ich innerlich zu zittern beginne. „Was? Vertrauen? Denen, die uns …“

 

Ich unterbreche mich, will diesen Gedanken nicht ausführen, will sowieso nicht weiterdenken, frage mich dann aber plötzlich, warum Jechonja stets so ruhig geblieben ist, warum er den Kasdim gegenüber nie Hass gezeigt hat. Andere aus unserer Gruppe – ja, andere … selbst mein Vater, aber er niemals, obwohl, obwohl … Aber ich will ihn das nicht fragen. Nicht hier, niemals. Das gehört sich nicht.

 

„Ja“, höre ich ihn sagen, „ja … vertrauen …“

 

„Dass sie uns nicht wie Vieh halten werden?“

 

Er nickte. „Vertrauen darauf, dass alles gut wird.“

 

„Aber wie?“

 

„Das mag dich sicher nicht trösten, gar überzeugen, Michal, aber mein Freund Jirmejahu, du nanntest ihn einen Spinner, sagte mir kurz vor unserem Weggang, dass …“

 

„Was?“, schnappe ich. „Was, sagte er dir?“

 

„Er sagte, dass die Kasdim die Nachfahren eines großen Volkes seien, viel älter als wir und auch viel klüger. Dass einst deren Vorfahren die ersten Städte erbaut und die Schrift erfunden hätten und auch das Rad und die Töpferscheibe, den Kanalbau und die ersten literarischen Werke auf den Weg gebracht hätten. Den Gilgamesch, vielleicht kennt ihr den? Den werden wir lesen in Bawel. Sie, die ihn einst schrieben, nannten sich selbst saggiga, was so viel wie die Schwarzköpfigen bedeutet. Er sagte auch, dass sich die Kasdim in deren Tradition sähen und sich ihnen verpflichtet wüssten …“

 

Er unterbricht sich, sieht mich an. Vielleicht weiß er um meine Gedanken? Ganz sicher weiß er um sie. Wie denn auch nicht?

 

„Und?“, frage ich atemlos.

 

„Er sagte auch“, fährt er fort, „dass uns die Kasdim nicht in ihr Land holen würden, um uns zu foltern oder zu töten. Wenn sie das vorgehabt hätten, hätten sie das bereits getan. Nein, sie holen uns in ihr Land, um uns in den Berufen, die wir erlernt haben, einzusetzen, damit wir zum Erhalt ihrer Gesellschaft beitragen können.“

 

„Das sagte er dir?“

 

Jechonja nickt. „Uns drohe keine Gefahr, wenn wir erst einmal da seien, dort im Land zwischen den beiden Flüssen.“

 

„Und … und warum sagst du das erst jetzt?“, bringe ich stammelnd hervor.

 

„Weil …“, setzt Jechonja an, wird jedoch von Schimschon unterbrochen: „Weil wir ihn zuvor nicht danach gefragt haben. Ist doch klar!“

 

Jechonja nickt. „Und er sagte auch, dass wir, die wir nun künftig dort leben werden, für den Frieden der Stadt beten sollten, denn nur so sei auch uns Friede beschieden. Und wir sollten Häuser bauen und Gärten pflanzen, um von deren Früchten zu essen. Und wir sollten …“ (***)

 

Er unterbricht sich, sieht kurz zu Boden, so, als überlege er, und ich, ich halte es nicht mehr aus, neige mich vor, lege meine Arme um ihn und schmiege mich, die Augen ganz fest zusammenkneifend, an ihn. Ich weiß gar nicht, was er tut. Stehen bleibt er jedenfalls. Stutzt vielleicht. Doch dann spüre ich plötzlich seine Hand im Rücken und mich durchfährts neuerlich.

 

„Was sollten wir?“, höre ich da Schimschon fragen.

 

„Wir sollten ...“ Ich höre, wie sich Jechonja räuspert. Es kommt ganz tief aus seinem Inneren, so wie das, was er dann sagt: „Wir sollten vor allem eines tun: Familien gründen, dort in Bawel, um weiterzuleben, von Generation zu Generation.“

 

Und während er das sagt, spüre ich seine Hand in meinem Rücken und ich höre, wie Schimschon ruft: „Das klingt doch gut. Das machen wir so. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Wir machen das: Gärten pflanzen und Häuser bauen und … und … wenn ich alt genug bin, dann suche ich mir eine Frau und …“

 

„Hat das Jirmejahu wirklich so zu dir gesagt?“, frage ich wirr in die Worte meines Bruder hinein, hebe den Kopf und fange Jechonjas Blick auf.

