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Kapitel: | 13 | |
Sätze: | 4.020 | |
Wörter: | 46.482 | |
Zeichen: | 274.294 |
Norogdún.
Das Böse existiert.
Wir kämpften lang, so lang.
(Enaidyionalan: „Das Unbekannte Land“)
Videm stand am Heck der Janta. Das Boot ächzte und knarrte und drohte, bei jeder auftreffenden Welle auseinanderzubrechen. Dünner Regen ging auf ihn nieder, tränkte seine Kleidung.
In seinem Bauch rumpelte es. Nach zwei Tagen auf hoher See hatte sich das Unwohlsein noch immer nicht gelegt. Alle Körpersäfte schienen sich zu einem Gifttrank zu vermischen, der in unregelmäßigen Abständen die Speiseröhre hinaufschoss und ihn zwang, den Kopf über die Reling zu hängen.
Er hatte es aufgegeben, etwas essen zu wollen. Mehrfach hatten Jonoy und Adiv ihm Trockenfleisch oder hart gebackene Brotkanten angeboten. Gehorsam hatte er darauf herumgekaut, nur um sie kurz danach wieder herauszuwürgen. Allmählich war sein Rachen so wund, dass selbst das Schlucken schwerfiel. Nur lauwarmes Wasser, in das die Kriegerin Kräuterspitzen gab, schien den schmerzenden Magen zu beruhigen.
Den größten Teil des Tages stand er im Heck des Zweimasters und hielt sich an der Reling fest. Ihm war durchgehend kalt, obwohl er mehrere Schichten pelzgefütterter Lederkleidung trug und eine fellumwundene Mütze bis tief in die Stirn gezogen hatte. Dicke Handschuhe aus Kaninchenleder schützten seine Hände. Dennoch schimmerten sie bläulich, wenn er sie herauszog, um sie mit seinem Atem zu wärmen.
Er wusste, dass ihm wärmer werden würde, wenn er mithalf, das Boot durch den Archipel zu steuern. So wie die anderen. Anfangs hatte er versucht, verschiedene Aufgaben zu übernehmen, doch die Übelkeit zwang ihn immer wieder an Deck, schwächte ihn zusehends. Er hatte bereits an Gewicht verloren und sein Körper kam ihm kraftlos vor. Außerdem verstand er nichts von Booten. Er begriff nicht, wie das Zusammenspiel von Masten, Tauen und Segeln funktionierte, wann die Segel wie ausgerichtet werden mussten, wann man sie einholte oder ausrollte, wie man sie befestigte oder ihnen auswich. Adivs und Akims Auffassungsgabe schien so viel schneller als die seine. Die beiden bewegten sich mit einer Gewandtheit über das Deck, als hätten sie ihr Leben lang auf dem Wasser gelebt. Selbst Ylaiy bewahrte sich eine gewisse Anmut, wenn er heraufstieg, um mit der Kriegerin die Fahrtlinie zu besprechen.
Jeder hatte seine Aufgabe gefunden. Syriakin steuerte die Janta, die mit beeindruckender Geschwindigkeit durch Wellentäler und Wasserberge glitt. Trotz ihrer Breite und entgegen der Prognose ihres früheren Besitzers pflügte sie erstaunlich wendig um zerklüftete Inselchen und bizarre Riffformationen.
Akim sprang auf den Takelagen umher und betreute die Segel, die Anweisungen der Sumpffrau genau befolgend.
Adiv kümmerte sich um alles, was anfiel. Sie hielt das Boot sauber, wischte Wasser vom Boden, kratzte Salz und Kalk von Wänden und Geländern. Wenn nichts zu tun war, gesellte sie sich zu Syriakin und beobachtete, wie diese das Schiff steuerte. Hin und wieder stellte sie eine Frage zur Wegberechnung oder den seltsamen Zahlen auf dem Steuerrad. Die Sumpfjägerin antwortete bereitwillig. Sie verließ das Ruder nur selten, aber wenn sie es tat, langte Adiv nach den hölzernen Griffen.
Ylaiy studierte in der Kabine die Pergamente und Buchseiten aus Adivs Beutel. Auch der Schmied hielt sich lieber unter Deck auf. Er bereitete die Mahlzeiten zu und bewirtete die Gefährten. Schürte das Feuer, vor dem er ihre Kleidung trocknete. Teilte die Wachen ein. Schärfte ihnen ein, auf treibende Eisschollen, sich veränderndes Wetter, Schiffe und andere Auffälligkeiten zu achten. Schaufelte den Mist der Maultiere in Eimer und kippte sie über Bord. Manchmal sprang er Adiv bei, half Akim oder diskutierte mit Ylaiy seine Träume und die wundersamen Schriften.
Videm fühlte sich elend und nutzlos. Dabei nahm niemand Anstoß an seiner Zurückhaltung. Jeder sah, wie es um seine Verfassung bestellt war. Er hörte keinen Vorwurf, nicht einmal eine Andeutung davon; dennoch empfand er sich als Ballast, schämte sich für seine Schwäche. Er sprach noch weniger als sonst, mied Gesellschaft. Am Abend schlich er zu seiner Koje und versuchte, einige Stunden zu schlafen. Leider gab sein Magen nicht lange Ruhe, sodass er bald wieder die steile Stiege nach oben kletterte, wo kalter Wind an der Kleidung zerrte und klamme Luft sich um den Körper legte.
Freiwillige Nachtwachen zu übernehmen, schien daher nur logisch, auch wenn Jonoy ihm abriet. Doch Videm bestand darauf und der Schmied war schlau genug, ihm einen Rest Verantwortung zu überlassen. Sowieso befand er sich nie allein an Deck, denn die Kriegerin stand Tag und Nacht hinter dem Steuer.
Er blickte in den Himmel, als der Regen in Schneefall überging. Der Morgen dämmerte herauf. Dunst tauchte das Schiff in ein diffuses Licht. Nebelbänke verschmolzen Meeresoberfläche und Horizont. Schlagartig nahm die Kälte zu. Die Feuchtigkeit auf den Kleidern gefror im Handumdrehen zu einer Eisschicht. Dafür ließ der Wind nach. Erdrückende Stille legte sich über den Ozean.
„Wir müssen die Oberflächen freihalten“, drang die Stimme der Kriegerin an seine Ohren. Auf ihren Augenbrauen glitzerte Eis. „Sucht Euch einen Hammer oder etwas Ähnliches. Ihr müsst das Eis abschlagen, bevor es das Boot manövrierunfähig macht.“
Videm stolperte unter Deck und schreckte damit die anderen aus dem Schlaf. Sofort stand Akim hellwach auf den Beinen, während Adiv und Ylaiy sich schlaftrunken von den Lagern rollten und Jonoy seinen steifen Körper dehnte.
Der Fährtenleser half Videm, nach geeigneten Werkzeugen zu suchen. Bewaffnet mit einer kurzstieligen Axt, einem Hammer, Akims Speer und Jonoys Stab gingen die Männer ans Werk. Den Vormittag und einen Teil des Nachmittags klopften sie Geländer, Taue, Masten, Deckaufbauten und Planken ab. Das dünne Eis war leicht zu brechen, dennoch ermüdete die Arbeit. Sie schwitzten unter ihren vielen Stoffschichten, doch wegen der nasskalten Kleidung gefror der Schweiß auf der Haut. Adiv versorgte sie mit heißem Wasser und übernahm, wenn einer von ihnen kurz unterbrechen musste.
Videm war bald erschöpft, aber der abflauende Wind hatte das Meer beruhigt; eine Tatsache, die sein Magen begrüßte. Am Abend stellte er fest, dass er Hunger verspürte. Zum ersten Mal seit Tagen nahm er eine Mahlzeit zu sich, die sein Körper akzeptierte.
Während er auf dem faserigen Fleisch kaute, schweiften seine Augen zu der Kriegerin, die am Ruder lehnte und angestrengt auf die Wasserfläche starrte. Er stieß Ylaiy an, der neben ihm auf das Geländer einhämmerte. „Wir müssen sie ablösen.“
Ylaiy stoppte, kämpfte mit sich, nickte, schob sich schließlich vorsichtig über die eisbedeckten Planken zu ihr. Videm folgte zögernd.
„Du solltest ruhen“, rief Ylaiy, noch bevor er Syriakin erreicht hatte. „Wir werden für dich übernehmen.“
„Könnt Ihr das Boot steuern?“
„So schwer wird das wohl nicht sein. Es gibt kaum Hindernisse. Adiv hat Euch zugesehen und ich habe einiges über Schifffahrt gelesen.“
„Gelesen“, echote sie, ohne die Augen vom Wasser zu heben. „Stand in Euren Büchern auch etwas über eine plötzliche Wetteränderung? Denn ich glaube, dass diese nichts Gutes bedeutet. Das Eis macht mir Sorgen.“
„Das schaffen wir“, versicherte Ylaiy. Er wies auf Videm, der den Hammer niederfallen ließ, sodass das Eis in winzige Splitter zersprang.
„Und wie wollt Ihr das Eis zerschlagen, das möglicherweise auf dem Wasser entsteht? Was, wenn es uns einschließt? Wollt Ihr mitten auf dem Meer stranden?“
„Du meinst, die See könnte zufrieren? So etwas passiert vielleicht in entfernteren Reichen, aber im Dran‘bara? Das wäre mir neu.“ Der Kaisersohn winkte ab, wirkte jedoch verunsichert; eine Beobachtung, die Videm nicht behagte.
„Die Fedaj-i berichteten davon. Ammenmärchen, ich weiß. Andererseits hieltet Ihr die Wegangaben ebenfalls für solche, doch einige der genannten Hindernisse haben wir umkreuzt.“ Ihre Stimme blieb ausdruckslos.
Ylaiy zuckte mit den Schultern. Ohne ein weiteres Wort trat er den Rückzug an.
So verharrte die Kriegerin die dritte Nacht hinter dem Steuer, an das Holz gelehnt, mit Augen, die sich vor Müdigkeit röteten.
Während der Nachtwache hatte Videm mehr als einmal das Gefühl, dass sie einnickte, vor allem, wenn er längere Zeit auf die Eisschicht klopfte. Dann trat er neben sie und beobachtete das Wasser. Wenn er kurz darauf zu ihr hinüber schielte, waren ihre Augen wieder offen und starrten nach vorn. Er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch etwas sah.
Der Morgen des vierten Tages zog herauf, ohne dass das Wetter sich erneut veränderte. Schlaff hingen die Segel in der Flaute. Der Schneefall war nicht stärker geworden, aber der Eisfilm legte sich immer wieder neu auf alle Oberflächen.
Videm wurde von Akim abgelöst, den er auf den übermüdeten Zustand der Sumpffrau hinwies. „Vielleicht kannst du sie überreden, eine Pause zu machen.“
Während er eine weitere Runde um das kleine Schiff drehte, kehrte Akim unter Deck zurück. Minuten später tauchte er mit einem Becher dampfenden Wassers und einem Zwieback auf. Trotz Glätte und Dunkelheit gelangte er gewandt zu Syriakin. Sie vertilgte die Mahlzeit im Stehen.
Der Fährtenleser stellte sich neben sie, spähte in die Dämmerung, hielt die Nase in die Luft, schnupperte. Syriakin warf ihm einen prüfenden Blick zu, unterbrach das Schweigen jedoch nicht. Videm beendete seinen Rundgang und gesellte sich zu ihnen wie ein schüchterner Gast.
„Ich rieche keinen Schnee“, sagte die Kriegerin nach einer Weile.
„Ich auch nicht“, erwiderte Akim.
Videm blinzelte verwirrt. Schnee riechen? Zwischen der Sumpffrau und dem Wüstenjungen schien sich eine Verbindung zu bilden, die ihn ausschloss.
„Die Wolken haben sich aufgelöst. Sie sind Richtung Norden gezogen, glaube ich. Ich denke, dass wir das Land bald erreichen. Dort wird uns der Schnee erwarten.“
„Riechst du das Land?“, fragte Syriakin.
„Nein. Hier riecht alles nach Wasser, Eis und Kälte.“
Sie nickte, als ergäben die Äußerungen einen Sinn.
„Doch ich kann Vögel hören. Möwen. Jonoy hat mir erklärt, diese lebten in der Nähe der Küsten.“
„Zumindest tun sie das auf Kânegg. Erahnst du die Eisberge und Inseln?“
„Ihr meint, ob ich sie spüre, bevor wir sie rammen?“
„Ja.“
„Ich fürchte nicht. Möglicherweise sehe ich sie eher als Ihr. Meine Augen sind gut. Ausgeruht.“ Akim schaute zu Syriakin, deren Lider entzündet aussahen und von dunklen Schatten umringt waren. „Eisberge hört man“, fuhr er fort, während er vorgab, das Lächeln nicht zu bemerken, das um die Mundwinkel der Kriegerin spielte. „Sie sind laut. Ächzen und knarzen.“ Die Worte, die er nicht kannte, ahmte er nach. „Sie bewegen sich unterschiedlich schnell, aber bislang schwammen alle langsam genug, dass man ihnen leicht ausweichen konnte. Wasserwirbel und Strömungen höre ich, wenn es windstill ist und das Boot nicht zu sehr knarrt. Inseln kann ich vorhersagen, wenn sie felsig sind und das Wasser an steile Uferwände schlägt. Sind sie eben, nicht. Das ist ein Problem, wenn es so neblig bleibt.“
„Was sagst du über das Wetter?“
„Das kann ich nicht vorhersehen. Ich bin kein Schamane. Chada konnte das, sagen die Leute, und …“ Er verstummte so abrupt, dass sie ihn von der Seite anblickte.
Sie forderte ihn nicht auf, weiterzumachen, zumindest nicht mit Worten. Lediglich die Spannung in ihren Augen brachte ihn dazu. „Kian ist sehr gut darin. Manchmal warnt er uns vor einem Sandsturm, von dem es nicht das kleinste Anzeichen gibt. Er weiß, wenn die Nächte besonders kalt werden, rät uns, Tautücher aufzuhängen. Solche Dinge. Es ist fast wie Zauberei.“
„Chada konnte das auch?“
„Sie war sehr mächtig. Eine Legende in meinem Volk.“
„Davanas. Du bist von ihrem Blut, so wie dein Bruder. Also, was sagt dir dein Innerstes über das Wetter in den nächsten Stunden? Denke nicht nach.“
Akim zögerte kurz. „Na gut“, willigte er ein und schloss die Augen. „Der Schnee ist nach Norden gezogen. Er wird nicht stärker werden. Im Moment habe ich den Eindruck, dass der Wind wieder zunimmt. Er bläst aus Südosten wie an den anderen Tagen, sollte uns also in die richtige Richtung treiben. Ich weiß nicht, ob er sich zum Sturm auswächst. Vorerst sollten wir weiterhin das Eis entfernen und uns auf ihn freuen. Außer Videm, dem die Wellen zusetzen werden.“
Damit öffnete Akim seine Augen und wandte sich zu Videm um. Syriakin folgte der Bewegung und musterte ihn kurz, aber nicht unfreundlich. Vielleicht sogar ein wenig mitfühlend.
Dann sah sie Akim an. „Geh und hole Adiv. Sie soll das Ruder übernehmen. Der Prinz kann ihr mit seiner Karte von Nutzen sein, der Schmied ihr helfen, das Steuer zu halten. Du musst auf deine Sinne horchen.“
Akim verschwand augenblicklich. Videm blieb mit der Kriegerin allein.
„Ihr müsst Euch um das Eis kümmern.“ Die höfliche Anrede schmerzte nach dem vertrauten Ton, den sie Akim gegenüber angeschlagen hatte. „Auch wenn die Übelkeit zunimmt, müsst Ihr beim Eis bleiben. Den größten Teil der Fahrt haben wir wohl hinter uns. Ihr werdet das schaffen. Hier, haltet das Steuer, bis Adiv kommt. Falls irgendetwas passiert, weckt mich.“
Gebeugt stand der Prinz in der niedrigen Kajüte und betrachtete die schlafende Frau. Sie ruhte in einer ausgesprochen unbequemen Position. Halb auf dem Bauch, halb auf der Seite, das Gesicht zur Wand gedreht, den linken Arm nach oben abgewinkelt, den rechten unter dem Oberschenkel. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich ihrer Kleidung zu entledigen; selbst die Stiefel steckten noch an ihren Füßen. Lediglich die Tücher, die sie um den Kopf getragen hatte, lagen auf dem Boden, zusammen mit Köcher und Bogen. Schwarzes Haar bedeckte den größten Teil ihres Antlitzes, das im Halbdunkel kaum mehr zu erkennen war.
Die Hand erhoben, stand er seit Minuten neben ihr. Bislang hatte er sich nicht überwinden können, sie zu berühren. Er hatte angenommen, dass sie aufspringen und zur Waffe greifen würde, sobald sie seine Tritte auf der Leiter vernahm, doch ihre Atemzüge blieben tief und regelmäßig. Bei dem Gedanken, sie aus dem Schlaf zu reißen, wurde er nervös.
Dann wiederum spürte er das beängstigende Schlingern unter sich. Er gab sich einen Ruck, streckte den Arm aus, tippte mit seinem behandschuhten Finger auf ihre Schulter. Sie schnellte hoch wie von einer Schlange gebissen.
Erschreckt stolperte er rückwärts. „Der Schmied schickt mich.“
Mit wirren Haarsträhnen um Schläfen, Kinn und Hals belauerte sie ihn. Hellwach, in weniger als einer Sekunde. Ohne ein Anzeichen von Überraschung.
„Jonoy schickt mich“, wiederholte er. „Der Seegang wird stärker und der Nebel nimmt zu. Wir vermuten, dass wir in ein Schlechtwettergebiet segeln.“
Kurz horchte sie auf die Geräusche. Dann bückte sie sich nach ihren Tüchern, die sie geschickt um den Kopf knotete. Mit einer Bewegung signalisierte sie ihm, ihr zu folgen.
Nach ihr stieg er die Leiter hinauf an Deck.
In den Minuten, die er im Bootsrumpf verbracht hatte, hatte sich der Himmel weiter zugezogen. Nebel lag um das Boot wie der nasskalte Umschlag, den man Fiebernden auf die Stirn drückte. Er verschluckte einen Großteil der Töne. Wie in seiner Kinderzeit, wenn er mit Ohrenschmerzen darnieder gelegen und Rana ihm Zwiebeln aufgelegt hatte. Die gleiche Unwirklichkeit. Das seltsame Gefühl, die eigenen Atemzüge zu hören, und den eigenen dumpfen Herzschlag.
Jetzt war zusätzlich seine Sicht stark eingeschränkt und für einen Moment überkam ihn monumentale Einsamkeit. Er fühlte sich abgeschnitten von der Umgebung und den anderen, eingepackt in diesen sonderbaren, sandgelben Nebel. Erinnerungen von sich selbst im Leib seiner Mutter überschwemmten ihn. Behagliche Wärme. Gluckernde Stille. Frieden.
Ein plötzlicher Ruck riss ihn beinahe von den Beinen und zurück in die Gegenwart. Eine Woge war breitseitig an den Bootsrumpf gerollt, brachte das Fahrzeug zum Zittern.
Ylaiy kämpfte sich zum Steuerrad durch, um das sich die Gefährten versammelt hatten. Alle starrten mit gerunzelten Mienen auf das schäumende Wasser. Akim hing über der Reling, horchte angestrengt in die gespenstische Stille.
„Befremdlich“, sprach die Kriegerin die Gedanken aller aus.
„Der Nebel?“, fragte Jonoy. „Der ist wie Suppe. Sieht aus wie das, was Videm von sich gibt. So etwas habe ich noch nie gesehen.“
„Das, und dass es so ruhig ist, obwohl die Wellen höher werden und gegen das Boot schlagen. Das ganze Meer ist in Bewegung. Man müsste sie hören.“ Sie warf einen Blick auf Videm, der mit blassgrünem Gesicht an der Bootswand lehnte, den Hammer unter die Achsel geklemmt. Er sah sie beschämt an, doch sie sagte nichts. Stattdessen wandte sie sich an Akim. „Was erwartet uns?“
„Sturm, denke ich. Aber ich bin mir nicht sicher. Die Nebelwand überdeckt alles, verformt die Geräusche. Ich glaube, ich vernehme das Heulen von Wind und das Tosen von Wasser, sehr bald vor uns.“
„Könnte es eine Strömung sein oder ein Wirbel?“
Er zuckte mit den Schultern. „Auf jeden Fall gurgelt und rauscht es.“
Die Kriegerin dachte kurz nach. „Geht nach unten“, sagte sie schließlich. „Haltet euch fest, so gut ihr könnt.“
Niemand rührte sich.
„Willst du das Boot allein durch einen Sturm steuern? Das ist verrückt“, widersprach Ylaiy für alle.
„Wenn Sturm kommt, können wir nur hoffen, dass die Segel sich nicht losreißen. Tun sie das, sind sie eine Gefahr für jeden an Deck. Genauso wie der glatte Boden.“
„Warum holen wir die Segel nicht ein?“
„Weil uns vielleicht keine Zeit bleibt. Weil das hier – das alles – unerklärlich ist. Es herrscht dichter Nebel, gleichzeitig kocht das Meer. Ich spüre Wind und Regen, doch hängen die Segel schlaff an den Masten, und das Eis wächst, anstatt im Wasser zu schmelzen. Irgendein Unheil braut sich da zusammen. Ich weiß nicht, wie es Euch geht, Prinz, aber ich beabsichtige, diese Gewässer so schnell wie möglich zu durchqueren. Und wenn es ein Sturm ist, der uns an Land wirft, soll mir das recht sein.“
„Es gibt einen Unterschied zwischen Mut und Tollkühnheit. Zwischen Beherztheit und Leichtsinn.“
„Was schlagt Ihr also vor? Unter Deck sitzen und abwarten?“
„Das Boot ist wenig mehr als eine Nussschale, die auf dem Meer treibt, wenn niemand es steuert“, warf Jonoy ein.
„Dann versuchen wir, es zu lenken“, gab Ylaiy zurück. „Gemeinsam. Allein hier oben - das ist lebensmüde.“
„Wie Ihr meint. Wenn Ihr an Deck bleiben wollt, tut das. Aber steht mir nicht im Weg.“ Damit trat sie hinter das Ruder, das Adiv ihr bereitwillig überließ.
„Du solltest hinunter gehen“, empfahl sie der Diebestochter. Adiv zögerte nur kurz, bevor sie nickte. Erleichtert, wie es Ylaiy schien.
„Seid Ihr sicher?“, raunte Jonoy der Frâgg zu. „Der Prinz hat nicht unrecht. Ihr könntet hier oben Hilfe gebrauchen. Ich habe starke Arme.“
„Es gibt nicht viel, das wir tun können, außer das Boot halbwegs auf Kurs zu halten. Am Ende wird einer über Bord gespült oder von einem Segel erschlagen. Unten seid Ihr sicherer.“
„Ihr nicht.“
„Ich komme schon zurecht.“
Jonoy schien noch etwas sagen zu wollen, verstummte jedoch und folgte Adiv zur Leiter. Auf dem Weg sah er Ylaiy an, aber der Kaisersohn biss sich auf die Lippe und starrte an ihm vorbei. Jonoy seufzte hörbar.
Videm sah unglücklich aus. Er sagte kein Wort, hielt sich den Magen und schluckte verzweifelt.
„Geh“, schob ihn Ylaiy fort.
„Ich bleibe lieber draußen.“
„Du bist schon jetzt wackelig auf den Beinen und dein Gespucke wird zu gefährlich bei dem Wellengang. Versuche, dich unten zu entspannen. Das Ganze wird bald vorüber sein."
Videm wankte davon, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, die letzten Meter rutschend.
Unterdessen hatte die Kriegerin sich Akim zugewandt, der auf das Meer starrte. Minutenlang verharrten alle drei in gespanntem Schweigen. Der Nebel stand um sie wie eine Wand. Millionen kleinster Tröpfchen. So dicht, dass Ylaiy das Gefühl hatte, mit dem Finger hineinstechen zu können. So kalt, dass er in jede Pore drang.
Jenseits der Dunstmauer erhob sich ein beängstigendes Tosen. Ylaiy stellte sich die Wassermassen vor, auf denen das Schiffchen hin und her hüpfte wie der Ball eines Kindes. In seinen Gedanken türmten sie sich zu riesigen Wogen auf. Instinktiv zog er den Kopf zwischen die Schultern, dachte an die Gefährten in der trockenen Kajüte.
„Geh.“ Ihre Stimme klang auffordernd.
Akim schüttelte den Kopf.
Gewöhnlich war es unmöglich, hinter die herben Züge der Kriegerin zu schauen, doch manchmal, so wie jetzt, betrogen sie ihre Augen. In ihnen erschien ein warmer Ausdruck, den der Kaisersohn als Zuneigung interpretierte. Und Stolz. Er fühlte sich auf absurde Weise verraten.
„Akim. Bitte.“
Der Fährtenleser wandte den Blick vom Meer ab und sah sie an. Schließlich nickte er und entfernte sich leichten Fußes. Nach wenigen Sekunden tauchte er wieder auf, warf ihnen Taue zu und verschwand endgültig.
Syriakin wand sich ihr Tau mehrfach um die Taille. Das andere Ende schlang sie um die Ruderstange. Ylaiy verknotete das seine um die Reling.
Schweigend segelten sie durch quirlendes Wasser. Der Nebel schien weder Anfang noch Ende zu haben. Das Schiff ächzte und knarrte, alle weiteren Geräusche überdeckte das Brausen, dessen Ursache sie nicht errieten. Die Segel blähten sich, ohne dass sie zu prall wirkten und wie an den vorangegangenen Tagen im Windzug knatterten.
Die Kriegerin hielt das Steuer fest in beiden Händen, stand breitbeinig auf den vereisten Planken, den Blick unentwegt nach vorn gerichtet.
Ylaiy beobachtete das Wasser, das an der Bordwand entlang schäumte. Er schreckte hoch, als Syriakin sich jählings gegen die Griffe warf, die wie Strahlen einer Sonne vom Rund des Steuerrades abstanden. Mit aller Kraft drückte sie das Rad nach rechts, aber es schien ein Eigenleben zu entwickeln, denn es schob sie erbarmungslos in die entgegengesetzte Richtung.
Ylaiy bemerkte, wie das Boot nach links abdriftete, sich auf die Seite legte. Er nestelte das Tau ab, sprang mit einem Satz an Syriakins Seite, stemmte sich mit ihr gegen die Griffe.
Plötzlich heulte der Sturm los, böse fauchend, in Ohren und Wangen beißend. Es fiel schwer, Luft zu holen, obwohl so viel Luft um sie wehte, ihre Kleidung erfasste. Ylaiy riss den Mund auf, aber die dünnen Laute, die aus seiner Kehle drangen, wurden sofort vom Wind aufgesaugt. Die Nebelwand lichtete sich so schlagartig, als hätten die Bediensteten die Vorhänge im Ballsaal hochgezogen. Dahinter hatten sich dunkle Wolken zusammengebraut. Blitze zuckten über den Himmel. Gleichzeitig nahmen alle Geräusche wieder zu. Nach der Stille im Nebel gellten sie regelrecht in den Ohren.
Unkontrolliert drückten Wasser und Sturm sie nach links, wo Ylaiy zu seinem Entsetzen die grobgezackten Umrisse eines Riffs ausmachen konnte.
„Da!“, schrie er gegen den Lärm an.
In dem Augenblick, in dem er die Hand vom Steuer nahm, riss der Orkan ihn weg. Er schlitterte über den Boden, prallte mit der ganzen Seite seines langen Körpers gegen die Bordwand. Vor Schmerz setzte sein Atem aus, aber geistesgegenwärtig griff er nach der Reling und klammerte sich fest.
Indessen kämpfte die Kriegerin verbissen gegen die Naturgewalten, die ihr das Ruder entreißen wollten. Das Boot schlingerte, neigte sich ein weiteres Stück. Vorsichtig hob Ylaiy den Kopf, sah die ersten Wellen, die den Rand des Geländers erreichten. Wie Zungen, die am Holz leckten.
„Wir treiben auf ein Riff zu!“, brüllte er mit überschlagender Stimme, sobald genug Luft seine Lungen füllte.
Die Kriegerin reagierte nicht. Sie starrte weiterhin gerade aus, den Körper angespannt wie ihren Bogen.
Sein Schädel hämmerte im Rhythmus der Böen. Die größer werdenden Felszacken im Blick, mit tauben Händen und Füßen, kroch er auf dem Bauch zurück zur Mitte des Bootes. Ohne hinzusehen streckte Syriakin ihm den Arm entgegen. Er hatte Angst, dass der Wind auch sie umwerfen würde, aber das straff gespannte Seil um ihre Hüfte hielt sie an Ort und Stelle.
Er beugte sich an ihr Ohr. „Backbord liegt ein Riff! Sieht gefährlich aus!“
„Es könnte uns den Rumpf aufreißen! Wir müssen ausweichen, doch es scheint eine Strömung zu geben, die uns direkt darauf zutreibt. Anders kann ich mir den Druck nicht erklären. Hoffentlich können wir die Klippe umfahren.“
„Soll ich die anderen holen?“
„Keine Zeit. Ihr müsst mit mir gegendrücken.“
„Was noch?“
„Hoffen, dass das Ruder nicht birst. Und dass wir die Felsen nicht rammen.“
Ylaiy schluckte hart. Sein Kopf fühlte sich an wie nach einer Woche Rausch. Er schmeckte Blut. Wahrscheinlich hatte er sich beim Aufprall auf die Zunge gebissen.
Seine Augen weiteten sich vor Angst, als das Riff mit einem Mal neben ihnen auftauchte, so nah, dass er die Mulden und Erhebungen im Gestein erkennen konnte. Er hielt die Luft an. Kurz darauf verspürte er einen Ruck, als sie knirschend über den Rand der Klippe kippten.
Im nächsten Augenblick ließ der Druck auf das Ruder unerwartet nach und das Boot trudelte in sanftere Gewässer.
Die Kriegerin fing sich schnell, löste ihre verfrorenen Hände von den Haltegriffen, drehte den Kopf prüfend in alle Richtungen. Er folgte ihrem Blick, sah jedoch nichts weiter als quirlende Wellen, auf deren Kronen weißer Schaum tanzte. Das Wasser wirkte aufgewühlt, aber nicht mehr außer Kontrolle. Himmel und Meer schimmerten grafitgrau, unterschieden sich nur voneinander, wenn Blitze aufzuckten.
„Sind wir außer Gefahr?“, fragte er atemlos.
„Jedenfalls liegt das Riff hinter uns. Die Strömung ist verschwunden. Ein unterseeischer Wirbel vielleicht, der uns um die Felsen lenkte.“
„Können wir wieder steuern?“
Sie bewegte das Ruder hin und her. „Es gehorcht.“
„Sind wir vom Kurs abgekommen?“
„Schwer zu sagen. Wir sollten Akim rufen, sobald der Wind ganz nachgelassen hat.“
„Ich bezweifle, dass seine Sinne ausreichen, sich in einem unbekannten Gewässer zurechtzufinden und uns in die ursprüngliche Fahrrinne zu lenken.“
Syriakin ließ sich auf keine weitere Auseinandersetzung ein. Sie bedeutete Ylaiy, nach dem Ruder zu greifen, während sie mit steifen Fingern begann, an den Enden des Taues zu nesteln. Es kostete sie einige Mühe und einen unterdrückten Fluch, die Knoten zu lösen.
Anschließend warf sie das Seil Ylaiy zu. „Bindet es um.“
„Was hast du vor?“
„Habt Ihr das Knirschen gehört? Wir sind über Stein geschabt. Ich gehe nachsehen, ob es Schäden gibt.“
„Sei vorsichtig. Der Sturm ist nicht vorüber.“
„Hmm.“
Er schaute ihr nach, als sie zum Geländer ging und sich darüber beugte. Im selben Augenblick spürte er die Welle. Er riss den Mund auf, doch seine Warnung kam zu spät.
Die Sumpffrau bemerkte den Wasserberg, der unter dem Gefährt hindurch raste, noch vor ihm. Sofort sprang sie zurück in die Bootsmitte, streckte dabei den Arm nach Ylaiys Tau aus, das an der Reling baumelte.
Das Eis wurde ihr zum Verhängnis. Ihre Beine rutschten weg und sie fiel hart auf den Rücken. Ihr Hinterkopf prallte auf die Planken. Die haushohe Woge, die in diesem Moment das Boot erfasste, spülte sie schneller über die Brüstung, als Ylaiy reagieren konnte.
Ihm war nicht bewusst, dass er nach Hilfe geschrien hatte und zur Bootswand gestürzt war, doch plötzlich drängten die anderen sich um ihn.
„Geh ans Steuer, Adiv“, hörte er die dröhnende Stimme des Schmieds.
Die Männer hängten sich über das Außengeländer, suchten den Ozean ab. Außer grauem Wasser konnte Ylaiy nicht das Geringste sehen. Die Minuten vergingen und er wusste, dass ihr die Zeit davon lief. Das Eiswasser würde sie lähmen und verschlingen.
„Dort hinten!“, rief der Wüstenjunge.
Seine scharfen Augen hatten sie im Schein eines aufflammenden Blitzes entdeckt. Sie trieb keineswegs reglos zwischen den Wellenbergen, wie Ylaiy befürchtet hatte, sondern kam rasch hinter der Janta hergeschwommen, war bald an ihrer Seite. Fassungslos beobachtete er, wie sie trotz der Kleiderschichten am Leib durch das Wasser pflügte.
Wahrscheinlich hätte sie auch nach Drahórsul schwimmen können.
Dass sie sich bis zur Erschöpfung überanstrengt hatte, merkte man nur daran, dass ihre Kraft nicht mehr reichte, um sich allein ins Boot zu ziehen. Das besorgten die Arme Videms, Akims und Jonoys, die sie auf das Deck hievten, wo sie schwer atmend liegen blieb.
Ylaiy kniete an ihrer Seite nieder und begann, ihren Schädel abzutasten. Ihm entging nicht die Bewegung in ihren Augen, aber er hatte keine Zeit, über den milchiggrauen Schleier nachzudenken, der von ihren Pupillen glitt, denn ihre Kleidung gefror bereits. Gesicht und Lippen schimmerten blau. Mit beiden Händen rieb er über ihre Schultern und Oberarme, klopfte auf ihre Wangen.
Unwirsch schob Syriakin ihn beiseite und richtete sich von allein auf. Schlotternd und tropfend dankte sie den Männern mit knappen Worten, wandte den Kopf ab und spuckte Wasser aus. „Ich gehe mich umziehen.“
„Gönnt Euch Ruhe“, mahnte Jonoy. „Seht zu, dass Euch rasch wieder warm wird. Für den Moment haben wir hier alles unter Kontrolle. Der Orkan verzieht sich.“
Sie zögerte kurz. Nickte.
Nachdem sie gegangen war, spürte Ylaiy, wie seine Beine nachgaben, sodass er sich setzen musste.
Am Mittag des fünften Tages war die Kriegerin noch nicht wieder aufgetaucht. Das schien insbesondere Akim und Jonoy zu sorgen, die sich wiederholt düstere Blicke zuwarfen, die zunehmend an Adiv hängenblieben.
„Schon gut, ich gehe nachsehen“, gab sie schließlich nach.
Langsam stieg sie die Leiter hinunter, verharrte kurz auf der letzten Stufe, bevor sie den Kopf in den niedrigen Raum steckte.
Kleidungsstücke hingen über Kanten, Türpfosten und Stuhllehnen. In der Kochstelle flackerte ein Feuer. Auf der Bettstatt davor saß die Kriegerin mit überkreuzten Beinen, eingewickelt in Decken und Felle, einen Becher dampfenden Wassers in den Händen. Ihre Arme leuchteten weiß vor Kälte und die Erschöpfung ließ sie älter aussehen. Abwartend beobachtete sie die Diebestochter unter langen Wimpern.
Adiv räusperte sich. „Geht es Euch gut?“
Ein angedeutetes Nicken ersetzte eine Antwort.
„Braucht Ihr etwas?“
„Ist alles in Ordnung mit dem Boot?“
„Wir können es steuern. Jonoy hat die Bootswände überprüft. Kein Leck. Das Wetter ist besser geworden. Akim meint, er würde Land erkennen“, setzte sie beiläufig hinzu.
Die Kriegerin zog die Brauen hoch und machte Anstalten, sich zu erheben.
Hastig drehte Adiv sich zur Leiter. „Wie weit entfernt?“, hörte sie die Sumpffrau fragen, die hinter ihr zum Feuer schritt und ihre Kleidung befühlte.
„Eine Tagesreise. Wir rufen Euch, wenn es in Sicht kommt. Bis jetzt kann man es nicht einmal sehen. Akim scheint es zu riechen oder so.“
„Du kannst dich umdrehen.“
Syriakin hatte einige Kleidungsstücke übergeworfen. Nun fuhr sie sich mit den Fingern durch das verknotete Haar, eine Geste, die Adiv an ihr unpassend fand. Sie musterte die sehnige Gestalt der älteren Frau. Ihr Blick blieb an den mit Strichen und Punkten verzierten Oberarmen hängen.
„Stammeszeichen“, erklärte die Kriegerin auf die stumme Frage hin.
„Es tut mir leid. Ich wollte nicht …“, stammelte Adiv mit roten Wangen.
„Schon gut“, beugte die Sumpffrau sich vor, um nach den Fußlappen und wollenen Strümpfen zu greifen, die sie in Fedaj erworben hatte. Das entspannte Gesicht, das sie an jenem Tag in der Wirtsstube aufgesetzt hatte, schien eine Ewigkeit her zu sein.
„Ist das Zaubertinte?“
Die Kriegerin, die damit beschäftigt war, ihre vielen Schätze in Taschen, Schlaufen, Schnüren und Beuteln zu verstauen und nebenbei in ihre noch feuchte Oberbekleidung zu schlüpfen, hielt inne. „Zaubertinte?“
„Die Zeichen. Ihr wart im Wasser, aber sie sind nach wie vor da.“
„Gewöhnliche Tinte. Die Leute meines Volkes stellen sie her aus Baumrinde, Harzen und Ölen. Eine aufwendige Prozedur. Die helleren Farben stammen von einem Meerestier, das eine Blase besitzt, aus der es ein Sekret schleudert, um Feinde abzuwehren. Wir melken es.“
„Man kann so etwas melken?“
„Man kann fast jedes Tier melken.“
„Warum wäscht sich die Farbe nicht ab?“
„Weil sie unter die Haut geklopft wird. Man benutzt dafür einen dünnen Dorn“, erklärte die Kriegerin geduldig. „Damit treibt man die Tinte unter die Haut.“
Bei der Vorstellung, wie jemand eine Nadel in ihre Haut stach, verzog Adiv das Gesicht. Für die Sumpffrau hingegen schienen Schmerzen Teil ihres Ichs zu sein.
Akims Prognose erwies sich als angsterregend präzise. Zwanzig Stunden, nachdem er die Umrisse ausgemacht hatte, trieb die Janta in den Küstengewässern der Eisinsel.
Drahórsul, von dem sie nur aus Legenden, Mythen und Volkssagen wussten, war wirklich. Ein neues Land, groß, riesig, mit einer kaum durchbrochenen, flachen Uferlinie, so weit das Auge reichte.
Und es war schön. Atemberaubend schön.
Anders als an den Morgen zuvor ging die Nacht nicht einfach in einen grauen Tag über. Der sechste Tag auf dem Nordmeer kündigte sich an, und zwar mit einem spektakulären Sonnenaufgang. Goldenes Licht überflutete die endlose, schneebedeckte Leere vor ihnen. Es spritzte auf die weiße Ebene, wurde abermillionenfach reflektiert, bis es so gleißend wurde, dass niemand es wagte, länger auf den Schnee zu schauen.
Alle standen um das Steuer, Stangen in den Händen, um auf Anweisung der Kriegerin das Boot an Land zu setzen, wie erstarrt vor der kalten Schönheit der Insel. Noch immer am Leben, bereit, weiter zu gehen, obwohl die Kälte nach ihnen griff und ein neues Gefühl in ihnen heraufdämmerte.
Einsamkeit.
Akims Sinne hatten längst das Ufer nach menschlichen Spuren abgetastet. Er sah die Sumpffrau an und schüttelte den Kopf. Mit großer Wahrscheinlichkeit waren sie die ersten Fremden, die seit ewigen Zeiten das Eiland betraten.
Abgesehen von den Kindern. Falls sie hier waren.
Syriakin nestelte ein Tuch aus einer ihrer unzähligen Taschen, schnitt zwei Schlitze hinein, die sie mit den Fingern verbreiterte. Sie band es sich vor die Augen und reichte Adiv das Messer. „Unter Deck findest du weitere Tücher bei meinen Sachen.“
Einen Augenblick lang erwog Adiv, dem unmissverständlichen Befehl nicht zu gehorchen, begegnete jedoch Jonoys bittendem Blick und biss sich auf die Lippen.
Die Sumpffrau schien das Zögern nicht bemerkt zu haben. Sie gab den Männern ein Signal, auf das hin sie zu den Bootsseiten liefen und die Stangen ins Wasser stießen. „Langsam. Hier mag es flach sein, aber man kann nie wissen, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Dies Meer ist fürwahr seltsam genug.“ Die letzten Worte sprach sie gedämpft.
Meter für Meter schoben sie sich an das Ufer heran, ständig darauf gefasst, über einen tückischen Felsen zu schrammen. Ylaiys Fantasie gaukelte ihm eine Schar feindlicher Soldaten vor, die vom Land aus auf sie zustürmte. Akim starrte in die Luft, als erwarte er eine Attacke der Flügelwesen. Videm hielt nach Wildtieren Ausschau. Jonoy blickte nach hinten auf das offene Meer.
„Erwartet Ihr ein Seeungeheuer?“, fragte die Kriegerin.