 

„Ja, Michal“, erwidert er, „kein Wort ist gelogen. Wir sollen für den Frieden der Stadt beten, uns Häuser bauen, Gärten anlegen und einander finden, um Familien zu gründen ...“

 

„Und Schulen bauen“, kräht Simche.

 

 

----------------------------- ENDE -----------------------------

 

(*) Michal und Jechnonja betrachten die sog. Investitur-Szene des Zimrilim, die heute - Gott sei Dank, nee, Parrot sei Dank!!! - in ihren Resten im Louvre zu betrachten ist. Hier ein Link: https://www.wikiwand.com/en/Investiture_of_Zimri-Lim

(**) Übersetzung aus dem Sumerischen von Konrad Volk

(***) In Rückgriff auf Jer 29,4-7, den sog. Brief an die Weggeführten.

 

Tage 49 bis ...

Tag 49

 

Ich schlafe schlecht, weil ich wirr träume. Ich erwache und sehe mich Jechonja gegenüber, der ein Öllämpchen in der Hand hält.

 

„Was ist?“, will er wissen und ich kann nur weinen.

 

Er streicht mir über die Wange, versucht mich zu beruhigen, nimmt mich schließlich in den Arm, beginnt mich zu streicheln. Ich schließe die Augen. Diesmal habe ich kein Herzrasen, denn es ist nicht die Zeit dafür. In den frühen Morgenstunden erwache ich neben ihm.

 

„Ich habe gesehen, wie sie zwei Menschen geköpft haben – ganz am Anfang. Einfach so“, sage ich.

 

Jechonja schweigt, sieht mich nur an.

 

„Ich habe gesehen, wie sie Jehonatan mitten auf dem Weg erschlugen, auch einfach so. Und Secharjahu … Und dann die Eltern von Hannah, nur, weil sie zu erschöpft waren, um weiterzugehen …“

 

Ich unterbreche mich und dann stelle ich die Frage, die ich eigentlich gar nicht mehr hatte stellen wollen.

 

„Wie kann der Ewige das zulassen?“

 

Jechonja schweigt und er bleibt auch stumm, als sich Simche in meinem Arm rührt und einen unartikulierten Laut von sich gibt.

 

„Vielleicht hast du dich schon einmal gefragt, warum ich allein bin …“, beginnt er da plötzlich ganz leise.

 

„Hmm“, mache ich nur, denn um ehrlich zu sein, hatte ich mir die Frage noch nie gestellt. Secharjahu ist allein, Jehonatan war es auch. Es gibt viele Männer in unserem Tross, die allein sind.

 

„Ich hatte eine Frau.“

 

„Oh“, erwidere und möchte nicht weiterdenken.

 

„Vor 11 Jahren waren die Kasdim schon einmal in der Stadt …“

 

„Ja.“

 

„Meine Frau war schwanger.“

 

Er unterbricht sich und ich betrachte ihn von der Seite, kann nichts sagen, weiß auch überhaupt nicht, was.

 

„Damals“, fuhr er fort, „stellte ich mir die gleichen Fragen wie du jetzt. Die gleichen. Wie kann es sein, dass Gott so etwas zulässt?“

 

„Und … und warum lässt er es zu?“

 

 

Wir befinden uns wieder auf dem Weg – jetzt entlang des Perat, dieses großen Flusses, dem wir ab jetzt bis nach Bawel folgen werden. Aber bis dahin, so sagen die Kasdim, wird noch viel Zeit vergehen. Weiterhin begleitet uns leicht hügeliges Land, das durch die Regenfälle mit einem grünen Teppich bedeckt ist. Ich versuche mich durch dessen Anblick von dem abzulenken, was mir Jechonja sagte. Da ich auf dem Wagen neben meiner Mutter und meinen Geschwistern sitze, traue ich mich nicht zu weinen. Es wäre verräterisch. So halte ich meine Tränen zurück, springe bei der nächsten Gelegenheit herab und gehe ein Stück des Wegs. Ich spüre, dass mir das gut tut. So gehe ich weiter und bleibe auch etwas hinter dem Wagen zurück. Ich brauche das jetzt!

 

 

Tag 50

 

Mich stört die Nähe und Enge. Nirgendwo bin ich allein. Immer ist da schon jemand!

 

 

Tag … (ich weiß nicht, der Wievielte es ist, da ich zu zählen aufgehört habe ...)

 

Ich habe schon so lange nichts mehr geschrieben. Und ich dachte zwischenzeitlich auch daran, mit dem Schreiben vollkommen aufzuhören, weil ich darin keinen Sinn mehr sah. Mir ging es mit dem Schreiben auch nicht anders als ohne. Es ist alles so einerlei, ob ich nun schreibe oder nicht, ob sich jemand einen Stein einläuft oder nicht …

 

Secharjahu ist gestorben. Er lag eines Morgens einfach vor seinem Zelt. Auch ich habe ihn dort liegen sehen und empfand nichts dabei.

 

Wir sind jetzt wieder bei einer Ruine. Niemand sagt uns den Namen und ich frage auch nicht. Wir befinden uns in einem von halbhohen Mauern umgebenen großen Hof. Er ist gepflastert. Hier sollen wir unser Nachtlager aufschlagen.

 

Es ist immer dasselbe. Morgens in der Früh aufstehen, dann wandern und abends das Lager aufbauen. Ein einziges Einerlei!

 

Vielleicht sollte ich nur noch schreiben, wenn etwas passiert, was es sich aufzuschreiben lohnt? Wie wäre es damit: Wir sind vorhin an einer Stelle vorbeigekommen, an der ein anderer Fluss, der Chabur, in den Perat fließt. Gehört das in ein Tagebuch?

 

Oder: Als ich vorhin, kurz bevor wir diese Ruine erreichten, in den Himmel sah, meinte ich, noch nie so große Wolken über mir gehabt zu haben. Wirklich, sie sind gigantisch! Und auch das Land wirkt hier so weit, da es flach ist. Man kann meilenweit schauen. Am liebsten wäre ich stehengeblieben …

 

Ich habe mit Jechonja noch nicht wieder sprechen können. Es hat sich bisher einfach nicht ergeben. Und fragen möchte ich ihn auch nicht, denn das gehört sich nicht! Wenn er nichts weiter erzählt, dann ist das eben so.

 

Ich sehe einige Mädchen aus unserem Tross am Perat stehen und überlege, ob ich hingehen sollte. Ich tue es. Die Mädchen stammen auch aus Jeruschalajim. Sie unterhalten sich und lachen ab und zu. Und dann sehen sie mich so an, als wäre ich ein Geist.

 

„Ihr lauft weiter vorn, nicht wahr?“, frage ich sie.

 

Sie nicken.

 

„Ich bin hinten im Tross.“

 

Wieder nicken sie.

 

„Und wie heißt ihr?“

 

„Dvorah und Riwka und Sarah.“

 

„Michal.“

 

Einen Moment lang stehen wir vier schweigend am Perat und sehen aufs Wasser, bis Riwka ganz unverhofft fragt: „Wie ist das eigentlich mit so einem Alten?“

 

Ich sehe auf und in drei fragende Gesichter.

 

„Wie?“

 

„Na, du bist doch mit dem verheiratet, oder etwa nicht?“

 

Ich stocke. „Nein.“

 

„Wie, du bist nicht mit dem verheiratet und schläfst trotzdem in einem Zelt mit ihm? Und was sagen deine Eltern dazu?“

 

Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. „Nichts“, erwidere ich.

 

„Also heiratet ihr bald?“

 

„Nein. Ja. Vielleicht“, bringe ich nur hervor und halte mir gleich darauf den Mund zu.

 

„Na, was denn nun?“

 

Da erinnere ich mich an Jechonjas Lüge und sage: „Ja!“

 

„Dann seid ihr also verlobt?“

 

Mir wird immer mulmiger. Warum fragen mich die Mädchen das?