„Ihr sagtet es selbst: Dies Meer ist seltsam.“
Syriakin quittierte Jonoys Bemerkung mit einem grimmigen Lächeln.
Während die Küste näher rückte, hielten alle den Atem an, bis der Bug der Janta sich schmatzend auf das Eis des Ufers schob.
Videm setzte als erster einen Fuß auf die Insel. Begierig, den schwankenden Bootsplanken zu entkommen, kletterte er die schmale Leiter hinunter. Den letzten Meter sprang er und versank bis zu den Knien im Schnee. Er ließ sich nach hinten fallen, die Arme ausgebreitet, als wolle er die Welt umarmen. Sein Gesicht war der Sonne zugewandt, die schräger am Himmel zu stehen schien als in seiner Pranter Heimat und so intensiv strahlte, dass er sogar die Sehschlitze bedecken musste, um nicht zu erblinden. Sie streichelte die Haut, kitzelte die Nase, aber er merkte schnell, dass sie verbrannte, ohne zu wärmen.
Neben ihm sprang der Wüstensohn vom Boot. Auch er wirkte froh, dem Wasser entkommen zu sein, doch anders als Videm, der den Schnee empfing wie einen lang vermissten Freund, schaute Akim argwöhnisch um sich. Er stapfte vorsichtig mit den Füßen, schien über die Maßen erstaunt über die Beschaffenheit des Himmelspulvers. Prüfend zerrieb er es zwischen den Fingern, führte es zum Mund. Als die kalten Körner seine Lippen berührten, zuckte er zurück. Erst als er spürte, wie der Schnee zu Wasser zerfloss, lächelte er.
Nacheinander kletterten Ylaiy und Adiv an den Strand. Unter all den Fell- und Lederschichten sahen ihre Körper unförmig und ungelenkig aus.
„Öffnet die Luke“, rief Jonoy hinunter und verschwand unter Deck.
Videm und Ylaiy halfen, den Einstieg zum Laderaum zu öffnen, während Jonoy von innen dagegen drückte. Ein Schwall übler Luft drang heraus, als Adiv die Mulis in Empfang nahm, die auf der Überfahrt an Gewicht verloren hatten. Schnaufend hoben sie die Köpfe in die Sonne.
Inzwischen hatte die Kriegerin das Gepäck hinab geworfen oder Akim gereicht, der es gemeinsam mit Adiv auf die Maultiere gürtete.
Adiv blickte skeptisch auf die Hufe. „Wie sollen sie in dem tiefen Schnee laufen können?“
Syriakin warf ihnen die seltsamen Holzreifen zu, die sie in Fedaj besorgt hatte. „Hiermit.“
„Hast du vor, ihnen die unterzuschnallen?“, fragte der Prinz mit einem ungläubigen Schnieben.
„Nein. Wir werden sie unterschnallen und vor ihnen herlaufen. So treten wir den Schnee zu einem Pfad. Darauf sollte es den Tieren leichter fallen, vorwärtszukommen.“ Damit wandte sie sich ab und kletterte erneut auf das Boot.
Der Thronfolger wirkte peinlich berührt. Auf Adivs Gesicht stahl sich ein Lächeln. Sie bewunderte sein Wissen, aber manchmal war sein kluger Kopf ihr unheimlich. Es konnte nicht schaden, wenn er ihn ab und zu zurechtgerückt bekam. Jonoy schien dasselbe zu denken, denn seine Augen blitzten amüsiert.
Von oben ertönte ein Knarren. Dann schlug der Anker durch die Wasseroberfläche und versank in den rötlich-braunen Pflanzenwolken, die auf den Wellen schwammen und einen unangenehmen Geruch absonderten, der vor allem Akim die Nase rümpfen ließ. „Was ist das?“, fragte er angewidert.
„Algen“, erwiderte die Kriegerin, nachdem sie in den Schnee gesprungen war.
„Sie stinken“, sagte Ylaiy.
„Das liegt an den verrotteten Lebewesen, die mit ihnen ziehen“, erklärte die Sumpffrau, während sie Schneereifen an ihren Stiefeln befestigte. „Fliegenlarven, Kleinkrebse und ähnlichem Getier. Algen sind nahrhaft. Wir sollten einige sammeln. Wer weiß, ob wir in nächster Zeit frische Nahrung bekommen.“
Die anderen verzogen das Gesicht. Akim sah aus, als hätte er in etwas Saures gebissen. Der Gedanke, etwas zu essen, das so stank, dass es alle sonstigen Gerüche verdrängte, schien ihm unerträglich.
„Bitte“, sagte der Prinz. „Bediene dich. Aber verschone uns damit.“
„Wie Ihr wollt“, entgegnete die Kriegerin und bat sich Jonoys Stock aus.
Mit großen Augen beobachteten die Gefährten, wie sie geschickt in dem Pflanzenteppich herumstocherte, woraufhin Milliarden Krebse in die tieferen Gefilde des Meeres davon stiebten. Sie hob die tropfenden Algen aus dem Wasser und ließ sie in den Schnee fallen. Dann presste sie die Pflanzen zu einem handlichen Paket zusammen, welches sie auf dem Rücken eines Maultieres verstaute. „Die Gewässer sind voller Fische. Wir sollten ein paar fangen, bevor wir losziehen. Bei diesen Temperaturen halten sie sich Tage.“
„Habt Ihr eine Angel?“, fragte Videm. „Oder ein Netz? Oder wollt Ihr sie mit der Hand fangen?“ Die letzte Frage hätte aus dem Mund des Prinzen herausfordernd geklungen, doch der Prant stellte sie unverfänglich, mit echter Neugier.
Statt einer Antwort zog die Kriegerin aus einem Beutel an ihrem Gürtel ein Bündel, das sie sorgfältig entrollte. Es war tatsächlich ein Netz, zweimal zwei Meter lang, an den Rändern mit Knöchelchen beschwert.
Mit geübtem Schwung schleuderte die Frâgg es auf das Wasser. Es sank glockenförmig nach unten. Als sie es wieder heraus hievte, wimmelte es darin von unterarmlangen, platten Fischen und Krabben. Sie tötete sie mit präzisen Handkantenschlägen.
Adiv und Ylaiy zuckten bei ihren Schlägen zusammen. Jonoy half ihr, die Tiere im Schnee trocken zu reiben und auszunehmen, bevor sie gefroren. Die blutigen Innereien warfen sie ins Meer, das sofort zu brodeln begann, als Myriaden von Fischen die Beute in Sekundenbruchteilen vertilgten.
Akim packte die Tiere mit spitzen Fingern und wickelte sie in ein Leinentuch ein. Adiv wusste, dass er sie niemals essen würde.
„Das Wasser ist zu kalt, um sie mit der Hand zu fangen“, sagte die Kriegerin zu Videm, schulterte Bogen und Köcher und rollte das Netz zusammen. „In welche Richtung gehen wir?“
Ratlos betrachteten die anderen die endlose Schneefläche, die wie ein riesiger Spiegel das Sonnenlicht zurückwarf und ihnen Tränen in die Augen trieb. Abgesehen von den eigenen Fußspuren gab es keinerlei Orientierungspunkte. Keinen Baum, keinen Stein, keinen Busch, keine Anzeichen menschlicher Besiedlung. Lediglich das Treibholz am Ufer bot Abwechslung.
„Geben die Karten irgendwelche Hinweise?“, wollte Jonoy wissen.
Der Thronfolger griff in seinen Überwurf. An seiner Brust, gut geschützt in einem wasserdichten Beutel aus Otterfell, verbargen sich die Pergamentrollen. Er gab sie an die Gefährten weiter, welche die Niederschriften betrachteten und reihum austauschten. „Laut dieser Karte“, meinte er, „müssen wir ein Stück nach Norden und danach gen Westen. Wir könnten uns auch an der Küste entlang durchschlagen, aber ich denke, die eingezeichneten Orte haben eine Bedeutung. Wir sollten sie aufsuchen.“
„Unbedingt“, sagte Jonoy. „Denkt an den Gang, der von der Senke aus in Richtung Festung führt.“
„Falls es denn eine Festung ist“, seufzte Ylaiy.
„Diese Gedanken erkläre ich ab sofort für verboten“, entgegnete Adiv. „Ja, es ist alles Theorie. Buchstäblich jeder Fakt steht auf wackligen Füßen. Doch das, was wir zu wissen glauben, ist alles, was wir haben. Also richten wir uns danach.“
Ylaiy musste gegen seinen Willen schmunzeln. Die anderen blieben ernst. Keiner von ihnen wagte, daran zu denken, was wäre, wenn sie sich irrten.
„Gut denn“, sagte Jonoy. „Dann ist das unser nächstes Ziel: die Styf-thal-Ebene. Nördlich von hier. Geradeaus, würde ich sagen.“ Er sah die Kriegerin an, die mit vor die Augen gelegter Hand die grenzenlose Landschaft musterte.
„Eine Ebene in einer ebenmäßigen Fläche von der Größe eines Ozeans. Das nenne ich gut versteckt“, murmelte sie.
„Sieh es als Herausforderung“, schlug Ylaiy vor.
„Wollt Ihr vorangehen?“
„Fürchtest du dich?“
„Ihr nicht?“ Sie nahm die Hand von der Stirn und beschrieb mit ihr einen Bogen. „Wäre dies Kânegg und ich auf der Jagd in den Sümpfen, stünden wir nicht mehr hier. Aber das ist eine Eiswüste. Abgesehen von Akim ist niemand von uns mit Wüsten vertraut. In meiner Heimat orientiere ich mich an Bäumen, Büschen oder Wasserlöchern. Ich kann mich notfalls nach den Sternen richten, nach Moos oder Termitenhügeln suchen. Ich kann den Flug der Vögel beobachten, aus der Richtung des Windes meinen Weg ableiten oder aus der Art, wie Wasser einen Hang hinunter läuft. In einer Einöde dieses Ausmaßes gibt es keine Orientierung. Selbst auf dem Meer ist mehr wahrzunehmen als hier.“ Damit ließ sie Ylaiy stehen. Akim folgte ihr, ohne zu zögern.
Der Thronfolger schaute beleidigt. Jonoy schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Vertraut der Erfahrung und den Instinkten der beiden, denn wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen, Prinz: Weder Ihr, noch Videm, noch ich könnten diesen Zug anführen.“
Videm betrachtete Syriakin und Akim, die sich an die Spitze der kleinen Truppe gesetzt hatten.
Wir werden alle sterben.
Der Gedanke schoss so schnell durch seinen Geist, dass er taumelte. Für einen Herzschlag lang wünschte er sich nach Hause. Er wollte von Ardannas Nussringen kosten und Sphitas kirschroten Mund lächeln sehen, während sie sich im Tanzsaal im Kreise drehte.
Die Erinnerungen gingen vorüber und ließen ihn leer zurück. Nun war er hier. Es gab keine Umkehr.
Er reihte sich ans Ende des Zuges ein. Immer klarer trat zutage, was sich auf dem Boot abgezeichnet hatte, vielleicht sogar schon auf dem Hochplateau von Bantafej. Sein Leben lag nicht mehr nur in seiner Hand, sondern vor allem in denen eines halbwüchsigen Wüstenkindes und einer verhärteten Frau aus den Sümpfen.
Der Winter kroch dahin. Adiv hatte längst jedes Gefühl für die Zeit verloren.
Die Landschaft war so abwechslungsarm wie das Wetter. Gischtender Nieselregen, durchsetzt mit Eisstückchen, jagte seit Tagen waagerecht über schneeverkrustete, endlos eintönige, baumleere Ebenen. Hier und da ragten Verwehungen aus dem Boden, hinter denen sie beim frühen Einbruch der Nacht spärlichen Schutz suchten.
Nahrung fanden sie kaum. Akim forschte beständig nach Abdrücken und Tierkot, aber es geschah nur selten, dass er den Speer schwenkte, um Videm und Syriakin zu signalisieren, dass sie ausschwärmen sollten.
Die wenigen Tiere erlegten der Fährtenleser oder die Kriegerin. Akims Umgang mit dem Wurfspeer war meisterhaft geworden. Er verfehlte weder Schneehasen, noch Schneehühner, noch Füchse. Syriakin verließ sich auf ihren Bogen, nachdem ihre Blasrohrgeschosse im Wind abgetrudelt waren und ihre klammen Hände zu lange brauchten, um Dolche und Messer aus den vereisten Taschen zu ziehen.
Videm und Jonoy waren zur Stelle, wenn es galt, die Tiere auszuweiden; eine Arbeit, die Adiv verabscheute. Der Gestank nach Blut und feuchtem Fell und der Anblick der nackten Körper bereitete ihr Übelkeit. Ylaiy blinzelte ähnlich angewidert wie sie, aber beide akzeptierten die schlichte Notwendigkeit des Jagens und Tötens.
Syriakin und Akim achteten darauf, dass keine Spur ihrer Beute zurückblieb. Sie verwahrten brauchbare Knochen, Sehnen und Felle auf, schnitten das Fleisch in dünne Streifen, um sie später als Trockenrationen zu verwenden. Alles Überflüssige vergruben sie metertief im Schnee.
Die beiden kannten Schnee und Kälte aus den Legenden ihrer Völker. Adiv hatte schlimme Winter auf den zugigen Plätzen des Gefängnisses erlebt. Sie erinnerte sich an Menschen, die man steif gefroren in Massengräber geworfen hatte. Jonoy war auf seinen Reisen durch Kaltgebiete gewandert. Ylaiy und Videm hatten den einen oder anderen Wintermonat erfahren, gut geschützt durch Mauern und Kaminfeuer.
Niemand von ihnen war nur im Mindesten auf die Härten dieses Landstrichs vorbereitet.
Adiv vermochte nach Tagen in der Weite des Eislandes nicht mehr zu sagen, um welchen Monat es sich handelte. Sie konnte nur schätzen, wie lange sie seit Fedaj unterwegs waren. Um sich von der eintönigen Plackerei abzulenken, überschlug sie im Kopf stundenlang Entfernungen, versuchte, die Tage und Nächte auseinanderzuhalten. Es gab Momente, in denen sie nicht mehr wusste, was um alles in der Welt sie hier tat, wer die Menschen an ihrer Seite waren, von wo aus sie heute Morgen aufgebrochen waren oder wohin sie bis zum Abend gelangen wollten. Sie grübelte beständig, doch hätte man sie gefragt, worüber sie nachdachte, hätte sie keine Antwort gewusst.
So wie sie schien jeder seinen Gedanken nachzuhängen, war in sich gekehrt, sprach nur das Nötigste. Meist beschränkten sie sich auf stumme Gesten.
Die Kriegerin wirkte noch mürrischer und abweisender als sonst. Gewöhnlich stapfte sie an der Spitze, den Kopf gesenkt, vergraben in Kleiderschichten. Der Bogen, den sie anfangs schussbereit in den Händen gehalten hatte, war auf ihrem Rücken verstaut. Die Arme hatte sie um den eigenen Körper geschlungen, auch wenn dies das Laufen erschwerte. Es war offensichtlich, dass sie trotz der anstrengenden Bewegungen fror. Sie lief schneller als die anderen, hielt mitunter an, um zu warten, aber Adiv bemerkte, dass selbst ihre Schritte schwerfälliger wurden, sie häufiger verschnaufte.
Manchmal, wenn sogar sie vor der Übermacht des schlechten Wetters kapitulieren musste, überließ sie den besseren Sinnen des Wüstenjungen das Feld. Akims Augen schienen gegen den weißen Boden genauso unempfindlich wie gegen den gleißenden Horizont, der in den wenigen Sonnenstunden auf ihren Netzhäuten brannte. Er lauschte lange, bevor die anderen ein Geräusch wahrnahmen. Seine Nasenflügel bebten, wenn der Geruch eines entfernten Tieres zu ihm hinüber wehte. Erstaunt hatten sie auf das Kaninchenloch geblickt. Ebenso auf das Vorratslager der ungewöhnlich großen Schneespinnen, die ihren Winterschlaf hielten wie in Adivs Heimat Bären und Murmeltiere.
Videm und Ylaiy liefen am Ende des Zuges. Videm hatte die Pelzmütze tief über den missgestalteten Kopf gezogen, starrte abwesend vor sich hin, schien kaum etwas von der Umgebung zu spüren. Wortkarg stapfte er durch den Schnee, führte die Mulis an Leinen hinter sich her, tauschte hin und wieder leere Blicke mit dem Kaisersohn.
Auch Ylaiy war stiller geworden. Nur abends, wenn sie sich um das kärgliche Feuer scharten, die Rücken an das struppige Fell der Maultiere gelehnt, vertiefte er sich in Gespräche mit Jonoy. Das halblaute Gemurmel schläferte Adiv ein, gaukelte ihr einen Rest von Normalität vor.
Selbst Jonoy, der die Reisegesellschaft lange Zeit mit Geschichten aufgemuntert hatte, zeigte sich erdrückt von der überwältigenden Lautlosigkeit des Landes.
Sogar die Tiere waren verstummt. Einzig der elende Wind heulte und pfiff sein trauriges Lied.
Als die Kriegerin der Länge nach in den Schnee schlug, kam der Zug zum Stillstand. Für einen Augenblick geschah nichts. Jeder schien darauf zu warten, dass sie aufstand und ihren Weg fortsetzte. Es war nicht das erste Mal, dass einer von ihnen auf dem tückischen Untergrund das Gleichgewicht verlor, weil ein Bein unerwartet tief einsank.
Dann stieß Jonoy einen erschrockenen Schrei aus und alle setzten sich zeitgleich in Bewegung.
Adiv und Akim erreichten sie zuerst. Akim warf den Speer beiseite und half Adiv, den vermummten Körper herumzudrehen. Geschockt starrten sie auf die Kriegerin, die keinen Laut von sich gab und sich nicht rührte.
Panikwellen überrollten Adiv. In ihrem Kopf sprangen alle Gedanken gleichzeitig durcheinander. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass die anderen sich auf ihre Knie niederließen, doch dann zögerten wie sie selbst. Das verstimmte sie und ließ sie handeln.
Vorsichtig schob sie Tücher und Lederfetzen beiseite, bürstete halb geschmolzenen Schnee von Gesicht und Kleidung. Es war ein ausgesprochen seltsames Gefühl, die Kriegerin zu berühren. Adiv erwartete Widerstand, einschüchterndes Starren, abwehrende Gesten. Sie wappnete sich sogar für ein abruptes Aufspringen, aber nichts davon geschah.
Nach einem unsicheren Blick auf die Männer entledigte sie sich ihres Fäustlings. Anschließend presste sie ihre Hand auf Syriakins Stirn.
Ihre Haut ist weich.
Erstaunt fragte sie sich, weshalb ihr ausgerechnet dieser Gedanke in den Sinn kam. Was hatte sie erwartet?
Ihre Finger nahmen Hitze und kalten Schweiß wahr. Die Augen der Kriegerin blieben geschlossen, doch sie zuckten unter den vereisten Wimpern, lagen tief in ihren Höhlen; viel zu tief, selbst für die Strapazen der letzten Wochen.
Adiv betrachtete das sonst so verschlossene Gesicht genauer. Sie sah die aufgesprungenen Lippen, die Haut, die von der Hitze glänzte und fast zu platzen schien, darunter die bräunlichen Spuren harmloser Erfrierungen.
Neben ihr beugte Jonoy sich vor, riss Syriakins Halstücher beiseite, presste zwei Finger an ihren Hals. Er wirkte ruhig, doch seine Hände zitterten. Angespannt schüttelte er den Kopf, holte Luft, legte sein Ohr auf ihre Brust. „Sie atmet flach und unruhig“, verkündete er und musterte Adiv, als erwartete er von ihr eine Antwort, eine Entscheidung.
Plötzlich empfand sie Scham. Scham vor der Verletzlichkeit, mit der die Kämpferin vor ihr lag, begafft von ihnen allen. „Sie hat Fieber“, sagte sie hastig. „Wir müssen sie ins Warme bringen.“
Die anderen schwiegen. Adiv konnte die Gedanken hinter ihren vermummten Stirnen kreisen sehen. Es waren die gleichen, die in ihr rumorten.
„Wo?“, würgte Ylaiy heraus. „Hier gibt es weit und breit keinen warmen Ort.“
„Trotzdem. Uns muss etwas einfallen.“
Jonoy schlug vor, die Kriegerin auf eins der Packmulis zu betten.
„Dann müssen wir uns von einem Teil der Vorräte trennen oder sie selber tragen“, gab Ylaiy zu bedenken.
„Dann trennen wir uns von den Vorräten“, schnappte Adiv zurück. „Wir behalten die Felle und wickeln sie darin ein. Das Fleisch verteilen wir auf uns.“
„Was ist mit dem Holz? Es ist zu schwer, um es den ganzen Tag zu schleppen, genau wie die Töpfe, Kessel und all die anderen Dinge.“
„Dann rasten wir“, sagte Adiv, die Unterlippe vorgeschoben. „Wir können sie nicht einfach zurücklassen.“
Die Männer starrten sie an. Am schwersten rang Akim mit sich. Man sah es an den mahlenden Kiefern und in den Augen, die vor Sorge um seinen Bruder schwammen. Die Hoffnung schwand mit jedem Tag.
„Wir brauchen sie“, beschwor Adiv die Männer. „Sie ist die Einzige, die wirklich weiß, wie man kämpft. Vielleicht auch, wie man tötet.“
Sie alle zuckten zusammen, blickten zu Boden, in die Weite der Schneeebene.
Adivs Stimme wurde leiser. „Schaut uns doch an.“ Verzerrt lächelte sie in die Runde. „Schaut uns an. Wir brauchen sie. Sie braucht uns.“
Sie hockten da und sahen auf die bewusstlose Frau. Der Wind wehte um ihre gefühllosen Nasen, Schauer peitschten ihnen auf die Wangen. Die Kriegerin lag im Schnee, das Gesicht von frierendem Schweiß bedeckt.
Adiv atmete hörbar aus, als Videm sich schwerfällig in Bewegung setzte und begann, die beiden Maultiere zu entladen, Holzbündel auspackte, längere Äste beiseitelegte. „Wir bauen ein Tragegestell“, erklärte er. „Das binden wir an das Tier. So können wir sie ziehen und verlieren weniger Zeit. Wir schlagen das Gestell mit Fellen aus.“
„Sie ruht sich aus. Wir gehen weiter. Ein guter Plan.“ Ylaiy eilte zu Videm, gefolgt von Jonoy.
Akim und Adiv blieben im Schnee hocken, vor sich die fiebernde Frau. Adiv musterte den Jungen. Akim vermied ihren Blick. Erst als sie ihre Hand auf die seine legte, hob er die dunklen Augen, die immer noch einen Hauch von Wüste in sich bargen.
„Wir werden ihn finden. Ich verspreche es.“
In seinem Antlitz stand so viel Hoffnung und gleichzeitig so viel Resignation, dass es sie schmerzte. Doch er schluckte tapfer, brachte seine Stimme unter Kontrolle. „Wir müssen sie aus dem Schnee holen. Sie erfriert sonst. Wenn sie stirbt, stirbt das Kind.“
Zum ersten Mal hörte sie, wie viel tiefer die Stimme in den letzten Wochen geworden war. Nicht mehr lange, und sie würde zu einem Mann sprechen.
Jonoy, Videm und Ylaiy verbanden Äste mit Lederriemen, sodass am Ende ein Gebilde herauskam, das einem großen Dreieck mit Quer- und Längsstreben ähnelte. Die längste Spitze versahen sie mit einem Tau, das sie am Geschirr des Mulis befestigten. Dann machten sie sich daran, alles, was sie an Fellen und Lederstücken fanden, auf dem Gestell übereinanderzulegen.
„Legt die Fellseite nach oben“, riet Jonoy. „Das wird sie wärmen.“
Akim und Adiv war unterdessen nichts Besseres eingefallen, als sich nebeneinander hinzuknien und Syriakin mit vereinten Kräften auf ihre Oberschenkel zu hieven.
Welch lächerlicher Anblick, dachte Adiv, während ihre Knie von der Kälte zu schmerzen begannen. Zwei Halbwüchsige, die eine erwachsene Frau im Schoß halten. Wieder ging ihr durch den Kopf, dass sie froh war über die Bewusstlosigkeit der Kriegerin, die die Situation sicher beschämend gefunden hätte.
Am frühen Nachmittag rollten sie Syriakin auf das behelfsmäßige Krankenlager, deckten sie bis zum Hals zu und machten sich auf den Weg. Akim nahm Köcher und Bogen an sich. Nach kurzem Nachdenken steckte er auch ihre Stichwaffen ein, falls sie zu delirieren anfing. Dann stapfte er an die Spitze des Konvois. Videm und Ylaiy bildeten die Nachhut, während Adiv und Jonoy nicht von der Seite der Sumpffrau wichen.
Syriakins Zustand verschlechterte sich halbstündlich.
Sorgenvoll beobachtete Adiv, wie ihre Lider flatterten, sie unverständliche Worte murmelte, aber nicht erwachte. Stattdessen begann sie zu husten, leise zunächst und vereinzelt, später in regelrechten Attacken. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unrhythmisch, mal flach, kaum wahrnehmbar, dann wieder heftig und unkontrolliert.
Bisweilen schielte Adiv zu Jonoy, dessen Miene von Stunde zu Stunde düsterer wurde. Auch er warf Adiv stumme Blicke zu. In seinen Augen las sie die gleiche Bestürztheit, die sie selbst fühlte.
Als die Hustenanfälle Syriakin fast ununterbrochen schüttelten, grummelte Jonoy in seinen Bart, reckte den Stab in die Luft und erhob die Stimme gegen den heulenden Wind.
Akim blieb auf der Stelle stehen und trabte zurück. Er langte gleichzeitig mit dem Prinzen und Videm bei dem Alten an.
„Wir müssen rasten. Sie braucht Ruhe. Wärme. Medizin. Wenn das Fieber steigt, stirbt sie.“
Die Worte des Schmiedes wurden vom Wind sofort verschluckt. Deswegen waren sie nicht weniger eindringlich.
„Wir haben keine Stangen mehr für das Zelt“, schrie Ylaiy. „Außerdem würden die Böen es wegreißen. Eine Höhle wäre das Beste, aber ich habe nirgends eine gesehen. Hier gibt es ja keine Felsen oder Berge.“
„Können wir keine Höhle graben?“, fragte Adiv.
„Dort vorn scheinen einige Verwehungen zu sein“, sagte Akim. „Wir könnten ein Loch hinein buddeln, das groß genug ist. Es mit Ästen und Fellen auslegen und sie warm einpacken. Mehr ist kaum möglich, solange es so stürmt.“
„Dann los“, brüllte Jonoy. „Ihr läuft die Zeit davon.“
Akim nickte, winkte Videm und Ylaiy. Zu dritt liefen sie voraus. Jonoy und Adiv folgten langsamer, die beiden Maultiere hinter sich herführend.
Die Strecke bis zu den Verwehungen, die Akim lange vor den anderen wahrgenommen hatte, dehnte sich endlos. Die ebenmäßige Landschaft schien Entfernungen zu vergrößern. Als sie die Schneehügel erreichten, stand bereits der Mond am Himmel und tauchte das Eismeer in ein fahles Licht. Der Wind fauchte und saugte an ihnen, blies in alle Kleideröffnungen, gefror auf der Haut.
Adiv spürte ihre Beine kaum noch und betete, dass sie Kraft genug besaß, den Männern beim Graben zu helfen. Doch das blieb ihr erspart.
„Kümmere dich um sie“, bat Jonoy mit einem Blick auf die Kriegerin, deren Gesicht im Mondschein zu glimmen schien.
Sie wankte zu Syriakin, unsicher, was sie tun sollte. Zögernd fasste sie eine Hand der Fiebernden. Überrascht stellte sie fest, dass sie nicht viel größer war als ihre eigene. Die Kämpferin trug Lederhandschuhe, die nur die Handflächen bedeckten. Ihre Finger glühten wie ihre Stirn und zuckten, als ein erneuter Hustenstoß sich ankündigte. Adiv unterdrückte einen Aufschrei, als sie sich um ihr Handgelenk krampften, während die Attacke die Kriegerin schüttelte. Trotzdem hielt sie die Hand weiterhin fest, überwand sich sogar zu einem Streicheln. Seltsamerweise schien das die Sumpffrau zu beruhigen, denn der Anfall verebbte. Verdutzt tat Adiv das, was ihre Mutter ein- oder zweimal getan hatte, als sie noch ein Kleinkind gewesen war. Sie summte ein albernes Lied, zum ersten Mal dankbar für den Wind, der ihren Gesang für die Männer unhörbar machte.
Die arbeiteten sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit in die ungewöhnlich hohe Schneehügelkette vor. Videm und Jonoy hoben ein Eingangsloch aus, das schnell breiter wurde. Der Schnee war nass und schwer. Bald konnten sie Schneeplatten herausschneiden, ohne Angst haben zu müssen, dass die Höhle einstürzte. Ylaiy und Akim sammelten den herausgeschaufelten Schnee und kippten ihn zwischen die Wehen, sodass ein zusammenhängendes Gebilde entstand.
Sobald das Loch ausreichend breit und tief klaffte, schafften sie Reisig aus dem Brennholzvorrat heran und verteilten es auf dem Boden der Behausung. Anschließend stapelten sie Felle darauf. Einer nach dem anderen krochen sie hinein. Die Kriegerin zogen und schoben sie mit sich ins Innere, betteten sie auf das provisorische Lager.
Adiv sank neben ihr nieder und nahm wieder ihre Hand. Erstaunt sah sie, dass die Höhle geräumig genug war, sie alle aufzunehmen, und um einiges wärmer als die Umgebung draußen. Wenn sie den Kopf einzog, konnte sie sogar gebeugt sitzen.
Jonoy hatte das Maultier von dem Tragegestell erlöst und dieses gegen den Eingang gelehnt, sodass kaum Wind hinein fegte. Akim und Videm machten sich weiter an den Wänden zu schaffen. Sie putzten Schnee weg und verbreiterten so den Unterschlupf.
„Glaubt ihr, wir könnten ein Feuer entzünden?“, fragte Adiv.
„Es wird den Schnee schmelzen“, sagte Akim.
Ylaiy schüttelte den Kopf. „Der Schnee ist fest und so kalt, dass er ein kleines Feuer aushalten sollte. Der Rauch kann durch das Gestell entweichen, wir dürften also nicht ersticken.“
Akim wirkte nicht überzeugt, in seinen Augen stand Sorge.
„Wir werden Wachen aufstellen“, beruhigte ihn Jonoy. „Sobald die Decke anfängt zu tropfen oder jemand außer Syriakin hustet, löschen wir das Feuer.“
Akim nickte und schlüpfte nach draußen. Kurz darauf kehrte er mit Brennholz, einem Tontopf und Trockenfleischstreifen zurück.
Jonoy wühlte Feuerstein und Zunder aus seinen Gewändern und entzündete das Holz mit geübten Handgriffen. Danach warf er Schnee in den Topf und stellte ihn ins Feuer. Den Blick abwechselnd auf die Decke und die Flammenzungen gerichtet, kauerten sie anschließend um den Kessel.
Akim und Ylaiy erklärten sich zur ersten Wache bereit. Sie postierten sich nahe des Eingangs. Videm legte sich im hinteren Teil zur Ruhe, das Gesicht zur Wand gedreht.
Adiv hätte am liebsten die Augen geschlossen, aber das Zucken in Syriakins Hand hielt sie wach. Auch Jonoy beobachtete die Kranke, die Stirn in Sorgenfalten gelegt.
„Was tun wir mit ihr?“
Statt einer Antwort rutschte der Alte an die Kriegerin heran. Er wickelte ihr die Tücher vom Kopf, strich ihr das dampfende Haar zurück, knotete die Halstücher auf. Danach presste er eine Hand auf Syriakins linke Körperhälfte und fühlte nach dem Herzschlag. Schließlich öffnete er vorsichtig alle Knöpfe und Schlaufen ihres Umhangs und ihres Ledermantels. „Ihr Herz rast. Sie ist nassgeschwitzt“, sagte er. „Hinzu kommt die Feuchtigkeit vom Schnee. Das ist nicht gut. Wir müssen ihre Kleidung trocknen.“
„Was ist besser? Sie wärmen oder kühlen?“
„Hmm. Das Fieber will heraus aus ihr. Ihr Körper kämpft. Wir sollten sie noch ein wenig kühlen. Umschläge auf Stirn und Waden, bis die Temperatur gefallen ist. Die oberen Kleiderschichten ziehen wir ihr aus. Dann legen wir sie in die Nähe des Feuers.“
„Warum fiebert sie? Was denkst du?“, flüsterte Adiv, während sie sich daran machten, die Kriegerin aus ihren feuchten Sachen zu schälen. Die reglose Frau zu bewegen erwies sich als beschwerlich.
„Sie ist ins Meer gestürzt. Wahrscheinlich hat sie sich dabei erkältet.“
„Glaubst du? Sie kam heraus, als wäre nichts passiert.“
„Schon. Und bestimmt ist sie abgehärtet. Doch die Gewässer sind kälter hier. Sie lebt am Südmeer. Das Wasser dort ist wärmer. Alles, was hier nass wird, gefriert sofort auf der Haut. Man unterkühlt viel schneller.“
Adiv dachte an Syras dampfende Kleider auf dem Boot, die um den Körper geschlungenen Arme, die Erfrierungen auf den Wangen, die stolpernden Schritte. Sie schwieg, während Jonoy weiterhin mit Syriakins Armen kämpfte, die er aus den zahllosen Hemden befreite. Wieder sah sie die seltsamen Hautzeichnungen. Einige waren einfach wie die Zeichnung eines Kindes. Kreise, Punkte, Striche. Andere bildeten faszinierende Figuren aus ineinander verschlungenen Linien. Zwischen den Schultern entdeckte sie ein Zeichen, das von einem angesehenen Künstler ihres Stammes angefertigt worden sein musste: eine Schlange in Form eines S, die sich vor filigran gezeichneten Sumpfgräsern wand. Zwei Sterne, ein großer und ein kleiner, überstrahlten das Ganze. Anders als die anderen Körperbilder leuchtete das auf dem Rücken in Grün und Rot.
„Dass sie in der Nähe des Meeres lebt, weiß ich von Akim.“ Der Alte kicherte. „Als sie zu uns stieß - nach dem Kampf mit der Sumpfbestie - rümpfte er die Nase. Es dauerte nur einen winzigen Augenblick; er hatte sich sofort wieder unter Kontrolle. Ich fragte ihn, was er gerochen hatte. Er sagte, sie roch nach Wald und Tod und Meer. Tod konnte ich mir erklären, schließlich war sie gerade in einen Kampf verwickelt gewesen. Nach Wald rochen wir alle nach Wochen in der Wildnis. Das Meer interessierte mich. Salz, sagte Akim. Muscheln. Schneckenhäuser. Tang, stinkende Quallen, Fisch. Mit einem Wort: Meer. Sie hat keine Schwimmhäute wie andere Frâgg, aber vielleicht ist sie dennoch ein Doppelleber. Jedenfalls schwimmt sie wie ein Fisch.“
„Was sind Doppelleber?“, fragte Adiv. Mittlerweile war ihr warm so nah am Feuer und an der Fiebernden, aus deren Kehle pfeifende Geräusche drangen.
„Lebewesen, denen man nachsagt, im Wasser und an Land leben zu können“, erklärte Ylaiy, der zu ihnen gekrochen kam. Er betrachtete die Kriegerin, die in Hemd und Leinenhosen neben dem Feuer lag. „Ihre Augen sind wie die eines Krokodils, wenn sie im Wasser ist.“ Er rollte seine Unterlippe zwischen den Zähnen und reichte Adiv Lappen, die er im Schnee gewälzt hatte, bevor er zurück zum Eingang robbte.
Adiv legte einen Lappen auf Syriakins Stirn und wickelte unter Jonoys Anleitung weitere um beide Waden. Augenblicklich fing die Kriegerin an zu zittern und murmelte unverständliche Worte. Adiv vermutete, dass sie selbst in der Muttersprache der Frâgg kaum Sinn ergaben, doch sie redete sich ein, dass es Worte des Protestes waren, weil sie das mit Zuversicht erfüllte.
Jonoy schob Zweige ins Feuer, hielt Adiv jedoch davon ab, Decken auf die Fiebernde zu häufen. „Das Fieber muss den Körper verlassen können.“
Nach einer Weile beruhigte sich das Zittern, aber das pfeifende Geräusch aus Syriakins Kehle verstärkte sich. Sie hustete und warf sich auf der Lagerstatt hin und her.
„Schau, ob du ihr einige Schlucke warmes Wasser einflößen kannst. Ich denke, ihr Hals wird wund sein, wahrscheinlich sind ihre Atemwege entzündet. Und wir müssen aufpassen, dass sie nicht ins Feuer rollt.“
Die Nacht dauerte länger als gewöhnlich. Keiner von ihnen schlief viel. Die Schneehöhle war erfüllt von krächzendem Husten, keuchenden Atemzügen und undeutlichem Gemurmel.
Kurz vor Morgengrauen nickte Adiv endlich ein, schreckte aber benommen hoch, als die Kriegerin sich aufbäumte und um sich schlug. Dabei stieß sie mit dem Kopf gegen die niedrige Decke. Adiv und Jonoy hielten sie fest, spürten ihren heißen Atem, als ihr gesamter Körper sich verkrampfte. Danach fiel sie zurück und es wurde still.
Eine halbe Ewigkeit saß Adiv erschrocken da, wagte nicht, sich zu rühren, bis sie bemerkte, dass Syriakin sie anstarrte. Sie schien nichts zu erkennen und gab keinen Ton von sich, aber sie ließ es zu, dass Jonoy ihr Wasser einflößte. Das meiste lief aus den Mundwinkeln wieder heraus, doch einige Tropfen schluckte sie. Ihr Gesicht verzog sich. Adiv nahm an, dass jeder Schluck schmerzte. Als sie getrunken hatte, schloss sie die Augen. Sie sah ausgezehrt aus. Adiv berührte ihre Stirn. Das Fieber war noch da, wütete aber nicht mehr.
„Jetzt schläft sie. Sie ist stark. Sie wird gesund werden“, sagte Jonoy. Die Erleichterung war ihm deutlich anzusehen.
Sie verbrachten zwei Tage in der Höhle.
Das Warten zerrte an ihren Nerven, aber missmutig gestanden sie sich ein, dass ihren erschöpften Körpern die unfreiwillige Pause guttat. Alle schliefen länger als in den Wochen zuvor, gönnten sich Mahlzeiten aus Trockenfleisch. Videm streifte durch die nähere Umgebung oder schabte weitere Schichten Schnee von der Decke weg, sodass sie in der Mitte sogar gebückt stehen konnten. Ylaiy blätterte in den Pergamentrollen, Akim stöberte ein Kaninchennest auf.
Adiv briet das Fleisch mit getrockneten Wildkräutern an und schaffte es, eine schmackhafte, kräftigende Suppe zu zaubern. Als sie in ihren Taschen nach zusätzlichen Kräutern wühlte, stieß sie auf dürre Pflanzenstängel und gepresste Blätter.
„Du solltest sorgfältiger mit deinen Schätzen umgehen“, meinte Jonoy. Prüfend zerrieb er Blätter zwischen seinen Fingern, die er anschließend unter seine Kartoffelnase hielt.
„Alter Kram von meiner Mutter. Das Zeug ist bestimmt schon verdorben.“
„Das hier“, hielt Jonoy die zermahlenen Blätter hoch, „ist Malauw. Ein kleines Wunderkraut. Du kannst es mit Wasser aufbrühen und als Tee genießen. Er beruhigt die Nerven, macht schläfrig, wenn man ihn länger ziehen lässt. Als Kurzaufguss schmeckt er ekelerregend bitter, aber dafür schenkt er dir Tatkraft. Rührt man Malauw hingegen mit dem Inneren dieses violetten Halms an, den man auf Staleph unter dem Namen Biftanian kennt, wird er beim Erkalten zu einer Paste, die nach Minze riecht, und eine ähnlich wohltuende Wirkung bei Entzündungen entfaltet.“
Augenblicklich zuckten Adivs Augen zu Syriakin, die zusammengerollt auf der Seite lag und schlief. Das Fieber war im Laufe des gestrigen Tages gesunken; die Nacht ohne Vorfälle verstrichen. Als Adiv das letzte Mal Syras Stirn gefühlt hatte, hatte sie erleichtert angenehme Wärme wahrgenommen. Die Haut war trocken gewesen und es auch geblieben, nachdem sie die Reste des Fieberschweißes abgewischt hatte. Jonoy hatte beschlossen, die Sumpffrau in Decken einzuschlagen und sie in der Nähe des Feuers zu belassen. Syriakin sah nicht mehr wie eine Tote aus, aber noch rüttelte Husten ihren mageren Körper. Der Atem entwich ihrer Kehle rasselnd, ihre Lungen pfiffen. Sie hatte den Mund geöffnet; offensichtlich bekam sie durch die Nase keine Luft.
Jonoy machte sich sofort daran, die Paste anzurühren. Er benutzte eines von Adivs Döschen, deren trockenen Inhalt er untersuchte, für wertlos befand und mit dem Fingernagel herauskratzte. Dreißig Minuten später rollten sie Syriakin auf den Rücken und schlugen die Decken zurück.
„Reibe es am besten hier oben hin“, riet Jonoy. „Verteile etwas unter ihrer Nase. Vielleicht löst es den Schleim.“
Die Kriegerin erwachte bei der Berührung mit dem kühlen Balsam. Die sonst so leuchtend grünen Augen blickten matt und ohne großes Wiedererkennen. Sie waren mit einer gelblichen Flüssigkeit an den entzündeten Rändern verklebt. Schnell entschlossen griff Adiv zu einem Lappen. Syriakin ließ die Behandlung geschehen und schlief wieder ein.
Schmied und Diebestochter nutzten die Zeit, um alle Taschen Adivs nach weiteren verborgenen Vorräten zu durchsuchen. Jonoy schien viel von Kräutern und Heilpflanzen zu verstehen. Alles, was er kannte und für nützlich befand, ordnete er mit Adivs Hilfe zu Häufchen, die sie sorgfältig in den verschiedenen Behältern verwahrten. Mit Erstaunen nahm Adiv zur Kenntnis, dass es ihr leicht fiel, sich die Namen und Anwendungsarten zu merken.
Nach einigen Stunden registrierten sie, dass Syriakin sich erneut auf die Seite gerollt hatte. Sie atmete tief und gleichmäßig. Das pfeifende Geräusch war leiser geworden und auch das Keuchen schien abzuebben.
„Beeindruckend, wie schnell sie genest“, sagte Jonoy.
„Hat sie noch Fieber?“, fragte Ylaiy, der hin und wieder an die Bettstatt kam, um sich nach dem Fortschreiten der Krankheit zu erkundigen.
„Sie schläft es weg.“ Der Alte schüttelte den Kopf. „Die meisten Menschen wären gestorben oder ins Delirium gefallen. Sie hat es nach weniger als drei Tagen überwunden. Trotzdem bin ich besorgt. Ihr Rachen scheint entzündet. Hoffentlich greift die Infektion nicht auf die Lunge über.“
„Was ist das? Hat sie Schmerzen?“, fragte Adiv plötzlich alarmiert. Die Kriegerin hatte die Hände an die Ohren gepresst, während ihr Gesicht sich verzerrte.
„Das hat sie heute Morgen schon einmal gemacht“, erinnerte sich Jonoy.
„Eine Ohrenentzündung?“ Der Prinz stöhnte auf, fast zeitgleich mit der Sumpffrau.
Adiv warf ihm einen beunruhigten Blick zu und beugte sich vor. Immer noch empfand sie es als unangenehm, so nah bei einem anderen Menschen zu sein. Sie überwand sich, strich das dunkle Haar der Frâgg beiseite und spähte mit angehaltenem Atem in deren Ohr. „Es ist ziemlich rot. Eine Flüssigkeit scheint darin zu stehen“, sagte sie.
„Das klingt sehr nach einer Entzündung“, meinte Jonoy.
„Ihre Ohren sehen seltsam aus.“
„Inwiefern?“
„Sie sind irgendwie zu klein und innen zu … flach. Schaut her. Der Gehörgang führt gar nicht in die Tiefe, in den Kopf hinein, sondern ist viel kürzer. Außerdem ist hier so eine Art dünner Wand. Wie Haut über dunklen Flecken. So etwas habe ich noch nie gesehen.“
Interessiert beugten Jonoy und Ylaiy sich vor, folgten Adivs Zeigefinger. Beide wirkten ratlos, bis Jonoy sich mit der Hand gegen die eigene Stirn schlug. „Ich Dummkopf! Natürlich! Sie lebt mit dem Wasser, taucht oft. Der Druck!“
Adiv sah ihn verständnislos an. Ylaiy erklärte: „Je tiefer man unter Wasser geht, desto größer wird der Druck. Man hat das Gefühl, die Ohren platzten. Glaubst du, es ist eine Art Schutzvorrichtung, Jonoy?“
„So muss es sein. Die dunklen Flecke sind wohl ihre Trommelfelle, ähnlich wie bei Fröschen oder Lurchen. Sie liegen weit außen, damit sie unter Wasser hören kann. Ansonsten kämen alle Töne dumpf und kaum unterscheidbar bei ihr an. Das ist unpraktisch, wenn man sich so oft im Wasser aufhält. Die dünne Haut davor scheint sie zu schützen. Vor hereinlaufendem Wasser und Parasiten vielleicht und vor dem hohen Druck.“
„Sie verschließen sich, wenn ich unter Wasser bin.“ Syriakins Stimme war kaum wiederzuerkennen, so heiser klang sie.
Verlegen nahm Adiv ihre Finger aus dem Haar der Sumpffrau.
„Du bist wach“, lächelte Jonoy, während die Kriegerin auf den Rücken rollte. „Wie auch immer deine Ohren gebaut sein mögen; sie sind entzündet“, stellte er klar.
„Ich weiß“, würgte sie heraus, bevor ein Hustenanfall sie unterbrach. Sie krümmte sich, brachte ihre Hände an den Kopf, als wollte sie ihn vor Schlägen schützen. Als der Anfall vorüber war, rang sie nach Luft. Und nach ihrer Fassung. Sie riss die Arme herunter und zwang sich zu einem gleichgültigen Gesichtsausdruck. „Wo sind meine Sachen?“
Adiv zeigte auf den Stapel.
„Hemdtasche. Innen links. Ein Säckchen“, stieß die Sumpffrau hervor.
Adivs Hände hasteten über Leder, wühlten sich durch Stoffschichten, glitten an Nähten entlang, landeten in einer versteckten Öffnung. Sie fanden das Beutelchen, in dem Kügelchen aus gepressten Wurzeln, klebriger Erde und irgendwelchen unbekannten Substanzen lagerten. Sie reichte Syriakin zwei Pastillen. Die Kriegerin begutachtete sie kurz mit zusammengebissenen Zähnen, bevor sie sie in ihre Ohren stöpselte. Mit geschlossenen Augen und einer Gesichtsfarbe von hellem Sand ließ sie sich zurückfallen.
Ihre Züge entspannten sich nach wenigen Minuten. Sie zog die Finger aus den Ohren, räusperte sich, diesmal eindeutig verlegen, und machte Anstalten, sich zu erheben.
„Waho“, sagte Jonoy überrascht und drückte sie mit kräftiger Hand zurück. Adiv sah, wie sie unter der Berührung erstarrte und ihre Augen sich verengten.
Vorsichtig nahm Jonoy die Hand von ihrem Schlüsselbein, beließ sie aber in der Luft als Zeichen der Entschuldigung und Beruhigung. Erst als die Kriegerin sich auf ihre Ellenbogen zurücksinken ließ, löste sich Adivs Anspannung.
„Du solltest noch ruhen“, empfahl Jonoy leise.
„Wie viel Zeit haben wir verloren?“ Wegen der entzündeten Stimmbänder klangen ihre Worte verzerrt.
„Zwei Tage.“
Sie schnaubte verärgert. Erneut stieß sie sich vom Boden ab, wobei sie Jonoy im Auge behielt. Sie schaffte es, auf die Knie zu kommen und zu ihren Sachen zu kriechen, doch es bereitete ihr sichtlich Mühe. Sie hustete und nach wenigen Sekunden lag ein Schweißfilm auf ihrem Gesicht. Adiv bewunderte sie für ihre Beharrlichkeit und ohrfeigte sie innerlich für ihren Starrsinn.
Der Schmied fing sie auf, bevor sie stürzte. Sie wehrte sich gegen seine Umarmung, kroch widerstrebend von ihm weg, die Finger abwehrend gespreizt. Zusammengesunken blieb sie neben dem Feuer sitzen, bleich, mit glasigen Augen.
Jonoy musterte sie mit unergründlicher Miene. „Ein Vorschlag. Nimm alles an eigener Medizin, was du besitzt. Zusätzlich zu der Salbe, die wir dir gaben. Iss so viel von Adivs Suppe, wie du kannst. Trinke den Tee, den wir zubereiten werden. Wir müssen eine Menge Flüssigkeit in dich kriegen. Danach schläfst du. Bei Tagesanbruch lagern wir dich auf ein Tragegestell und brechen auf. Einverstanden?“
Sie dachte nur kurz nach. Dann tauchte sie wortlos eine Schale in den Topf und begann mit vorsichtigen Schlucken die heiße Suppe zu schlürfen.
Das Morgengrauen war erst eine Ahnung am Horizont, als die Kriegerin erwachte, in ihren Körper horchte, die Krankheitssymptome systematisch aufspürte, auf ihre Intensität überprüfte und schließlich eins nach dem anderen als überwunden aus ihrem Geist tilgte.
Sie bewegte sich leise, doch Akims feines Gehör vernahm das Rascheln ihrer Kleidung. Er setzte sich auf. Sie erstarrte sofort. Seine Glutaugen versenkten sich in ihre Waldlandpupillen. Stumm erforschten sie einander.
„Seid Ihr gesund?“
„Genug, um die Reise fortzusetzen.“ Ihre Stimme klang noch immer angestrengt.
„Die anderen werden anderer Meinung sein. Vielleicht haben sie recht.“
„Wir verlieren Zeit.“
Akim schwieg. In ihm kämpften Erleichterung darüber, dass es weiterging, und Sorge um ihre Gesundheit. Mit schlechtem Gewissen stellte er fest, dass die Erleichterung das stärkere Gefühl war.
Die Kriegerin starrte ihn an, als lese sie seine Gedanken. Dann begann sie, ihre Sachen zusammenzusuchen. Nach kurzem Zögern half ihr Akim.
Um sie erwachten die anderen. Jonoy, der die letzte Wache hatte, steckte den Kopf durch den niedrigen Höhleneingang. „Was tut ihr?“, fragte er ungläubig.
„Ihr sagtet, wir brechen bei Tagesanbruch auf.“
„Bis dahin sind es noch gute zwei Stunden. Du solltest liegen. Dich ausruhen. Das Packen und Verladen können wir übernehmen.“
„Ich habe genug geruht.“
„Jonoy hat recht“, mischte sich Ylaiy ein. „Angeschlagen nützt du niemandem.“
„Wie fürsorglich von Euch.“
Die sarkastische Bemerkung brachte Ylaiy auf. „Mit Fürsorge kannst du doch gar nicht umgehen. Du fliehst vor menschlicher Wärme wie die Gläubigen vor ihren Teufeln.“
„Also reduziert Ihr mich auf den Nutzen, den ich für Euch habe. Wie viel menschliche Wärme steckt wohl darin.“
„Ist es nicht das, worauf du reduziert werden willst? Auf die Kämpferin? Unbesiegbar? Todesmutig? Wenn du wie ein echter Mensch behandelt werden willst, dann verhalte dich menschlich!“
„Und wer findet Euren Vetter, Prinz?“, entgegnete Syriakin leise und bedrohlich. „Eure Mutter? Eure Armee? All die Menschen, mit denen Ihr Euch umgebt? Oder ist es doch eher die Kämpferin, die Ihr Euch zur Führerin ausgesucht habt?“
„Ich habe dich nicht ausgesucht!“
„Erzählt das Eurer Freundin in Fedaj. Sie lebt.“
„Du auch. Ich denke, damit sind wir quitt.“
Aller Sauerstoff schien aus der Höhle entschwunden. Taubheit befiel die Gefährten. Für einige Augenblicke herrschte angespanntes Schweigen, das Ylaiy nach einem Räuspern brach. „Sie fühlt sich genesen. So lasst uns aufbrechen. Ich bereite die Tiere vor.“
Nachdem er, Videm im Gefolge, aus der Höhle geschlüpft war, wanderten Jonoys Augen zu Syriakin. Sie wirkte gelassen, doch an ihren unterdrückten Atemzügen erriet er, dass Ylaiys Worte sie getroffen hatten.
„Aus ihm sprechen Erschöpfung und Sorge“, sagte er. „Versucht, ihn zu verstehen. Sein Vetter ist verschwunden, Baraten tot. Seine Freundin liegt schwer verletzt in Fedaj. Er hat Angriffe überlebt und muss sich mit Fremden durch die Wildnis schlagen. Ihr seid darin aufgewachsen. Der wildeste Ort, an dem er jemals war, ist der kaiserliche Ballsaal.“
Ihre Erwiderung war kaum mehr als ein steifes Seufzen.
„Wir haben alle Schlimmes durchgemacht“, meldete sich Akim aus seinem Winkel. „Wir sind alle in Sorge. Wir müssen alle miteinander auskommen. Das gibt ihm kein Recht, so mit ihr zu sprechen.“
„Lass es gut sein. Vielleicht wird man wirklich zum Unmenschen, wenn einem das Kind geraubt wird.“ Plötzlich wirkte sie unsagbar müde.
Adiv zuckte zusammen. „Das Kind aus deinem Dorf? Es wurde dir geraubt? Das hast du nie erzählt.“
Die Augen der Kriegerin verdunkelten sich, sprachen eine deutliche Warnung. Adiv ignorierte sie. Es gab Dinge, die mussten ausgesprochen werden, bevor sie einen erdrückten.
„Bada.“ Das Wort stand zwischen ihnen wie ein geworfener Stein, der im Augenblick des Fluges von der Zeit eingefangen worden war. „Sie ist dein Kind.“
Syriakin antwortete nicht. Unsichtbare Mauern hatten sich um sie geschlossen.
Dabei haben wir es geahnt, möglicherweise gewusst.
Es war wie ein Steinchen in einem Mosaik, das soeben auf seinen logischen Platz gefallen war. Ihre Tochter. Die Tochter einer Kämpferin, die versagt hatte.
Adiv sah die nackten Arme mit den seltsamen Zeichnungen, die offenen Hände, erwartete, dass sie sich zu Fäusten schlossen, aber nichts geschah. Kein Muskel zuckte, keine Sehne spannte sich an.
Smaragdfarbene Augen bohrten sich in ihre. Sie fühlte sich gleichzeitig angezogen und abgestoßen von der Intensität. Einen Moment lang kitzelte es in ihrer Kehle und ihr war, als müsse sie lachen. Zu sehr fühlte sie sich an das Spielchen mit Arlen erinnert, bei dem es darum ging, den anderen so lange anzustarren, bis er blinzelte.
Die Kämpferin spielte keine Spiele. Ihr Blick nahm gefangen, saugte einen auf. Adiv starrte zurück, nicht ahnend, wie sehr sie in diesem Augenblick der Sumpffrau ähnelte.
In der Welt um sie verrann die Zeit in den gewohnten Bahnen. Für Adiv wurde sie langsamer und langsamer, bis sie fast zum Stillstand kam. Noch immer hatte sie ihren Blick nicht abgewandt, auch wenn sie befürchtete, in den Smaragdseen vor ihr zu ertrinken.
Plötzlich veränderte sich etwas. Adiv brauchte ein oder zwei Atemzüge, bis sie es erkannte. Die Farbe der Iriden vor ihr glitt unmerklich von dem bedrohlichen Dunkelgrün eines Ozeans in eine hellere Schattierung. Als würde Wind über die Oberfläche streichen, eine Brise, die das Wasser zum Kräuseln brachte. Das Grün wurde unruhig, tanzte. Und dann, für einen Augenblick, der so kurz war, dass er vorbei war, bevor er begonnen hatte, erblickte sie den Meeresgrund.
Dort sah sie die Angst. Eine Angst, die sie so stark nie empfunden hatte. Nicht als sie Aan gefunden hatte, nicht als Jorgen ihr nachlief, nicht als andere Wärter sie bedrängten, nicht als sie vom Tod ihres Vaters erfuhr, nicht als ihre Mutter starb. Nicht einmal – und nun wandte sie sich beschämt ab und löste sich aus dem Bann der Kriegerin – wenn sie an Arlen dachte. Die Angst Syriakins um ihr Kind war so überwältigend, dass sie sie beerdigt hatte auf dem Grund des tiefsten Ozeans.
Traurigkeit überkam sie. Als sie an der Sumpffrau vorbei glitt, berührte sie sie am Arm, wie zufällig, schmetterlingsleicht. Syriakins Hände krampften sich zu Fäusten und ihre Augen schlossen sich. Danach wurde sie wieder zur Statue.
„Oh, wie sie es hasst“, raunte Adiv sich selbst zu.
Akim, der einige Schritte vor ihr lief und das Muli am Seil führte, sah sich nach ihr um.
Er hört wirklich die Flöhe husten.
Sie grinste und wies auf die Kriegerin, die Jonoy und Videm mit sanfter Geduld und nachdrücklichen Verweisen auf ihre Abmachung tatsächlich dazu gebracht hatten, sich wieder auf der Trage auszustrecken.
Akim lächelte nicht zurück und Adivs Grinsen erstarb. Sie musterte erneut die Sumpffrau, auf deren Antlitz ein düsterer Schatten lauerte. Ihre Augen blickten teilnahmslos, ruhten auf den eigenen Händen.
Was beschäftigt sie? Ihre Tochter? Das Fieber? Dass wir um ihr Geheimnis wissen?
Äußerlich schien es ihr gut zu gehen. Sie lag ruhig unter dicken Fellen. Ihr Atem ging regelmäßig. Sie blieb wach, aß und trank um die Mittagsstunde herum wie die anderen von den Vorräten, erbrach nichts, fieberte nicht, klagte nicht, verschwand ohne Hilfe hinter einer schnell aufgeschichteten Schneemauer, als die Zwänge der Natur es erforderten; eine effiziente Methode, derer sie sich bedienten, seit sie das pflanzenleere Eiland betreten hatten.
Dass sie trotzdem die ganze Zeit über aufmerksam gewesen war, bewies sie, als der Bär sich näherte. Weil sie nach hinten schaute, nahm sie ihn sogar eher wahr als Akim, der das markerschütternde Brummen gleichzeitig mit dem Warnruf der Sumpfjägerin hörte.
Sie war schneller auf den Beinen und in Verteidigungshaltung als Akim brauchte, um Adiv die Zügel zuzuwerfen und sie an den Rand der Gruppe zu stoßen.
„Gibt es Bären in deinem Land?“, fragte die Kriegerin zwischen den Zähnen hindurch.
„Nein. Aber er ist wunderschön. Seht sein Fell an; es ist hell wie der Schnee. Die vollkommene Tarnung.“
„Bären sind gefährliche Räuber. Zusätzlich ist dieser hier von abnormer Größe. Wenn er angreift, wird er sich auf die Hinterbeine aufrichten, dadurch wirkt er bedrohlicher. Er schlägt mit den Tatzen. Ein Schlag kann dich umwerfen. Seine Zähne sind messerscharf und er wird versuchen zu beißen. Er ist wendiger, als er aussieht.“
Akim warf der Kriegerin einen furchterfüllten Blick zu.
„Abgesehen davon kann er nichts. Falls er sich nicht grundsätzlich von den kleineren Arten im Norden Kâneggs unterscheidet.“
„Beruhigend.“
„Du bist schneller als er. Achte auf die Schnauze und vor allem auf die Tatzen. Sie sind groß wie Fassböden und haben Krallen. Wir werden ihn ablenken. Ihn wütend machen. Du erledigst ihn mit dem Speer. Warte, bis er sich aufgerichtet hat. Ziele auf das Herz.“
„Gut“, schluckte Akim mit enger Kehle und geweiteten Pupillen.
Ohne den Bären aus den Augen zu lassen, wandte sie sich an Adiv. „Kümmere du dich um die Tiere. Wenn sie panisch werden, könnten sie zum Hindernis werden.“
„Was ist mit meiner Panik?“, rief Adiv zurück, den Gavial deutlich in Erinnerung.
„Du wirst nicht panisch werden, wenn du dich auf deine Aufgabe konzentrierst. Der Bär ist groß und kräftig und gefährlich. Aber er ist ein Tier, das seiner Natur folgt. Der Prinz wird in deiner Nähe sein, zwei bis drei Schritte vor dir. Er schirmt dich ab, indem er das Schwert schwenkt. Ihr dürft dabei brüllen, Hoheit, das lenkt ihn ab. - Schmied, Ihr lasst Euern Stock kreisen. Bewegt Euch um ihn herum in seinen Rücken. Schlagt und stecht auf die Hinterseite ein, doch seid auf der Hut vor den Pranken. Immer. Videm und Akim kommen zu mir. Videm und ich schlagen auf die Tatzen und die Schnauze, solange wir sie erreichen können. Vor allem das Maul ist empfindlich und wird das Tier wild machen.“
„Das klingt nicht gut“, murmelte Adiv.
„Manchmal sind diese Gewaltausbrüche nützlich. Sie bringen ihn dazu, kopflos anzugreifen. Darin liegt unser Vorteil.“
Videm trat an die Seite der Kriegerin. Wortlos zog er sein Schwert, die Augen fest auf den Bären gerichtet, der mit drohendem Knurren rasch näher kam.
Akim hingegen zögerte deutlich, dem Untier, gegen das der Speer unbedeutend und nutzlos aussah, entgegenzutreten. Er war froh, die massige Gestalt des Schmieds neben sich zu wissen.
Währenddessen entfernten Adiv und Ylaiy sich von den anderen. In Adivs verkrampfter Hand lagen die Zügel. Sie spürte bereits, wie die Maultiere ängstlich ausbrechen wollten. Vorsichtshalber schlang sie sich die Schnüre zweimal um die Hand.
Die Kriegerin hatte ihren Bogen vom Rücken des Mulis losgemacht und einen langen, gefiederten Pfeil eingelegt. Zwei weitere steckten zwischen ihren Lippen.
Sie spannte die Sehne.
„Legt die Schneerahmen ab. Sie behindern nur. Schnell“, erinnerte Jonoy die anderen.
Noch bevor sie den Befehl ausgeführt hatten, schnellte der Pfeil mit einem harten Schnappen von der Sehne, traf mit voller Wucht die Schulter des Tieres. Der Eisbär heulte auf, setzte den Angriff jedoch mit unverminderter Geschwindigkeit fort.
Ein zweites Geschoss raste auf das Ungetüm zu, obschon es bereits bedenklich nahe war. Wippend blieb es in der anderen Schulter hängen.
Videm erkannte die Absicht Syriakins. Die Pfeile steckten in den Gelenken, würden das Tier behindern. Doch abgesehen von einigen Tropfen Blut, die in das dichte Fell sickerten, blieben sie vorerst wirkungslos.
Der dritte Pfeil lag schon auf der Sehne. Die Sumpfjägerin nahm sich kaum Zeit zum Zielen; dennoch traf sie die Stelle, die sie anvisiert hatte: die Schnauze. Fleisch- und Fettschichten waren zu dünn, als dass das Geschoss nachhaltig eindringen konnte. Ungeachtet dessen explodierte der Schmerz hinter den glasblauen Augen des Bären. Brüllend kam er zum Stehen, erhob sich auf die Hinterbeine, griff mit den Vordertatzen nach dem Pfeil im Oberkiefer. Ohne Anstrengung riss er ihn heraus, zerbrach ihn zwischen den Pranken. Dann wandte er sich fauchend der Kriegerin zu, die nach ihren Messern gegriffen hatte und ihn abwartend betrachtete. Sie strahlte Selbstsicherheit und Streitlust aus, während Adiv und Ylaiy die Knie weich wurden.
Akim und Jonoy atmeten schneller, als das Tier aufgerichtet vor ihnen in die Höhe ragte. Es verströmte einen stechenden Geruch nach halb verdauter Beute, der Akim das Wasser in die Augen trieb.
Videm wich nicht von Syriakins Seite. Sein Antlitz hatte einen entrückten Ausdruck angenommen. Er beobachtete das Raubtier mit eisiger Ruhe. Es war beinahe so, als genieße er das Kräftemessen.
Die Kriegerin spürte, wie der Sohn des Inquisitors sich neben ihr aufzurichten schien. „Wir reizen ihn weiter, bis Akim ihn mit dem Speer treffen kann. Gebt Euch keine Mühe; Euer Schwert reicht nicht hoch genug für einen gezielten Stoß.“
Sie wusste nicht, ob ihre Worte zu ihm durchdrangen, denn er erwiderte nichts und gab mit keiner Geste zu verstehen, ob er sie verstanden hatte. Stattdessen hob er mit beiden Händen sein Schwert und ließ es kreisen.
Der Bär, der zornschnaubend auf den Hinterbeinen tänzelte und mit den Tatzen um sich schlug, wich der Waffe flinker aus, als der plumpe Körperbau vermuten ließ. Kolossale Muskeln spielten unter der Fettschicht. Der Anblick war ebenso furchteinflößend wie ehrfurchtheischend.
Videms Schwert durchschnitt die Luft, so heftig, dass die Kriegerin den Luftzug spürte und das Sirren vernahm. Der junge Baraten war einen Schritt vorgetreten und rückte dem weißen Riesen auf den Pelz. Der Bär griff nach dem Metall und wimmerte aus tiefer Kehle, als die Schneide ihm durch die empfindliche Tatze fuhr und sie längs spaltete.
Blut tränkte den Schnee. Es hob sich leuchtend gegen den Untergrund ab.
Die Kriegerin gab dem Schmied ein stummes Zeichen. Sofort begann Jonoy im Rücken des Bären zu brüllen und mit dem Stock auf ihn einzuprügeln.
Irritiert schwenkte der Koloss herum, holte aus. Jonoy duckte sich unter der Pranke hinweg.
Der Bär schaukelte zurück zu Videm und Syriakin. Die Sumpffrau hatte begonnen, das Tier mit Messern zu attackieren. Immer wieder hechtete sie nach vorn, hieb dreimal, viermal auf den Bären ein und wich rückwärts, die Tatzen im Blick, Reaktionen vorausahnend. Ihre Ausfälle reizten, lenkten die Aufmerksamkeit des Raubtiers auf sie, während Videms Schwert es unablässig biss und stich.
Akims Nervosität ließ nach. Seine Gefährten kontrollierten das wilde Tier. Sicher kostete es Videm viel Kraft, die schwere Waffe kreisen zu lassen. Bestimmt schmerzte Jonoys Kehle vom Brüllen und seine Beine vom Ausweichen. Gewiss versiegte Syriakins Ausdauer vom beständigen Anspringen, Zustoßen und Wegtauchen. Doch niemand war verletzt. Alle kämpften bedacht, hielten sich streng an die Anweisungen der Sumpffrau.
Der Bär erlahmte. Er blutete aus einem Dutzend Wunden. Keine von ihnen war tödlich, aber mit dem Lebenssaft sickerten Kraft und Kampfesgier aus dem klobigen Körper. Die grollenden Töne wurden bereits leiser, verloren ihre Bedrohlichkeit.
Der Wüstenjunge griff seinen Speer fester, um kraftvoll und präzise werfen zu können. Aufmerksam studierte er den Rumpf des Bären, auf der Suche nach dem Punkt, an dem die Steinspitze Muskelstränge und Fettschichten durchdringen konnte, ohne an den Knochen abzugleiten. Außerdem bestand die Gefahr, dass die schwingenden Tatzen den Speer in letzter Sekunde beiseite stießen.
Aus der Entfernung verfolgten Adiv und Ylaiy den Kampf. Schnaubend und mit verdrehten Augen zerrten die Maultiere an den Zügeln. Adiv war froh, dass sie dicke Handschuhe trug. Hin und wieder griff Ylaiy unterstützend nach dem Zaumzeug, doch im Wesentlichen klammerte er sich an sein Schwert und versuchte, seiner Panik Herr zu werden. Wie Akim zog er Kraft aus der Tatsache, dass der Bär bislang niemandem auch nur einen Kratzer beigebracht hatte.
Plötzlich sprangen die Kriegerin und Videm gleichzeitig zur Seite. Deutlich sah Ylaiy die blutverschmierte Unterseite.
„Jetzt“, riefen Adiv und er wie aus einem Mund.
Akims Speer raste längst auf den Rumpf zu, blieb zitternd stecken. Zentimeter neben dem Herz.
Der Bär jaulte, brüllte, umklammerte mit beiden Tatzen den Wurfspieß, der jeden Menschen durchbohrt hätte. Tobend riss er ihn aus seinem Fleisch, eine klaffende Wunde hinterlassend. Der neue Schmerz machte ihn blind und taub für seine Umwelt, aber auch gefühllos gegen weitere Stiche und Hiebe.
„Zurück!“, rief die Kriegerin und wich nach hinten aus, wo sie gegen Akim stolperte und diesen von sich stieß. „Lauf! Im Kreis um ihn herum!“
Bestürzt bemerkten Adiv und Ylaiy, wie stoßweise die Worte aus ihrem Mund kamen.
Akim, der seit dem Fehlwurf wie erstarrt dagestanden hatte, gehorchte ohne nachzudenken. Er sprintete los, hinaus aus der Reichweite des außer Kontrolle geratenen Bären.
Syriakin stand einen Augenblick nur da und rang nach Atem. Videm wartete keinen weiteren Befehl ab. Er sprang zu Jonoy. Brüllend attackierten sie das Tier, gebrauchten ihre Waffen wie Dreschflegel, prügelten auf die Hinterseite des Kolosses ein. Ihre Gesichtstücher waren hinunter gerutscht, hingen wirr um ihre Nacken. Die Anstrengung rötete Wangen und Stirn.
„Ylaiy, Ihr müsst ihnen helfen! Schnell!“, stieß Adiv den Thronfolger nach vorn. „Nehmt das Schwert und schlagt auf ihn ein! Er ist von Sinnen, Ihr müsst ihm solange zusetzen, bis seine Kräfte erlahmen und er umfällt.“
Erst nachdem Ylaiy sich in Bewegung gesetzt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie dem künftigen Kaiser Anweisungen erteilt hatte. Er rannte, dem Bären in großem Bogen ausweichend, zu Videm und Jonoy. Eine dritte Waffe gesellte sich zu Schwert und Stock.
Adiv warf der Kriegerin einen fragenden Blick zu. Syriakin nickte und Adiv atmete hörbar auf. Zumindest hatte sie dem Prinzen nichts Falsches gesagt. Ihre Erleichterung schwand jedoch, als sie sah, wie Syriakin deutlich langsamer als vorhin auf den rasenden Bären zulief.
Zum Glück schien ihre Sorge unbegründet, denn die Kriegerin rief den Fährtenleser heran, drückte ihm ein Messer in die Hand, raunte ihm etwas zu. Akim rannte weiter, während Syriakin sich das zweite Messer zwischen die Lippen steckte und mit beiden Händen an ihren Rücken griff.
Ein Grinsen stahl sich auf Adivs Gesicht, als sie das Fischnetz hervorzog. So gelassen und geschickt wie bei ihrer Ankunft am Strand schwang die Sumpffrau das Netz in die Höhe. Wie eine Glocke senkte es sich über den Kopf des Tieres. Mit einem kräftigen Ruck riss die Kriegerin an der Fangleine und das Netz zog sich zusammen. Verwirrt fuhren die Krallen des Bären über die eigene Schnauze und brachten ihm zusätzliche Verletzungen ein.
Ein ernst zu nehmendes Hindernis stellte das Netz nicht dar; die Tatzen zerfetzten es ohne jede Anstrengung. Doch der Bär kämpfte mit seinem Gleichgewicht, ließ sich auf alle Vier nieder. Schnee stob auf, hüllte die Kämpfenden ein. Noch bevor das Gestöber sich lichtete, hatte die Kriegerin das Messer erhoben, musterte das Tier, das schnaubend die schwarzen Lippen hinter die gelben Zähne zog.
Unbeeindruckt sprang sie auf es zu, rammte ihm das Messer in ein Auge, drückte sich auf dem Schädel ab. Mit einer Vierteldrehung schwang sie sich zur Seite, sodass sie schräg hinter dem Bären zum Stehen kam.
Im selben Moment hechtete Akim auf den Rücken des Kolosses. Mit einer Hand hielt er sich an einem Ohr fest. Mit der anderen bohrte er das Messer in das unverletzte Auge, bevor er pfeilschnell wieder verschwand.
Das Brüllen, das nun einsetzte, riss Adiv beinahe von den Füßen. Die Maultiere wieherten in hohen Tönen, zerrten panisch an den Zügeln. Mühsam stemmte sie sich gegen den Widerstand. Ihre Stiefel pflügten durch den aufgewühlten Schnee. Die Mulis zogen sie fort, auch als sie sich weit nach hinten lehnte und ihr Schwert in den Schnee stieß, um die durchgehenden Tiere aufzuhalten.
Glücklicherweise hörten Videm und Ylaiy ihre Hilfeschreie. Der Prinz langte schneller bei ihr an, hing sich mit dem Gewicht seines langen Körpers in die gespannten Seile. Videm warf sich zwischen die Packtiere. Mit vereinten Kräften brachten sie sie endlich zum Stehen.
Adivs Arme und Beine zitterten von der Anstrengung, doch sie drängte die beiden Männer zurück zum Kampfplatz. „Bleibt bei den anderen. Ich komme zurecht.“
Der Bär lag auf dem Bauch, die Tatzen von sich gestreckt. Kampfkraft und Wutrausch waren verraucht. Geifer lief aus seinem hechelnden Mund. Seine blaue Zunge baumelte zwischen den Zähnen hervor.
Die Kriegerin beobachtete das Sterben mit ausdruckslosem Gesicht. Ihre Tücher hingen zerknüllt um ihren Hals. Ihre Schultern hoben und senkten sich schwer. Schließlich trat sie zu dem Bären, riss die Messer aus den Augenhöhlen. Zwei weitere Blumen erblühten auf dem hellen Pelz. Das Tier stöhnte ein letztes Mal auf. Dann rollte der wuchtige Schädel zur Seite.
Schweigend standen sie um den leblosen Riesen. Von Siegestaumel und Erleichterung keine Spur.
Syriakin legte dem Bären die Hand auf den Kopf und strich über das dicke Fell.
„Er war ein starker Gegner“, sagte Jonoy heiser.
Sie murmelte eine Zustimmung und wandte sich ab. Ein Stück entfernt ließ sie sich auf die Knie fallen und stieß die blutverschmierten Messer in den Schnee.
„Wir sollten ihn ausnehmen“, schlug Akim vor. „Das Fleisch wird uns lange satt machen.“
Die Kriegerin nickte, ganz auf das Säubern der Messer konzentriert.
„Was ist mit dem Fell?“, fragte Videm.
„Wenn es nicht zu zerstochen ist, nehmt es mit“, erwiderte Syriakin. „Es wird allerdings schwer zu tragen sein und Ihr müsst es verarbeiten.“
„Oh nein, ich wollte es nicht für mich. Es gebührt Euch.“
Erschöpft winkte sie ab. „Nehmt es.“
„Also das Fell für Videm. Und sonst? Wer bekommt was?“, erkundigte sich Jonoy. „Gibt es Regeln bei der Verteilung?“
„Regeln wofür?“, runzelte Ylaiy die Stirn.
„Trophäen. Viele der Alten Völker verehren Tiere, die sie in einem beschwerlichen Kampf töten. Sie achten sie als ebenbürtige Gegner. Trophäen sind Zeichen des Respekts.“
„Sucht Euch etwas aus.“ Die Sumpffrau trat zu Adiv und half ihr, die Zügel mit Pflöcken im Schnee zu verankern.
„Jeder erhält einen Zahn als Siegeszeichen und Erinnerung an den Kampf“, schlug Jonoy vor.
„Nicht für mich“, lehnte Akim ab. „Ich habe verfehlt“, setzte er leise hinzu.
„Selbst die besten Jäger verfehlen hin und wieder“, entgegnete die Kriegerin. „Beim zweiten Versuch hast du getroffen.“
Der Junge hob den Kopf. Seine Glutaugen trafen auf ihre smaragdfarbenen. Sie erwiderte seinen Blick stumm, bis Akims gequälter Gesichtsausdruck wich und er nickte.
„Also gut“, dröhnte Jonoy. „Das Fell für Videm. Zähne und Fleisch für uns alle. Die größeren Knochen und Sehnen nehmen wir auch mit. Sie eignen sich gut als Zeltstreben und Stricke.“
„Und die Krallen“, sagte Syriakin.
„Hmm. Dann an die Arbeit! In wenigen Stunden wird es bereits dunkel. Behaltet die Umgebung im Blick!“
Während Akim, Videm und Jonoy sich an das Ausnehmen machten und Ylaiy das Einsammeln der Pfeile und Schneerahmen, sowie das Säubern der Waffen übernahm, kümmerten die beiden Frauen sich um die Lasttiere. Adiv streichelte die Rücken der Maultiere, verzurrte die verrutschten Lasten neu, murmelte beruhigende Worte in die zuckenden Ohren, wischte Schweiß von den zitternden Flanken. Syriakin sammelte heruntergefallene Gegenstände auf, steckte sie zurück in die Bündel. Adiv entging nicht, dass sie sich danach wie zufällig an eins der Tiere lehnte.
„Geht es Euch gut?“, erkundigte sie sich.
„Niemand ist verletzt.“ Die Antwort klang teilnahmslos.
„Schön. Ich gehe den anderen helfen.“
Die Sumpffrau rang eine Weile mit sich, während sie zusah, wie ihre Gefährten den Bären zerlegten. Ihre Kiefer mahlten. Nach einigen Minuten stieß sie sich leise fluchend von dem Tierkörper ab, kletterte auf das Tragegestell und zog die Decke über sich.
„Kann es sein, dass der Boden sich wärmer anfühlt?“
Vorsichtig hob sie ihren rechten Fuß, betrachtete den Rahmen, an dem dicke Lagen Schnee klebten.
„Wärmer?“, fragte Akim stirnrunzelnd.
„Ja. Ich kann meine Zehen seit Stunden zum ersten Mal wieder fühlen. Sie bewegen, ohne dass sie mich schmerzen.“
Akim richtete seine Aufmerksamkeit auf die eigenen Füße, vermeinte, ein sanftes Vibrieren an den Sohlen zu spüren. Schnell streifte er die Schneereifen ab. Wie immer genoss er das Gefühl, die unbequemen Dinger los zu sein. Da war etwas an der Unterseite seiner Stiefel, ein angenehmes Kribbeln, das von der Empfindung her tatsächlich an Wärme erinnerte. Verwundert hob er den Fuß, bis er die Sohle sehen konnte, während er auf dem anderen Bein balancierte. Gespannt beobachteten Adiv und er, wie wässriger Schnee von seinem Schuh tropfte.
Die Kriegerin, die nach dem Tod des Bären in ihre verdrießliche Laune zurückgefallen war, schlug die Decken zurück. Sie erhob sich von ihrem Lager, die Proteste Jonoys mit einem kalten Blick unterbindend. Mit fragender Miene stellte sie sich neben Adiv.
„Der Schnee an Reifen und Stiefeln schmilzt. Der Untergrund scheint anders“, schilderte die junge Frau knapp.
„Ich rieche etwas, das ich nicht einordnen kann“, ergänzte Akim. „Ein Geruch nach Fäulnis. Drei Meilen entfernt.“
„Verwesung?“
„Weniger süßlich. Ich kenne ihn nicht.“
„Ich rieche nichts“, sagte Syriakin, nachdem sie sich einige Sekunden auf ihren Geruchssinn konzentriert hatte.
„Wenn es dich beruhigt - wir auch nicht“, entgegnete Jonoy.
„Was sagen deine Ohren und Augen?“, fragte Ylaiy Akim.
„Ich habe den Eindruck, dass ich Geräusche höre, aber das kann ich mir einbilden.“
Die Kämpferin grübelte, während sie sich hinhockte, in den Schnee griff und ihn zerdrückte. Er schien schneller zu schmelzen als sonst. „Sind wir noch auf dem richtigen Weg?“, erkundigte sie sich bei Ylaiy mit wenig mehr als einem flüchtigen Augenaufschlag.
„Soweit ich weiß, sind wir die gesamte Zeit über nach Norden gelaufen, immer auf die Styf-thal-Ebene zu.“
„Könnten wir sie verfehlt oder bereits hinter uns gelassen haben?“
Der Prinz warf die Arme in die Luft. „Sicher! Beides ist möglich. Hier sieht alles so gleich aus, dass es sogar wahrscheinlicher ist, als sie in dieser Einöde zu entdecken.“
Die Tücher auf ihren Wangen bewegten sich sacht, als sich ihre Kiefer zusammenpressten. „Dann gehen wir weiter.“
Sie schob sich an die Spitze, doch Videm trat ihr in den Weg, das blutige Bärenfell über die Schultern gelegt. „Lasst mich vorangehen.“
Sie musterte ihn mit leicht geneigtem Kopf. „Ihr glaubt, ich verausgabe mich weniger hinter Euch?“
Ein Lächeln erschien in Videms Gesicht. „Nur für ein kleines Stück. Sobald wir feststellen, dass Gefahr droht, lasse ich Euch wieder den Vortritt.“
Sie maßen sich nur kurz, dann stapfte die Kriegerin beiseite, ließ den Jüngling vorbei und schob sich hinter seinen stämmigen Rücken.
Nach etwa zwei Meilen wurde der Geruch so stark, dass auch die anderen ihn wahrnahmen. Gleichzeitig erfüllten unbekannte Geräusche die Luft. Sogar Jonoy hörte das Zischen und Fauchen. „Prinz, habt Ihr je von einem Element gehört, das abscheulich nach verfaulten Eiern stinkt?“, rief er, sich die Nase zuhaltend.
„Schwefel“, sagte Ylaiy, ohne nachzudenken.
„Schwefel? Ihr meint, wie in Zündhölzern?“, fragte Adiv.
„Woher kennst du Zündhölzer? Die Dinger sind sehr selten und teuer“, gab Ylaiy zurück.
„Der Kommandant in der Boragha hatte welche. Ich habe sie gesehen, als ich seine Räume putzte. Einmal war ich zufällig zugegen, als er Gäste empfing und die Kerzen damit entzündete. Ziemlich großspurig, übrigens. Jetzt weiß ich auch, weshalb. Wenn man ein kleines Vermögen in Flammen aufgehen lässt, nur um seine Gäste zu beeindrucken… Jedenfalls erzählte ich meinen Eltern davon und mein Vater erklärte mir die Sache mit den Schwefelköpfchen.“
„Es ist nicht der Schwefel selbst, der stinkt, sondern die Verbindung, die er mit Wasser und Luft eingeht. Neue Stoffe entstehen dabei. Sehr faszinierend.“
„Ist er gefährlich?“, wollte Akim wissen.
Der Thronfolger wiegte den Kopf. „Die Gase sind es, wenn man zu viel von ihnen einatmet. Sie brennen in den Lungen und Augen und verätzen sie. Wir müssen vorsichtig sein.“
Videm spürte ein unangenehmes Jucken im Nacken. Er zwang sich, es zu ignorieren, zumindest so lange er den Trupp anführte. Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Hinter sich hörte er die Atemzüge der Kriegerin. Dann und wann glaubte er, ein Rasseln in ihrer Kehle zu hören, doch sie schritt sicher und ausdauernd hinter ihm her. Sie hustete wieder, aber je weiter sie liefen, desto überzeugter war er, dass die Dämpfe den Reiz auslösten, denn auch sein Hals begann zu kratzen.