 

„Ja!“

 

„Und da dürft ihr schon beieinander liegen?“, schaltet sich Dvorah ein.

 

„Und wie ist das, wenn er dich küsst?“

 

Ich spüre, dass mich die Mädchen ausfragen wollen und verfluche mich innerlich, dass ich es so weit habe kommen lassen.

 

„Das geht euch nichts an“, erwidere ich und mache auf dem Absatz kehrt. Ich höre ihr Lachen hinter mir her.

 

Ich fühle mich gerade nicht so gut und ich weiß nicht, wie ich diese schlechte Stimmung loswerden kann. Wenn ich meine alten Tagebucheinträge durchgehe, dann lese ich da, dass es mir schon eine Weile so geht. Ich fühle mich immer müde, abgeschlagen, mir ist im Grunde alles egal, so als befände ich mich in einem endlosen Schlaf, aus dem ich nur ganz selten zu erwachen scheine. Damals zum Beispiel, als ich Herzklopfen wegen Jechonja hatte. Das war so, als würde ich klare, frische Luft atmen.

 

Ich gehe einige Schritte entlang des Perat. Woran könnte es liegen, dass ich mich so fühle? An den Kasdim? An der Angst? Oder an dem, was ich miterlebt hatte? Ich weiß es einfach nicht. Ich habe mich noch nie so gefühlt, allem so gleichgültig gegenüber. Auch jetzt eben hätte ich den Mädchen etwas erzählen sollen. Ihnen sagen, dass sie dumme Hühner sind. Aber ich hatte nicht die Kraft dazu. Einfach nicht die Kraft! Und dabei wollte ich doch bloß ein wenig Gesellschaft, einmal andere Gesichter sehen.

 

Stattdessen hocke ich jetzt wieder bei meiner Familie und überlege mir, dass ich von dem heutigen Gespräch nichts erzählen sollte.

 

 

Tag …

 

Wir sind noch immer in dieser Ruine. Warum ziehen wir nicht weiter? Es regnet doch nich. Mir gefällt es hier nicht besonders. Ich will weiter und doch weiß ich nicht, wohin. Mir treten Tränen in die Augen.

 

 

Tag …

 

Schon seit Tagen laufen wir am Perat entlang. Es ist eintönig, abgesehen von den großen Wolken und dem weiten Himmel über uns und dem grünen Teppich beidseits des Flusses. Warum bin ich nur so traurig? Ich könnte doch froh sein, dass uns die Kasdim endlich in Ruhe lassen …

 

„Wir werden bald an Mari vorbeikommen“, lässt sich Jechonja unvermittelt vernehmen, als wir zur Mittagspause zusammen sitzen.

 

„Mari?“, erwidert mein Vater und sieht von seiner Speise auf.

 

„Mari“, wiederholt Jechonja und steckt sich ein Stück Brot in den Mund.

 

„Na und?“

 

Jechonja kaut, dann setzt er seine Wasserflasche an. Ich sehe, wie er schluckt. Einmal, zweimal. Dann wischt er sich den Mund ab.

 

„Ja, Mari, die uralte Ruine eines Palastes.“

 

„Nu?“, erwidert mein Vater, aber Jochanan sieht Jechonja wie gebannt an. „Erzähl!“

 

Und Jechonja lässt sich nicht lange bitten. Er strahlt in der ihm eigenen Weise, als er sich noch ein Stück Brot in den Mund steckt, kaut und dann ansetzt: „Ein uralter Palast mit riesigen Abmessungen direkt am Perat gelegen.“

 

„Wie groß?“, möchte Jochanan wissen. „Doch nicht etwa auch größer als die Davidsstadt?“

 

„Doch“, nickt Jechonja.

 

Jochanan schüttelt den Kopf.