Er blieb abrupt stehen, als sein Schneeschuh über Stein schrammte, wartete, dass die anderen zu ihm aufschlossen. „Ich glaube, wir haben sie gefunden“, sagte er.
Es war das fremdartigste Naturschauspiel, das Jonoy je gesehen hatte.
Außer dem Felsen in der Wüste.
Das Styf-thal war mit Bodenlöchern und Kratern durchsetzt wie ein Käse. Zwischen ihnen ragten Steinkegel und Felsstufen auf, eingehüllt in stinkende Gase. Auf den höchsten Punkten der bizarren Spitzen und umgestülpten Trichter klebten Eiskristalle. Abgesehen davon lagen nur an den gezackten Rändern des Tales noch Schneereste. Ansonsten bestand die Ebene aus nacktem, porösem Gestein, das über weite Strecken grau glänzte oder sich leuchtend gelb gegen den Himmel abhob.
„Schwefel“, flüsterte Ylaiy. „Die Schwefelgase färben die Steine.“
„Ich komme mir vor wie in der Küche eines Riesen“, gab Adiv zurück. „Schaut euch all die blubbernden Löcher an. Sie sehen aus wie Kochstellen mit all den Schwaden.“
„Wir sollten aufpassen, wohin wir treten“, hustete Ylaiy.
In stillschweigendem Einverständnis schoben sich Akim und Syriakin wieder an die Spitze der Gruppe.
Bald bemerkten sie, dass die Temperatur des Bodens zunahm, bis er so heiß wurde, dass das Leder ihrer Sohlen zu dampfen begann. Kein unangenehmes Gefühl nach den vielen Tagen in der Kälte.
Als eine Fontäne mit schrillem Pfeifen senkrecht in den Himmel stob, schraken alle zusammen, stolperten auf eine Felsplatte, wo sie sich aneinanderdrängten. Jonoy streckte den Stab vor sich. Er musterte die brodelnden Trichter, als erwarte er, dass Kreaturen aus ihnen aufsteigen würden.
Weitere Eruptionen folgten. Schmatzend saugten die Bodenlöcher alle Flüssigkeit nach innen. Die Welt hielt den Atem an, dann gaben die Löcher das siedende Wasser mit einem gewaltigen Rülpsen frei. Mit Urgewalt entlud es sich in die dampfgeschwängerte Umgebung. Wie an einer Kette stiegen die Wassersäulen nach oben.
Andere Krater sprühten schwarzes Gestein, das polternd auf dem Boden aufschlug oder klatschend im Schlamm verschwand. Innerhalb von Minuten formten sich neue Landschaften. Hügelchen und Pfuhle entstanden, bis sie kurz darauf von den Geschossen wieder zerstört wurden.
Syriakin beobachtete den Verlauf der Ausbrüche. Sie musterte die Schlammkessel, deren Oberflächen schwappten und Blasen warfen. Akim wusste, dass sie nach einem Weg suchte, der sie gefahrlos um die schäumenden Krater herum führte. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit. Er spürte, wie die beißenden Gase die Luftröhre verstopften, obwohl er auf Ylaiys Ratschlag hin ein nasses Tuch vor Mund und Nase gebunden hatte. Seine Augen brannten und die Haut juckte.
„Hütet euch vor Senken wie diesen dort“, rief Ylaiy. „Ich habe Berichte von Tieren gelesen, die in solchen Mulden zu Tode kamen. Sie fielen um wie von einem unsichtbaren Feind gefällt. Seit Jahrhunderten denken die Leute, dass die Stellen verflucht sind. Die Gelehrten glauben, dass es mit giftigen Gasgemischen zusammenhängt, die sich in ihnen sammeln.“
„Gut, dass Ihr für alles eine wissenschaftliche Erklärung findet“, sagte Adiv. „Wenn die Reise vorüber ist, werdet Ihr als meisterhafter Alchemist und berühmter Entdecker in die Chroniken eingehen. Ich kaufe Euch gern das Pergament für die Masse Eurer Notizen, doch für den Moment sollten wir zusehen, dass wir aus diesem Dämonenloch herauskommen.“
„Darf ich wenigstens ein Exemplar dieser außergewöhnlichen Minerale mitnehmen? Sie sollten untersucht werden.“
„Tut, was Ihr nicht lassen könnt, aber tut es rasch“, entgegnete die Kriegerin.
Ohne ein weiteres Wort bückte Ylaiy sich nach einem schwarzen Stein, der von der Hitze teilweise geschmolzen war. Seine unregelmäßigen Ränder waren ausgelaufen und in die Länge gezogen.
„Ist das Glas?“, erkundigte sich Videm.
Ylaiy nickte mit leuchtenden Augen. „Es erinnert an Obsidian. Ein vulkanisches Gesteinsglas. Perfekt zur Herstellung von Waffen. Ich habe gehört, dass sogar Schwerter aus ihm gefertigt werden. Seht! Der Stein verändert seine Farbe, je nachdem, wie das Licht auf ihn fällt. Faszinierend.“
„Er sieht aus wie der Felsen in der Wüste“, stieß Jonoy hervor. „Behaltet ihn bei Euch.“
Ylaiy betrachtete seinen Schatz ein letztes Mal, bevor er ihn in seinem Beutel verstaute.
„Seid Ihr nun zufrieden?“, drängelte Adiv. „Glaubt nicht, dass wir Euch helfen, Eure seltsamen Funde zu schleppen. Die tragt Ihr allein.“
Ylaiy brummelte eine Antwort, die niemand verstand.
„Bleibt dicht hinter uns. Keiner tritt auch nur einen Schritt zur Seite“, befahl die Kriegerin. „Haltet die Luft an. Wir gehen mitten hindurch. Das ist der schnellste Weg. Akim ist der leichteste und flinkste. Er wird vorangehen. Dort hinten liegt eine schillernde Fläche, ziemlich groß. Ich glaube, es ist ein See. Wir behalten ihn zunächst als Ziel im Auge. Ich sichere von hinten.“
Sie nickte dem Fährtenleser zu. Akim streckte vorsichtig seinen Fuß nach der Stelle aus, auf die sie wies, und setzte sich in Bewegung. Die anderen folgten im Gänsemarsch, wie Seiltänzer auf den schmalen Felsstegen balancierend, die Maultiere behutsam hinter sich her führend.
„Quelle?“, fragte Adiv befremdet. „Ihr meint: Wasser?“
„Warmes Wasser“, präzisierte Ylaiy. „Heiße Quellen gibt es auch im Dran’bara, sogar auf Yruish, in der Nähe der Stadt Balandyis. Ich war selbst schon dort. Viele suchen sie auf, um Entspannung zu finden. Man sagt ihnen heilsame Kräfte nach. Sie sollen mit Mineralien angefüllt sein, die das Wohlbefinden steigern. Seht ihr den weißen Belag hier an den Rändern? Das sind mineralische Niederschläge.“
„Sie wirkt eher wie aus einer anderen Welt.“
„Oh, du meinst die Dämpfe und Gase.“ Der Prinz winkte ab. „Das ist ein gewöhnlicher Prozess. Die Luft in der Umgebung ist sehr kalt, während es in den Quellen warm ist. Es kommt zum Austausch der Temperaturen. Dampf steigt auf.“
„Wie entstehen solche Quellen?“, wollte Akim wissen, der Abstand zu den wabernden Wassermassen hielt.
„Das Wasser wird unter der Erde erhitzt. Am Gestein. Womit bewiesen wäre, dass die Insel kein Eisberg ist, sondern Landmasse.“
„Die Eisinsel ist in Wirklichkeit ein Feuerberg?“ Zum ersten Mal seit den grauen Morgenstunden des Vortages sah die Kriegerin Ylaiy wieder an.
„Ist das nicht die größte Ironie überhaupt? Meterhohes Eis, geschichtet auf Feuer und Glut. Diese Insel wird jeden Tag verrückter.“
Alle schwiegen, für den Augenblick überwältigt, bis Adiv mit der Spitze ihres Stiefels winzige Wellen auf die Reise schickte. „Wie warm ist es?“, fragte sie.
Jonoy zuckte mit den Achseln. „Es brodelt nicht wie die Löcher hinter uns. Wir werden es wohl ausprobieren müssen.“
„Wir müssen gar nicht“, hielt Akim dagegen.
„Wo ist deine Neugier geblieben, Junge?“ Jonoy entledigte sich bereits seines Handschuhs. „Ich bin Schmied. Ich habe mir so oft die Finger verbrannt, dass sie mit den Jahren ziemlich unempfindlich geworden sind.“
Mit diesen Worten beugte er sich vor und senkte den Finger in das Nass. Akim schloss die Augen, Adiv sog die Luft ein und Videm verzog das Gesicht in Erwartung eines Schreis. Doch Jonoy behielt den Finger im Wasser, steckte sogar die ganze Hand hinein. Sein Gesicht war vergnügt, als er sie nach einiger Zeit herauszog und unter die Nase hielt. „Hmm. Riecht metallisch. Aber nichts verbrüht, nichts verätzt. Sauberes Wasser. Angenehm.“
„Kann man es trinken?“ Die Diebestochter kniete an Jonoys Seite nieder und wackelte mit ihrer Hand im Wasser, das ihre klammen Finger rasch erwärmte.
„Das würde ich lassen. An Yruishs Heilquellen tut man es, aber letztlich wissen wir zu wenig über diese Quelle. Und wozu sollten wir auch? Wir leiden hier an vielem, doch bestimmt nicht an Wassermangel.“
„Kann man darin schwimmen?“ Beinahe sehnsüchtig glitten die Augen der Kriegerin über die Wasserfläche.
Alle Köpfe wandten sich ihr zu.
„Ihr wollt da hinein?“, fragte Adiv entgeistert. „Ihr seid gerade erst von einem schweren Fieber genesen.“
„Eben.“
„Sie könnte recht haben“, fiel Jonoy ein, bevor Adiv weitere Einwände erheben konnte. „Das warme Wasser lockert Verkrampfungen, lindert Gliederschmerzen.“
„Die sie nach eigener Aussage nicht mehr hat.“ Die Bemerkung kam von Videm, der es schaffte, sie spitzbübisch genug klingen zu lassen, um nicht verletzend zu wirken. Der Vorwurf war dennoch unüberhörbar. Syriakin warf ihm einen langen Blick zu, erwiderte jedoch nichts.
Jonoy überging den Einwurf ebenfalls. „Uns allen würde die Wärme guttun. Mal davon abgesehen, dass wir seit Wochen ungewaschen in derselben Kleidung herumlaufen und schlafen. Für fremde Nasen dürften wir mittlerweile eine Beleidigung sein.“
Adiv dachte an ihre juckende Kopfhaut. An das fettige Haar, das glücklicherweise den größten Teil des Tages bedeckt war. Eis und Kälte ließen sie weniger schwitzen und im Schnee gab es keinen Staub und anderen Unrat. Dennoch fühlte sie sich schmutzig. Der Gedanke an ein heißes Bad klang verheißungsvoll. Die Quelle mit den weißen, steil abfallenden Rändern und dem türkisfarbenen Wasser wirkte einladend, doch sie war so tief, dass man den Grund nicht sah.
Die Kriegerin führte die Maultiere an den Rand des Gewässers und stellte sich hinter sie. Dann begann sie, die Tücher von Kopf und Hals zu knoten und auf die Trage zu legen.
„Was tut Ihr da?“, fragte Adiv alarmiert.
„Du kannst nicht in deiner Kleidung schwimmen. Sobald du wieder heraussteigst, gefriert sie.“
In Adivs Gesicht arbeitete es. Eine Erinnerung an das verschämte Mädchen auf dem Boot stieg in Syriakin auf. Sie drehte sich zu den anderen um. „Bereitet das Lager vor. Ich muss wohl nicht betonen, dass ich jeden töte, der uns beobachtet.“
Während die Männer sich entfernten – Ylaiy und Jonoy glucksend – wandte die Kriegerin sich an Adiv. „Ich werde hinaus schwimmen und mich wegdrehen. Nimm das Maultier als Sichtschutz zwischen uns, wenn du magst, und bleibe in Ufernähe. Du solltest dir das Bad nicht entgehen lassen.“
Adiv nickte mit trockener Kehle. Sie warf den Männern einen misstrauischen Blick hinterher, bevor sie mit fahrigen Fingern an ihrer Kleidung nestelte. Sie hörte das Rascheln auf der anderen Seite des Maultieres und gleich darauf das Platschen, mit dem Syriakin kopfüber ins Wasser sprang.
Als sie selbst den Rand des steinernen Beckens betrat, hielt sie Ausschau nach der Sumpffrau. Die schwamm, kräftig kraulend und sich schnell entfernend, zur Mitte des Wasserlochs. Dort legte sie sich auf den Rücken und starrte in den Himmel. Dampf hüllte sie ein wie eine Geistergestalt.
Adiv tastete sich vorwärts und ließ sich mit angehaltenem Atem ins Wasser gleiten. Dann erst gestattete sie sich einen wohligen Seufzer und gab sich der sanften Umarmung des Wassers hin.
In der Mitte des Sees holte die Kriegerin Luft. Aus der Rückenlage heraus schoss sie unter die Oberfläche, stieß lang gestreckt in die Tiefe, betrachtete aufmerksam die bizarren Gesteinsformationen. Ein Schleier war über ihre Pupillen geglitten. Er verwandelte das beängstigende Grün ihrer Augen in ein farbloses Grau.
Nach langen Minuten tauchte sie wieder auf, einen sichtbaren Ausdruck der Irritation auf ihrem Gesicht. Ihre Hände schlugen mehrfach auf ihre Ohren. Sie schüttelte den Kopf, berührte erneut ihre Ohren und ließ dann einen Warnruf ertönen, der Adiv ihre Rückkehr ankündigte.
Ylaiy fand sie mehrere Schritte abseits des Lagers, in der Nähe des Wassers.
Natürlich.
Halb saß, halb lag sie auf der Trage, das eine Bein angewinkelt unter dem Schenkel des anderen, eine kurze Pfeife in der Hand. Kopfschutz, Gesichtstücher und Handschuhe hatte sie abgelegt. Sie wirkte erholter als gestern Morgen, doch die Fieberspuren waren deutlich sichtbar. Unter ihren Augen prangten dunkle Ringe und ihre Wangenknochen traten spitz hervor. Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie ihn erst hörte, als er neben ihr aufragte.
„Es wundert mich, dass der Tabak noch genießbar ist.“
„Kommt Ihr, um Konversation zu betreiben?“, gab sie zurück, ohne ihn anzusehen. „Dann seid gewarnt. Ich bin nicht in Stimmung.“
Er reckte den Kopf weiter in ihre Richtung und atmete den Rauch ein, der vor ihrem Gesicht aufstieg. Ein sehnsuchtsvoller Ausdruck erschien in seinen Augen. „Ahh“, stöhnte er. „Dieser Duft bringt einige Erinnerungen. Man schläft besser nach dem Rausch, habe ich recht?“
Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, entgegnete jedoch nichts.
„Es ist seltsam. Seit ich auf der Insel bin, schlafe ich wie ein Säugling. Wenn Zeit und Umstände Schlaf zulassen. Manchmal falle ich sogar beim Laufen in eine Art Schlummer. Nicke ein, wenn ich am Feuer sitze. Früher, im Palast, hatte ich ein bequemes Bett, aber in den meisten Nächten fand ich keinen oder nur wenig Schlaf. Es ist eine Qual, wenn man sich stundenlang hin und her wälzt, ohne von seinen Gedanken erlöst zu werden, nicht wahr?“
Sie saß in derselben Position, in der er sie aufgefunden hatte, doch ihre Haltung wirkte verkrampfter.
„Irgendwann stieß ich auf die Rauschblätter. Gyoth heißen sie. Sie riechen wie das da in Eurer Pfeife, und – oh! - sie waren wie ein Wunder. Ich rauchte sie oftmals abends vor der Feuerstelle, bis ich umfiel. Meist war ich betäubt und mein Schädel hämmerte den ganzen nächsten Tag, aber das war ein kleiner Schmerz verglichen mit der Folter der schlaflosen Nächte.“
Endlich wandte sie ihm den Kopf zu. „Und was wollt Ihr nun? Freundschaft mit mir schließen?“
Er lächelte. „Ich mag naiv sein. Dumm bin ich nicht. Zwischen uns wird es Freundschaft niemals geben.“
„Gut, dass Euch das so klar ist wie mir.“
„Ja“, sagte er gedehnt, „ja, ich weiß.“ Dann machte er eine längere Pause, während der sie den Sternenhimmel betrachtete und einen weiteren Zug nahm.
„Ich habe gehört, dass Bada Eure Tochter ist“, stieß er schließlich hervor.
Ihr Blick ruhte weiterhin auf den Sternen. Lediglich der Rauchkringel, der etwas schneller aufstieg als die vorangegangenen, verriet, dass sie kurz die Luft angehalten hatte. „Was wollt Ihr?“, wiederholte sie.
„Mich entschuldigen. Es tut mir leid, was ich in der Höhle zu Euch sagte. Ich wusste nicht, dass Bada …“
„Schon gut“, unterbrach sie ihn.
„Nein. Es tut mir leid. Nicht nur… Auch für Euch, meine ich. Für Euer Kind. Euren Stamm. Ich … ich hoffe, wir finden Bada.“
Er hielt inne, plötzlich ohne Worte. Sie saß wie erstarrt, Kopf in den Nacken gelegt, Blick in den Sternen. Die Hand, welche die Pfeife umklammerte, war weiß.
Er räusperte sich und wandte sich zum Gehen.
„Ich hoffe, wir finden auch Euren Vetter“, hörte er ihre dunkle Stimme.
Er drehte sich um und sah ihre Augen auf sich gerichtet. Das Grün leuchtete im Licht der Sterne. Der Mond tauchte ihr Gesicht in geheimnisvolle, weiche Schatten.
Einen Moment lang stockte sein Atem.
„Taiyr“, sagte er zu seiner eigenen Überraschung. „Vielleicht können wir wenigstens die Feindschaft begraben. Für die Dauer dieses Abenteuers. Danach gehen wir beide unserer Wege.“
Sie sahen sich an und schwiegen. Dann rückte sie wortlos zur Seite, streckte ihr Bein aus. Er rutschte neben sie und ergriff die Pfeife, die sie ihm hinhielt. „Ich dachte schon, Ihr bietet mir nie etwas an.“
„Es ist kein Gyoth darin.“
„Zumindest scheint das Zeug zu entspannen“, antwortete er, nahm einige lange Züge und schloss die Augen. „Nach all dem dürft Ihr mich wieder hassen“, murmelte er.
„Wer sagt, dass ich Euch hasse?“ Ihre Stimme kam wie aus weiter Ferne.
„Ich würde mich hassen. Ich meine, wenn ich Ihr wäre. Dann würde ich den Sohn der Kaiserin hassen.“
Seine Stimme wurde leiser, schien mehr und mehr einem Fremden zu gehören. Er merkte, wie er schwerer auf die Trage sank und der Tag verschwand. Am Rande seines Bewusstseins bekam er mit, wie sie sich erhob. Sich entfernte. Zurück blieben Kälte und ein Gefühl von Leere. Er dachte an Sila. Daran, wie ihre Gestalt mit der Syriakins verschmolzen war, als diese in den Schnee fiel.
Die Kriegerin ragte am Ufer in den nächtlichen Himmel. Sie sah über das dampfende Wasser, die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt. Hinter ihr ertönten Jonoys Gebrummel und Adivs Lachen, durchmischt mit Akims Fragen und Videms Einwänden. Sie hörte die vier, genauso wie Ylaiys Schnarchen und das Scharren und Stampfen der Maultiere, die sie anfangs als fremd und übel riechend empfunden hatte. Mittlerweile war sie dankbar für die Gesellschaft der Tiere, die geduldig ihre Lasten trugen und ihnen Wärme gaben.
Sie ging zu ihnen und strich über das raue, struppige Fell. Die Mulis scheuten nicht zurück, sondern sahen sie aus großen, feuchten Augen an und schnaubten. Sie erinnerte sich, wie die Tiere sie hinter sich her gezogen hatten. Der Gedanke gefiel ihr nicht. Noch weniger behagte ihr die Mischung aus Mitleid und Sorge in den Gesichtern der anderen.
Sie drängte das Nachdenken um ihre Gesundheit aus ihrem Geist, trat näher an das Wasser heran, dachte an die Welt unter der Oberfläche. An scharfzackige Felsvorsprünge. An rissige Kanten und Furchen. An aufeinandergestapelte Gesteinstreppen. An mächtige Quader auf dem Grund des Sees. Sie dachte an die finsteren, heißen Tiefen darunter, vor denen selbst ihr graute. An die schwarzen Öffnungen, die überall in den Felswänden gähnten. Manche winzig und verborgen hinter Ecken und überspringenden Rändern, andere weit und einladend für diejenigen, die den Mut fanden, sie zu durchqueren.
Trübe schien der Mond über den geisterhaften Schwaden, so düster wie ihre Gedanken. Als sie sich umwandte, gaben die Schleier einen Kopf frei, der sich aus dem Wasser schob.
Akim, der den Zug anführte, bemerkte es zuerst. Soeben waren seine Schneeschuhe noch eingesunken, doch mit dem nächsten Schritt stand er auf festem Untergrund. Videm, der die Senke zeitgleich mit Ylaiy betrat, strauchelte, als der tagelange Rhythmus seiner Schritte aus dem Gleichgewicht geriet. Der Prinz zog ihn am wattierten Ellenbogen hoch.
„Bei meiner Seele“, murmelte Jonoy verhalten, während er den Blick über das Kreisrund schweifen ließ.
Vor ihnen lag ein Tal wie der Boden einer Schüssel, mit sanft gerundeten Hügeln, die es von allen Seiten einfassten. Die dunklen Wolken, die sie seit Tagen begleiteten, erweckten den Anschein, als hinge der Himmel tiefer in diesem Teil der Welt.
Auf dem Talboden standen mannshohe Steine aufrecht auf dürrem Gras. Manche waren lang und schmal und glänzten wie poliert. Andere sahen aus wie stumpfe Kegel. Etliche waren scharfkantig und abgeflacht wie riesige Muscheln, einige kaum höher als gewöhnliche Felsbrocken. Sie waren im Kreis angeordnet und offensichtlich von Menschenhand bewegt worden.
Der Anblick ließ Akim ehrfürchtig dreinblicken, zumal in diesem Augenblick die Sonne ihre Strahlen durch die dichte Wolkendecke schickte. Sie tauchten den Ort in ein intensives, überirdisches Licht. Ohne es zu merken, griff Akim sich an die Brust.
„Bei meiner Seele“, wiederholte der Schmied.
Inzwischen verstand Akim genug Umgangssprache. „In der Tat“, stimmte er zu.
Schweigend trat Syriakin in die Männergruppe. Akim bemerkte, dass auch sie, bei aller Zurückhaltung, beeindruckt schien.
„Was ist das?“, rief Adiv mit ergriffener Stimme, ihre Augen gegen die tief stehende Sonne abschirmend.
„Menhire?“, fragte Jonoy.
Ylaiy bejahte mit einer leichten Kopfbewegung.
„Sprecht so, dass wir es verstehen“, bat Adiv den Schmied halb lächelnd, halb verärgert.
„Heilige Steine. Manche sagen, sie besäßen Zaubermächte. Andere glauben, es seien ausgeklügelte Mechanismen, mit denen man die Tage und Jahre messen kann.“
„Im Süden Yruishs und Stalephs findet man eine Reihe dieser Steinzirkel“, erläuterte Ylaiy. „Man kann wohl davon ausgehen, dass es sich um Kultstätten handelt. Vor ewiger Zeit errichtet, wahrscheinlich, um Rituale durchzuführen oder Gottheiten anzubeten. Vielleicht dienten sie auch als Opferstätte.“
„Dann sind das die ersten menschlichen Spuren, die wir hier finden“, sprach Akim die Gedanken aller aus. Er war durch den Anblick wie bezaubert, aber tief in seinem Innern auf unerklärliche Weise aufgewühlt. Ein namenloser Schrecken hatte ihn erfasst. Das Gefühl glich eher einer unbestimmten Ahnung, einer Idee, die er nicht greifen konnte. Er schüttelte mehrfach den Kopf, doch die Empfindung drohenden Unheils blieb.
Er warf verstohlene Blicke in die Runde. Außer ihm schien niemand Anstoß an dem Ort zu nehmen. Jonoy und Ylaiy waren an die Steine herangetreten, berührten sie sacht, fast ehrfürchtig. Jonoy streifte seinen Handlappen ab. „Er ist glatt“, flüsterte er. „Nicht so rau, wie er aussieht. Wärmer als die Luft. Angenehm.“
Videm und Adiv schritten ebenfalls heran, befühlten das Gestein, streichelten es, liebkosten es, einen Ausdruck stiller Verzückung auf ihren Gesichtern.
Akim beobachtete sie stirnrunzelnd.
„Was denkst du?“, ertönte eine dunkle Stimme an seinem Ohr. Er schnellte herum und schämte sich augenblicklich wegen seiner Schreckhaftigkeit.
Die Kriegerin musterte ihn forschend. „Es muss bedeutend sein, wenn deine Sinne dich im Stich lassen. Ich habe mir keine Mühe gegeben, besonders leise zu sein. Du hast mich nicht bemerkt.“
Er schluckte hart. Kurz erwog er Ausflüchte, Banalisierungen, dann räusperte er sich. „Es ist dieser Ort. Irgendetwas stimmt nicht. Ich spüre Gefahr. Ein ... Übel, das über der Senke liegt. Ich kann nicht sagen, was mir die Empfindung eingibt. Es ist kindisch“, fügte er störrisch an.
„Das ist es nicht“, widersprach sie zu seiner Überraschung.
„Es ist ohne Grundlage“, erwiderte er lahm.
Sie schüttelte den Kopf. „Du vertraust deinen Instinkten wie ich meinen. Und ich stimme dir zu. Dieser Ort ist böse. Es kriecht aus jeder Pore dieser Steine. Hängt in den Wolken. Ich spüre es wie du.“
„Warum fühlen sie es nicht?“, fragte er, erleichtert und besorgt gleichermaßen. „Sie scheinen wie versunken in den Anblick.“
Syriakin zuckte mit den Schultern. „Der Prinz und Videm sind hinter Mauern aufgewachsen, behütet vor wilden Tieren und den Gewalten der Natur. Adiv ebenso. All ihr Wissen stammt aus Büchern. Den Erzählungen anderer. Der Schmied ist weit gereist und sehr alt. Möglicherweise zu alt. Hat er vergessen, seinen Gefühlen und Sinnen zu vertrauen?“
Akim entging die Frage nicht, die ihre Unsicherheit widerspiegelte. „Vielleicht wagt er es auch nicht, die Instinkte zuzulassen“, sagte er leise.
Sie erwiderte längere Zeit nichts. Akim dachte, das Gespräch sei beendet, als sie erneut den Mund öffnete. „Das erklärt nicht, warum sich niemand fragt, weshalb im Tal kein Schnee liegt. Es ist, als hätten die Steine ihn geschmolzen, findest du nicht?“
Mit dem Arm beschrieb sie einen Halbkreis. Akim folgte ihrer ausgestreckten Hand. Auf den Hügelkuppen ringsum türmte sich der Schnee in hohen Kappen und Verwehungen. Nur hier unten in der Senke, wenige Meter von den Schneemassen entfernt, sprossen schmutziggraues Gras und dürre Flechten. Wenn er sich konzentrierte, konnte er den Wind pfeifen hören, der in den vergangenen Wochen ihr ständiger Begleiter gewesen war. Im Tal wehte es auch, aber bei Weitem nicht so wütend und vor allem nicht so eisig. Der Wind hier war beinahe erfrischend. Wie eine Frühlingsbrise.
„Das hast du bemerkt, oder?“, fragte Syriakin, ohne eine Antwort abzuwarten. „Genauso wie die Tatsache, dass hier Gras sprießt. Was entweder bedeutet, dass die Insel hier erdigen Untergrund hat, oder dass das Ganze völlig widernatürlich ist. Das ist sicher nicht kindisch.“
Er spürte, wie sich seine Nackenhärchen aufstellten. „Glaubt Ihr, dies ist die Senke, die auf der Karte eingezeichnet ist?“
„Urdal’thonn“, nickte sie. „Alle auf der Karte vermerkten Plätze scheinen besonders zu sein. Auch im Styf-thal lag kein Schnee, erinnerst du dich?“
„Warum gibt es hier Orte, die plötzlich warm sind? Inmitten des Schnees, der alles Leben unter seinem Panzer erdrückt? Das Tal, die Senke – sie sind wie Oasen.“
„Deine Wüste hat auch Oasen. Weshalb sollte eine Eiswüste nicht auch welche haben?“
„Weil die hier wie Zauberwerk erscheinen“, rutschte es Akim heraus. „Böses Zauberwerk“, setzte er leise hinzu.
Die Kriegerin warf ihm einen langen, schweigenden Blick zu. Dann riss sie die anderen aus ihrer Entrückung, hielt sie an, den Rastplatz für die Nacht herzurichten.
Akim bemerkte, wie sie Abstand zu den Steinen wahrte. Das gab ihm mehr zu denken als seine eigene Befindlichkeit.
An diesem Abend lagerten sie auf einem Flecken kahler Erde unweit der Steine. Akim war froh, dass die Sumpffrau einen Platz abseits gewählt hatte, dennoch behagte es ihm nicht, im Tal zu nächtigen. Lieber hätte er auf den Hügeln eine Schneehöhle gegraben.
Er ahnte, dass Syriakin ähnlich fühlte. Ihr Gesicht glich mehr denn je einer Maske. Unablässig suchten ihre Augen die Umgebung ab. Einmal sah sie ihn, wie er sie beobachtete, und starrte ihn an. Er schüttelte den Kopf zum Zeichen, dass er ebenfalls nichts entdeckt hatte, was sie mit einem Nicken zur Kenntnis nahm.
Die Stimmung in der Gruppe war aufgeregt. Abgesehen von Syriakin und Akim, die nachdenklich am Rand des Feuers hockten, saß der Rest plaudernd mit dampfenden Teebechern im Kreis darum. Einige Male ertönte leises Gelächter, welches aber unter den tadelnden Blicken der Kriegerin erstarb. Ob es an der angenehmen Temperatur lag, an den kurzen Augenblicken Sonnenschein oder den mysteriösen Steinen, vermochte Akim nicht zu sagen. Vielleicht war es eine Mischung aus allem. Jedenfalls wirkten Ylaiy, Jonoy, Videm und Adiv gelöster als sie es auf allen bisherigen Reiseabschnitten gewesen waren.
Akim konnte den Frohsinn nicht teilen. Zu sehr war er mit seinen widersprüchlichen Gefühlen beschäftigt. Mit düsterem Gesicht kauerte er auf den Fersen, den Speer vor sich in den Boden gerammt. Er blickte zu den Sternen, die zwischen den Wolkenschleiern hervor blitzten, stellte sich vor, wie seine Mutter dieselben Himmelslichter anstarrte. Möglicherweise in genau demselben Augenblick. Der Gedanke, der ihm normalerweise Trost bescherte, machte ihn in dieser Nacht unermesslich traurig, vor allem, als ihm Kian in den Sinn schoss.
Sieht er sie noch?
Zeitiger als sonst rollte er sich zusammen, den Rücken dem Feuer zugekehrt.
Ihre Schritte näherten sich behutsam, als bäten sie ihn um Verzeihung und gleichzeitig um Erlaubnis. Er hörte, wie sie hinter ihm stehen blieb.
„Ich habe dieses Gefühl schon einmal gehabt. Am Tag, als Gradh und ich den Felsen entstehen sahen. Nur, dass es damals viel schlimmer war. Jetzt ist es eher ein Hauch. Wie eine Magenverstimmung. Nicht qualvoll, nur irritierend“, sagte er tonlos.
Seine Ohren vernahmen das leise Knirschen ihrer Knie, als sie sich niederließ. Er drehte sich nicht um. Die Tränen, die in seinen Augen brannten, musste sie nicht sehen.
„Du magst mich für verrückt halten, aber es ist ein gutes Gefühl. Wenn man eine Gefahr spürt, kann man sich darauf vorbereiten. Dann ist man im Vorteil.“
„Es ist kein gutes Gefühl“, widersprach er, heftiger als er beabsichtigt hatte. „Lebensnotwendig, ja, doch ganz sicher nicht gut. Ich hasse es.“
Die Kriegerin schwieg lange. So lange, dass er fürchtete, sie beleidigt zu haben. Er verstand ja, worauf sie hinaus wollte. Begriff, dass ihre Instinkte sie umgaben wie eine zweite Haut, aber das änderte nichts daran, dass er die Empfindung hatte, zu ersticken. An einer unaussprechlichen Angst, an Trauer, Hoffnungslosigkeit und Wut.
„Vielleicht hast du recht“, sagte sie plötzlich. „Vielleicht habe ich vergessen, wie schrecklich es sich anfühlt, wenn man eine Gefahr spürt und nichts dagegen tun kann.“
Ihre Stimme klang rauchig wie immer, doch Akims Gehör vernahm einen leisen, fast wehmütigen Unterton. Das brachte ihn dazu, sich herum zu rollen.
„Es tut mir leid. Ich wollte Euch nicht …“
„Schon gut“, presste sie heraus und machte Anstalten, sich zu erheben.
„Seit wir das Tal betreten haben, geht mir Kian nicht aus dem Kopf. Als hätten die Steine die Gedanken angestoßen. - Denkt Ihr an Eure Tochter? Auf dieser Reise?“ Er erwartete keine Antwort und bekam keine. Doch aus der Art, wie sie die Luft einsog, schloss er die Erwiderung. „Ich auch. Ununterbrochen. Und doch wieder nicht. Ich meine, er ist in meiner Erinnerung, meinen Träumen, aber ich habe ihn weit nach hinten geschoben, versteht Ihr, was ich meine?“
Er sah sie nicken.
„Ich habe ein schlechtes Gewissen deswegen, aber irgendwie scheint es notwendig zu sein. Würde ich die ganze Zeit nur an ihn denken, wäre ich … ich weiß nicht, ich könnte nicht… ich würde…“ Hilflos rang er nach Worten.
„Gelähmt“, schlug sie matt vor.
„Ich denke, wenn ich ihn retten will, muss ich mich selbst retten. Vor ihm, vor der Angst um ihn. Machen meine Worte Sinn?“
Mittlerweile hatte er sich aufgesetzt und starrte in ihr Gesicht. Trotz seines ausgeprägten Sehsinnes konnte er nicht mehr erkennen als ihre Umrisse und zwei schwach leuchtende Augäpfel.
„Sie machen allen Sinn“, gab sie zurück. Ihre Stimme klang spröde.
Er überlegte kurz, betrachtete die vier am Feuer, die sich halblaut unterhielten, ihnen keine Beachtung schenkten. Lediglich Jonoy warf hin und wieder einen Blick in ihre Richtung.
„Seit wir hier sind, in dieser Senke; seit ich die Steine spüre, ist er da. In meinem Kopf. Die ganze Zeit. Macht mich verrückt. Als würde er in meinem Geist herum spuken. Ich will ja, dass er da ist, will ihn nicht vergessen, aber nicht … so. Ich habe Angst, was alles mit ihm geschehen ist. Geschehen kann. Die Kälte, das Heimweh, die Einsamkeit, die Wesen. Er ist doch noch ein Kind.“
Es fiel ihm schwer, die Tränen zurückzuhalten, und er war dankbar für die Dunkelheit, die sie umgab. Er wollte nicht weinen, schon gar nicht vor einer Frau, also sprach er einfach weiter. Mit einer Stimme, die zurückfiel in die hellen Vokale seiner Kindheit und die immer leiser wurde vor ersticktem Kummer.
„Diese Empfindungen, sie sind nicht nur schlecht. Es ist, als würden die Steine mich gleichzeitig anziehen. Ich meine, sie sahen wunderschön aus im Sonnenlicht, selbst jetzt noch. Sie strahlen vor Wärme. Der Felsen in der Wüste war kalt, aber die hier sind es nicht. Wie kann etwas so Warmes und Schönes übel sein?“
Die Kriegerin saß bewegungslos da, in unbequemer Haltung, halb erhoben, halb sitzend. Als keine Antwort von ihr kam, ließ der Junge sich auf den Rücken zurückfallen und drehte sich zur Seite.
„Du solltest ruhen“, hörte er ihre heisere Stimme. „Ich übernehme deine Wache.“
„Das müsst Ihr nicht“, murmelte er, während die Erschöpfung mit zärtlichen Fingern nach ihm griff.
„Schon gut. Schlaf. Ruhe dich aus.“
Er träumte von seiner Mutter. Von seiner Großmutter, die er nie getroffen hatte.
Nach Stunden erwachte er. Der Mond stand noch am Himmel. Er fror und bekam ein schlechtes Gewissen, weil er seine Wache verpasst hatte. Er würde in der nächsten Nacht ihre übernehmen.
Erst einige Herzschläge später fragte er sich, was ihn geweckt hatte, lehnte sich auf die Ellenbogen, um die Umgebung zu mustern.
Das Feuer war beinahe niedergebrannt. Seine Gefährten lagen um ihn verstreut. Adiv lehnte an einem der Mulis, bis zur Nasenspitze vergraben unter Fellen und Mänteln. Jonoy ruhte auf dem Rücken, schnarchte halblaut. Videm hatte sich neben das andere Muli gelegt. Er schlief unruhig und schien von Albträumen geplagt wie so oft. Ylaiy murmelte, warf sich bisweilen hin und her.
Die Kriegerin fehlte. Ihre zusammengekauerte Gestalt machte er in beachtlicher Entfernung aus. Offenbar hatte sie sich am Rand des Tals um die Steine herumbewegt und sich auf einer mit Schnee bedeckten Anhöhe niedergelassen.
Beruhigt wollte er sich wieder hinlegen, als ein Geräusch ihn in der Bewegung stoppte. Eine Weile lag er mit klopfendem Herzen da und lauschte, riss die Augen auf, als er den Laut erkannte.
Unwillkürlich sah er zu Adiv, aber die schlief friedlich. Erneut richtete er sich auf. Er musste sehr genau hinschauen, die Augen zusammenkneifen. Wäre der Mond in diesem Augenblick hinter den Wolken verschwunden, hätte er sie nicht gesehen.
Die Kriegerin hatte beide Arme auf ihren Bogen gestützt und die Stirn an das Holz gelehnt. Ihre Schultern zuckten. Er hörte Schluchzen, das mit so viel Macht aus ihrer Kehle drang, dass sie kaum Luft bekam und es eher einem Schluckauf glich. Sofort war ihm klar, dass sie seit langer Zeit gegen das Weinen angekämpft hatte. Nun stand sie im Begriff, zu verlieren. Er sah, wie sie den Bogen fallen ließ und die Hände vor ihr Gesicht schlug in einem letzten Versuch, die Tränen zurückzuhalten. Er sah, wie sie sich vorbeugte, als sei sie kurz davor, sich zu übergeben. Sein erster Impuls war aufzuspringen und zu ihr zu laufen, doch etwas hielt ihn zurück.
Sie würde ihm nie verzeihen.
So verkroch er sich unter die Felle und kniff die Augen zu. Mit beiden Händen bedeckte er die Ohren. Er steckte sogar die Finger hinein, bis er nichts mehr hörte außer dem Rauschen des Blutes und dem eigenen Herzschlag.
Am Morgen suchte er verstohlen nach Anzeichen in ihrem Gesicht, nach einer Veränderung, aber ihre Miene blieb stoisch und ihr Blick gewohnt düster. Ein grauer Schatten von Müdigkeit war alles, was von den Ereignissen der letzten Nacht kündete. Was auch immer sie heimgesucht hatte, war verschwunden, ohne äußere Spuren zu hinterlassen.
Die Gefährten bemerkten von all dem nichts. Sie wirkten ausgeruht, auf eine beängstigende Weise euphorisch, wohingegen er weiterhin von quälenden Sorgen geplagt wurde. Er hätte seinen Speer darauf verwettet, dass es der Sumpffrau genauso erging. Dass sie es ebenso wenig erwarten konnte, das Tal hinter sich zu lassen.
Die anderen zeigten sich zögerlich, fast unwillig, den Steinkreis zu verlassen, vor allem Adiv. Ihre Augen schienen sich von den Menhiren nicht lösen zu können. Als sie zur entgegengesetzten Seite der Senke gingen, dorthin, wo laut Karte der Gang zur Festung beginnen sollte, trat ein Ausdruck von Begehren in ihr Gesicht. Ihr Körper streckte sich nach den Steinen wie nach einem Geliebten. Sehnsuchtsvoll blickte sie zu ihnen zurück.
Akim hatte das Gefühl, als würde die Senke sich ausdehnen, während sie sie durchquerten. Sorgen und Befürchtungen türmten sich in seinem Inneren.
Je weiter sie sich von den Blöcken entfernten, desto öfter wandten die anderen sich um; zu seinem Erstaunen auch die Kriegerin. Hatte er sich geirrt? War sie am Ende ebenso vernarrt in die Felsbrocken? War in der letzten Nacht noch mehr geschehen? Etwas, das sie verändert hatte?
Dann bemerkte er, dass ihre Augen nicht die Steine musterten. Vor Angst erstarrend suchte er unter gesenkten Lidern die Umgebung ab. Sah nichts als Schnee und Eis, hörte nur den heulenden Wind. Das Riechen konnte er bleiben lassen, denn der gefrorene Untergrund roch nach nichts mehr. Die Tiere, die sich nahe der Küste unter dem Eis versteckt gehalten hatten, waren längst verschwunden. Dennoch hatte etwas die Kriegerin aufgeschreckt. Das alarmierte ihn. Seine Sinne mochten besser sein als die ihren, aber sie besaß die größere Lebenserfahrung und die stärkeren Instinkte.
Die Stimme des Prinzen, die der Luftstrom dünn hinüber trug, lenkte ihn ab.
„Sie war zu schwach, um den Kopf zu heben. Ihre Augen hielt sie geschlossen. Erst als ich ging, fand sie die Kraft, zu sprechen.“
Akim zuckte zusammen. Bislang hatte Ylaiy nur in knappen Andeutungen vom Abschied am Krankenlager berichtet, alle Fragen zu Sila im Keim erstickt. Die Erinnerung an ihren drohenden Tod steckte in ihm wie ein Dorn. Dann sah Akim die langen Schatten der Steine. Vielleicht vergifteten sie Ylaiys Gedanken auf ähnliche Weise wie die seinen. Die Kriegerin war im Schutz der Nacht von ihren Gefühlen überwältigt worden, so wie er in der Dunkelheit des vergangenen Abends. Traf die Macht der Menhire nun den Prinzen?
In Videms verkrampftem Gesicht las er Trauer, gepaart mit einem Schmerz, der sich bereits vor langer Zeit in ihm eingenistet hatte wie eine Zecke. Videm wankte beim Gehen. Stärker als sonst? Akim war sich nicht sicher, doch es war nicht auszuschließen, dass auch der junge Baraten unter dem Einfluss der Steine stand.
Oder die Steine narrten ihn mit Einbildungen und verzerrten Eindrücken.
Indessen ließ die Sumpffrau sich weiter zurückfallen. Wieder breitete sich das heiße Gefühl von Sorge in Akims Magengrube aus. Er beobachtete Syriakin, deren Augen, versteckt hinter Ledertüchern, die Gegend absuchten. Unauffällig ließ er die eigenen Blicke schweifen, täuschte ein Ausgleiten vor, um sich nach hinten umwenden zu können, ohne dass jemand Verdacht schöpfte.
Die Kriegerin enttarnte seine List sofort, tauschte einen stummen Blick mit ihm, schüttelte unmerklich den Kopf. Keine unmittelbare Gefahr. Dennoch schwand das beunruhigende Gefühl in Akims Eingeweiden nicht.
Am Rand der Senke empfing sie der Wind. Alles versank in weißer Leere. Bedrückendes Schweigen senkte sich auf die Gruppe, die verloren wirkte inmitten der allmächtigen Einsamkeit des Eises.
Der Hagel kam ohne Vorwarnung und mit Urgewalt.
Von einem Moment zum nächsten wurde es vollkommen windstill. Dann setzte ohrenbetäubender Lärm ein und Eisstücke prasselten auf sie herab.
Ylaiys Schädel dröhnte von den unzähligen Einschlägen. Die gefrorenen Tropfen fielen in so großer Dichte aus den Wolken, dass sie die Landschaft verzerrten und in diffuse Düsternis tauchten. Trotz der Kleiderschichten fühlten Arme und Schultern sich innerhalb von Sekunden taub an. Die Brust schmerzte vor Atemnot. Durch den Splitterschauer blinzelte er zu den Gefährten, die wie Verwundete hin und her schwankten. Jählings erkannte er, dass der Hagelsturm sie das Leben kosten konnte.
Die Kriegerin rannte bereits auf den sperrigen Schneereifen zu Akim, riss den Jungen mit sich zu ihm und Jonoy. „Zu den Tieren“, schrie sie gegen den Lärm an, stieß die Männer in Adivs und Videms Richtung.
Die Maultiere hatten die Köpfe eingezogen und schnaubten angsterfüllt. Ihre Beine scharrten und stampften. Adiv schien die Gedanken der Kriegerin zu lesen, denn sie fasste nach Videms Leine und zerrte die Packtiere zusammen, während sie beruhigend auf sie einsprach.
Syriakin stob heran, langte nach dem Gepäck auf den Rücken der Tiere. Sie hielt sich nicht mit Schnüren und Knoten auf. Achtlos flogen die Pakete in den Schnee, der bereits von einer Eisschicht überzogen war, die bei jedem Schritt knisternd zerbrach. Mit Videms Hilfe wühlte sie fieberhaft nach Fellen und Stöcken.
„Zelt“, befahl sie knapp.
Akim und Videm rammten die Stangen in den Boden, über die Ylaiy und Jonoy hastig die Felle stülpten und mit Schnee beschwerten.
„Hinein“, keuchte Ylaiy.
Nacheinander krochen sie in den engen Unterschlupf, wo sie sich heftig atmend aneinanderdrängten.
Für eine Weile saßen sie nur da und lauschten dem Donnern des Hagels. In das Prasseln mischte sich das Geräusch stampfender Hufe, als die Maultiere in blinder Angst das Weite suchten.
„Ist jemand verletzt?“, fragte Adiv mit banger Stimme.
Die anderen sahen an sich hinab, beklopften ihre Körper, strichen über Arme, Schultern und Köpfe.
„Niemand. Abgesehen von blauen Flecken“, erwiderte Ylaiy für alle.
Nach einer halben Stunde hob Akim den Kopf und lauschte. „Er lässt nach.“
Ylaiy legte sein Haupt in den Nacken und blickte auf das spitz zulaufende Dach des Zeltes, das vor Nässe durchhing und beinahe ihre Köpfe berührte. Der Wüstenjunge hatte recht, wie so oft. Das Rauschen ging in ein Plätschern über und schließlich in ein Tröpfeln.
Vorsichtig lüpfte er eines der Felle und sah hinaus. Dicke, feuchte Flocken fielen vom Himmel.
„Wir warten, bis der Schneefall sich legt“, verkündete Syriakin und schloss die Augen. Ylaiy hatte den Eindruck, dass sie sich unwohl fühlte. Bestimmt behagte ihr die Nähe der anderen nicht.
Alle schreckten auf, als Akim sich plötzlich bewegte und sie mit alarmiertem Gesicht ansah. Seine Augen wiesen stumm nach Osten.
Syriakin horchte in die angegebene Richtung. Sie schüttelte den Kopf, doch der Junge nickte heftig. Er legte warnend den Finger an die Lippen, beugte sich zu ihr hinüber. „Ein großes Tier“, flüsterte er. „Es nähert sich vorsichtig und auf Umwegen. Benutzt vermutlich unsere und die Abdrücke der Packtiere.“
„Ich kenne kein Tier, das denkt wie ein Mensch“, gab die Kriegerin ebenso leise zurück.
Akims Augen weiteten sich. Syriakin blickte die anderen der Reihe nach an, griff an ihren Gürtel. Sie zupfte ein Messer heraus, befreite ihre Stiefel aus den Schneerahmen und rutschte an die Zeltwand.
Die Männer und Adiv zogen die Beine an und erstarrten. Akims Blick war unverwandt auf die Kriegerin gerichtet, die sein Gesicht aufmerksam betrachtete, während er konzentriert lauschte.
Sie schoss in dem Moment durch die Zeltwand, in dem Akims Stirn sich nach oben verzog und sein Mund sich zu einem Warnruf öffnete. Kälte und Schnee stürmten auf Ylaiy ein, als die provisorische Schutzeinrichtung zusammenbrach.
Zuerst sah er nur ein Knäuel aus Leibern und Fellen, das den Schnee aufwirbelte. Nur allmählich konnte er die Sumpffrau ausmachen, die auf einer verhüllten Gestalt lag und versuchte, sie mit Armen und Beinen bewegungsunfähig zu machen.
Ihr Gegner wehrte sich heftig. Er rollte herum, wollte ihr das Messer entreißen, das an seinem vermummten Kopf vorbei zischte.
Der Schmied kam auf die Beine, packte den Stab fester. Er trat an die Kämpfenden, wagte es aber nicht, zum Schlag auszuholen. In seinem Gesicht las Ylaiy die Angst, Syriakin zu verletzen. Die warf sich immer wieder mit gezücktem Messer auf den unbekannten Angreifer, die Felle als zusätzliche Waffe und Schild gleichzeitig nutzend. Ihr Gegner wich geschickt aus oder stieß sie von sich.
Akim hielt den Speer wurfbereit. Videm bewegte sich wie ein Raubtier um die Ringenden. Ylaiy zog sein Schwert. Adivs Hände lagen auf der Klinge an ihrer Taille. Sie beobachtete das Handgemenge atemlos, schien jedoch ebenso entschlossen einzugreifen wie die anderen.
Der Angreifer wand sich wie eine Schlange auf dem Boden. Er hatte sich aus den Fellen befreit, wurde langsamer. Nicht aus Erschöpfung, bemerkte Ylaiy. Er reagierte lediglich auf die Ausfälle Syriakins.
Körperlich war er ihr überlegen. Er war breiter. Kräftiger. Hatte längere Arme und Beine. Es war schwer für sie, mit dem Messer dicht genug heranzukommen. Immer wieder stieß er sie ohne sichtbare Anstrengung von sich. Er war schnell, mindestens so flink wie sie selbst, und ebenso geschickt. Er wand sich aus ihrer Umklammerung, tauchte unter ihren Anläufen weg, wich ihrer Klinge aus, parierte ihre Angriffe mit Gegenattacken. Zusätzlich war er in dicke Lederschichten gekleidet und auf diese Weise unempfindlich gegen harmlosere Stiche und Hiebe.
Er war im Kampf erfahren, daran bestand kein Zweifel. Sein Vorteil wuchs mit jeder Sekunde, auch wenn sie Verstärkung im Rücken wusste. Das blitzartige Anstürmen forderte ihr einiges ab. Der nasse, schwere Schnee, die brüchige Eisdecke und nicht zuletzt die Kälte behinderten sie.
„Bleibt zurück!“, schrie Ylaiy deshalb. „Wir können ihn erledigen!“
Noch im selben Augenblick erkannte er seinen Fehler und verfluchte sich. Syriakins Bewegung verzögerte sich für weniger als einen Wimpernschlag. Der winzige Moment der Ablenkung genügte dem Fremden. Er ließ sich fallen, winkelte die Beine an, griff nach ihren Armen und zog sie ruckartig zu sich, ihre Vorwärtsbewegung verstärkend. Seine Knie trafen ihren Magen wie zwei Streithämmer. Sie segelte durch die Luft und brach durch die dünne Eisschicht, die der Hagel hinterlassen hatte.
Videm sprintete zu ihr. Sie war bereits wieder halb auf den Beinen, doch der Fremde war schneller. Seine Hände fassten von hinten um ihre Knöchel und hebelten sie aus. Ächzend fiel sie nach vorn, verlor um ein Haar das Messer. Sofort warf der Angreifer sich auf sie, begrub sie unter sich. Mit der linken Hand drückte er ihren Kopf in den Schnee. Mit der rechten nagelte er ihren Arm fest und angelte nach dem Messer, das sie verbissen in der Faust hielt.
Er ließ von ihr ab, als er aus dem Augenwinkel Videm wahrnahm. Ylaiy beobachtete, wie sein Freund sich gebückt näherte und den schneereifbewehrten Stiefel hob. Er stöhnte leise, als der Arm des Angreifers hoch zuckte und Videms Bein zur Seite fegte. Vom eigenen Schwung überrascht, prallte Videm auf den Boden.
Die Kriegerin bäumte sich auf, bekam ihr Gesicht frei und ihren rechten Arm. Ihrer Kehle entwich ein Wutlaut, als sie den Mann von ihrem Rücken stieß und das Messer herumwirbelte.
Die Klinge riss einen Teil der Gesichtstücher auf. Einen Herzschlag lang wirkte er irritiert, aber er rollte sofort von ihr weg, direkt auf Adiv zu. Die junge Frau sprang zurück, war jedoch zu langsam. Noch im Rollen erwischte er ihre Beine, zog sie unsanft auf den Boden, entwand ihr das Schwert. Sie schrie, als er ihre Finger verbog, ließ den Griff los, bevor ihre Knöchel brachen.
Die Kriegerin und ihr Gegenüber kamen gleichzeitig auf die Beine und stierten sich schwer atmend an. Ylaiy bemerkte, dass der Kämpfer den Mund öffnete und etwas sagen wollte, doch nun rannte Akim auf ihn zu.
Für den kräftigen Mann war der Junge ein leichtes Opfer. Er fing den Speer in der Luft ab und schwang ihn herum, sodass Akim zur Seite geschleudert wurde und dabei Jonoy umstieß. Der Prinz schloss die Augen, als er sah, mit welcher Leichtigkeit der Fremde sie nacheinander ausschaltete.
Die Kriegerin nahm sich keine Zeit für derartige Überlegungen. Sie näherte sich erneut. Gebückt, das Messer in der linken Hand. Erschrocken erkannte Ylaiy, dass sie hinkte und den Kopf bewegte, als versuche sie, ein Gelenk einzurenken.
Wieder setzte der Mann zum Sprechen an. „Sy…“
Das Messer der Kriegerin zerschnitt die Silbe, flog auf die Kehle des Kämpfers zu. Geistesgegenwärtig riss er Adivs Schwert hoch. Das Messer prallte auf die breitere Klinge, federte ab.
Fluchend stürzte sich Syriakin auf den Angreifer. Ylaiy erwartete, dass er auch diesmal zurückweichen oder das Schwert gegen sie richten würde. Zu seiner Überraschung schleuderte der Fremde die Waffe von sich und streckte den Arm aus. Der Prinz stöhnte, als die Faust auf die Stirn der Kriegerin traf. Mit einem kehligen Laut brach sie zusammen.
Ylaiys Beine setzten sich von selbst in Bewegung. Er rannte auf den Mann zu. Der bückte sich schneller als der Wind nach dem Schwert und warf sich neben Syriakin zu Boden. Dann legte er ihr den Arm um den Hals und zerrte sie auf seinen Körper wie einen menschlichen Schild. Die Klinge an ihrer Kehle zitterte.
„Haltet ein! Ihr alle!“
Seine Gesichtstücher waren von ihrem Hieb zerfetzt. Er zog sie hinunter. Ein schmales, dunkles Gesicht kam zum Vorschein. Ein Gesicht, auf dem nicht Zorn und Hass, sondern Sorge und Erschöpfung standen. Ylaiy schwindelte, als er den warmen Ausdruck in den Augen des Mannes wahrnahm. Augen, die dasselbe leuchtende Grün aufwiesen wie die der Kriegerin.
„Syra“, sagte er leise und mit einer Zärtlichkeit, die Ylaiy die Waffe senken ließ.
Die Kriegerin, deren Kampfkraft mit dem Faustschlag erlahmt war, erstarrte. Langsam bewegte sie den Kopf zur Seite.
Es war das erste Mal, dass die anderen sie fassungslos sahen.
„Gillok.“
Sie errichteten das Zelt an derselben Stelle, mit mehreren Stangen und Stöcken diesmal, und Fellen, die sie mit Sehnen verzurrten und im Schnee festklopften. Zuvor hatten die Männer eine Grube ausgehoben und mit dem zusätzlichen Schnee Wälle um das Zelt geformt.
Während die Männer bauten und Adiv mit der Zubereitung von Tee und Bärenfleischsuppe beschäftigt war, standen Syriakin und der Fremde abseits. Sie sprachen nicht viel miteinander, sahen sich kaum an. Dennoch zeugte die Art, wie er in ihrer Nähe weilte und sie musterte, von Vertrautheit.
Als die anderen ins Zelt krochen, blieben sie draußen.
Videm setzte sich an den Eingang. Er zog das Bärenfell enger um die Schultern und spähte in den granitgrauen Himmel. Es war erst Nachmittag, doch die Nächte brachen jeden Tag früher herein. An den gemurmelten Gesprächen beteiligte er sich nicht.
Es herrschte nur noch leichtes Schneetreiben, das ihn an die Wintertage seiner Kindheit erinnerte. Es war von sanfter Schönheit. Unvorstellbar, dass Schnee so sacht fallen konnte, nachdem er sie vorhin fast getötet hatte.
„Sie scheinen einander gut zu kennen“, drang die gedämpfte Stimme des Schmieds an sein Ohr.
Er wandte den Kopf. Jonoy hatte sich neben ihn geschoben und linste durch den Eingangsschlitz. Videm betrachtete die beiden Menschen, die schweigend in die Weite starrten. „Ob er von ihrem Volk ist?“
„Bestimmt. Er hat dieselben Augen, den gleichen Körperbau, dieselben Gesichtszüge. Er spricht mit demselben Akzent und Tonfall. Er kämpft wie sie. Wahrscheinlich gehört er zu ihrem Stamm, möglicherweise auch zu ihrer Familie. Oh, und vielleicht ist er sogar ein bisschen mehr“, bemerkte Jonoy mit verschmitztem Lächeln.
Der Fremde war hinter die Kriegerin getreten. Jetzt berührte er ihre Schultern und ihren Hals. Die Geste wirkte zärtlich. Videm schlug die Augen nieder, während Jonoy in seinen Bart kicherte.
„Lasst sie in Ruhe“, erscholl Adivs Stimme missbilligend hinter ihnen.
Aber auch sie rutschte näher. Ylaiy rappelte sich ebenfalls auf und äugte nach draußen, wo die Kriegerin die Hände des Mannes abschüttelte, als hätte heißes Wasser sie verbrüht.
Hastig zogen alle sich vom Eingang zurück, als die Frâgg auf das Zelt zukamen. Syriakin kroch zuerst ins Innere, schob sich an Videm vorbei an den Rand und nahm ihre übliche Haltung ein: Beine überkreuzt, Arme auf den Oberschenkeln, Rücken aufrecht.
Der Fremde folgte ihr, ließ sich ohne Scheu neben Videm nieder und begann mit angenehm kratziger Stimme zu sprechen. „Syriakin ist nicht gerade bekannt für ihre Weltgewandtheit und Gastfreundschaft.“ Er klang gelassen und humorvoll, wählte Worte und Tonfall mit der Leichtigkeit des geübten Redners. „Deshalb übernehme ich meine Vorstellung wohl am besten selbst. Mein Name ist Gillok. Ich stamme aus Grulorh, einem winzigen Dorf auf Kânegg. Einem Dorf, das nicht mehr existiert, seit es von kaiserlichen Soldaten in Schutt und Asche gelegt wurde.“
Bei den letzten Worten drang Traurigkeit in seine Stimme und verzerrte sie. Er warf der Kriegerin einen Blick zu, den diese nicht erwiderte, weil die Neuigkeit sie getroffen hatte wie seine Faust ihre Stirn. Sie starrte an die Zeltwand, das Gesicht eine Maske. Ihre Hand, die sie erhoben hatte, um die Tücher abzustreifen, verharrte in der Luft, legte sich langsam über ihren Mund. Erst dann gestattete sie sich ein tiefes Ausatmen.
„Seid Ihr Euch sicher?“ Ylaiy hatte sich aufgerichtet und sah den Sumpfmann an. „Ich meine, nicht dass ich glaubte, Ihr … Seid Ihr sicher?“
Gillok blickte ihn verärgert an.
„Ylaiy. Der Sohn der Kaiserin“, tönte es heiser vom Zeltrand. „Ihn peinigt das schlechte Gewissen, seit er weiß, wozu die Truppen seiner Mutter fähig sind.“ Es war kein Hohn in ihrer Stimme, nicht einmal Verachtung, aber eine Kälte, die den anderen das Blut gefrieren ließ.
Ylaiys Wangen färbten sich rot. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er funkelte Syriakin an, als wollte er sich auf sie stürzen. Die Kriegerin starrte zurück und Videm beschlich der Verdacht, dass sie nur darauf wartete, dass der Prinz etwas Unüberlegtes tat. Instinktiv rückte er an Ylaiy heran, während Jonoy seinen massigen Körper unauffällig zwischen den Prinzen und Syriakin brachte.
„Sie kamen im Schutz der Dunkelheit in geordneten Reihen, mordeten, folterten, brannten alles nieder. Alles, Prinz. Bis auf die letzte armselige Hütte. Soldaten, Hoheit, die Soldaten Eurer Mutter. Auf Kânegg hat ein Krieg begonnen. Die Dörfer der Fraga’i brennen. Die wenigen Überlebenden flüchten in die Sümpfe und aufs Wasser.“ Gillok war sichtlich um Gelassenheit bemüht, aber seine Stimme zitterte.
„Nein!“, flüsterte Ylaiy und legte die Hände auf die Ohren. Doch in seinen Augen glitzerte die Erkenntnis und in seiner Stimme lag die Resignation des Eingestehens. Er stieß Videms Hand beiseite und stolperte aus dem Zelt.
Die anderen blieben betreten sitzen.
„Auch wir haben Dörfer brennen sehen. Fischerorte entlang der Westküste“, bekannte Jonoy leise.
Gillok nahm die Mütze vom Kopf. Dunkles Haar fiel ihm auf die Schultern. Adiv schaute zur Seite, als sich die Augen des Mannes mit Tränen füllten, die er nur mit Mühe zurückhalten konnte.
Akim musterte verstohlen die Kriegerin, die endlich die Tücher losgebunden hatte und zu Boden starrte. Ihr Kehlkopf bewegte sich krampfartig. Ansonsten wirkte sie gespenstisch ruhig. „Malardh ist ebenfalls vernichtet.“
„Balalam auch“, entgegnete Gillok. „Es brannte zwei Tage lang. Doch ich sah über zwei Dutzend Menschen flüchten. Im Sumpf von Laradh sind sie vor den Soldaten sicher.“
Die Kriegerin und ihr Stammesbruder verstummten. Die Betroffenheit war ihnen trotz aller Beherrschung anzusehen; ebenso die Erinnerungen, die durch ihren Geist brandeten.
Der Rest der Gruppe litt mit ihnen. Akim war an die Kriegerin gerutscht, schien ihr durch seine Nähe Trost spenden zu wollen. Jonoy legte dem Sumpfmann teilnahmsvoll die Hand auf die Schulter. Videm saß am Eingang und kaute auf den Nägeln. Adivs Finger schlossen sich um Syriakins, die bei der spontanen Berührung zusammenzuckte und ihre Hand wegzog.
„Es tut mir so leid für euch“, sagte Adiv leise.
Gillok verzog den Mund. Die Kriegerin reagierte nicht.
„Mir auch“, flüsterte Videm mit niedergeschlagenen Augen. „Aber es ist nicht Ylaiys Schuld. Ihr dürft ihm nicht die Schuld geben.“
„Das spielt jetzt keine Rolle“, warf Jonoy ein. Er sah die Kriegerin und Gillok besänftigend an. Beide hatten sich aufgerichtet, und zwei grüne Augenpaare blitzten den Sohn des Inquisitors an.
„Bitte“, drängte Jonoy. Er verstärkte den Druck auf Gilloks Schulter. „Wir alle verstehen, welch ungeheure Tragödie euch und euer Volk getroffen hat. Fühlen mit euch. Und ich kann verstehen, dass es euer Wunsch ist, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Aber ich versichere euch, dass es nicht Ylaiy war, der den Befehl gab.“
„Woher wollt Ihr das wissen?“, gab Gillok zurück. „Woher wollt Ihr wissen, dass er nicht eingeweiht war? Er mag den Auftrag nicht gegeben haben, doch er kann gewusst haben, was die Kaiserin plante. Das macht ihn zum Schuldigen. Und zum Verbrecher.“
„Das bin ich nicht. Weder das eine noch das andere.“
Schlagartig wurde es wieder still. Jonoy nahm die Arme herunter und blickte auf den Thronfolger, der vor dem Eingang kniete. Tränen hatten seine Augen blank gewaschen.
„Ich will nicht behaupten, dass ich mich bislang gegen die Politik meiner Mutter gestellt hätte. Das wäre gelogen. Ich habe mich aus allem herausgehalten. Es hat mich schlicht nie interessiert. Ihr könnt mir also Feigheit vorwerfen oder Verantwortungslosigkeit, und ich würde nicht widersprechen. Doch eines müsst ihr mir glauben: Ich hatte keine Ahnung, dass ein Krieg auf Kânegg geplant war. Videm kann bezeugen, dass ich von möglichen Überfällen erst erfuhr, als er mit seinem Vater an den Hof kam und meine Mutter das Dekret erließ. Sie verbot militärische Handlungen. Ausdrücklich.“
Videm nickte, während der Prinz auf der Unterlippe kaute. „Ich fürchte, da war bereits geschehen, was nicht hätte geschehen dürfen“, setzte er leise hinzu. „Ich bin genauso erschüttert wie ihr. Ich möchte, dass ihr wisst, wie sehr ich die schrecklichen Taten bedauere.“ Das Gesicht des Thronfolgers war verzerrt, als litte er unter Schmerzen. Wiederholt fuhr er sich mit den Händen über den Mund. „Das alles ist so unfassbar.“
„Ihr seid jung, Ylaiy“, gab Jonoy in väterlichem Ton zurück. „Unerfahren. Ihr lebt hinter Palastmauern, ferngehalten von vielem. Woher solltet Ihr wissen, was außerhalb passiert?“
„Nehmt ihn nicht in Schutz“, sagte die Kriegerin. Ihr Gesicht war hart. „Er ist seit Langem kein Kind mehr. Er hätte nur Augen und Ohren offen halten müssen.“
„Syriakin“, fiel ihr Jonoy beschwichtigend ins Wort, „ich weiß, wie du dich im Moment fühlst, aber du solltest dennoch versuchen …“
„Ihr wisst gar nichts!“ Zorn loderte in ihren Augen. Gillok streckte seine Hand nach ihr aus, doch sie schlug sie weg. „Dieser Mann“, wies sie auf den Prinzen, „gilt als einer der klügsten Köpfe des Kaiserreichs! Er kann dir alles, wirklich alles, erklären“, sagte sie, an ihren Stammesbruder gewandt. „Und er will nichts gewusst haben?“
„Er wusste nichts von den Überfällen. Das schwöre ich beim Grab meines Vaters“, nahm Videm Ylaiy in Schutz.
„Das ist nicht das, was ich meinte“, entgegnete die Kriegerin. „Und er weiß das auch, nicht wahr, Prinz?“
Ylaiy wich ihrem Blick nicht aus. Videm hielt die Luft an, während er mit den anderen auf eine Antwort wartete. Schließlich nickte der Sohn der Kaiserin langsam und so schwer, als kämpfte er gegen einen unsichtbaren Feind an.
„Soldaten, die Inseln besetzen. Dörfer plündern. Einheimische vertreiben“, zählte die Sumpffrau auf. „Ihre Kultur mitbringen. Ihre Sprache. Sogar ein neues Wort für uns.“
„Einen Froschlaut“, schnaubte Gillok.
„Ihren Glauben. Ihre Wissenschaft. Ihre Waffen. Ihre Krankheiten.“
„Krankheiten?“ Videm runzelte die Stirn.
„Auf Kânegg sind tausende Menschen von Erkrankungen dahingerafft worden, die sie nicht kannten. Eingeschleppt von Soldaten und Siedlern“, erklärte Gillok.
Jonoy nickte traurig. „Auf Staleph ebenso.“
„Ich glaubte das alles nicht“, versuchte Ylaiy eine unbeholfene Erklärung.
„Also verbanntet Ihr die unliebsamen Fakten aus Eurem Geist?“, schlussfolgerte Jonoy.
„Es ist mir nicht besonders gelungen“, gestand der Kaisersohn. „Sie kamen immer wieder, marterten mich.“
„Nicht an das Unerwünschte zu denken ist dasselbe, wie es zu leugnen.“ Syriakin schob sich an den anderen vorbei aus dem Zelt hinaus.
Videm hörte ihre sich entfernenden Schritte. Sie hatte die Schneereifen nicht angelegt, stapfte durch den Schnee, vermutlich bis zu den Knien einsinkend. Er blickte in die Runde, studierte Ylaiys zerknirschtes Gesicht, in das die Schuld die ersten feinen Linien fraß, dann das des Sumpfmannes. In ihm las er viele Emotionen gleichzeitig: Traurigkeit und Schmerz, aber auch Liebe und Verlangen, wenn er die Art und Weise, mit der er Syriakin nachgesehen hatte, richtig einschätzte.
Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Gillok deutete ein Lächeln an, lehnte sich zurück. Beide ahnten, dass die Kriegerin, wenn sie zurückkehrte, ihre gewohnt stoische Miene aufgesetzt haben würde. Als wäre nichts geschehen. Auch sie war sehr gut darin, unangenehme Gedanken zu verdrängen.
„Nachdem Grulorh vernichtet war, schwamm ich. Tagelang. Mein Kopf war schwer vor Trauer und Furcht. Und Schuld. Sie marterte mich, ließ mich nicht ruhen, trieb mich an. Sie wich nicht, so lang und tief ich auch tauchte.“ Gilloks große Hände umklammerten die Schale mit dem Eintopf aus Bärenfleischstücken. „Ich hatte Glück. Pures Glück. Hätte ich in meiner eigenen Hütte geschlafen, wäre ich unter den ersten Opfern gewesen. Syras Zuhause befindet – befand – sich nahe des Wassers. Ich sprang von ihrem Dach. Hörte Brandpfeile hinter mir zischen. Ich konnte niemanden retten. Es waren zu viele. Ein Versuch hätte mich das Leben gekostet. Wie selbstsüchtig von mir ... Aber ich wollte nicht sterben. So einfach ist das. Ich hatte Angst um mein Leben.“
Wieder brach der Mann ab und starrte in die Suppe. Keiner rührte sich.
Die Kriegerin war vor einiger Zeit zurückgekehrt, hatte sich stumm in den hintersten Winkel geschoben, allen Blicken ausweichend, einen Kältemantel um sich. Das Essen hatte sie abgelehnt, ebenso die Decke, die Jonoy ihr hinhielt.
„Ich wusste nicht, wohin, anfangs. Dann erinnerte ich mich, dass Syra nach Frarn hatte gehen wollen. So stieg ich an Land. Doch ich erreichte Frarn nie. Schwärme von Soldaten durchkämmten die Wälder und Sümpfe. Ich bekam Angst um Syra. Sie war wie vom Erdboden verschwunden. Überall tauchten Militärs auf. Ich sah Rauchsäulen. Hörte Menschen und Tiere schreien.
Der Zufall kam mir zu Hilfe. Eines Tages trieb ich weit draußen auf einer Sandbank, als ich zur Küste blickte und sie von der Klippe fallen sah. Für einen Augenblick dachte ich, jemand hätte dich gestoßen“, drehte er sich zu der Kriegerin um, „und ich schwamm, so schnell ich konnte, zum Ufer. Suchte den Meeresboden ab, stundenlang, schwamm um die Riffe, weil ich fürchtete, du wärest an ihnen zerschellt. Ich wartete die Ebbe ab und suchte noch einmal. Kein Zeichen von dir. Da wusste ich, dass du geflohen warst.“
„Nach Malardhs Untergang wurde das Inland zu gefährlich. Ich lief zum Meer. In den Hügeln von Bifort traf ich auf Akim, Adiv und Jonoy.“
„Die Sumpfbestie“, fiel Adiv ein.
„Nach dem Kampf trennte ich mich von ihnen. Sprang ins Wasser.“
Akim sah die Kriegerin versonnen an, erinnerte sich an die Unterhaltung in Fedaj, an seine Vorwürfe. Im Stillen bat er sie um Verzeihung.
„Die Soldaten in Grulorh trugen fremde Uniformen. Sie waren zu viele, um zu den kleineren Garnisonen zu gehören. So beschloss ich, nach Norden zu schwimmen.“
„Das tat ich auch.“
„Bantafej“, nickte er. „Dort sah ich dich wieder. Du warst am Leben, nach drei Tagen im Wasser. Du bist ohne Unterbrechung geschwommen?“
„In Da’arc fand ich ein Fischerboot, das vom Brand verschont geblieben war. Wenig mehr als ein ausgehöhlter Stamm. Kein Paddel. Ich legte mich nur zum Ausruhen hinein, ansonsten hängte ich mich daran und stieß mich mit den Füßen ab.“
„Wie mühselig. Ohne wärst du schneller gewesen.“
„Nicht einmal ich bin verrückt genug, drei Tage ohne Rast im offenen Meer zu schwimmen.“
„In Bantafej rief ich nach dir, doch du warst bereits auf dem Riff. Ich sah dich den Steilfelsen hinauf klettern und dann am Rand hängen.“ Sein Blick wurde fragend.
„Das können wir aufklären“, warf Ylaiy ein. Seine Stimme war verändert; dunkel und rau. Mit knappen Sätzen klärte er den Sumpfmann über den Kampf gegen die Räuber auf. Sein Blick schweifte zu dem versteinerten Videm, als er von Baratens Tod sprach und über die seltsamen Ereignisse in den Ruinen.
„Jedenfalls erlahmten meine Arme vor Angst. Ich war weit von dir entfernt im Wasser, das an dieser Stelle schäumt und hohe Wellen wirft. Wollte dir zu Hilfe eilen, doch gerade, als ich das Riff erreichte, zogst du dich hoch und warst weg. Schon wieder.“
„Und dann?“, fragte die Kriegerin ausdruckslos.
„Fand ich Soldaten im Wald. Sie verscharrten ihre Kameraden. Um sie herum lagen Rauch und Nebel. Es stank entsetzlich.“
„Die aufgelösten Leichen“, sagte Ylaiy.
„Die Soldaten machten sich auf den Weg nach Bantafej. Ich raste wie ein Wahnsinniger durch den Wald, sah all das Blut. Die ganze Zeit fragte ich mich, wohinein bei allen Göttern du geraten warst. Was du getan hattest.“ Gillok hielt kurz inne, von den Erinnerungen überwältigt. „Dich fand ich nicht, dafür Fährten, die nach Fedaj führten.“
Jetzt beugte sich Syriakin interessiert vor. „Wie bist du hineingelangt?“
„Ich verkleidete mich. Warf einen Baumstamm in die Grube und wühlte die Leichen wieder hervor. Es war entsetzlich, aber das Einzige, das mir auf die Schnelle einfiel. Ich klaubte die Kleidungsstücke zusammen, die am wenigsten befleckt waren. Vor Fedaj hatte ich Glück. Eine größere Gruppe erreichte gerade das Tor. Ich stellte mich neben eins der Pferde, als gehörte es mir. So kam ich ohne Widerstände hinein.
In Fedaj machte ich mich auf die Suche, trieb mich in der Nähe der Kasernen herum und bei den Kerkern. Befragte die Leute auf der Straße und in den Wirtsstuben. Am zweiten Tag sah ich euch. Euch alle. In der Stadt, am Hafen, auf dem Markt. Du warst in Begleitung fremder Menschen, reicher Menschen. Ich wusste nicht, was das alles bedeutet, also hielt ich mich im Hintergrund und beschloss, abzuwarten. Einmal hätte ich mich allerdings beinahe verraten.“
„Im Wirtshaus“, folgerte Syriakin mit tonloser Stimme.
„Ich konnte nur mit Mühe an mich halten, dem Wirt nicht die Seele aus dem Leib zu prügeln. Doch ich zwang mich, nicht einzugreifen, aus Angst, dein Vorhaben zu zerstören, dich zu entlarven, dich in Gefahr zu bringen.“
„Ich verstehe.“
„Ich hatte euch bei dem Boot gesehen. Im Wirtshaus hattet ihr Vorräte und neue Sachen dabei. Ich dachte mir, dass ihr in See stechen würdet, wohin auch immer. In der Nacht deckte ich mich ebenfalls mit warmer Kleidung und Proviant ein, schlich zum Hafen und versteckte mich im Schiffsrumpf. Als die Packtiere mich entdeckten, bekam ich einen gewaltigen Schreck, aber sie blieben friedlich. Wir freundeten uns an. Sie spendeten mir Wärme und Gesellschaft.“
„Ihr wart die ganze Zeit da?“ Adiv griff sich ans Herz.
„Es war schrecklich. Dunkel. Eng. Die Tiere stinken furchtbar, vor allem das, was sie ausscheiden.“
„Das erklärt, warum Akim Euch nicht gerochen hat“, überlegte Jonoy laut. „Der Gestank muss Euren Geruch überdeckt haben.“
„Seid Ihr unseren Spuren gefolgt?“, fragte Akim.
„Das wollte ich. Ich schlüpfte aus dem Boot und beschloss, euch nachzugehen. Doch vorher brauchte ich frischen Proviant. Ich war halb verhungert.“
„Das grässliche Algenzeugs? Das hat Eure Freundin auch gefischt“, rief Adiv mit angeekelter Miene.
„Ich mag keine Algen“, gestand Gillok. „Nein, ich wollte die Fische. Dann sah ich die Robben und sprang ins Wasser. Mir blieb fast das Herz stehen, so kalt war es.“ Noch im Nachhinein schüttelte er sich. „Aber Robben sind fettreich und mein Hunger war groß, also schwamm ich an die Robbenbänke heran. Ich tauchte und fand mich unversehens in einer Höhle wieder. Unter dem Eis.“
Die Kriegerin runzelte die Stirn. „Höhlen für den Nachwuchs?“
„Auch. Doch dahinter erspähte ich weitere Eingänge. Ich schwamm in einige hinein, geriet an neue Abzweigungen. Da beschloss ich, euch unter der Insel zu folgen.“
„Das ist verrückt!“, rief Adiv.
„Für mich ist der Wasserweg oft der einfachere“, erklärte Gillok geduldig. „Die Gefahr, entdeckt zu werden, war geringer. Außerdem fiel mir auf, dass die Temperatur anstieg, wenn man tiefer in die Höhlen eindrang.“
„Ihr hättet Euch leicht verirren können! Und was ist mit Eurer Luft? Wie wolltet Ihr atmen?“
„Viele Fraga’i leben seit Anbeginn der Zeiten am Wasser. Im Sumpf, am Meer, an Flüssen, Strömen, Bächen. Wir sind an Wasser angepasst. Unsere Körper sind anders als eure. Sie ermöglichen uns, lange unter Wasser zu bleiben.“
„Wie lange?“
„Eine halbe Stunde. Unter guten Bedingungen. Etwas mehr, wenn man ein fähiger Taucher ist. - Die Insel ist von unten zum großen Teil hohl. Die Höhlen bilden einen weitverzweigten Irrgarten. Sie sind schmal, oft nicht mehr als Schläuche, aber immer wieder öffnen sie sich zu Kratern und Räumen, in denen man atmen kann. Einige Meilen ins Landesinnere hinein wird das Wasser warm, an manchen Stellen sogar heiß. Manchmal steigt man in die Höhe, folgt Treppen und Wendelstufen, die plötzlich wieder steil hinab fallen.“
„Konntet Ihr uns dort unten hören?“, wollte Akim wissen.
„Nicht unter meterdickem Eis und Felsen.“
„Woher wusstet Ihr, in welche Richtung es ging?“, hakte der Wüstenläufer nach.
„Ich folgte in etwa der Richtung, in der ich euch hatte verschwinden sehen. Offen gestanden, irrte ich herum. Ich hatte anfangs gedacht, dass es Wege nach oben geben musste, nach draußen. Indes, die Decke blieb verschlossen. Ich tauchte, kletterte, suchte. Aß Muscheln und Würmer. Manchmal gab es Eisflächen, durch die Tageslicht schien. An diesen Stellen schwamm ich zur Oberfläche. Die Eisschicht war so dick, dass es kein Hindurchkommen gab. Abgesehen davon lebte ich im Dunkeln und hatte die Hoffnung, euch zu finden, fast aufgegeben. Ich war verzweifelt, hatte versucht, den Weg zurück zum Strand zu finden, doch vergeblich. Dort unten findet man nicht wieder hinaus. Dann kam das Feuer.“
„Styf-thal“, sagten Ylaiy und Jonoy gleichzeitig.
„Wenn Ihr damit die gespenstische Landschaft aus Schlamm, Rauch und gelben Steinen meint.“
„Sie ist fürwahr gespenstisch“, bestätigte Adiv.
„Ihr solltet sie von unten sehen. Glühendes Gestein, schmelzende Felsen, Feuerschlünde und Ströme von brennendem Schlamm. Ich dachte, ich würde verbrennen.“
„Du warst in dem See“, fiel Syriakin mit einem Mal ein. „Die Quelle. Ich fand Dutzende Eingänge und Öffnungen. Du bist durch eine von denen hinausgekommen.“
„Einer der glücklichsten Momente meines Lebens“, gab Gillok zu. „Ich sah dünnes Licht durchschimmern. Das Wasser wurde heller. Ich tauchte auf, immer darauf gefasst, gegen eine weitere Eiswand zu rammen, stattdessen stieß ich durch die Wasseroberfläche und atmete Luft. Reine Luft.“
„Rein. Na ja“, murmelte Adiv mit gekrauster Nase.
„Für mich war sie wunderbar. Noch wunderbarer war dein Anblick“, sagte er zu der Kriegerin.
„Du hast mich gesehen? Warum …“
„Ich sah dich am Ufer. Erst war ich mir nicht sicher bei den Schwaden und der Dunkelheit. Dann erkannte ich dich.“
„Warum bist du nicht zu uns gekommen?“
„Ich war zu geschockt. Verwirrt. Ich weiß nicht. Ich war zu lang dort unten, glaube ich. Du warst noch immer mit fremden Menschen zusammen. In diesem seltsamen Land … Ich brauchte Zeit, um zu mir zu kommen. Mich zu entscheiden. Denk an unser letztes Gespräch.“
Sie sah ihn schräg an, sagte jedoch nichts.