 

„Alles ist größer als Jeruschalajim … Alles …“

 

„Ja, so etwas Großes haben wir alle, die wir hier sitzen, wohl noch nicht gesehen.“

 

„Und woher weißt du das dann?“

 

„Gelesen hab ich darüber“, erwidert Jechonja. „Gelesen. Vor tausenden von Jahren herrschte dort ein König, Zimrilim war sein Name. Der war mächtig und wohlhabend. Er baute sich diesen riesigen Palast, seine Stadt, sein Reich. Wenn du den Palast einmal durchqueren möchtest, brauchst du ganze zwei Tage!“

 

„So groß?“

 

Jechonja nickt und Jochanan macht große Augen. Auch Schimschon rückt näher heran. Und Simche hockt mir auf dem Schoß.

 

„Und er trotzte zahlreichen Angriffen. Die Aschschurim versuchten es, aber bissen sich ihre Zähne an ihm aus.“

 

Jechonja macht eine Pause und schnaubt leise, so als wolle er seine Verachtung für dieses Volk zum Ausdruck bringen.

 

„Schließlich aber gelang es doch jemandem, diesen riesigen Palast einzunehmen und zu verheeren. Könnt ihr euch denken, wer?“

 

Jechonja sieht in die Runde.

 

„König David?“, kräht Simche. Jechonja aber schüttelt lächelnd den Kopf. „Nein, der nicht.“

 

„Joschijahu?“, ruft Jochanan und hebt den Zeigefinger.

 

„Nein, auch der nicht.“

 

„Wer denn?“

 

Diese Frage kommt von meinem Vater und auch er grinst.

 

„Wohin gehen wir gerade?“

 

„Nach Bawel!“, ruft Jochanan.

 

„Richtig. Und dort gab es schon vor Urzeiten große und mächtige Könige. Kennt ihr einen beim Namen?“

 

„Newuchadrezzar.“

 

„Ja. Weiter?“

 

„Nawu-apla-uzur?“

 

„Auch richtig, war aber der Vater von Newuchadrezzar…“

 

„Newuchadrezzar“, rief Schimschon.

 

„Schon mal genannt.“

 

„Es gab einen ersten und einen zweiten. Von dem zweiten werden wir gerade weggeführt“, fährt Schimschon fort und zieht eine Augenbraue hoch.

 

„Kluger Kerl“, entgegnet Jechonja und lächelt.

 

„Assur-bani-apli?“, ruft Jochanan.

 

„Nein, das war einer der letzten Könige der Aschschurim.“

 

„Also wer denn nun?“

 

„Wer gilt als klügster Gesetzgeber weit und breit, abgesehen vom Ewigen?“, fragt Jechonja.

 

„Schelomoh, der Sohn von König David“, wirft Schimschon ein und Jechonja grinste dazu. „Ja, der gilt als besonders klug und weise, aber der berühmteste Gesetzesgeber, der lebte vor Urzeiten in der Stadt Bawel, die wir, so es der Ewige will, in einigen Wochen mit eigenen Augen sehen werden.“

 

„Und wer ist es nun?“, will mein Vater wissen.

 

„Hammurabi.“

 

„Natürlich der. Wie habe ich den vergessen können?“

 

„Und was hat der noch mal gemacht?“, will Jochanan wissen.

 

„Er gilt als größter Gesetzgeber aller Zeiten.“

 

„Ja, und davor?“

 

„Wie, davor?“

 

„Na, du hast doch etwas von Mari erzählt“, sagt Jochanan und um seinen Mund kräuselt es sich.

 

„Ach so, ja. Er hat den Palast eingenommen und verwüstet. Die Kasdim sehen sich in der Tradition dieses großen Mannes und ich würde mich wirklich sehr irren, wenn wir an diesem Ort nicht Halt machen würden.“

 

„Schöne Geschichte“, erwidert mein Vater.

 

„Danke.“

 

„… mit der du uns die Mittagspause zerquatscht hast.“

 

Doch Jechonja tut so, als hätte er die letzten Worte meines Vaters nicht gehört.

 

„Nur eine Frage noch: Kinder, wisst ihr wer Schomron und mit ihm Jisrael vernichtete?“

 

„Jetzt reichts aber“, schimpft mein Vater. „Wir sind doch hier nicht in der Schule!“

 

„Scharru-ukin“, ruft Jochanan.