„Ich trocknete meine Kleidung auf warmen Steinen, watete zurück ins Wasser, wartete. Dann ging ich euch nach. Ihr hinterlasst Spuren wie eine Herde Alligatoren. Ich beobachtete euch bei dem Steinkreis, wurde zuversichtlicher. Du schienst nicht in Gefahr, dennoch zauderte ich. In dieser Nacht wirbelten allerlei Gedanken durch meinen Kopf. Ich fand keine Ruhe. Sorge, Trauer und Angst machten mein Herz schwer. Ich beschloss, mich zu zeigen, aber immer wieder zögerte ich. Die Steine schienen mir zuzuflüstern, mich nicht einzumischen. Von der Insel zu verschwinden. Dann wiederum konnte ich es kaum erwarten, dass der Tag heranschlich. Schließlich nahm ich mir vor, zuerst mit dir allein zu reden.“
Der Sumpfmann rang mit seinen Erinnerungen. Akim verzog das Gesicht, als er an Urdal’thonn dachte.
„Ich lief euch hinterher. Wahrscheinlich würde ich das immer noch, wenn der Hagel nicht gekommen wäre. Euer Zelt war die einzige Zuflucht.“
„Und du schleichst dich an.“
„Ich wollte gerade rufen, da kamst du durch das Zelt geflogen.“
„Für einen, der sich aus allem heraushält, bist du ein guter Kämpfer. Du hättest mich fast überwältigt.“
„Für mich sah er nach dem eindeutigen Sieger aus“, mischte sich Adiv ein.
„Lasst Euch nicht täuschen“, gab Gillok zurück. „Syra ist erst unterlegen, wenn sie tot ist.“ In seiner Stimme schwang unüberhörbarer Stolz mit.
In Adivs Gesicht stand Zweifel. Sie musterte die Schwellung am Kopf der Kriegerin. Gillok folgte ihrem Blick und schnaubte ein leises Lachen. „Nebensächlich. Ihr Schädel ist hart wie Eisen. Da, schaut!“ Er rollte seinen Handschuh ab. Ein purpurner Bluterguss zog sich über seine auffallend glatte Handfläche und über seine Knöchel. „Sie lag so still, weil sie bereits zwei Schritte weiter dachte. Habt Ihr ihre Arme gesehen?“
„Sie hingen zu beiden Seiten ihres Körpers“, erinnerte sich Videm.
„Ihr sagt es. In der Nähe ihrer Taschen.“
„Ein verstecktes Messer?“
„Oder ein vergifteter Pfeil, ein Widerhaken, ein zugespitzter Zahn, eine Handschlinge. Ihre Taschen sind voll von diesen Dingen.“
Alle Augen richteten sich auf die Kriegerin, die den Ansturm der Blicke erwiderte, indem sie sich weiter in das Halbdunkel zurücksinken ließ.
Videm griff nach einem Stock und stocherte das heruntergebrannte Feuer an. Gillok trank den letzten Schluck der Suppe, bevor er die Schüssel mit Schnee auswischte und Adiv für ihre Kochkünste lobte. „Und nun?“, fragte er.
Jonoy seufzte. „Und nun müssen wir einen Gang finden, der uns in die Festung führt, von der wir vermuten, dass sie am Westufer Drahórsuls liegt. Das ist der Name dieses Landes.“
„Einen Gang?“
„Ja“, sagte Ylaiy. „Nach Eurem Bericht bin ich mehr denn je überzeugt davon, dass er existiert. Doch mir scheint, er ist schwerer zu entdecken, als wir vermutet haben. Wenn die Insel durchlöchert ist mit unterirdischen und unterseeischen Pfaden, dürfte ein einzelner kaum auffallen.“
„Und der Gang führt in eine Festung?“
„Wir glauben, dass dort die Kinder sind.“
„Die Kinder? Ihr meint, es ist nicht nur Bada?“ Gilloks Augen flackerten von einem zum anderen.
„Macht es Euch bequem. Unsere Geschichte wird um einiges länger als die Eure“, sagte Ylaiy.
Wie das Auge eines Wirbelsturms raste er über die Ebene.
Er wollte zur Seite sehen; schauen, ob seinen Armen Flügel gewachsen waren, doch er war unfähig, den Kopf auch nur einen Fingerbreit zu drehen. Gegen die Winde kam er nicht an. Der Bart schlug ihm in die Augen und das Haar flatterte so stark, dass es an den Wurzeln schmerzte.
Er fühlte kein Gewicht, schwebte in Raum und Zeit und Licht. Die Sinne waren auf das Äußerste gespannt. Er sah, hörte, roch und empfand so viele Dinge gleichzeitig, dass sie ihn trunken machten. Ein Rausch, der erschütterte. Eindrücke häuften sich zu Schreckensgebirgen auf, zu denen er keinen Zugang fand. Wann immer er versuchte, eine Empfindung zu isolieren – ein Bild, einen Geruch, ein Geräusch – scheiterte er. Stets rollten alle anderen Wahrnehmungen hinterher. Weiße Ebenen. Meeresbrandung. Das Rauschen unterirdischer Flüsse. Schwefel. Blut.
Blut.
Atemlose, entsetzliche Angst stieg in ihm auf, als er den Schlachtplatz sah. Erschreckt riss er die Arme nach oben, kam ins Strudeln. Die Welt taumelte ihm entgegen. Eine Welt aus Weiß. Das Blut, das sie verschandelte, schrie ihn an.
Die Angst verwandelte sich in etwas noch Grauenvolleres, für das er keinen Namen mehr fand, als er die sechs Schemen wahrnahm.
Er schreckte auf, befühlte die Zeltwand, um sicher zu gehen, dass er zurück war. Akim, Adiv, Ylaiy, Videm. Er selbst. Die Sumpfleute, die draußen wachten. Sieben.
Sieben.
Nicht sechs.
Auch Videm träumte. Sein Traum ließ ihn die Fäuste ballen und Schreie ausstoßen, die keiner hörte. Videm sah das Licht, das sich wie Säure durch den Leib seiner Mutter fraß, die nicht mehr seine Mutter war, sondern der flüchtige Eindruck, den sie in der Erinnerung hinterlassen hatte.
Das Licht, kalt, blau und brennend, zerstörte ihren Körper, nährte sich von ihm, schuf Neues. Ein Unwesen, riesig, zerstörerisch, fleischlos. Ein monströses Ungetüm, geschaffen aus Eis, Schnee und giftigem Licht, im Inneren längst tot, alles vernichtend, was sich ihm in den Weg stellte.
Es ließ sich schaffen, doch nicht beherrschen. Es herrschte.
Es war unbesiegbar.
Nachdem der Frühnebel auf ihren Schultern getrocknet war, schlüpften Syriakin und Gillok ins Zelt. Es war die kälteste Stunde des Tages und beide Sumpfleute gaben sich keine Mühe, das Schlottern ihrer Glieder zu verbergen.
Gillok warf Zweige in das glimmende Feuer, stellte den Topf mit dem restlichen Eintopf auf die Flammen, die zischend die Schneereste von der Unterseite fraßen. Seine Stammesschwester verzog sich in die Mitte, so weit entfernt von den feuchten Zeltbahnen wie möglich, während rings um sie das Erwachen begann.
Adiv stolperte verschlafen ins Freie, um die morgendlichen Angelegenheiten hinter sich zu bringen. Akim, dessen Aufwachen eine fließende Bewegung vom Liegen ins Sitzen war, lächelte über ihr wirres Haar. Jonoy und Videm kamen langsam zu sich. Beide wirkten zerknittert und verstört. Die Sumpfjägerin wusste sofort, dass Albträume sie heimgesucht hatten. Ylaiy schlief wie gewöhnlich am längsten, was seine Gefährten längst nicht mehr so verärgerte wie zu Beginn der Reise.
Nachdem Adiv zurückgekehrt war, trollten sich die Männer ins Freie. Adiv beobachtete, wie sie in verschiedene Richtungen ausschwärmten und Schneewände errichteten, um sich abzuschirmen. Innerlich seufzte sie. Es gab Tage, da hätte sie all ihre Münzen für ein paar Minuten Alleinsein geopfert. Ihr Blick kreuzte den Syriakins, deren Lippen sich verständnisvoll kräuselten.
Die Männer kehrten zurück und Gillok füllte schweigend heiße Suppe in die Schüsseln.
Er gehört bereits zu uns, dachte Jonoy, nahm das Geschirr entgegen, schlürfte das wärmende Mahl. Nach wenigen Schlucken fühlte er sich gestärkt. Die Schatten des Traumes verzogen sich in ihre Nistplätze in den verborgenen Teilen seines Geistes. Für diesen Tag waren sie gebannt.
Die letzte Schale reichte Gillok der Kriegerin, bevor er an ihre Seite kroch. Mit einem dankbaren Lächeln griff er nach der Schüssel, die sie ihm hinhielt, nachdem sie einige Mundvoll getrunken hatte.
Videm schluckte das Morgenmahl mit finsterem Gesicht.
„Schlechter Traum?“, erkundigte sich Adiv.
Weil er nicht reagierte, legte Ylaiy ihm die Hand auf den Arm. Der junge Baraten schreckte hoch, brachte sein Schälchen gerade noch zurück in die Waagerechte.
Adiv wiederholte ihre Frage. Fast gegen seinen Willen nickte Videm.
„Ich auch“, knurrte Jonoy zwischen zwei Bissen Bärenfleisch. „Die Träume kommen nun jede Nacht. Sie werden immer wirrer.“
„Mir geht es genau so“, bestätigte Videm. „Es sind dieselben Bilder, doch in jeder Nacht scheint etwas Neues hinzuzukommen. Und das ist stets eine Spur schrecklicher als das der vorangegangenen Nacht. Ich fürchte mich schon vor dem Einschlafen.“
„Wir nähern uns“, murmelte Adiv. Sie musste nicht erklären, was sie meinte.
„Könnt Ihr sie in Worte kleiden?“, fragte Gillok.
„Das fällt mir schwer“, gestand Videm. „Die Bilder sind so grauenhaft. Durcheinander.“
„Versucht es“, drängte Gillok sanft. „Manchmal hilft es, dem Grauen ins Gesicht zu sehen, Träume und Gefühle auferstehen zu lassen. Dann kann man gegen sie angehen.“
Das Antlitz der Kriegerin verdunkelte sich bei der Bemerkung.
„Gut“, willigte Videm ein, schloss die Augen, konzentrierte sich. Er war kein geübter Redner wie Ylaiy oder Gillok. Er musste Gedanken wie ein Baumeister mühsam zurecht klopfen und hoffen, dass die Steine halbwegs zusammenpassten. „Ich sehe meine Mutter“, sagte er. „Vor vielen Jahren starb sie bei einem Unfall mit dem Wagen. Ich war bei ihr. Wir stürzten von der Küstenstraße, weil ein Steilhang wegrutschte. Sie ertrank.“
„Saht Ihr sie sterben?“, fragte Gillok. In seinen Augen glomm Mitgefühl.
„Ich konnte nichts tun. Ich sah, wie die Fluten an ihren Kleidern rissen, sie in die Tiefe zogen, aber ich konnte mich nicht bewegen.“
„Ihr wart verletzt?“
„Mein Kopf war zerschmettert“, nickte Videm gequält. „Arme und Beine gebrochen. Ich war lang genug bei Bewusstsein, um sie sinken zu sehen. Sie blutete und schrie. Ich sah ihren Mund, der um Hilfe rief. Ich konnte nichts tun. Nichts tun.“
Alle schwiegen bedrückt. Adiv und Akim wendeten den Blick ab.
„Es war nicht Eure Schuld“, sagte Gillok.
Videm starrte in seine Schüssel. Ab und zu zog er mit einem leisen Schniefen die Nase hoch. „Seither sehe ich sie in meinen Träumen. Sie ruft mich zu sich. Mein Vater und Ardanna sorgten sich um mich. Sie glaubten, ich wolle zu ihr. Sie redeten nie darüber, doch ich wusste, dass sie Angst hatten, ich würde mir selbst etwas antun.“
„Habt Ihr?“
Videms Augen wanderten zu Gillok. „Nein. Es gab Tage, da dachte ich daran. Arme und Beine heilten. Mein Vater holte die besten Ärzte und eine Dienstfrau, die in den Heilkünsten bewandert war. Ardanna. Sie übte mit mir. Täglich. Stundenlang. Sie brachte ihre kleine Tochter mit, über deren Grimassen und Gehversuche ich lachen musste. Ich erholte mich. Wurde ausgebildet. Im Ringen, im Faustkampf, im Turnen. An den Waffen. Entgegen aller Voraussagen wurde ich gut. Nur mein Kopf heilte nicht. Sicher, er wuchs zusammen. Ich erlangte alle Sinne wieder. Fast alle Erinnerungen. Ein paar Lücken gibt es noch heute, aber das Meiste ist zurückgekehrt. Die Seelenärzte haben ihr Gold verdient.“
„Seelenärzte?“, fragte Gillok.
Videm nickte ausdruckslos. „So wie es Heiler für den Leib gibt, gibt es auch welche für den Geist. Mein Vater holte jeden ins Haus, den er ausfindig machte. Viele waren Scharlatane. Betrüger, die in meinem Hirn herumstocherten, Diagnosen stellten, den Lohn einstrichen und auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Immerhin waren einige von ihnen bemüht und gute Zuhörer. Sie schafften es, mir Gedächtniskraft zurückzugeben und die Teile der Sprache, die mir verloren gegangen waren.“
„Aber der Traum blieb?“
„Als ewige Erinnerung, ja. Zumindest sehe ich das so. Ich habe das akzeptiert, auch wenn es schwerfällt. Aber nun, nun sind die Träume anders. Bösartiger. Grauenvoller. Sie hatten sich bereits in Prant verändert. Ich sah meinen Vater sterben, immer und immer wieder, und schließlich … war es soweit. Er starb und ich konnte es nicht verhindern. Wie bei meiner Mutter.“
„Im Falle deines Vaters hast du es versucht“, sagte Ylaiy eindringlich. „Du hast gekämpft wie ein Bulle, um ihn zu schützen.“
„Es war nicht genug“, gab Videm dumpf zurück.
„Nichts und niemand hätte Euren Vater retten können“, warf die Kriegerin ein. „Der Pfeil war vergiftet und zusätzlich mit Widerhaken versehen.“
„Dasselbe erzähle ich mir Nacht für Nacht selbst. Mein Verstand weiß das alles. Es hilft nicht. Und jetzt … jetzt sehe ich nur noch den Riesen.“
„Welchen Riesen?“, fragte Jonoy verwirrt.
„Ein Untier. Eine Bestie. Wie soll ich sie beschreiben? Ich sehe, wie aus dem Körper meiner Mutter Licht kommt. Blaues, kaltes Licht, das sie von innen heraus auffrisst. Daraus erwächst er. Es. Ein Monster. Farblos. Blutlos. Leblos. Wie aus Eis. Es zerstört. Alles. Uns.“
„Ein Eisriese?“, runzelte die Kriegerin die Stirn.
Videm breitete die Arme aus, wobei er die Handflächen nach oben streckte. Eine Geste der Hilflosigkeit.
„Sie scheinen eine Zusammenfassung all dessen, was Ihr bislang gehört und gesehen habt. Syra hat mir von den Eisriesen berichtet…“
„Ihr glaubt, meine Fantasie gehe mit mir durch.“ Videms Entgegnung klang tonlos, mehr nach Feststellung, denn nach Frage. „Ja, vielleicht. Aber es passt nicht zu mir.“
„Wie meint Ihr das?“
„Sphita – das ist Ardannas Tochter – pflegt zu sagen, ich sei der fantasieloseste Mensch, den sie kenne. Sie erzählt ständig Geschichten, erfindet Spiele, zwingt mich dazu, ihre Puppen hin und her zu schieben. Doch mir fällt nie etwas ein. Was die Figuren tun oder sagen, wie ich den Tag herumbringen soll, all diese Dinge. Ich will Sphita nicht enttäuschen, also plappere ich Wort für Wort das nach, was sie mir vorgibt. Manchmal saß ich dabei, wenn ihre Mutter aus Büchern vorlas. Ich hatte Mühe, den Märchen zu folgen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie die Leute darin aussahen. Als ihr die Karten studiert habt, Adivs und Ylaiys, da habe ich nichts weiter gesehen als Krakeleien.“
„Das haben wir doch alle“, warf die Kriegerin ein.
„Aber ihr konntet euch etwas vorstellen. Mutmaßen. Dass es Karten seien, was die Zeichnungen bedeuten könnten. Ich nicht“, sagte er, keine Spur verlegen. „Ich habe keine Vorstellungskraft. Abgesehen von meiner Mutter habe ich nie geträumt. Ich bin alles andere als ein Fantast. Ich muss meine Gedanken zusammenklauben. Ich bin langsam im Denken. Warum sollte ausgerechnet ich mir etwas aus dem zusammenreimen, was ich aufgeschnappt habe?“
„Darauf gibt es keine Antwort“, sagte Jonoy. „Ich weiß das, weil ich es am eigenen Leib erfahre. Aber es ist nun einmal so. Also solltet Ihr Euern Träumen trauen. Meine haben uns immerhin nach Fedaj geführt.“
„Dann hütet Euch vor dem Eisriesen“, erwiderte Videm mit unheilvoller Stimme und einer Grimasse, die furchterregend sein sollte. Als niemand lachte, winkte er ab und wollte sich erheben, stockte jedoch inmitten der Bewegung. „Ach, da ist noch etwas. Ich sah es letzte Nacht zum ersten Mal. Ein Bauwerk, glaube ich.“
„War es auf einer der Karten?“, fragte Ylaiy.
„Ich kann mich nicht entsinnen. Wartet. Hier.“ Videm schlug die Felle vom Boden zurück und strich die Schneefläche glatt. Dann zeichnete er mit dem Zeigefinger unbeholfen einen langen, spitzen Umriss.
„Was soll das sein?“, zog Adiv die Stirn kraus.
„Findet es heraus. Ich sagte doch, ich bin schlecht darin, Zeichen zu erkennen. Aber so hat es ausgesehen.“
Damit warf er das Bärenfell über und verließ das Zelt.
Die Landschaft hatte die vertraute eintönige Färbung angenommen. Die Kälte war zurück und mit ihr der pfeifende Wind und das Gefühl des Verlassenseins.
„Ich schätze, es ist ein Turm.“
„Oder ein Obelisk.“
„Bei Kaa! Schon wieder ein Wort, das ich nicht kenne. Allmählich wird es in meinem Kopf zu eng für all die neuen Ausdrücke.“
Ylaiy grinste. Die Diebestochter erinnerte ihn zuweilen so stark an Sila, dass es wehtat. Heute war die Ähnlichkeit tröstlich. „Manche glauben, der Geist sei unendlich. Ein Schwamm, der Wissen aufsaugt. Schwämme platzen nicht. Also keine Sorge.“
„Pfft.“
„Es ist ein Bauwerk. Gleicht einem schmalen Turm, ist oben zugespitzt. Eine frei stehende Säule. Vielen Völkern dient er als Zierde, Heiligtum oder Mahnmal.“
„Glaubt Ihr, er hat etwas mit unserer Suche zu tun?“
„Mittlerweile schließe ich nichts mehr aus. Du etwa?“
„Nein.“
Wegen der fehlenden Schneereifen war es schwierig, mit dem Rest der Gruppe mitzuhalten. Gillok stapfte hinten, weil er dort die Fährte nutzen konnte, welche die anderen vor ihm in den Schnee gepflügt hatten. Dennoch sank er bei jedem Schritt ein. Syriakin, die an der Spitze marschierte, warf hin und wieder einen Blick zurück, vergewisserte sich, dass er den Anschluss nicht verlor.
Der Schmied ließ sich auf die Höhe des Sumpfmannes zurückfallen, schirmte ihn gegen den Wind ab.
„Ihr sprecht ausgezeichnet Yr“, begann er das Gespräch.
„Ihr ebenfalls“, gab Gillok augenzwinkernd zurück.
Jonoy lächelte. „Und Ihr beherrscht die Kunst der Gegenrede. Ich formuliere um: Wie kommt es, dass ein Mann der Sümpfe die Gemeinsprache derart fließend spricht?“
„Der Einfluss der Soldaten. Es sind Jahrzehnte vergangen, seit die ersten ihren Fuß auf die Insel setzten, ihre Lager errichteten und sich daran machten, Kânegg zu erobern. Später kamen Siedler, mit denen wir anfangs Handel trieben. Es ist von Vorteil, die Sprache des Feindes zu kennen.“
„Aber Ihr sprecht sie weit besser als Eure Gefährtin.“
„Stimmt“, lachte Gillok. „Syra weigerte sich, sie überhaupt zu lernen. Doch sie schnappte Wörter auf und irgendwann begriff sie, dass es einen Nutzen hatte. Ich bin gewandter mit Worten, also kam sie zu mir, um zu lernen. Sie ist gut geworden. Als sie das Dorf verließ, beherrschte sie kaum mehr als ein paar Sätze.“
„Ohaj. Unser Umgang muss für das eine oder andere doch hilfreich sein.“
„Das, und ihre Geheimniskrämerei. Vermutlich spricht sie Yr schon lange besser, als ich dachte. Jedenfalls gut genug, um Bada einiges zu lehren.“
„Ihre Tochter spricht die Reichssprache?“
„Oh ja. Meisterhaft. Bada ist in mancherlei Hinsicht außergewöhnlich. Sie begreift schnell, lernt mit einer Geschwindigkeit, die Angst einflößt.“
„Wirklich?“
„Sie sprach fließend, noch bevor sie den zweiten Winter erreichte, sie liest unsere Stammeszeichen, spricht Yr und verschiedene Sumpfdialekte.“
„Ist sie eine Kämpferin?“
„Nicht wie ihre Mutter. Bada kämpft auf ihre Weise.“
„Sie wächst ohne Vater auf, nicht wahr?“
„Woher wisst Ihr das?“
Jonoy machte eine unbestimmte Geste. „Schließlich hat sich die Mutter aufgemacht, um sie zu suchen. Die redet nie von einem Vater.“
„Das hätte mich auch ernsthaft überrascht“, erwiderte Gillok. Seine Stimme klang verändert, als wäre ein Schatten auf sie gefallen. „Sie hat Badas Vater niemals erwähnt.“
Jonoy wandte sich um. „Verzeiht. Ich wollte Euch nicht aushorchen.“
Gillok blinzelte durch das graue Licht an die Spitze des Zuges. „Wie ist es ihr ergangen?“
„Schwer zu sagen. Sie ist umgeben von Mauern, hält sich mit allem bedeckt. Hat uns verschwiegen, dass es ihre Tochter ist, die sie sucht. Abgesehen davon gerät sie fortwährend in Schwierigkeiten.“
„Das Wirtshaus.“
„Auch Zusammenstöße mit anderen Menschen.“
„Soldaten?“
„Soldaten. Einheimischen. Reisegefährten.“
„Was hat sie getan? Euch beleidigt?“
„Es ist eher so, dass sie niemandem zu trauen scheint. Sich nur auf sich selbst verlässt. Das kann gefährlich werden auf einer Reise wie dieser. Nehmt zum Beispiel das Fieber.“
Gilloks Stirn legte sich in Falten. „Sie war krank?“
„Wir fürchteten um ihr Leben.“
„Eine Verletzung?“
„Eine böse Erkältung.“
Gillok brach in abgehacktes Gelächter aus, das er umgehend hinunterschluckte.
„Ist es so ungewöhnlich, dass sie krank wird?“, erkundigte sich Jonoy.
„Mehr als ungewöhnlich.“
„Was?“
„Ich kenne Syra seit ihrer frühen Kindheit. Noch nie habe ich sie krank gesehen. Verletzt, sicher. Sie war ein Wildfang, kühn, unbeherrscht, launisch. Das führte zu Unfällen und ihre Mutter und das Dorf tadelten sie ständig deswegen. Sie hatte immerfort irgendwelche Wunden … .“ Hier hielt er kurz inne, als quälten ihn unangenehme Erinnerungen, die er mit einem schiefen Grinsen wegwischte. „Aber niemals war sie krank. Syra wurde nie von Parasiten befallen, von denen es in den Sümpfen wimmelt. Sie litt nie unter Koliken oder Fischvergiftungen, bekam keine Kopfschmerzen, keine Zahnschmerzen, keinen Husten, nichts. Sie war immer kerngesund.“
„Sie hatte nie Schnupfen? Fieber? Auch nicht als Kind?“
„Sie hatte Fieber. Doch das resultierte aus entzündeten Wunden.“ Wieder das gequälte Lächeln.
„Erstaunlich. Das Fieber hier hatte sie nach wenigen Tagen überstanden. Sie genas innerhalb von Stunden.“
„Das klingt nach ihr. Darin ist Bada ihr ähnlich. Sie ist auch nie krank. Nicht einmal verletzt“, setzte Gillok zögernd hinzu, als fiele ihm das erst jetzt auf. Sein Blick schien nach innen zu wandern. Offensichtlich kramte er nach Erinnerungen. „Ich glaube, Bada hatte in ihrem ganzen Leben noch keine einzige Verletzung, nicht einmal den Stich eines Dornes oder den Schnitt eines Sumpfgrases.“
„Das ist unmöglich“, flüsterte Jonoy atemlos.
Gillok sah ihn schweigend an.
„Das müssen wir prüfen“, beschloss der Alte und rief laut zum Halt.
Er trabte zur Mitte des kleinen Zuges und wartete, bis die anderen von vorn und hinten zu ihm aufgeschlossen hatten. „Bada“, sagte er, an die Kriegerin gewandt, die beim Klang des Namens ihre Augen auf einen imaginären Punkt im Schnee richtete, „Bada war niemals krank. Kannst du das bestätigen?“
Einen Augenblick wirkte sie von der Frage irritiert. Wie Gillok schien sie in Gedanken verschiedene Vorkommnisse im Leben ihrer Tochter vorbeiziehen zu lassen. Dann nickte sie langsam.
„Keine Bisse, Stiche, Kampfwunden oder Unfälle?“
Jetzt heftete sie ihre unergründlichen Augen auf den kleinwüchsigen Mann. „Nach der Geburt entzündete sich ihre Nabelschnur. Das heilte schnell. Seitdem…“ Ihre Züge verzogen sich zu einem verkrampften Lächeln. „Das ist mir nie aufgefallen“, murmelte sie.
Instinktiv trat Gillok einen Schritt an sie heran. Ihr Blick nagelte ihn auf der Stelle fest.
„Was ist mit den anderen Kindern?“ Jonoy sah alle der Reihe nach an.
Akim antwortete zuerst. „So weit ich weiß, sehr selten. Nichts Schlimmes. Kian war immer ziemlich unverwüstlich.“
„Arlen ebenso“, bestätigte Adiv. „Ich kannte ihn ja seit seiner Geburt.“ Ihre Stimme wurde leiser, verlor sich in wehmütigen Erinnerungen. „In der Boragha überleben Säuglinge oft nicht. Wenige schaffen es über das dritte Lebensjahr. Fast alle sind zu dünn und schwächlich, leiden unter Atemkrankheiten. Arlen war vom ersten Lebenstag an rosig und stark. Er schrie wie am Spieß, dann fing er an zu lächeln. Schon nach ein paar Tagen. Er aß alles, was man ihm vorsetzte, gedieh prächtig. Vielleicht hat er sich mal das Knie aufgeschlagen. Sich eine Beule geholt. Wirklich daran erinnern kann ich mich nicht.“
Alle Augen richteten sich auf Ylaiy, der sie verlegen ansah. „Ich habe meinen Vetter nur einmal gesehen, etwa ein Dreivierteljahr nach seiner Geburt. Ich weiß nichts von Verletzungen oder Krankheiten, aber das will nichts heißen. Ich werde nicht über jede Nachricht informiert.“
„Ihr seid der Thronfolger“, murmelte die Kriegerin schleppend, mehr zu sich selbst.
„Worauf wollt Ihr hinaus?“
„Hat man Euch je nach dem Leben getrachtet?“
„Mehrfach.“ Ihm war anzusehen, wie das Geständnis ihn schmerzte.
„Wie oft?“
„Viermal, fünfmal, wahrscheinlich öfter. Ich scheine nicht besonders beliebt zu sein.“ Der Scherz erstickte in der Schneeluft.
„Das Risiko eines Adligen. Ihr habt alle Anschläge überlebt. Euer Vetter möglicherweise auch. Augenscheinlich sind die Kinder nicht die Einzigen mit starker Gesundheit. Und Glück“, fügte sie nachdenklich hinzu.
„Das kannst du über dich auch sagen“, meinte Gillok.
„Unsinn! Ich habe genug Narben allein an meinen Armen, die das Gegenteil beweisen.“
„Äußere Verletzungen“, flüsterte Ylaiy, wie vom Schlag getroffen. „Narben von Kämpfen oder Unfällen, habe ich recht? Abgesehen davon wart Ihr stets bei bester Gesundheit, nicht wahr?“
„Es ist erst wenige Tage her seit ihrer Erkrankung“, gab Adiv zu bedenken.
„Die sie schneller überwand, als jeder von uns geglaubt hatte.“
„So wie all deine Blessuren“, fügte Gillok hinzu. „Denk mal nach. Wie rasch du dich von allem erholst.“
Die Kriegerin schoss ihm einen schwer zu deutenden Blick zu.
Jonoy stapfte aufgeregt auf und ab. „Das kann kein Zufall sein. Alle Kinder scheinen außergewöhnlich widerstandsfähig, beinahe unverletzlich, ähnlich wie ihre Anverwandten und Familien. Akim, wie ist es bei dir?“
„Ich fürchte, ich bin ein gewöhnlicher Mensch“, versetzte der Wüstenjunge.
„Bis auf die Tatsache, dass du ein wenig besser siehst, hörst und riechst als alle anderen Menschen dieser Welt“, sagte Adiv trocken.
„Oh, da solltest du Kian erleben. Der hört fürwahr die Flöhe husten … .“ Akim brach abrupt ab, als ihm klar wurde, was er soeben angedeutet hatte.
Die anderen waren ebenso schlagartig verstummt.
„Fahre fort“, forderte Jonoy den Jungen auf.
Der Fährtenleser sammelte sich, dann fing er an zu erzählen: „Wir leben seit ewigen Zeiten am Rand der Großen Wüste. Alle Madif hören und sehen ausgezeichnet. Das ist eine Notwendigkeit, um zu überleben, so wie Adiv stets Augen im Hinterkopf und einen überragenden Orientierungssinn haben musste, um das Gefängnis zu überstehen. Im Übrigen ist sie wie Arlen in der Boragha geboren, hat zwanzig Jahre darin gelebt. Bei guter Gesundheit. Sie ist mit Arlen nicht blutsverwandt; auffallend ist es dennoch.“
Adiv wechselte nachdenkliche Blicke mit den anderen.
„Im Alter lassen Sehkraft und Gehör nach, aber Kinder und junge Erwachsene haben exzellente Sinne. Sie werden deshalb gern als Fährtenleser bei den Karawanen eingesetzt. Doch auch zwischen den Madif gibt es Unterschiede, außerdem hat nicht jeder die Konzentration, die nötig ist, stets auf alle Sinne zu achten. Es ist wie ein Fluch, versteht ihr? Man hört und sieht und riecht und fühlt so viel, dass es einen manchmal … überschwemmt. Also muss man seine Sinne bewusst verschließen. Sonst strömen die Eindrücke ununterbrochen hinein und machen einen, nun ja, verrückt. Ältere Madif gebrauchen ihre Sinne nur noch zu einem Bruchteil. Bei Bedarf können sie sich wieder auf sie konzentrieren, doch dann sind sie nicht mehr so trainiert.“
Jonoy dachte an den Traum der letzten Nacht.
Ein Fluch, ja.
„Die Leute sagen, ich wäre besser als die meisten Madif. Kian hingegen ist erstaunlich. Man hätte ihn blind in die Wüste schicken können und er hätte sich nicht verirrt. Er konnte meiner Mutter stundenlang zuhören, wenn sie ihm eine Geschichte erzählte und hinterher jedes Wort wiedergeben, aber trotzdem an der spannendsten Stelle aufspringen und einen Skorpion hinter der Hüttenwand fangen. Er schien das Wetter zu riechen. Das war das Seltsamste von allem. Madif halten nach bestimmten Anzeichen und Verhaltensmustern bei Tieren Ausschau, die Wetterumschwünge ankündigen. Das ist eine Kunst, die nicht alle beherrschen, aber es ist keine Zauberei. Bei Kian war es wie ein zusätzlicher Sinn. Er konnte morgens einen Blick in den Himmel werfen und voraussagen, dass die Temperatur am Abend so weit fallen würde, dass es besser war, die Ziegen in die Winterställe zu führen. Er irrte niemals.“
„Wie Chada“, murmelte die Kriegerin.
Jonoy zog Nase und Stirn kraus, als er den Namen hörte.
„Meine Großmutter“, erläuterte Akim den anderen, „war eine Schamanin, die Zukunft und Wetter vorhersah, Krankheiten heilte und weise Ratschläge gab. Sie wurde verehrt wie keine Zweite. Alles weist darauf hin, dass Kian es ihr nachtun wird.“
Ylaiy und Videm sahen sich an. Sie konnten ein skeptisches Grinsen nicht unterdrücken, während Adiv und die Sumpfleute den Jungen ernst musterten. Jonoy stand buchstäblich der Mund offen.
„Bada warnte mich einmal davor, einen längeren Fußmarsch in die östlichen Wälder zu unternehmen“, sagte die Kriegerin überraschend. Sie trat zwei Schritte von der Gruppe weg, drehte den anderen den Rücken zu, starrte auf die verschneite Ebene. „Ich hörte nicht auf sie. Es war Frühling, ein sonniger Tag ohne das geringste Anzeichen von Regen. Sie zog an meinem Umhang, hing sich an meinen Arm, wollte mich schließlich begleiten. Ich gab sie in die Obhut der Dorffrauen. Nach einigen Stunden fing es an, zu regnen. Anfangs war ich belustigt. Dann wurde der Regen zu einer Wasserwand, die senkrecht vom Himmel stürzte. Hagel und Sturm setzten ein. Binnen Minuten verwandelten sich die Hügelpfade in schlammige Flüsse. Von den Bäumen krachten armdicke Äste herunter, sogar halbe Baumkronen.“
Die Kriegerin hatte die Begebenheit ohne Regung berichtet. Als sie sich umdrehte, war ihr Gesicht leer.
„Was geschah dann?“, wollte Adiv wissen.
„Gillok fand mich. Er hatte Bada bei sich. Es war dunkel wie zur Nacht. Ich hatte niemandem erzählt, wohin ich unterwegs war. Der Sturzregen hatte alle meine Spuren verwischt.“
„Bada kam zu mir gerannt, noch bevor Syra den Fuß der Hügelketten erreicht hatte. Sie bettelte und zeterte, dass ihre Mutter in Gefahr sei. Wie diese verstand ich nicht, warum, aber Bada kann sehr eindringlich sein.“ Bei diesen Worten schielte er zu Syriakin, die keine Miene verzog. „Jedenfalls setzte sie mir lange Zeit zu, doch auch ich gab nicht nach. Am Mittag brach das Unwetter los. Ich stürzte vor die Tür, rannte zum Dorfrand. Dort stand Bada mit gepacktem Beutel und geschultertem Bogen. Sie ergriff meine Hand und zog mich mit. Von dem Augenblick an habe ich keine Fragen mehr gestellt, bin ihr nur gefolgt. Wir fanden Syra unter einem Baum, den Kopf im Schlammwasser.“
„Also spürt sie das Wetter ähnlich wie Kian?“ Adiv hing an den Lippen Gilloks.
„Nein, anders. Sie scheint Gefahren vorauszusehen. Aber wie Kian hat sie einen meisterlichen Orientierungssinn, sieht im Dunkeln fast wie im Hellen. Syra hat ihr vieles über das Spurensuchen und Jagen beigebracht, doch Bada hörte kaum zu. Es interessiert sie nicht, sehr zu Syras Leidwesen.“
„Das stimmt nicht“, warf die Kriegerin mit scharfer Stimme ein.
„Deine Tochter kann kein Tier sehen, ohne es streicheln zu wollen; du tötest es“, hielt Gillok ihr entgegen. „Das soll dich nicht stören? Ich bitte dich.“
„Sie findet ihren Weg mit untrüglicher Sicherheit“, setzte die Kriegerin fort, ohne auf Gillok einzugehen.
„Auch unter Wasser“, fügte dieser hinzu. Adiv konnte nicht umhin, zu bemerken, dass Gillok und Syriakin über das Kind sprachen, als gehörte es ihnen beiden.
„Gillok ist der beste Schwimmer des Dorfes“, bemerkte die Kriegerin. „Vielleicht sogar aller Fraga’i. Niemand reicht an ihn heran, abgesehen von Bada. Schon als Säugling war sie vom Wasser fasziniert. Man konnte sie nicht davon fernhalten. Sobald sie krabbeln konnte, robbte sie zu jedem Wasserloch, bald darauf zum Meer.“
„Ein Albtraum“, nickte Gillok, „doch er endete, als wir sahen, wie gut sie schwamm, ohne dass einer es sie gelehrt hatte. Es war, als würde sie mit den Wellen tanzen.“
„Sie war im Wasser mehr zu Hause als an Land“, bestätigte Syriakin, deren Stimme ein wenig von ihrer Härte verloren hatte. „Manchmal hatte man den Eindruck, sie schwamm mit den Fischen und unterhielt sich mit ihnen.“ Abrupt schloss sie ihren Mund und kehrte allen wieder den Rücken zu.
Die Männer schauten unbehaglich. Adiv wurde von einer Welle des Mitleids überschwemmt.
Der Prinz blickte angestrengt in eine andere Richtung. „Ich fürchte, etwas Derartiges kann ich über meinen Vetter nicht berichten. Doch meine Mutter äußerte sich meinem Stiefvater gegenüber mehrfach löblich über ihn. Die Nachrichten meiner Tante enthalten auch stets einige Sätze über den Jungen. Er ist der ganze Stolz seiner Mutter.“
„Und sicher seines Vaters?“, fragte Adiv unschuldig.
Über Ylaiys Gesicht glitt ein Lächeln. „Du weißt, dass es keinen Vater gibt.“
„Ist er tot?“
„Das weiß ich nicht. Offen gestanden bin ich mir nicht im Klaren darüber, wer Yvains Vater ist.“
„Sicher ein hoher Höfling“, vermutete Adiv.
„Die Kunde geht, dass das Gegenteil der Fall ist. Vom Hörensagen und dem Hofklatsch weiß ich, dass ein glutäugiger Fremder das Herz meiner Tante im Sturm eroberte und vor der Geburt des Jungen verschwand.“
„Die alte Geschichte“, murmelte Jonoy.
Von Syriakin kam ein Geräusch, das nach Verachtung klang.
„Wir sollten nach einer Unterkunft suchen“, unterbrach Akim mit einem Blick auf das dichter werdende Schneetreiben und den sich verdunkelnden Himmel.
Videm stolperte gegen Akim, der stehen geblieben war und auf eine Stelle zeigte, die genauso aussah wie der Rest der Einöde. Erst als er in die Knie ging, stellte er fest, dass er vor der verlassenen Geburtshöhle eines Eisbären hockte.
Der Nachmittag war gerade angebrochen, doch draußen dämmerte es. Die kürzeren Tage und das schlechte Wetter verlangsamten sie. Heute hatten sie nur anderthalb Meilen zurückgelegt, gestern hatte der Hagelsturm sie unweit Urdal’Thonns zum Anhalten gezwungen. Videm befürchtete, dass die Sonne sich irgendwann überhaupt nicht mehr blicken ließ, ewiges Dunkel sie einhüllen würde.
Der Schnee fiel in unfassbaren Mengen, so dicht, dass man die eigene Hand kaum vor Augen sah. Wie ein nasses Tuch schlug er in ihre Gesichter. Sie alle fühlten sich rastlos, doch in diesem Unwetter durch unbekanntes Terrain zu laufen, war töricht.
Sobald der Kräutertee in ihren Bechern dampfte und sie um das spärliche Feuer hockten, nahm Ylaiy den Faden wieder auf. „An Yvain fand überraschenderweise auch Urdat Vei Gefallen. Gewöhnlich zeigt mein Stiefvater kein Interesse an Kindern. Er hat einen Sohn und zwei Töchter aus erster Ehe, sowie eine Reihe Bastarde. Für keins seiner Kinder scheint er tiefere Gefühle zu hegen. Yvain jedoch gefiel ihm. Er schien angetan, wenn meine Mutter von seinen Fortschritten berichtete.“
Der Thronfolger beugte sich vor. Unwillkürlich folgten die anderen der Bewegung. Seine Worte zogen sie in ihren Bann. Für Videm war der Prinz der geborene Redner.
„Yvains Ausbildung begann am vierten Geburtstag. Das ist üblich für die männlichen Nachkommen hochhöfischer Familien. Sie lernen soldatische Grundlagen. Zuerst den Umgang mit dem Kurzschwert. Reiten. Wenn sie kräftig genug sind, folgen Langschwert, Lanze, Schild und Armbrust, Faustkampf und Ringen. Verfügt die Familie über Reichtümer, stellt sie private Kampfmeister an, die beeindruckende Techniken beherrschen. Später kommt die Theorie dazu. Bücherwissen. Geschichte, vor allem Militärgeschichte. Burgenbau, Belagerungstechniken, Strategien des Heerkampfes, Taktiken des Einzelkampfes. Außerdem lernen sie eine Unmenge an höfischen Sitten, Benimmregeln, den Ehrenkodex, die Erbschaftsregularien, Heiratsregeln und vieles mehr. Die meisten werden zu Soldaten, denen man eher beibringt zu befehlen, denn wirklich zu kämpfen. Bravourös bestehen sie den Alltag am Hof und geben anständige Recken ab. Einige bringen es zur Meisterschaft in einer der beiden Zweige: Sie werden außergewöhnliche Heerführer oder außergewöhnliche Gelehrte.“
„Es dürfte klar sein, zu welchem Zweig Ihr gehört“, warf Adiv ein und schenkte dem Prinzen ein Lächeln, das dieser verkrampft erwiderte.