 

„Und?“

 

„Sancheriw.“

 

„Korrekt!“

 

 

Am Abend nehme ich mir ein Herz und frage Jechonja: „Du, wie hast du den Tod deiner Frau überwunden?“

 

Er sieht mich lange an – das ganz ernst – und ich befürchte schon, dass er sich abwenden wird, ohne mir zu antworten. Doch dann sagt er ruhig: „Es war Mord.“ Und ich nicke. „Die Kasdim haben meine Frau und unser ungeborenes Kind ermordet.“ Wieder nicke ich und weiß nicht, was ich tun soll.

 

Seine Stimme ist sehr leise, als er hinzufügt: „Und das überwindet man nie. Niemals!“

 

„Ja …“, entgegne ich, doch er presst die Lippen fest aufeinander und schüttelt den Kopf.

 

Wieder entsteht eine Pause, in der wir beide uns nur ansehen, dann wendet er sich ab und beginnt in seinen Taschen nach etwas zu suchen und plötzlich hält er mir eine Dattel hin.

 

„Hier. Es ist die allerletzte, die ich noch aus Ḥalab habe.“

 

Er lächelt und unwillkürlich muss ich mich daran erinnern, wie wir hier vor Wochen im Zelt saßen und ich Herzklopfen bekam, als ich ihm sagte, wie gut die Datteln geschmeckt hätten. Doch jetzt ist nicht die Zeit für Herzklopfen – das spüre ich genau, als er mir zunickt, mir eine Gute Nacht wünscht und sich dann zur Zeltwand umdreht. Und doch klopft mein Herz ...

 

In der Nacht friere ich und ziehe mir die Decke bis unter die Nase. Doch das hilft nichts. Ich beginne zu zittern und finde keine Ruhe. Ich lausche zu Jechonja hinüber, aber von ihm kommt kein Laut. Es ist gerade so, als wäre er gar nicht da. Nur Simche, der in meinem Arm liegt, atmet tief und ich kuschle mich an ihn, um nicht zu weinen.

 

 

Tag …

 

Jechonja lächelt nicht. Auch ist er sehr schweigsam und geht etwas abseits, hinter unserem Wagen her. Nur hin und wieder traue ich mich, mich nach ihm umzudrehen, damit es meiner Mutter nicht auffällt. Jechonja hält den Kopf gesenkt, so als müsse er auf seine Schritte achten. Nur ab und an sieht er hoch. Einmal treffen sich unsere Blicke. Ich versuche zu lächeln, doch gelingt es mir nicht. Früher hätte er mir wenigstens zugenickt, doch jetzt schaut er einfach wieder weg. Am liebsten wäre ich vom Wagen gesprungen und hätte ihm gesagt, wie leid mir all das tut, doch das traue ich mich nicht. Er strahlt so etwas aus, das mir sagt, er wolle allein sein.

 

Wieder erhalten wir den Befehl, uns im Perat zu waschen. Ich beobachte Jechonja. Er steht bei den Männern und anstatt seine Hände über die Wasser gleiten zu lassen, wie er es so gerne tut, beginnt er sich sogleich zu waschen – wie alle anderen auch, taucht unter, kommt wieder hoch, fährt sich ein paar Mal über den Kopf und geht ans Land zurück, trocknet sich ab und zieht sich wieder an.

 

Seine Bewegungen wirken noch immer ruhig, fast gelassen, doch ich weiß, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Umso mehr möchte ich mit ihm reden, nur wie.

 

Am Abend sehe ich Jechonja allein am Perat stehen und wieder überkommt mich der Drang, einfach zu ihm zu gehen. Stattdessen bleibe ich am Zelt stehen und ertappe mich dabei, wie ich Jechonja neuerlich beobachte. Er ist ein großer Mann, größer als mein Vater und fast so groß wie die Kasdim. Aber er ist schlank, um nicht zu sagen, dünn. Reglos steht er da und scheint aufs Wasser zu blicken. Was mag in ihm vorgehen? Das frage ich mich und weiß es doch genau!

 

„Jechonja“, murmle ich und verkralle mich im Stoff des Zeltes.

 

In dieser Nacht ist es wieder so, als wäre er nicht da.

 

 

Tag …

 

In den letzten Tagen habe ich nichts geschrieben, weil ich es einfach nicht konnte. Jechonja ist noch immer sehr ernst und schweigsam. Und da meine Eltern nicht wissen, was mit ihm los ist, beginnen sie sich zu wundern. Natürlich fragen sie ihn nicht, denn das schickt sich nicht, aber mein Vater kommt auf mich zu.

 

„Sag mal, stimmt etwas nicht mit dem?“

 

Ich lüge und sage: „Ich weiß es nicht.“

 

Ich kann noch immer nicht mit ihm reden und weiß doch, dass ich es tun sollte. Aber was sollte ich ihm denn sagen?

 

Jechonja, es tut mir so leid, so unheimlich leid …

 

Nein, das hört sich zu trivial an, zu gewöhnlich, zu plump.

 

Und dann kommt auch meine Mutter auf mich zu und möchte mit mir in einer stillen Ecke sprechen. Sie wirkt beunruhig.

 

„Die Leute reden.“

 

So beginnt sie.

 

„Ja?“

 

„Über Jechonja und dich.“

 

„Und?“

 

„Michal, du kennst unsere Gesetze …“

 

Ich nicke. Mehr muss sie nicht sagen und ich tue so, als berühre mich all das nicht. Ein vergleichsweise kleines Problem gegen das, was Jechonja da mit sich herumträgt.

 

„… im selben Zelt …“, höre ich meine Mutter sagen und bin versucht, mich einfach abzuwenden, doch ich bleibe stehen, um ihr nicht das Gefühl zu geben, frech zu sein.

 

„Dein Vater ist auch dagegen“, sagt meine Mutter und ich werde hellhörig.

 

„Was? Aber …“

 

„Kind, es geht nicht, dass ihr weiterhin im gleichen Zelt schlaft, wenn ihr nicht verheiratet seid.“

 

„Aber … aber“, beginne ich zu stammeln und spüre, wie mir Tränen in die Augen treten.

 

„Michal, ich weiß doch, dass du ihn sehr magst.“

 

Ich schüttle den Kopf.

 

„Michal …“, flüstert sie und legt ihre Hand unter mein Kinn, sodass ich ihr in die Augen sehen muss.

 

„Aber …“, setze ich an, ohne zu wissen, was ich eigentlich sagen möchte und meine Mutter nimmt mich in den Arm.

 

„Sollte Jechonja um deine Hand anhalten, wird dein Vater nicht einwilligen.“

 

In dieser Nacht liege ich das erste Mal seit langer Zeit wieder im Zelt meiner Eltern, neben mir Simche. Ich versuche gar nicht erst zu schlafen, sondern starre nur in die Dunkelheit, um mich selbst zu beruhigen. Jechonja nahm es einfach so hin, als mein Vater über seinen Entschluss sprach. Er nickte kurz, aß sein Stück Fisch, erhob sich, wünschte uns allen eine gute Nacht und verschwand in sein Zelt.

 

 

Tag …

 

Seit heute morgen ist Jechonja nicht mehr bei uns. Als ich erwachte, sah ich meinen Vater und ihn zusammenstehen. Sie sprachen über etwas, dann sagte mein Vater ganz laut: „Verschwinde!“

 

Ich sehe, wie Jechonja sein Zelt abbaut, sein Säckchen schultert und ohne uns zu grüßen geht.

 

„Es ist besser so“, sagt meine Mutter.

 

Simche ist traurig. Er fragt mich die ganze Zeit, warum Konja weg sei und ob er wiederkäme. Ich presse die Lippen fest aufeinander, nehme meinen kleinen Bruder hoch und versuche ihn zu trösten.

 

Der Weg ist eintönig. Immer geht es am Perat entlang, der sich durch das flache Land schlängelt. Und ich, ich kann plötzlich an niemand anderes mehr denken als an Jechonja. Ich stelle mir vor, wie es mit ihm war, als er mit uns ging und sich unsere Blicke ab und an trafen, er mir dann lächelnd zunickte und mir eine Dattel reichte.