„Ich hatte für das Tamtam auf dem Ausbildungsplatz nie viel übrig. Lieber hockte ich in der Bibliothek. Vei würde sich benässen vor Lachen, wenn er mich jetzt sehen könnte. Yvain andererseits ... Ihm scheint alles zuzufliegen. Er ist stark, ausdauernd und von schneller Auffassung. Als Soldat ist er so gut, dass er mit älteren Kindern lernt und sie im Kampf schlägt. Ebenso gern scheint er seine Schriften zu studieren. Meine Tante schrieb einmal von einem Festmahl, zu dem wichtige hohe Häupter geladen waren. Yvain schaffte es spielend, sie mit Anekdoten und Versen zu bezaubern. Daneben unterhielt er sich mit Abgesandten über politische und militärische Angelegenheiten, sodass diese das Gefühl hatten, mit einem der ihren zu sprechen.“
Die schwelenden Zweige knackten, hüllten die Höhle in flackerndes Licht. Nicht zum ersten Mal fühlte sich Videm wie in einem Grab. Wie schon in den vergangenen Tagen überkam ihn das dringende Bedürfnis nach frischer Luft. Er zwang es nieder, konzentrierte sich darauf, seinen klopfenden Herzschlag zu beruhigen, das Rauschen in den Ohren zu ignorieren.
„Das unterscheidet Yvain von Bada und Kian“, sagte Adiv ratlos.
„Sie sind alle Meister ihrer Umwelt.“
Alle Köpfe wandten sich Videm zu. Die plötzliche Aufmerksamkeit war ihm peinlich. Seine Augen zuckten, hefteten sich auf das glimmende Feuer.
„Ihr habt recht“, erlöste ihn Gillok. „Sie alle beherrschen das am besten, was mit ihrem täglichen Leben zu tun hat. Bada und Kian sind Kinder der Alten Völker. Sie leben in und mit der Natur, sprechen deren Sprache, verstehen deren Zeichen. Sie sind außergewöhnlich angepasst an ihre Lebensumstände.“
„Kian verspürte so gut wie nie Durst“, rief Akim aufgeregt dazwischen. „Und Durst ist unser ständiger Begleiter. Kian konnte Tage ohne Wasser auskommen.“
„Bei uns gibt es Wasser im Überfluss“, entgegnete Gillok, „und Bada ist im Wasser zu Hause. In der Wildnis können beide auf ihre Art überleben. Euer Vetter“, sagte er, an Ylaiy gewandt, „ist ein Kind der höfischen, militärisch reglementierten Welt. Er ist Soldat und Gelehrter gleichermaßen.“
„Stellt sich die Frage nach Arlen“, warf die Kriegerin ein.
„Er müsste außergewöhnlich angepasst sein an das Leben im Gefängnis“, sagte Ylaiy. „Was braucht man dort?“
Adiv zuckte die Schultern. „Orientierungssinn. Augen überall. Die Boragha ist ein Irrgarten. Es gibt oberirdische Wege und unterirdische, offizielle und geheime, waagerechte und senkrechte. Egal, welchen man geht, es ist immer gefährlich. Ich meine, dort leben die Verbrecher. Und die Wärter, was auf das Gleiche hinaus kommt.“
Videm und Ylaiy kniffen die Augen zusammen. Akim und Jonoy nickten, überrollt von bösen Erinnerungen.
„Die Luft ist schlecht. Es stinkt. Ich bin sicher, dass der Gestank krank macht. Dort unten hausen tausende von Menschen mit sehr beschränkten Möglichkeiten, sich und ihre Wohnungen zu reinigen. Eine Brutstätte für alle Krankheiten dieser Welt.“
„Arlen machte das nichts aus“, murmelte der Kaisersohn.
„Nein. Die meisten Insassen sind bleich, von der Sonne entwöhnt. Man erzählt sich von Leuten, die seit Jahren nicht mehr nach oben gekommen sind.“
In Videms Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Er dachte an das tonnenschwere Erdreich, das über den Köpfen dieser Menschen hing. Bang blinzelte er an die niedrige Decke.
„Wo es keine Sonne gibt, gibt es kein Glück“, fuhr Adiv mit leiser Stimme fort. „Die Leute sind übel gelaunt. Viele versinken in Melancholie und Lebensüberdruss. Ein großer Teil wird … böse. Sie büßen den letzten Rest Anstand ein, den sie vielleicht noch hatten. Haben nichts mehr zu verlieren.
Ich stieg, so oft ich konnte, nach oben. Atmete die Luft, die vom Hochgebirge hinunter wehte, spürte das Sonnenlicht. Ohne die Ausflüge und die Dienste, die ich verrichtete, wäre ich verrückt geworden wie so viele andere. Hätte eines Tages begonnen, wie mein Vater komische Zeichen auf die Wände zu krakeln, obskure Formeln vor mich hin zu murmeln. Oder wäre wie meine Mutter die Gänge abgelaufen, immer und immer wieder.“
„Und Arlen?“, fragte Akim.
„Arlen war Licht. Ein Sonnenstrahl. Ein Hoffnungsschimmer. Es war sein Lächeln, seine Lebensfreude, die Leichtigkeit, mit der er an Schwerverbrechern, Geistesgestörten und Verstümmelten vorbei jagte und dabei lachte. Für ihn war das Gefängnis wie ein Spielplatz mit Millionen von Verstecken und einem Publikum, das seine Späße verfolgte.“ Tränen rannen aus Adivs Augen, doch sie lächelte. „Er schien den Gestank nicht zu riechen, die Sonne nicht zu vermissen. Manchmal ging er mit mir raus, begleitete mich zur Arbeit. Er holte Aan ab, machte Besorgungen mit meiner Mutter. Er mochte die Sonne, konnte in sie hinein starren, minutenlang. Ich sagte ihm, dass er die Augen schließen müsse, aber er erklärte, dass das Licht ihm nichts ausmache. Er mochte die Bergluft. Fror nie in ihr, obwohl er sie nicht gewohnt war, denn unten ist es stickig. Ich bin sicher, er kannte jeden Winkel im Gefängnis, mehr noch als meine Mutter.“
Ihre Stimme verlor sich in Erinnerungen. Gillok rückte an sie heran, umschloss ihre Hände. Adiv spürte die Schwimmhäute auf ihrer Haut. Die Berührung machte sie verlegen, doch als unangenehm empfand sie sie nicht.
„Das wirklich Besondere an ihm war die Art, wie er auf Menschen wirkte. Er hatte etwas an sich, das sich kaum beschreiben lässt. Er war fröhlich, immer guter Laune, erzählte Geschichten oder erfand eigene, die er so wiedergab, dass sie alle in ihren Bann zogen. Später, als er schreiben gelernt hatte, begann er, sie nieder zu kritzeln. Auf Wachstafeln, die meine Mutter ihm herstellte. Er wurde nie angegriffen. Kein Kinderschänder versuchte, sich ihm zu nähern, kein Schläger suchte ihn als Opfer. Sogar die Wärter ließen ihn in Ruhe, wenn er in der Küche spielte. Etwas an seiner Art war schlichtweg unwiderstehlich.“
„Ein geborener Redner?“, fragte Ylaiy. „Wie Yvain?“
„Ja. Aber es war nicht nur die Art, wie er Gedanken zu Sätzen formte. Es war nicht nur die Fähigkeit, von Yr in die Dialekte zu wechseln. Es war die Art, wie er die Leute ansah beim Sprechen, wie er in ihre Köpfe zu schauen schien und dort seine Spuren hinterließ. Wie er sich einstellte auf seine Zuhörer. Er war … - ach, mir fällt kein Wort dafür ein.“
„Charismatisch“, schlug Ylaiy vor.
„Was auch immer das bedeutet. Es klingt nach Arlen.“
Gillok sah Syriakin an, die den Blick stumm erwiderte. In ihrem Antlitz stand unverkennbar Schmerz. „Syras Tochter mied große Zuhörergruppen. Sie war lieber allein. Im Wasser. In den Sümpfen. Sie sprach wenig. Doch es gab viele Tage und Gelegenheiten, da entzog sie sich nicht. Dann kam sie ins Dorf, besuchte die Bewohner, plauderte mit ihnen. Sie trug ein ernstes Gesicht mit sich herum, schien immerfort zu grübeln. Dennoch begrüßten die Leute sie freundlich.“
„War sie beliebt?“, fragte Jonoy.
„Sehr.“
„Was erstaunlich war angesichts der Tatsache, dass ihre Mutter gemieden wurde, als hätte sie eine ansteckende Krankheit“, sagte die Kriegerin. Sie sah die anderen geradeaus an. „Die Leute genossen ihre Nähe so sehr, wie sie meine ablehnten. Was dazu führte, dass Bada und ich uns selten am gleichen Fleck aufhielten.“
Was unsere Leute nicht dazu brachte, das Kind zu suchen.
„Was waren wir doch für Feiglinge“, murmelte Gillok.
Die Gefährten schauten ihn ratlos an. Er klärte sie nicht auf.
Ylaiy räusperte sich. „Es sind demnach nicht irgendwelche Kinder, die entführt wurden“, fasste er zusammen. „Sondern besondere Kinder mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften. Sind ihre Entführungen Zufälle oder steckt dahinter ein perfider Plan? Wenn ja, von wem? Zu welchem Zweck?“
„Es ist ein Plan“, erwiderte Adiv. „Das spürt man einfach. Es passt alles zu gut.“
Videm fror, doch es war nicht die Kälte, die ihn zittern ließ. War. War. War. Alle hatten es gebraucht. Wie Nachrufe.
„Stellt euch das mal vor“, sagte er in die Stille hinein. „Eins dieser Kinder ist schon außergewöhnlich genug. Wie unglaublich müssen dann vier von ihnen zusammen sein?“
Bei den Worten schnappte sogar die Kriegerin hörbar nach Luft. „Sie setzen sie ein“, antwortete sie mit einer Stimme, die noch eine Spur dunkler klang als sonst. „Sie sind eine Waffe.“
„Für wen?“, hielt Gillok dagegen.
„Für den Herrn der Insel. Oder die Herren. Mit seinen oder ihren magischen Geschöpfen. Sie benutzen die Kinder als Waffe. Ihre Schlauheit, ihre Fähigkeiten, ihr Charisma.“ Das letzte Wort zog sie in die Länge, sah dabei Ylaiy an. In ihren Augen stand Zorn. Und wilde Entschlossenheit.
„Waffe wofür? Oder wogegen?“
„Egal, wogegen, ich werde es verhindern.“
Mit einem Satz war sie am Höhleneingang. Videm setzte ihr nach, froh über die Gelegenheit, der erstickenden Luft zu entkommen.
Draußen riss ihn das Beben von den Füßen. Es ging mit kreischendem Getöse einher, pflanzte sich in alle Himmelsrichtungen fort, rollte mit erschreckender Geschwindigkeit heran.
Er flog durch die Luft. Landete im Schnee, der wie durch Zauberhand ein wellenförmiges Muster angenommen hatte. Wie Wasser, das urplötzlich erstarrt war.
Die Eisbärenhöhle stürzte zusammen wie ein Kartenhaus.
Sofort schüttelte er den Schnee von seinem Kopf und sah sich nach Syriakin um. Die war bereits dabei, Akim aus den Schneehaufen zu ziehen. Videm rappelte sich auf, mit klingenden Ohren, ansonsten unverletzt, und half der Diebestochter auf die Beine. Gillok schaffte es selbst, sich zu befreien.
Jonoys Stab ragte zur Hälfte aus den Überresten der Höhle. Der Sumpfmann zog den Schmied an die Luft, wo er zappelnd wie ein Fisch auf dem Trockenen um Atem rang.
Der Prinz war am tiefsten verschüttet, doch gemeinsam gelang es ihnen, ihn herauszuzerren. Ylaiy hustete und spuckte Schneeklumpen aus. Dann fuhr seine Hand an seine Brust. Erst als er die Pergamente ertastete, erlaubte er sich ein zitterndes Aufatmen.
Die Augen der Kriegerin schossen schnell wie ihre Pfeile über die Gruppe und die verstreuten Sachen. „Packt zusammen. Rasch! Nur das Allernötigste. Wir müssen zurück!“
„Wohin?“, keuchte Ylaiy.
„Urdal’thonn. Hast du ihn auch gesehen? Den Felsen?“, fuhr sie zu Videm herum.
Er brauchte einen Augenblick, bis er verdaut hatte, dass sie ihn unversehens vertraulich angesprochen hatte. „Er kam vom Himmel. Ein schwarzer Klumpen.“
„Er fiel in den Steinkreis.“
„Das Pergament“, sagte Ylaiy. „Die seltsame Zeichnung. Akims Bilderwort. Das ist es. Der Steinkreis. Er ist der Landeplatz für den Felsen.“
Syriakin widersprach nicht. „Beeilen wir uns.“
Adivs Lungen brannten. In ihrer linken Seite stach es. Bunte Kreise flirrten vor ihren Augen. Die Ebene hob und senkte sich im Takt ihrer Schritte, machte sie schwindeln. Sie hatte Mühe, ihre Beine zu heben und in der richtigen Reihenfolge wieder aufzusetzen, stolperte über die Schneerahmen, fing sich, taumelte von Neuem. Schweiß drang ihr aus allen Poren, klebte unter den Gesichtstüchern, lief den Rücken hinunter bis zum Gesäß, wo er ein unangenehmes Jucken verursachte. Unbeirrt hastete sie voran, Jonoys Keuchen und Ylaiys Schnaufen im Ohr. Auf Urdal’thonn zu, das sie erst gestern verlassen hatten. Das dennoch unvorstellbar weit zurücklag, obwohl sie weniger als halbe Tage gegangen waren.
Videm rannte vor ihr. Zwischen ihnen klaffte bereits eine Lücke und der Abstand wurde größer, egal, wie sehr sie sich abmühte.
Die Kriegerin lief der Gruppe voraus. Selbst nach Meilen sah sie noch frisch aus. Mit weichen, kraftvollen Schwüngen flog sie über die Ebene. Ihre Stiefel schienen kaum den Boden zu berühren.
Im Augenblick hätte Adiv alles für ihre Konstitution gegeben. Oder Gilloks, der ebenso leichtfüßig hinter ihr her preschte. Adiv hatte sogar den Eindruck, dass der Sumpfmann, der Akims Schneereifen trug, seine Kräfte drosselte. Wann immer Syriakin einen Abstand herauslief, schloss er ohne Anstrengung zu ihr auf.
Akim, von den lästigen Reifen befreit, jagte hinter den Sumpfleuten her wie ein Staubteufel. Was ihm an Muskeln fehlte, machte er mit seinem leichten Körperbau wett. In einigen Jahren würden Syriakin und Gillok es sehr viel schwerer haben, ihn hinter sich zu lassen.
Der Felsen, der so unversehens in die Senke gekracht war, ragte bedrohlich vor ihr auf. Sein Schwarz war undurchdringlich. So dunkel, dass es sich gegen den düsteren Himmel abhob. Sie nahm ihn bereits aus weiter Entfernung wahr. Das matte Schimmern, den modrigen Geruch, die Energie, die in alle Richtungen pulste und die Schneedecke aufbrach, das Flimmern um seine Spitze. Er sah genauso aus, wie Jonoy und Akim ihn beschrieben hatten. Nur die Feuerkorona und die Blitze fehlten.
Sie hatte die Geschichten über ihn gehört. Auf der Reise. Aus dem Mund ihres Vaters. Sie hatte ihn auf Karten gesehen, auf Wände gekritzelt, in die Erde geritzt, und doch war sie auf den Anblick nicht vorbereitet. Sie fühlte, wie Gewichte an ihren Beinen wuchsen, der Schnee sich um ihre Knöchel schloss, als wolle er sie hindern, voranzukommen. Tränen kullerten über ihre Wangen. Sie gefroren zu Salzkristallen, obwohl ihre Haut vor Anstrengung glühte.
Sie sah ihn vor sich in die Höhe wachsen, mit jedem Schritt gewaltiger werden. Das Stechen in ihrer Seite verstärkte sich, breitete sich in ihrem gesamten Brustraum aus. Mittlerweile schleppte sie sich mehr, als sie lief, die Hände gegen die Seiten gepresst, gebeugt, hechelnd, die Zunge viel zu groß in ihrem trockenen Mund, den ein saurer Geschmack ausfüllte.
Endlich konnte sie die ersten Menhire erkennen, doch es dauerte eine weitere Ewigkeit, bis sie die Grenze der Senke - des Kraters - erreichte.
Kurz darauf taumelte Ylaiy in ihren Rücken, riss sie beinahe zu Boden. Jonoy langte wenig später japsend bei ihnen an und zerrte sich die Tücher vom Gesicht.
Zu dritt standen sie am Rand des Steinkreises. Keiner brachte ein Wort heraus. Aller Sauerstoff war restlos verbraucht. Es brauchte eine Weile, die Lungen mit frischem zu füllen.
„Bei Kaa“, schnaufte Adiv, mit der Hand Halt bei Ylaiy suchend. „Wie weit war das? Ich fühle meine Beine nicht mehr.“
„Sechs, sieben Meilen“, keuchte Ylaiy mit hochrotem Gesicht.
„In meinem ganzen Leben bin ich noch nie so weit gerannt“, stöhnte sie, sich die Unterschenkel massierend.
„Und das mit Reifen. Stolze Leistung.“
Sie wandte sich Jonoy zu, dessen Japsen in ein wildes Husten überging. Er beugte sich vornüber, stützte die Hände auf die Knie. Sie bückte sich nach dem Stab und schlug ihm kräftig auf den Rücken. „Na, alter Mann, geht es?“
Jonoy nickte und würgte, spuckte flockigen Speichel aus, lehnte sich an sie. Sie streichelte seinen Rücken, während er langsam zu Atem kam und die ungesunde Gesichtsfarbe sich normalisierte.
„Wo sind die anderen?“, fragte er, sobald er wieder Luft zum Reden hatte.
„Ich sah Videm noch hinter dem Felsen verschwinden. Die anderen drei habe ich aus den Augen verloren. Sie waren einfach zu schnell.“
„Unglaublich schnell“, bestätigte Ylaiy beeindruckt.
Adiv fuhr mit der Zunge über ihre Lippen und betrachtete den gigantischen Felsblock. Dann stutzte sie. „Schaut mal, der Schatten.“
„Was ist damit?“, fragte Ylaiy.
„Er geht rund um den Felsen. Dabei scheint die Sonne gar nicht.“
Ylaiy zog die Schultern ein und warf seinen Gefährten einen furchtsamen Blick zu.
„Ich möchte diesem Ding dort keinen Schritt näher kommen“, sagte Adiv. „Es ist, als würde das leibhaftig Böse aus ihm heraus sickern. Aber wir müssen nach den anderen suchen.“
„Zieht eure Schwerter“, riet Jonoy.
Auf den letzten Metern hatte Gillok die Kriegerin doch noch überholt. Schwer atmend blieb er im Schatten der mächtigen Felsennadel stehen, die Hände am Knauf des Kurzschwertes, das Jonoy ihm überlassen hatte.
Syriakin langte Sekunden nach ihm an. Auch sie atmete schnell. Als sie die Tücher abnahm, sah er einen Schimmer Rot auf ihren Wangen. Ihre Augen glänzten vom Gegenwind. Aufmerksam drehte sie den Kopf in alle Richtungen, während Gillok den Boden nach Fährten absuchte.
Akim trudelte kurz danach bei ihnen ein. Sofort hielt er die Nase in den Wind, bemüht, den Felsen nicht anzuschauen, mit einem Gesicht, das von Widerwillen und Furcht verzerrt war. „Schwefel“, murmelte er. „Es riecht nach Schwefel. Und Menschen. Männern.“
„Wie um alles in der Welt …“, wandte sich Gillok nach ihm um, doch die Kriegerin schnitt ihm mit einer scharfen Geste das Wort ab.
„Glaub ihm einfach. Wie viele Männer?“
Akim prüfte mit zitternden Nasenflügeln. „Viele. Soldaten, denke ich. Stiefelwichse. Metallöl. Schlechte Zähne. Faulige Münder. Acht.“
„Wo?“
„Dort hinten“, flüsterte Gillok. Ungläubig starrte er den Wüstenjungen an und wies auf Stiefelabdrücke, die auf dem dürren Gras gerade noch sichtbar waren.
„Kommt“, rief die Kriegerin.
Ohne ein weiteres Wort rannten Gillok und Akim hinter ihr her. Akims Faust schloss sich fester um den Speerschaft.
Gillok schob sich an Syriakins Seite. „Steckt dein Dolch in deinem Gürtel?“
„Nimm“, antwortete sie. Gillok ließ den Arm unter ihren wehenden Mantel gleiten, ohne dass sie verlangsamte oder aus dem Tritt geriet.
„Schwarze Klinge. Hadulanis?“, fragte er.
„Ich weiß nicht, ob es noch wirksam ist.“
„Das werden wir ja sehen“, gab er mit grimmiger Miene zurück.
„Dort!“, schrie Akim. „Seht ihr sie? Seht ihr ihn?“
Er war der Herr der Insel, der Herrscher über die eisigen Weiten und ihrer feurigen Tiefen. Ein Geheimnis. Ein Mythos, dem niemand Glauben schenkte.
„Morrhim!“
Knarrend sprang das Wort von dem lippenlosen Mund, nahm an Tonhöhe und Volumen zu, bis es als schauriges Echo von den Felswänden widerhallte. Mit einem letzten Blick aus farblosen Augen drehte er den haarlosen Schädel, warf den Mantel über sich und verschwand mitsamt seiner Gefolgschaft unter der Erde.
„Wo ist er?“, rief Gillok.
Akim hörte die Frage wie in einem Nebel. Wie damals auf dem Felsen drangen einzelne, unzusammenhängende Bilder geschossgleich in sein Gehirn, hakten sich fest, richteten ein Gemetzel an. Ein Blutbad, das seinen Geist ertränkte, quälende Erinnerungen freisetzte. Seine Blase verkrampfte und seine Beine sackten unter ihm weg.
Ich falle.
Ein Arm fing ihn auf. Auch das war nicht neu.
Die Finger, die seinen Bizeps umschlossen, waren stark, fast so eisern wie die des Schmieds. Er fühlte sich geschüttelt. Benommen blickte er auf und sah grüne Iriden, die ihn mit einer Mischung aus Sorge und Eindringlichkeit ansahen. „Akim“, drang die rauchige Stimme der Kriegerin an sein Ohr. „Nicht jetzt. Du musst bei uns bleiben!“
Er nickte schwammig, bewegte sich aber nicht. Dann wurden seine Augen so groß, als wollten sie aus dem Kopf quellen. „Morrhim“, stammelte er.
Es waren acht, ganz so, wie der Junge gesagt hatte.
Später.
Später würde er sich die Zeit nehmen, die Fähigkeiten des Knaben zu bestaunen. Wenn er dazu noch die Gelegenheit hatte. Im Moment allerdings sah es so aus, als würde er in den unendlichen Weiten dieses ungastlichen Landes ein kaltes, nasses Grab finden. Er war kein Krieger. Kein Kämpfer. Er hasste das Töten.
Er blinzelte zu Syra, die bereits die Schneereifen zertrat. Es schien, als hätte sie geahnt, dass dieser Tag kommen würde, als hätten sie darauf hingearbeitet all die Jahre, als wäre dies das Ziel. Kampf.
Er war unausweichlich, und das wusste er. Er war kein Krieger, er war kein Soldat, er war kein Mörder. Jede Faser seines Körpers zitterte vor Anspannung. Er war Fischer. Taucher. Redner. Geachtetes Mitglied der Ältesten. Sein Rat war begehrt, denn sein Herz war gütig und sein Verstand groß. Er war kein Kämpfer, doch er war vorbereitet. Sie musste es kommen gesehen haben. Er würde zum Krieger werden. Jetzt.
Er trampelte die Reifen von seinen Füßen, spürte, wie Syra sich hinter ihn schob. Ihr Rücken drängte sich an seinen. Es gab nur wenig auf dieser Welt, das ihn mehr beruhigt hätte, wenngleich er das harte Klopfen ihres Herzens so deutlich vernahm wie sein eigenes.
Er packte Kurzschwert und Dolch mit einer Hand, während er mit den Zähnen den Fäustling von der anderen zerrte. Auch Syra entledigte sich ihrer Handschuhe. Unter den wollenen trug sie die ledernen mit den abgeschnittenen Fingern.
Wie bösartige Heuschrecken schwärmten die stämmigen Männer von allen Seiten heran. Morrhim, hatte der Blaukopf sie gerufen. Schweigend und mit entschlossenen Fratzen strömten sie in ihre Richtung. Er schätzte sie ab. Sie mussten einer Art Kriegerkaste angehören, trugen angelaufene Brustpanzer über Seehundfellen, eingedellte Helme mit rostigen Scharnieren. Alle Visiere waren nach oben geklappt. Der Mond war herausgekommen, tauchte das Eis in fahles Licht, sodass er stumpfe, ausdruckslose Gesichter erkannte. Sie waren kleiner als Syra und er, dafür ungleich breiter mit ihren rechteckigen Körpern.
„Entartetes Gesindel“, hörte er Syras heisere Stimme und irgendwie brach die verächtliche Bemerkung den Bann. Ein Lachen stieg aus seiner Brust, kitzelte seine Kehle. Er ließ es nicht frei, weil er wusste, dass er wie ein Verrückter klingen würde. Dennoch wirkte es wie frisches Blut in den Adern.
„Degeneriert, ja“, gab er zurück. Er musterte die weit auseinanderstehenden, hässlichen Augen, die Entenschnabelnasen, die wulstigen Lippen, die beuligen Stirnen. „Doch wir sollten sie nicht unterschätzen.“
„Noch weniger ihre Waffen.“
„Langschwerter und Schilde.“
Er steckte das Schwert zurück in den Gürtel, hob den Dolch mit der schwarzen Klinge. „Akim, zu uns!“, rief er. Barsch, im Befehlston.
Der Junge überlegte nicht. Seine wackligen Beine machten einen Schritt und schon stand er neben ihnen, den schmalen Rücken an ihre Seiten gedrückt. Den Speer hielt er vor sich gestreckt.
„Was auch passiert, du bleibst hier“, befahl Syriakin, ohne die anrückenden Morrhim aus den Augen zu lassen.
Videm rannte in den Schatten des Steinkolosses hinein, der senkrecht in den Himmel ragte wie dieses Ding, das er im Traum gesehen hatte.
Obelisk. So hatte Ylaiy es genannt.
Nein, das war es nicht. Der Felsen war nur ein Steinklotz. Er wies nichts von der zierlichen Vollendung der Säule auf, die er – Wann? Heute Morgen erst? Vorhin? – in den Schnee gezeichnet hatte.
Er ignorierte den schalen Metallgeruch, der aus dem Felsen sickerte, schenkte auch dem kalten Schatten keine Aufmerksamkeit, konzentrierte sich einzig auf den Rhythmus seiner Stiefel und die Regelmäßigkeit seines Atems.
Eins, zwei, drei – einatmen. Vier, fünf, sechs – ausatmen.
Plötzlich sah er Syriakin, Gillok und Akim. Sie drängten sich aneinander, Rücken an Rücken, eingekesselt von langsam vorrückenden, kompakten Männern in Rüstungen.
Ohne lange nachzudenken, spurtete er auf den ihm am nächsten stehenden Soldaten zu. Das Schwert fuhr in dessen Nacken, nur einen Daumenbreit unter der Kante des Helmes vorbei. Der Mann gurgelte, zappelte mit den Beinen, lag still. In einem Atemzug raffte Videm den Schild an sich, tauchte unter dem wie mit einer Axt geführten Schwertschwung eines weiteren Soldaten hindurch und schob sich in die Lücke zwischen Syriakin und Gillok.
„Hier“, hielt er Akim den Schild hin. Er war groß genug, um den Körper des Jungen vom Hals bis zu den Füßen zu bedecken.
Die Soldaten klappten die Visiere hinunter und rückten geschwinder vor, die Schwerter wie Lanzen schwenkend.
„Passt auf die Schilde auf“, warnte Syriakin. „Sie können sie als Waffe benutzen.“
Dem ersten Soldaten, der in Reichweite des Schwertes gelangte, hebelte Videm mit einem waagerecht geführten Schlag den Helm vom Kopf. Im selben Augenblick drang das Messer der Kriegerin in die wuchtige Stirn des Angreifers.
Gilloks Dolch fuhr mehrfach in die ungeschützten Teile eines Morrhim, dessen Schild Akim mit einem nervösen Speerstoß beiseitegeschoben hatte. Der Mann ächzte und wankte. Doch obwohl helles, übel riechendes Blut aus den Schnitten sickerte, hielt er sich aufrecht. Der Sumpfmann trat ihm in die Beine und den Unterleib, bis er umkippte. Akim hob den Speer, um ihn dem Verwundeten in die Brust zu rammen, als die Wunden plötzlich zu schwären begannen. Kreischend riss der Morrhim an den Wundrändern.
„Hadulanis“, erklärte Gillok mit angewidertem Gesicht.
Unterdes hämmerten Syriakins Messer auf die Angreifer ein. Mit dem Kopf war sie nicht bei der Sache. Ihre Instinkte sandten ununterbrochen warnende Botschaften. Die ersten Gegner waren gefallen wie blutige Anfänger, die verbliebenen bewegten sich mit der Behändigkeit von Holzpuppen. Mühelos wich sie Schwertstreichen aus, sprang vor niederfahrenden Schilden beiseite, parierte Stiefeltritte.
„Gillok“, rief sie über das Klirren und Schaben der Klingen und Schilde hinweg.
„Ich weiß. So kämpfen keine Soldaten.“
Die Bemerkung verursachte nagendes Unbehagen. Sie kniff die Augen zusammen, achtete auf die Bewegungen der Soldaten, von deren aufgerissenen Lippen kaum ein Laut drang. Sie studierte die Haltung der Waffen, die Sprache der Körper, den Einsatz der Schilde.
Als wären alle Schritte in die Innenseite der Helme geritzt.
„Schlagt dem nächsten den Helm herunter“, befahl sie Videm. „Genauso wie dem letzten.“
Videm legte das Schwert in die Waagerechte. Auf der Stelle warf der Gegner sich zur Seite, holte mit dem Schild aus, um ihn von unten gegen Videms Beine zu rammen. Die Kriegerin sprang auf den Schild, wirbelte in die Höhe. Mit der Stiefelspitze versetzte sie dem Morrhim einen Tritt auf das Kinn, überschlug sich in der Luft, landete in Gilloks Rücken. Der Unterkiefer des Getroffenen schob sich knackend in den Oberkiefer. Eine Reihe verdorrter Zähne klackerte gegen den Gaumen, bevor er zusammenbrach. Videms Schwert spaltete die Fratze des Mannes von einem Ohr zum anderen.
„Dasselbe noch mal“, sagte Syriakin.
„Du auch“, forderte Gillok Akim auf. „Die Sache mit dem Speer. Ziel auf den Schild wie vorhin.“
Akim nickte mit trockenem Mund und dachte an Gradh.
Du läufst weg und bringst dich in Sicherheit.
Im Stillen bat er seinen einstigen Lehrmeister um Vergebung, dann fixierte er den Schild und holte aus. Der Morrhim beobachtete die Bewegung. Unerwartet ließ er Schild und Schwert fallen, ergriff die Speerspitze mit beiden Händen. Zu seinem Entsetzen fühlte Akim sich aus der schützenden Mitte herausgerissen und in die Luft geschleudert. Ein Schmerzensschrei entfuhr ihm, als er auf den Rand seines Schildes prallte und mit diesem meterweit über Schnee und Gras schlitterte. Sofort setzten ihm sein Gegner und ein weiterer Morrhim nach.
Gillok stieß einen Schreckensschrei aus und rannte hinterher, den schwarzen Dolch schwingend.
Videm holte erneut aus. Diesmal tauchte sein Gegner nicht zur Seite ab, sondern hob das Langschwert und ließ es klingend gegen seines fallen. Die Wucht des Schlages federte Videms Waffe in die Höhe. Als er instinktiv nach ihr fasste, hätte er um ein Haar seine Unterarme eingebüßt, weil ein zweiter Morrhim sein Schwert durch die Luft schwang.
Zum Glück fiel die Sumpfjägerin ihm in den Arm, rang mit ihm um das Schwert. „Sie mögen dumm sein, aber sie lernen“, knirschte sie. „Schnell. Wir können dieselbe Attacke nicht zweimal ausführen.“
Im nächsten Moment griff der andere Soldat sie an.
Geistesgegenwärtig schälte sie sich aus ihrem Mantel, warf ihn über die Arme des Gegners und hieb ihm mit beiden Ellenbogen auf die Nase. Hellrotes Blut spritzte ihr entgegen. Es hielt sie nicht davon ab, ihren Kopf gegen die Stirn des Morrhim zu rammen. Schädel aus Eisen hatte Gillok gesagt. Er hatte nicht übertrieben. Wie eine Säule kippte der Soldat nach hinten.
Der zweite stellte den Schild senkrecht vor sich auf. Er benötigte nur einen einzigen, gut platzierten Stoß. Wie eine Keule traf der Schildrand auf die Schulterblätter der Kriegerin und die Unterseite ihrer Arme.
Zu schnell für Videm, der einen stummen Fluch ausstieß und sein Schwert seitlich in den Hals des Angreifers bohrte. Der Mann erschauerte in Todeskrämpfen. Dennoch konnte Videm nicht verhindern, dass mit dem Soldaten auch Syriakin zu Boden ging.
Die schweren Stiefel kamen im Gleichtakt auf ihn zu. Er hörte den singenden Klang, den die eisernen Sohlen bei jedem Schritt von sich gaben. Dahinter vernahm er Gilloks leichteren Laufschritt. Der Sumpfmann schloss zu den Morrhim auf.
Akim schmeckte Blut auf der Unterlippe, fühlte einen Streifen Taubheit oberhalb des Magens. Er rappelte sich auf, schaute sich nach den Kriegern um. Beide waren nur noch wenige Schritte entfernt. Ihre Bewegungen wirkten ungelenk, eingerostet, wie die Scharniere an ihren Helmen, doch er hatte soeben erlebt, wie schnell ihre Gelenke sich verflüssigen konnten. Seine Augen schwenkten nach rechts, sahen die Kriegerin, die sich über den Boden wälzte. Sie hatten sie außer Gefecht gesetzt. Er war leichte Beute.
Gillok hastete heran, lauthals brüllend, mit den Armen rudernd. Das Ablenkungsmanöver brachte die Morrhim nicht einmal dazu, den Hals zu drehen. Unbeirrt näherten sie sich.
Verzweifelt begann Akim, wie ein Sandkrebs über den Schnee zu krabbeln, seitwärts, auf allen vieren, mal in die eine, dann in die andere Richtung.
Wie gebannt folgten sie seinen Haken und Wendungen, doch nicht für lange. Nach kurzer Zeit schienen sie seinen Weg vorauszusehen. Egal, wie schnell er die Richtung änderte, vortäuschte, auswich, sich zurückzog, im Kreis krabbelte; er konnte die stummen Verfolger nicht abschütteln. Wann immer er den Kopf wandte, standen sie schon da, musterten ihn aus Froschaugen. Akims Angst steigerte sich zur Panik, als sie sich aufteilten. Nun versperrten sie ihm nicht nur den nächsten, sondern gleichzeitig den übernächsten Weg.
Sie lesen in meinem Geist!
Er begriff, dass er sie nur loswerden würde, wenn es ihm gelang, seine Gedanken abzuschirmen, doch Furcht toste hinter seiner Stirn, hebelte den Vorsatz aus. Schließlich blieb er einfach im Schnee hocken.
Der Schmerz begann gleich unterhalb ihrer Schultern, pflanzte sich bis in die Beine fort. Ein lärmender Schmerz, der in ihr schrie, ihr den Atem für einen eigenen Schrei raubte. Und so konnte sie vorläufig nichts weiter tun, als sich die Innenseite ihrer Wangen blutig zu beißen, um den stechenden Schmerz zu erzeugen, der ihren Kopf klärte, das Brüllen in ihrem Rücken bezwang.
Sie lag auf dem Bauch, fühlte, wie Kälte und Feuchtigkeit ihren Leib tränkten. Die schützende Hülle ihres Mantels fehlte. Sie begann zu frieren, drehte sich auf den Rücken, zuckte zusammen, als die Kälte auf die wunden Abdrücke des Schildrands traf.
„Seid Ihr verletzt?“
Durch den Vorhang aus geschmolzenem Schnee blinzelte sie Videm an, der ihr die Hand hinhielt. „Nein“, sagte sie, zu ihrer Erleichterung mit einer Stimme, die wesentlich forscher klang, als sie sich fühlte.
Sie ergriff die dargebotene Hand, zog sich auf die Füße, sah sich nach ihrem Mantel und ihren Messern um, ließ vorsichtig die Schultern kreisen. Sie protestierten mit einer erneuten Schmerzwelle, aber sie hatte den Eindruck, dass diese bereits weniger laut durch ihren Körper schwappte. Es würde heilen. Kein Grund, sich weiter damit aufzuhalten.
Dann schaute sie hinüber zu den anderen. Rannte los.
Die Schmerzen hatte sie vergessen.
Kaa möge ihr helfen!
Akim saß im Schnee, die Beine an den Leib gezogen, die Arme hinter sich auf den Boden gestützt. Seine Augen waren auf die beiden Männer geheftet, die ihn wie Wölfe auf Beutezug einkreisten, aber er rührte sich nicht. Aller Lebensgeist schien aus ihm herausgewichen.
Gillok näherte sich von der einen Seite, die Waffen schwingend, laute Rufe ausstoßend. Aus der anderen Richtung sprintete Syriakin auf die Soldaten zu, fieberhaft nach ihren Geschossen wühlend. Doch ihre Taschen waren vereist, ihre Finger klamm.
Adiv reagierte, ohne nachzudenken. Sie packte ihr Schwert mit beiden Händen, hob es hinter ihren Kopf und schleuderte es. Der Schwung warf sie nach vorn, katapultierte die Waffe in die Luft. Mit weit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem verfolgte sie, wie das Schwert auf den Soldaten zuraste. Es bohrte sich durch dessen Oberarm in die Brust. Unmittelbar vor Akims angezogenen Beinen ließ er seine Klinge fallen. Durch die Wucht des Schwertes aus der Bahn gebracht, torkelte er an Akim vorbei in die schwarze Schneide Gilloks, die ihn endgültig ausschaltete.
Den letzten noch stehenden Soldaten rannte die Kriegerin einfach um. Sekunden später stob Videm heran, hieb in den bereits zuckenden Körper. Offenbar hatte Syriakin ihre Blasrohrgeschosse gefunden, denn aus dem Hals des Morrhim ragten zwei Stacheln. Sie entfernte sie ungeachtet des gurgelnden Zischens, mit dem der Mann sein Leben aushauchte, und verstaute sie in ihrer Lederkluft.
Reste von Bäreneintopf spritzten auf den gefrorenen Boden. Schniefend hockte Akim im Gras, über die Maßen beschämt, das linke Bein besudelt von Erbrochenem, Tränen in den Wimpern.
Gillok und Jonoy knieten neben ihm nieder. Jonoy streichelte den gebeugten Rücken des Jungen, aus dessen Mund wimmernde Töne kamen. Gillok wickelte ihm die Tücher vom Hals und säuberte sie im Schnee. Dann strich er ihm behutsam Schweiß und Speichelreste von Nase und Kinn. Akim ließ es geschehen, obwohl quälende Scham ihn dazu brachte, die Augen zu bedecken, und er sich nur langsam beruhigte.
Währenddessen ging Syriakin umher, sammelte ihren Mantel und ihre Waffen ein. Nebenbei stieß sie die Morrhim mit dem Stiefel an, um sich von deren Ableben zu überzeugen. Den letzten noch lebenden Gegner schaltete sie so gleichgültig aus, als spieße sie einen Braten zum Abendessen auf.
Adiv hatte die Handschuhe ausgezogen und beobachtete die ältere Frau nachdenklich. Sodbrennen flammte in ihr, ließ sie aufstoßen.
Die Kriegerin spürte die bohrenden Blicke im Nacken, richtete sich auf. Dann kam sie zu der Diebestochter hinüber und hielt ihr das Schwert hin.
„Ich will es nicht haben.“
„Es ist sauber.“
Adiv blickte auf ihre Hände. „Behalte es. Für deine Sammlung.“
Syriakins Augen wanderten über Adivs zusammengesunkene Gestalt. „Verachtung schickt sich schlecht, wenn man einen Wurf wie den deinen gelandet hat.“
„Ich verachte dich nicht.“
„Natürlich tust du das. Sie strömt aus jeder Pore deines Körpers.“
„Fein. Vielleicht verachte ich auch mich“, rieb sich Adiv die Schläfen.
„Wofür? Du hast sein Leben gerettet.“ Syriakins Kopf wies auf Akim.
„Trotzdem ist ein Mensch tot.“
„Das eine geht manchmal nicht ohne das andere.“
„Oh, gut. Sprüche“, stieß die Diebestochter hervor. „Aus deinem mit Weisheiten gefüllten Schatzkästchen?“
Man musste der Sumpfjägerin lassen, dass sie viel einstecken konnte, Schläge und Hiebe genauso wie verbale Gemeinheiten. Nicht einmal ihr Wangenmuskel zuckte. „Keine Weisheit“, sagte sie ruhig, „sondern eine Tatsache. Akzeptiere sie.“
„Und wenn ich das nicht will?“
„Geschieht es trotzdem.“
Einen Augenblick sprühte Syriakin der blanke Hass entgegen. Fast erwartete sie, dass die jüngere Frau sich auf sie stürzte. Doch Adiv wandte sich ab. Ihr Hass fiel zu einem Häufchen Niedergeschlagenheit zusammen.