 

 

Tag …

 

Ich weiß nicht, wo Jechonja jetzt ist, mit welchen Leuten er geht. Natürlich halte ich noch immer nach ihm Ausschau, aber ich kann ihn nirgends sehen. Ja, es ist gerade so, als wäre er nur ein Traum, eine Phantasie gewesen, an die ich kurzzeitig gedacht hatte, um sie sogleich wieder zu verlieren. Jechonja, wer ist das? Würde Simche nicht nach ihm fragen, würde ich wirklich fast glauben, dass ich ihn mir nur eingebildet habe …

 

 

Tag …

 

Heute hatten wir wieder den Befehl bekommen, uns im Perat zu waschen und unwillkürlich musste ich mich fragen, ob Jechonja wieder den Geheimnissen des Wassers lauschte oder ob er dazu noch immer nicht fähig sei.

 

Bei diesem Gedanken wurde es mir schwer ums Herz und ich konnte meine Tränen nur mit Mühe verbergen.

 

Und in der Nacht spüre ich wieder seine Berührungen – wie er mir über die Wange strich, als er sagte: „Hab keine Angst! Denk daran, wie süß Datteln schmecken.“

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

1
Elisabeths Profilbild
Elisabeth Am 26.09.2023 um 9:41 Uhr Mit 1. Kapitel verknüpft
Hallo noch mal, Klatschkopie.

hab jetzt leider grad nur Zeit gehabt, Dein Glossar dieser Story zu lesen, aber ich denke, dieses fiktive Tagebuch wird für mich interessanter Lesestoff sein.

Bis dahin,

schöne Grüße von Elisabeth
Elisabeths Profilbild
Elisabeth Am 26.09.2023 um 20:34 Uhr
@Klatschkopie Ganz einfach: Ich sah in der Liste der Drabbles Dein 'Tage in Galizien, oder: Wie ich zu einem Wunderrabi kam' und hab Dich abonniert - und dann habe ich diese Story in Deiner Storyliste entdeckt und reingeschaut, naja, funktionierende Algorithmen denke ich ;-)

Schöne Grüße von Elisabeth
Klatschkopies Profilbild
Klatschkopie (Autor)Am 26.09.2023 um 11:59 Uhr
Hi Elisabeth,

vielen Dank für deinen Kommentar. :-)
Wie bist du denn auf meine Story aufmerksam geworden?
Ich freue mich, deine Meinung zu lesen.

Herzlich
KK
1
Aidans Profilbild
Aidan Am 09.07.2023 um 8:32 Uhr
Ich finde deine Erzählung bis hierhin sehr gelungen, die Darstellung von Orten, Personen und Ereignissen lebendig. Sie bringt mir als Atheisten biblische Geschichten näher. Gern mehr davon.
Klatschkopies Profilbild
Klatschkopie (Autor)Am 29.08.2023 um 21:32 Uhr
HI Aidan,

vielen Dank für dein Review. Ich musste grinsen, weil ich dir ja auch ein Review schrieb. Ich glaube, ein paar Stunden später, ohne gesehen zu haben, dass bei mir von dir eines gelandet war.
Gern lade ich mehr hoch. Am besten gleich die ganze Story, dann ist das raus.

LG
KK

Autor

Klatschkopies Profilbild Klatschkopie

Bewertung

Noch keine Bewertungen

Statistik

Kapitel: 10
Sätze: 2.848
Wörter: 31.690
Zeichen: 178.287

Kurzbeschreibung

Der Untergang der Stadt Jerusalem im Jahre 587/586 v.d.Zt. und die anschließende Deportation der hiesigen Bevölkerung nach Babylon durch Nebukadnezzar II gilt der Bibel als eine der schrecklichsten Katastrophen, die das Land je erschütterte. In dieser rein fiktiven Geschichte wird der mühevolle und von ständiger Angst begleitete Weg der Exilanten hinab ins Zweistromland geschildert. Im Mittelpunkt steht dabei Michal, die all ihre Erlebnisse in ein ebenso fiktives Tagebuch schreibt. Sie berichtet von ihren Ängsten, ihrem Kummer, aber auch von ihren Sehnsüchten und Träumen, und ebenso von Jechonja, diesem rätselhaften Mann, der sich den Befehlen der Babylonier trotz drohender Strafe widersetzt.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Krieg auch in den Genres Reise, Liebe, Katastrophe und Historik gelistet.