Die Kriegerin kämpfte kurz mit sich selbst, dann trat sie näher an Adiv heran. „Ich muss dir nicht erzählen, dass das Leben ein dorniger Pfad ist. Schlimme Dinge passieren. Man muss sich wehren.“
Adiv sah die Sumpffrau finster an. „Ich will nicht so sein, verstehst du? Niemals will ich einen Menschen so kaltblütig töten wie du vor wenigen Augenblicken.“
„Unser Gegner kennt auch keine Gnade. Kämpfe oder du verlierst. Wir verlieren.“
„Das bin nicht ich.“
„Der Blaukopf, der im Erdboden verschwand, handelt nicht nach deinen ehrbaren Maßstäben. Wir müssen ihn töten oder er tötet uns. Die Kinder. So einfach ist das!“
„So einfach ist das“, wiederholte Adiv mit tauben Lippen. Sie rang sich ein verzerrtes Lächeln ab. „Wie hältst du das aus?“
Sie hörte den Wind über die Ebene streifen, während die Kriegerin sich verhärtete.
„Runter!“, schrie Adiv plötzlich, schubste Syriakin zur Seite und zog gerade noch rechtzeitig die Arme über den Kopf, sodass die Krallen ihn um Haaresbreite verfehlten.
Ein starker Windzug griff nach ihrer Kleidung, blähte ihren Mantel auf. Schnell schob sie die Kapuze über den Schopf. Dann setzte ein hohes Kreischen ein, dass ihren Schädel beinahe zum Zerspringen brachte. Tausend Stimmen erhoben sich gleichzeitig in ihren Ohren, flüsterten und murmelten, rauschten, brummten, pfiffen, quiekten.
Beide Hände an den Kopf gepresst, so nah wie möglich am Boden, robbte Adiv zu Syriakin, deren Züge von dem infernalischen Lärm verzerrt waren. Mit stummen Gesten bedeutete die Kriegerin ihr, zu folgen. Adiv nickte und kroch hinter ihr her. Als sie das Schwert sah, das Syriakin hatte fallen lassen, griff sie nach kurzem Nachdenken zu.
Verdammt seien alle Geschöpfe Drahórsuls.
„Bur-an-gnea!“, schrie Ylaiy über das Getöse hinweg den anderen zu und versuchte, Akim vor dem Flügelschlag abzuschotten.
Der Junge blinzelte zwischen den Fingern hindurch. Die Männer lagen um ihn herum, lehnten an ihm. Die plötzliche Einsicht, dass sie alle ihn, den Jüngsten, den Kleinsten, den Schwächsten, schützen wollten, erfüllte ihn mit neuer Scham. Er spuckte den letzten Rest wässerige Galle aus, ergriff den Schild und seinen Speer und stemmte sich trotzig empor.
„Siehst du ihn?“, brüllte Syriakin der Diebestochter zu. „Er hat beschlossen zu kämpfen.“
„Gerade noch den Schnee vollgekotzt und nun ein wackerer Recke?“, schrie Adiv zurück. „Wenn das nicht wie im Märchen ist. Vielleicht ist er der wahre Prinz.“
Der Vogel rauschte heran wie ein Spuk. Riesige Schwingen wirbelten den Schnee auf, trieben ihn in ihre Augen.
Akim hob seinen Speer dem Ungeheuer entgegen, streifte dessen Flügel. Unbeeindruckt glitt es über sie hinweg, ein Zischen ausstoßend, das sich in Zähne und Schläfen bohrte. Einem Adler auf Fischfang nicht unähnlich, hatte es die Krallen ausgefahren.
Adiv schrie auf, als die dolchartigen Fänge ihr Rückgrat entlang fuhren, und krümmte sich.
Der Bur-an-gnea erhob sich in die Lüfte, kreiste über ihnen, den nächsten Angriff vorbereitend.
Vorsichtig tastete Adiv die Stellen an ihrem Rücken ab, die sie erreichen konnte. Ihre Kleidung war aufgerissen, aber nicht zerfetzt.
„Nur Kratzer“, bestätigte die Kriegerin ihre Vermutung. „Harmlos.“
„Hoffentlich harmloser als der Pfeil, der Baraten das Leben kostete.“
Syriakin schwieg zu dieser Bemerkung, robbte zu den Männern, die Akim zurück in ihre Mitte gerissen hatten.
„Irgendwelche Vorschläge?“, murmelte Gillok ihr zu.
„Es abfangen und töten.“
„Wie?“
„Du nimmst den rechten Fang, ich den linken.“
„Das soll reichen? Hast du nicht erzählt, es hätte zwei Kinder in den Krallen gehabt?“
„Jodanam hat das erzählt“, korrigierte sie. „Und wir sind schwerer als Kinder.“
Gillok dachte kurz nach. „Videm, Jonoy und der Prinz bleiben am Boden. Akim kommt zu mir, Adiv zu dir. Wir ziehen es hinunter.“
Syriakin nickte.
„Seid ihr verrückt?“, brüllte Adiv, die zu den anderen aufgeschlossen hatte.
Ylaiys Hand legte sich auf ihre Schulter. Seine Augen versprühten Furcht. „Sie wissen, was sie tun. Oder hast du eine bessere Idee?“
Adivs Erwiderung löste sich in Panik auf, als das Ungeheuer sich wie ein Tuch auf sie senkte. Sie duckte sich, dem hackenden Schnabel ausweichend. Das schrille Fauchen drang in ihren Kopf wie ein Beil.
Die Kriegerin fühlte ein Kribbeln in ihren Ohren, ein Prickeln an ihren Kiefergelenken. Blutete sie? Ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn der Vogel bauschte sich über ihr. Sie schwang sich in die Höhe, bekam das Bein zu fassen. Neben ihr schraubte sich Gillok in die Luft und umschlang den anderen Fang. Das Untier trudelte, doch mit einem Flügelschlag, der wie ein Peitschenknall klang, gelangte es in seine Flugbahn zurück.
Gilloks lange Arme reichten kaum aus, das Bein des Bur-an-gnea zu umschließen. Er zog sich ein Stück höher hinauf, schaffte es, seine Finger ineinander zu verhaken. Dann schielte er zu Syra, deren Finger sich in die Beinschuppen krallten, um nicht den Halt zu verlieren.
„Los!“, brüllte Gillok Akim zu.
Über den Wind und das Fauchen hinweg hörte er Syras Ächzen, als Adiv sich an ihre Stiefel heftete, sich an sie klammerte wie eine Ertrinkende. Akim dagegen war ein Leichtgewicht.
Er beobachtete, wie Syra sich verbissen festkrallte. Gleich darauf stieß sie einen Fluch aus. Ihr linker Arm zuckte, ihr Gesicht verzog sich. Für eine Sekunde fürchtete er, sie würde loslassen, doch sie biss sich auf die Lippen und rammte ihre Finger tiefer in die Schuppen. Er vermutete, dass einer ihrer Nägel aus dem Nagelbett gebrochen war, hoffte inständig, dass ihr nicht die Kraft ausging.
Zu viert brachten sie das Untier tatsächlich zum Rotieren. Zwar schwang es die Flügel erneut und flatterte heftig, aber der erhoffte Auftrieb blieb aus.
Und so ließ es sich fallen.
Beim Aufprall knackten Gilloks Kiefer. Seine Zähne gruben sich in seine Zunge. In seinem Kopf klirrte es und es fühlte sich an, als würden seine Rückenwirbel ineinander verschoben. Glücklicherweise hatte Akim rechtzeitig losgelassen, sodass seine Beine sich nicht in die Eingeweide des Jungen bohrten. Syra hingegen musste Adiv geradezu von sich strampeln, bevor sie selbst losließ und abrollte.
Akim war ohne Verstauchungen davon gekommen, stand schnell wieder auf den Beinen, wich dem Schnabel aus, der nach seinem Kopf hackte. Gillok kam schwerfälliger hoch, gesellte sich jedoch sofort an die Seite Syriakins, die bereits nach Schwachstellen des Biestes suchte. Die waren kaum zu finden, denn der Bur-an-gnea hatte die Flügel um seinen Rumpf gefaltet wie eine zweite Haut.
Die Beschaffenheit der Flügel erinnerte Gillok an das Harz des Gapot-Baumes, das gekocht und zu einer zähen Masse erkaltet, zum Abdichten der Boote benutzt wurde. Als Kinder hatten Syra und er aus den Resten Kugeln geformt, die in die Höhe schnellten, wenn man sie auf harten Boden schleuderte.
Der Schnabel des Untieres war gebogen, länger als ein Unterarm und doppelt so breit. Er lief vorn zu einer dornendünnen Spitze mit scharfen Rändern zu. Seltsam war, dass nur der obere Teil wie ein Schnabel aussah, hornig und von verwittertem Braun, mit kleinen Atemlöchern. Der untere Teil war stark verkürzt und zurückgezogen, erinnerte auf ekelerregende Weise an die vorgestülpte Unterlippe eines Menschen. Gillok konnte flache, abgemahlene Zähne erkennen und die Überreste von etwas, das er für eine abgestorbene Zunge hielt. Ein Schnabel zum Herausreißen und Zustechen.
Und genau das war es, was das Wesen tat, in atemberaubender Geschwindigkeit und scheinbar willkürlich. Im Augenblick schien es Akim im Visier zu haben, der wieselflink auswich und die Angriffe mit dem Speer parierte. Videm und Ylaiy droschen mit ihren Schwertern auf den Leib der Bestie ein. Jonoys Stab wirbelte auf die Beine. Das schrille Fauchen ging in ein lang gezogenes Kreischen über und der Bur-an-gnea fing an, mit den krallenbewehrten Fängen nach ihnen zu treten. Es wirkte ungelenk, wie er von einem Bein auf das andere hüpfte, doch Gillok ließ sich nicht täuschen. Ein Treffer bedeutete fatale Wunden.
Als sein Blick zufällig auf Jonoy fiel, hatte er eine Eingebung. In weitem Bogen lief er zu ihm, zerrte ihn aus dem Radius des Schnabels, griff nach dem Seil, das um die rundliche Taille des Schmiedes geschlungen war und begann es abzuwickeln.
Jonoy schien anfangs verwirrt, begriff jedoch schnell. Er wickelte sich selbst aus dem Seil, hastete zu Syriakin und drückte ihr ein Ende in die Hand. Die Kriegerin verstand sofort, winkte Adiv, ihr zu folgen, und rannte geduckt um das tobende Biest.
Gillok gab Jonoy ein Zeichen zu warten. „Jetzt!“, rief er in dem Moment, da die Frauen mit ihrem Seilstück ihres kreuzten. Sie sprinteten ebenfalls los, um Ylaiy, Akim und Videm herum, die weiterhin auf das Vogeltier einhieben.
„Zurück!“, schrie Gillok, sobald das Tau um die Beine des Untiers gespannt war. Die jungen Männer stoben in alle Richtungen auseinander. Die beiden Frauen, Jonoy und er selbst sprangen an den Bur-an-gnea heran und zogen das Seil zusammen, so schnell sie konnten.
Das Tier kämpfte verbissen um sein Gleichgewicht. Es hüpfte, hackte, drehte sich fauchend im Kreis, flatterte mit den federlosen Flügeln.
Zu viert lehnten sie sich in das Seil. Adiv und Syriakin stemmten sich mit den Fersen in den Untergrund, ließen sich so weit nach hinten fallen, dass ihre Schultern den Boden berührten.
Adiv brach der Schweiß aus. Das Tau biss in ihre Handflächen. Wie Palastvorhänge schleiften die Flügel über den Boden, jagten hartkörnigen Schnee in ihre Gesichter. Sie schrie auf, als das Seil in ihre Handflächen schnitt und rohes Fleisch frei legte. Der Schmerz ließ sie zitternd die Luft einziehen. Blut sammelte sich in ihren Handflächen, machte das Tau rutschig. „Syra“, keuchte sie, ohne sich umzudrehen. „Ich kann es nicht mehr halten.“
„Du musst“, knirschte die Kriegerin und lehnte sich noch stärker zurück. „Akim“, brüllte sie gegen das entsetzlich hohe Singen und Kreischen an.
Der Junge warf den Speer beiseite, rutschte vor Adiv, um sie zu entlasten.
Ylaiy und Videm sprangen wieder auf das Untier zu. Ihre Klingen rissen klaffende Wunden in den Unterleib, schwächten es, brachten es jedoch nicht zu Fall. Das Wesen ignorierte die Hiebe, hackte nach dem Strang.
„Das bringt nichts“, schnaufte Ylaiy, fiel Videm in den Arm und zog ihn mit sich zu den anderen.
Die messerscharfen Krallen hatten das Seil beinahe zerschnitten, als die beiden sich hinein hängten.
Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, es eng genug zusammenzuziehen, doch es dauerte weitere endlose Minuten, bis sie den Bur-an-gnea schließlich von den Füßen rissen. Einmal am Boden, den Hakenschnabel im Schnee, die Flügel unter dem eigenen Körper vergraben, glich das Monstrum aus Akims Albträumen einer Fliege in Palmsirup.
Zitternd erhob sich Akim, angelte nach dem Speer und stieß ihn in den Nacken des Räubers. Der Dämon aus Chadas Geschichten schlug noch zweimal mit den Flügeln. Ein letztes Zischen drang aus seiner Kehle, versickerte.
Videm trat neben Akim und hieb weiter zu, bis er sicher war, dass das Wesen nie mehr seinen hässlichen Kopf hob. Danach plumpste er zurück in den Schnee. Akim blieb stehen, schwer auf den Speer gestützt.
Jonoy rappelte sich auf, schleppte sich zu Adiv, die mit weißem Gesicht ihre zerschnittenen Handflächen betrachtete.
„Steck sie in den Schnee.“
Adiv gehorchte. Sie hinterließ blutige Abdrücke, als sie die Hände wieder heraushob und dem Schmied entgegenstreckte, der ihre Halstücher benutzte, um die Wunden zu verbinden.
Gillok betastete vorsichtig seine zerbissene Zunge, stellte erleichtert fest, dass nichts von ihr fehlte.
Syriakin saß auf dem Boden wie ein Kind, die Beine von sich gestreckt, die Hände zwischen ihnen, das Seil auf ihrem Schenkel. Gillok ging zu ihr, beugte sich hinunter und sah durch den Vorhang schwarzen Haares in ihr Gesicht. Es war unversehrt, trug nur die Spuren überstandenen Schreckens. Er zog sie hoch, als wäre sie federleicht. Ohne ein Wort entfernte er die Splitter des abgerissenen Nagels aus ihrem Finger, bevor er ihn verband. Sie stand die qualvolle Prozedur mit gesenkten Wimpern und mahlenden Kiefern durch. Danach machte sie sich unverzüglich daran, das Seil einzurollen und die Waffen einzusammeln.
Syriakin schritt am Rand des Steinkreises auf und ab. Mittlerweile war die Dunkelheit so schwarz, dass der Felsen nicht mehr als ein Umriss war. Wenn man nicht in seine Richtung sah, konnte man seine Existenz fast vergessen.
Das Summen im Rhythmus eines schnell schlagenden Herzens und die Kälte, die er ausstrahlte, konnte sie nicht vergessen. Ebenso wenig die lähmenden Gedanken, die die Steine ihr sendeten. Wann hatten sie diesen Ort verlassen? Gestern? Vorgestern? Sie erinnerte sich nicht und es war unwichtig; dennoch brachte es ihren Geist zum Glimmen.
Sie hatte darauf gedrungen, weiter zu gehen, dem blauköpfigen Mann und seinen Helfern nach. Gillok hatte sich vor sie gestellt, ihren Blick mit seinem Körper eingefangen. Der Schmied hatte auf sie eingeredet, dass die Kinder Ruhe bräuchten. Einen Augenblick hatte sie gestutzt, bis sie begriffen hatte, dass er von Akim und Adiv sprach. Von Videm vielleicht auch.
Sie wollte weg, so schnell wie möglich, so wie sie geflüchtet war an jenem Morgen – Gestern? Vorgestern? – nach der durchwachten Nacht auf dem Hügel. Die Steine. Sie redeten. Sendeten Gedanken aus. Empfindungen.
Sie riss sich zusammen. Beschwor all ihre Mechanismen herauf. Rückzug in die eigene Stärke. Konzentration auf das, was getan werden konnte. Getan werden musste. Ausschalten äußerer Eindrücke. Entschwinden aus der Wirklichkeit. Stehen bleiben. Luft holen. Die Schmerzen aufspüren. Einen nach dem anderen. Den Körper aushorchen, sich damit beruhigen. Die Schmerzen aus dem Geist tilgen.
Doch die Gedanken krochen heran. Sie schoben die Mauern beiseite, als wären sie aus lichtem Buschwerk. Krabbelten unter ihre Haut wie die unsichtbaren Parasiten ihrer Heimat. Verwandelten den Kern in ihrem Inneren in Schlamm. Deckten die Geheimnisse auf. Die schlimmen Wunden. Die, die schwärten, die sich nicht schlossen, niemals, die keinen Schorf zurückließen, sondern nur rohes Fleisch.
Ätzende Magensäure stand in ihrem Hals. Sie überlegte, ob sie in den Schnee spucken sollte wie Akim vorhin. Doch da sie die Blicke der anderen auf sich spürte, würgte sie alles hinunter.
Gillok sah sie im Dunkel stehen wie eine Statue. Gerade noch war sie herumgelaufen, eingehüllt in Ärger und Ungeduld. Er wusste, dass sie weiter wollte, dass es sie drängte, den Pfad zu suchen, den es hier irgendwo geben musste.
Sie hatte ihn angesehen mit diesem Blick, der einst, vor vielen Jahren, nur wild gewesen war. Unbändig und störrisch, aber nicht hart. Wann war diese Härte in sie gelangt? Hatte sie ausgehöhlt, alles Warme aus ihr verdrängt? Wann hatte sie den Weg des einsamen Kampfes gewählt? Wann war sie so spröde geworden, dass Menschen sich abwandten? Ihr feindselig begegneten?
Sie hatte ihn angesehen und die Härte hatte in ihren Augen genistet. Er hatte sie berühren wollen, doch sie hatte sich wortlos abgewandt.
Jetzt stand sie abseits. In tiefes Nachdenken versunken. Für die anderen sah sie vermutlich aus wie immer. Gefasst. Beherrscht, mit einem Anflug von Ärger, weil sie gehen wollte. Gillok kannte sie besser, sah die Zeichen, von denen sie glaubte, dass niemand sie wahrnahm. Die Hände, die an dem verletzten Finger spielten, an dem Verband rissen, auf die wunde Kuppe drückten, sich schließlich auf ihren Magen legten. Etwas beschäftigte sie. Mehr, als ihr lieb war. Sie sah aus, als wäre sie tatsächlich verstört.
„Es sind die Steine“, flüsterte der Junge neben ihm.
„Steine?“, echote er.
„Die aus dem Kreis. Dem Landeplatz. Sie verströmen Kraft, aber keine gute, sondern eine schwächende, zerstörende. Eine Kraft, die in deinen Kopf eindringt. Deine Gedanken vergiftet.“
Gillok erinnerte sich an die Nacht, in der er oben im Schnee gehockt hatte, an die Entschlussschwere, das Grübeln, die Furcht.
„Spürst du sie auch?“
„Oh ja“, hauchte Akim und Gillok fiel ein, dass er nicht nach einer Rast gefragt hatte.
„Dann sollten wir vielleicht doch weiter gehen.“
Gillok überzeugte durch freundliche Worte, ein warmes Lächeln und weiche Gesten. Mühelos überredete er die anderen zum Aufbruch. Vom Rande des Steinkreises aus sah Syriakin düster dabei zu.
„Die Karte zeigt deutlich einen Pfad, der nach O’shu’o-gh führt“, beharrte Ylaiy.
„Vadrassallan“, nickte Jonoy.
„Wir waren hier schon einmal“, gab Akim zu bedenken. „Haben hier gelagert, den Kreis beobachtet, nach Fährten gesucht. Ohne jede Spur.“
„Er muss da sein.“ Ylaiy hieb mit beiden Fäusten in den Schnee. „Ihr habt selbst gesagt, dass der Mann ihn gegangen ist.“
„Er verschwand einfach“, erwiderte Gillok. „Mit seinen Begleitern.“
„Woher kamen die Krieger? Die Morrhim?“
Gillok fing Syriakins Blick ein, winkte sie stumm mit den Augen heran. Sie kam der Bitte nach, langsam und unwillig.
Akim schüttelte auf Ylaiys Frage hin den Kopf und sah die Sumpfleute ratlos an. „Für mich erschienen sie aus dem Nichts.“
„Sie schälten sich aus dem Schnee“, erläuterte Gillok. „Als stünde dort vorn eine unsichtbare Schneewand, durch die sie schritten.“
„Und der blaue Mann war der Anführer?“, fragte Adiv.
„Er war der Herr der Insel“, gab die Kriegerin dumpf zurück. Ihre Kapuze hing so tief in die Stirn, dass ihre Stimme klang, als käme sie aus einer Höhle. „Kein Zweifel.“
„Hatte er wirklich blaue Haut?“, erkundigte sich Videm.
„Blau wie das Meer im Herbst. Er trug einen ärmellosen Mantel. War barhäuptig. Man konnte die Blutbahnen und Muskeln unter der Haut sehen. Die Knochen und Sehnen.“
„Aber nicht deutlich“, fiel Gillok ihr ins Wort. „Die Haut war matt. Wächsern. Er wirkte blutleer und war so dünn, dass sein Kopf aussah wie ein Totenschädel. Die Haut schien über den Knochen zu spannen.“
„Keine Haare. Weder auf dem Kopf, noch an Kinn und Hals. Keine Brauen oder Wimpern“, ergänzte Akim.
„Klingt nicht gerade nach dem idealen Bräutigam“, schauderte Adiv.
„Es sei denn, du hast eine Vorliebe für skelettartige, blauhäutige, haarlose, blutarme Männer“, entgegnete Ylaiy ohne Humor.
„Und große“, setzte die Kriegerin nach. „Er überragt Euch um mindestens zwei Handbreit. Mehr, wenn man die Entfernung bedenkt. Sechs schwarzgewandete Frauen begleiteten ihn, alle Ebenbilder der jeweils anderen. Gewiss die Magierinnen, die Akim in der Wüste vom Felsen stießen. Dazu vier Männer in farbenprächtigen Roben.“
„Die Zeremonien auf dem Felsen abhalten“, schlussfolgerte Ylaiy.
„Davon können wir wohl ausgehen.“
„Zauberer. Magier. Haben sie die Morrhim herbeigezaubert?“
„Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir Fragen wie diese überhaupt stellen“, murmelte Jonoy, sich auf die andere Seite rekelnd. Es brachte keine Erleichterung, weil alle seine Körperteile schmerzten und knackten, am schlimmsten die Beine, die seit dem langen Lauf bestialisch zwickten.
„Er muss da sein“, sprach Ylaiy weiter. „Menschen verschwinden nicht einfach vom Erdboden.“
Die Kriegerin wandte sich dem Steinkreis zu, musterte die Grasdecke rund um ihn. Als sie sich wieder umdrehte und energisch die Kapuze zurückschlug, stand in ihrem Gesicht brennende Ungeduld.
„Gehen wir“, seufzte Adiv und rappelte sich auf. Sie trat neben Syriakin, ohne diese eines Blickes zu würdigen. Das Schwert steckte in ihrem Gürtel.
Akim hörte es zuerst, blieb wie angewurzelt stehen.
Videm und Ylaiy mit Adiv in ihrer Mitte verlangsamten sofort ihre Schritte. Jonoy und Gillok schlossen zögernd auf. Syriakin, die vorausgelaufen war, wendete sich verdrossen um, kam zurück.
„Nein“, schrie Akim ihr abrupt entgegen. „Nicht hierher! Weg! Lauft weg!“
Dann tat sich der Boden vor ihnen auf.
Zunächst erschien nur ein haardünner Riss. Eine Fuge, kaum der Rede wert. Doch mit atemberaubender Geschwindigkeit und laut knirschend sprengte die Eisdecke auf großer Länge auseinander. Gewaltige Schollen brachen ab. Das gefräßige Maul des Risses zermalmte sie zu Wolken aus Eiskristallen.
Binnen Sekunden formte die Fuge sich zu einem hüftbreiten Spalt. Die Kriegerin schnellte zur Seite. Adiv und Ylaiy sprangen ihr ohne nachzudenken hinterher. Vor ihren Augen verbreiterte der Spalt sich zu einer Schlucht, deren Boden nichts weiter war als klaffende Schwärze.
Videm schwindelte, als sein Blick von ihr verschluckt wurde. An den Rändern des Schlundes wölbte sich Eis, an manchen Stellen stumpf und hartkantig, an anderen durchsichtig und rundgeschliffen, im Mondlicht leuchtend wie gefrorene Wasserfälle.
Wenn die Sonne aufgeht, wird es aussehen wie ein Tempel des Lichts.
Dann saugte der Spalt ihn ein, verschlang zuerst seine Beine, danach seinen gesamten Körper. Für einen Schrei war es zu spät, obwohl er den Mund weit geöffnet hatte. Sein Kragen zerriss unter Akims und Gilloks Fingern. Alles, was er selbst noch zu fassen bekam, war ein Schild, der durch die strampelnden Füße Jonoys zu ihm geschlittert kam.
Am Ende fiel er.
Die Gefährten starrten entsetzt in die Schwärze der Erde.
„Vadrassallan“, schrie Jonoy gegen brechende Schollen und splitterndes Eis an. „Eine Gletscherspalte! Das …“
Die Schwerkraft zerschnitt den Satz. Wie Videm verschwand er in einem Wirbel aus Eis, Schnee, Gesteinspulver und uralten Staubschichten.
Hinter ihm brach Syriakin durch den Boden. Gleichzeitig riss es Adiv die Beine weg. Sie kippte nach hinten, raste in mörderischem Tempo abwärts.
Gillok fiel und fiel und merkte, wie seine Innereien sich zusammenzogen und Richtung Speiseröhre wanderten, wo sie wie in einem Flaschenhals stecken blieben. Ylaiy fühlte, wie die Erdanziehung an den Fußsohlen riss, Haare sich senkrecht aufstellten. Akim wollte die Augen schließen, doch seine Lider kämpften umsonst gegen den Luftzug. So war er gezwungen, Erdalter um Erdalter an sich vorbei rauschen zu sehen.
Der Schild war mehr als kindsgroß, doppelt geprägt, an den Rändern verstärkt. Er rammte gegen steil abfallende Wände, schabte Stücke aus dem Eis, brach Zapfen ab, geriet an Vorsprüngen ins Taumeln. Er glitt um Zacken und Kanten herum, rutschte gefrorene Terrassen hinunter. Er polterte krachend, knirschend, kreischend über unregelmäßige Stufen. Schließlich blieb er mit einem heftigen Ruck über einer sich nach unten verjüngenden Spalte hängen. Unter ihm baumelte Videm, einen Arm bis zum Ellenbogen in der Schlaufe an der Rückseite, unter den Füßen nichts als gähnende Schwärze, durchzogen von einem roten Band.
Mit galoppierendem Herzen federte Videm an dem eisernen Schild, der eingeschnürte Arm wie Feuer glühend. Er lugte nach unten, wünschte sich, er hätte es nicht getan, hob den freien Arm, tastete an der Unterseite des Schildes entlang. Der Schild war nach außen gewölbt. Ein stumpfer Stachel ragte aus der Mitte. Die Innenseite verstärkten Treibholzkeile; Ballen polsterten sie. Videms Finger wanderten über Streben und Vertiefungen, suchten nach Rillen und Dellen, klammerten sich in einen engen Streifen zwischen Schildrand und Gletscherspalte.
Seine Gefährten stürzten den Spalt hinunter, wären bis in den Schlund der Erde gefallen, hätten sie weiter auseinander gestanden. Doch Jonoy war neben Videm durch den Boden gebrochen, prallte gegen dieselben Wände, nahm der Geschwindigkeit ihre todbringende Kraft. Mit der Hüfte landete er auf dem Schild, versetzte ihn in Schwingungen, machte Videm zum menschlichen Pendel, entfachte das Feuer in dessen Schultergelenk neu.
Baratens Sohn schrie seinen Schmerz in die Dunkelheit. Der Schrei löste Schollen aus der Umarmung des Eises. Geröll holperte über die Terrassen. Videm hörte mit dem Schreien auf, fraß die Qual, indem er die Zähne im Bizeps vergrub, während die Ohnmacht an den Nervenenden lauerte.
Jonoys Hüfte war breit und weich genug, um nicht am Schildrand zu brechen, wenngleich sie sich eindellte wie Metall unter dem Klöppel eines Schmiedemeisters, und sich in Richtung des Bauches verschob.
Geistesgegenwärtig justierte der alte Mann sich sofort quer über den Schild. Arme und Beine breitete er wie eine Spinne aus, um die Fläche, die den Spalt verdeckte, zu vergrößern.
Die Kriegerin, der es gelungen war, ihre Gliedmaßen nach allen Seiten auszustrecken, um ihren Fall zu bremsen, kam über eine Art Schanze auf Jonoy zugeflogen. Sie landete mit einer Wucht auf ihm, die beiden die Luft aus den Lungen presste und Jonoys Magen in Brei verwandelte. Anschließend rollte sie aufstöhnend von ihm herunter. Die Faust des Schmieds erwischte sie am Mantelsaum, hievte sie zurück auf den Schild, bevor sie in den Tiefen Vadrassallans zerschellte.
Ihnen blieb keine Zeit, zu Atem zu kommen, da die anderen auf sie prasselten. Adivs Hinterkopf wummerte in Jonoys Rumpf, Ylaiys Knie bohrte sich in seinen Unterleib. Gillok begrub seine Stammesschwester unter sich, rammte mit der Stirn gegen ihre Schläfe, was ihren Schädel summen ließ, als steckte er in einem Schwarm Stechmücken. Zum Schluss fiel Akim auf sie alle, drückte Syriakin den eigenen Bogen in das Fleisch ihres Rückens, wo sich frische Blutergüsse zu den alten gesellten.
Stöhnend wanden die Gefährten sich aus dem Knäuel aus Armen, Beinen, Köpfen und Leibern. Jeder hatte blaue Flecken, Verrenkungen, Platzwunden und Prellungen davongetragen. Kiefer waren aufeinandergeprallt, Zähne hatten sich gelockert. Doch keiner klagte über stechende Schmerzen im Inneren, keiner spie Blut aus, keiner verlor die Besinnung, keiner hatte gebrochene Knochen. Alle, auch sie selbst, hatten Syras giftige Instrumente überlebt. Kein Schwert hatte sich aus der Scheide gelöst und jemanden aufgespießt. Akims Speer schien an seiner Hand zu kleben. Nur einige Pfeile waren aus Syriakins Köcher geschlüpft, hatten jedoch niemanden durchbohrt.
Der Schild knackte unter dem Gewicht der vielen Körper. Darunter erhoben sich Videms dünne Hilferufe.
Syriakin schob sich unter Gilloks Rumpf hervor und hangelte sich zu einem der schmalen Stege, die den Spalt zu beiden Seiten begrenzten. Auch die anderen pressten sich an die Wände.
„Was nun?“, fragte Jonoy. Die Worte hallten von den Wällen wider, pflanzten sich, tausendfach verstärkt, fort.
Der Thronfolger überlegte nur kurz. „Wir müssen den Schild vorn anheben. Heben wir an der Seite an, rutscht die andere Seite ab und er stürzt ab.“
Die Sumpffrau nickte und stellte sich breitbeinig über die Kluft, die Beine bis zur letzten Muskelfasel gespannt.
Gillok wurde blass. Die Angst um sie schlug über ihm zusammen, ließ ihn langsamer handeln als Ylaiy. Der selbst erklärte Hasenfuß und Büchernarr gab sich keine Zeit zum Nachdenken, sondern hob das rechte Bein und positionierte es auf die andere Seite. Nun stand er Syriakin gegenüber, er über dem Schild, sie davor, er weniger angespannt, da seine längeren Beine den Abstand leichter überwanden.
„Der Schild ist länglich, in der Mitte am breitesten“, erläuterte er. Adiv hatte den Eindruck, er redete, um sich zu beruhigen. „Dort liegen die Ränder am meisten auf. Je weiter wir hochheben, desto geringer wird die aufliegende Fläche. Wir müssen ganz langsam heben. Dann müsste es klappen.“
Auf sein Zeichen hin bückten Syriakin und er sich und griffen unter den Schildrand. Ihn mitsamt Videm anzuheben, überstieg jedoch ihre Kräfte.
Adiv hatte den rettenden Einfall.
Den Körper gegen die Wand gedrückt, zog sie ihren Beutel vom Rücken und fingerte die beiden Metallhaken heraus. Mit Jonoys Hilfe schob sie einen der Haken unter den Rand. Gillok löste sich aus seiner Beklemmung, ging in die Knie und befestigte den zweiten Haken. Jetzt konnten sie gemeinsam ziehen, Ylaiy und Syriakin in der Mitte, Jonoy und Gillok von der Seite aus. Zusammen hievten sie den Schild an, dessen vorderer Teil schwerfällig nach oben schwenkte, während der hintere nach unten klappte. Die aufliegenden Metallflächen schmirgelten protestierend über das Eis, doch Zoll für Zoll kam Videm zum Vorschein. Sie streckten ihm die Arme entgegen, halfen ihm, den eingezwängten Ellenbogen zu befreien und auf den Steg zu rutschen, wo er zu Boden glitt.
Gillok stellte den Schild an die Wand und tauschte einen Blick mit der Kriegerin. „Ihr tretet besser alle zur Seite“, sagte er, kniete neben Videm nieder und schälte dessen Arm aus Mantel, Jacke und Hemden.
„Was wollt Ihr tun? Die Schulter einrenken?“, erkundigte sich Jonoy.
„Und den Ellenbogen“, entgegnete der Sumpfmann. „Sonst wird er den Arm nicht gebrauchen können.“
Syriakin zog bereits ein dickes Blasrohr aus ihrer Tasche, wischte mit einem Mantelzipfel darüber, riss einen Streifen aus Videms Hemd und wickelte ihn um das Röhrchen.
Videm beobachtete sie mit verklärtem Blick. Er wehrte sich nicht, als sie ihm das Röhrchen zwischen die Lippen steckte. „Es wird wehtun“, teilte sie ihm unverblümt mit, setzte sich auf seine Beine, presste ihre Knie in den Boden.
Jonoy schob sich an sie heran, bereit, sie zurückzureißen, falls Videm sie abwarf.
Gillok tastete Schulter, Oberarm, Achsel und Brust Videms ab, strich sacht über die Schwellung. Ohne Vorwarnung packte er zu, riss und drehte, drückte gegen, justierte, quetschte Gelenkteile ineinander. Adiv wurde grau, als sie das Knacken vernahm.
Videms gedämpfte Schreie stiegen höher und höher. Seine Augen rollten, als hätten sie voneinander unabhängige Eigenleben entwickelt. Schweiß trat auf seine Stirn. Seine Nasenlöcher weiteten sich. Die Zähne bohrten sich so tief in das Röhrchen, dass sie Abdrücke hinterließen. Sein Kopf hieb auf den Boden und die Beine zuckten in Krämpfen, welche die Kriegerin mit ihren Schenkeln niederkämpfte.
Nach einiger Zeit verstummte er. Sein Körper fiel in sich zusammen. Vorsichtig entfernte die Sumpfjägerin das Röhrchen. Schmatzend riss ein blutiger Speichelfaden. Gillok befühlte die malträtierte Schulter und den Arm, bevor er ihn wieder in Stoff- und Lederschichten einpackte.
Syriakin gab Videm einen Klaps auf den Oberschenkel. „Es wird eine Weile schmerzen, doch das werdet Ihr aushalten müssen. Es sind nur noch die Nachwehen. Wir könnten verbinden, aber das würde auf Kosten Eurer Beweglichkeit gehen. Presst etwas Eis darauf, wenn Ihr mögt.“
Videm blieb stocksteif liegen. Niemand wusste, ob er ihre Worte überhaupt gehört hatte. Jonoy zählte seine Herzschläge. Beim fünften riss der Sohn des Inquisitors japsend den Mund auf. Ruckartig richtete er sich auf. Sein Atem verließ hechelnd die Lippen, während er mit wässrigen Augen auf den Spalt starrte. „Tief“, stammelte er.
„Kann man wohl sagen“, bestätigte der Schmied. „Ich glaube, es gibt keinen einzigen Knochen an mir, der kein Klagelied singt.“
„Da unten. Es ist tief, viel tiefer als das Stück nach oben.“
Alle Augen schwenkten die Eiswände hinauf, die sich zur Oberfläche hin verbreiterten. Deutlich sahen sie den sternengesprenkelten Himmel.
„Sollten wir wieder hochklettern?“, fragte Akim. „Die Wände haben Vorsprünge. Wir könnten es schaffen.“
„Nein“, entschied die Kriegerin nach stummer Zwiesprache mit sich selbst. „Der Schmied hat recht. Das hier oder das rote Band dort unten ist Vadrassallan. Wir sind auf den Gang gestoßen.“
„Oder er auf uns“, sagte Gillok, in den Spalt spähend. „Die Wälle unter uns bestehen nicht mehr nur aus Eis.“ Er hielt den anderen die Hand hin. An ihr klebte krümelige Erde, durchsetzt mit Eisstückchen und Geröllsplittern.
„Wir nähern uns dem Erdinneren“, überlegte Ylaiy laut. „Das Band könnte brennendes Gestein sein.“
„Doch ein Feuerherz?“, fragte Adiv.
„Vulkanisches Gestein. Magma, kochender Fels, Lavaströme, unterirdische Quellen.“
Adiv nickte. All das hatte Jonoy ihr und Akim bereits an dem Abend nach dem Bad im Styf-thal erläutert.
„So weit hinunter können wir nicht“, ächzte Videm mit blassem Gesicht. „Die Hitze würde uns umbringen. Noch ist es eisig, nichtsdestoweniger steigt die Temperatur mit jedem Meter an. Es wird stickig werden.“
„Von der Boragha in ein neues Gefängnis“, seufzte Adiv.
„Der eigentliche Pfad verläuft vermutlich oberhalb des Feuerbandes“, mutmaßte Gillok. „Das heißt, wenn wir annehmen, dass selbst die Zaubergeschöpfe Drahórsuls nicht über glühende Felsen laufen können. Wahrscheinlich öffnet sich die Wand unter uns nach innen.“
„Also los“, sagte seine Stammesschwester.
„Willst du einfach drauflos klettern?“, rief Adiv fassungslos.
Syriakin schwang ihre Beine bereits über den Rand.
„Verdammt noch mal!“ Adivs Stimme überschlug sich, klang sogar in ihren Ohren unangenehm schrill, zumal sie verzerrt von den Wänden widerhallte. „Bist du wahnsinnig? Du magst ja diesen Hang zu selbstmörderischen Handlungen haben, aber wir anderen, wir sind normale Menschen.“
„Ich bin nicht lebensmüde“, gab die ältere Frau zurück. Auf der Kante sitzend musterte sie Adiv mit einer Mischung aus Überraschung und Betroffenheit.
„Ach nein?! Und das hier? Bei Kaa! Hast du niemals Angst?“, hieb Adiv mit der Hand auf den Boden.
„Nur ein Narr kennt keine Furcht.“ Syriakin stemmte sich auf beide Arme, schwenkte ihren Körper herum, bis sie auf dem Bauch lag, und rutschte langsam in den Abgrund.
Adiv schob sich an den Spaltrand.
„Lass sie“, hielt Gillok sie zurück. „Sie weiß, was sie tut. Sie vertraut ihren Kräften, kann Gefahren in der Regel richtig einschätzen.“
„Wir sollten ihr wenigstens das Seil umlegen. Die Wände fallen fast senkrecht nach unten. Ihr Finger ist verletzt. Wir alle sind bis auf die Knochen erschöpft. Das ist Leichtsinn. Törichter, bodenloser Leichtsinn.“
„Sie klettert, seit sie auf der Welt ist. Außerdem haben wir kaum eine Wahl.“
Adiv blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn und schüttelte Gilloks Arm ab. Sie rutschte zurück an die Wand und versenkte ihren Kopf zwischen den Armen.
„Gill!“ Dumpf schallte ihr Ruf aus der Tiefe, schneller als erwartet und lauter als gedacht.
Der Sumpfmann schob den Kopf über den Rand. „Hast du den Gang gefunden?“
„Ich glaube schon. Fünfzehn Meter etwa bis zu mir. Der Gang ist leicht zurückgesetzt. Scheint breit und sicher.“
„Können die anderen den Abstieg bewältigen?“
„Es gibt genügend Vorsprünge. Die Wand ist nur anfangs so steil. Akim kann zusätzlich die Haken anbringen. Außerdem haben wir das Seil. Es sollte gehen.“
„Gut.“ Gilloks Gesicht verschwand.
Sekunden später schob Akim sich über die Kante. Er legte die Strecke mühelos zurück, die beiden Haken an geeigneten Stellen mit dem Schwertknauf einschlagend. Kurz danach landete er neben der Kriegerin auf einem festgetretenen Weg.
Videm wurde von den Männern am Tau heruntergelassen, das nicht ganz bis auf den Gang reichte. Auf den verbleibenden Metern kletterte Akim ihm entgegen, half ihm, Kanten und Abtritte zu finden. Das letzte Stück fiel er, wurde von Syriakin jedoch in der Aufrechten bewahrt. Mit halb geschlossenen Augen dankte er ihr und sank zu Boden.
Adiv und Ylaiy kraxelten ohne Hindernisse hinunter. Auf dem Stollen angekommen, warf Adiv der Sumpffrau einen säuerlichen Blick zu.
Jonoy kündigte sich mit Schnaufen, Keuchen und seinem Stab an, den er nach einem Warnruf fallen ließ. Der Alte erwies sich als rüstiger als erwartet, kletterte allein auch die letzten Meter, hieb Akim müde auf die Schultern.
Gillok entpuppte sich als ebenso talentierter Kletterer wie Syriakin. Er brach die Haken aus dem Felsen und brachte das fransige Seil mit.
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Sätze: | 4.020 | |
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