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Kapitel: | 6 | |
Sätze: | 2.538 | |
Wörter: | 26.873 | |
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Alles wurde rauer: das Wetter, der Wind, der Sand. Die Umgebung ging in Stein über. Selbst das Meer wandelte sich zu stumpfem Schiefergrau. Felsgruppen wuchsen immer höher, bis sie sich zu Steilklippen auftürmten, die über dem Wasser thronten wie stumme Götter.
Das Gelände im Landesinneren wurde erst wellig, dann hügelig. Irgendwann verließen sie den unwegsamen Strand, wechselten hinüber auf das gelbgrüne Gras, das spitz um ihre Beine stand und unter ihren Schritten federte.
Ständig mussten sie Wasserlachen ausweichen, die in allen Regenbogenfarben schillerten, brackig rochen, und um die Schwärme von Insekten surrten wie Gewitterwolken. Das Schlagen nach den Moskitos war lästig, ebenso das scharfe Gras, das ihnen in Finger und Knöchel schnitt. Oft sprangen Frösche oder Kröten im letzten Moment beiseite. Sie waren so angepasst an die Umgebung, dass sogar Akim Mühe hatte, sie zu erspähen. Als eine Schlange sich wenige Meter vor ihnen böse zischend entrollte, beschlossen sie, doch lieber den harten Geröllsand in Kauf zu nehmen.
Adiv schnappte hörbar nach Luft, als Jonoy verschwand. „Akim“, schrie sie, noch bevor sie wusste, was geschehen war.
Der Junge war sofort zurück an ihrer Seite und bückte sich nach dem Alten, der bis zur Hüfte in den Sand eingesunken war.
„Treibsand“, sagte Jonoy. „Den gibt es auf Staleph auch. Bleibt weg, bevor ihr zu sehr hinein geratet.“
Adiv bemerkte, dass der flüssige Sand ihre Stiefel überspülte. Die zähe Masse stand ihr schon bis an die Knöchel. Zum Glück gelang es Akim, seine Füße ohne größeren Widerstand heraus zu ziehen. Sofort sprang er nach hinten, hielt Adiv seinen Speer hin. Sie ergriff ihn und ließ sich befreien.
„Oh, Kaa! Geht er unter?“
„Nein“, beruhigte sie Jonoy. „Zumindest nicht, wenn der Schwimmsand hier sich verhält wie der im Deltaland Stalephs. Man sinkt zwar ein, geht aber nicht unter. Allerdings kann man verdursten, wenn niemand zur Stelle ist, der einem wieder heraushilft. Außerdem kühlt einen der nasse Sand schnell aus.“
Adiv atmete hörbar auf, stützte die Arme in die Hüften und neigte den Oberkörper nach hinten. Sie schloss die Augen und versuchte, ihr hämmerndes Herz zu beruhigen. Als sie sie wieder öffnete, hatte Akim sich mit gekreuzten Beinen gesetzt, den Speer quer über den Schoß gelegt. Entgeistert blickte sie zu Jonoy, der sich auf die eigenen Schultern klopfte.
„Bleib ruhig“, empfahl der Alte. „Er tut genau das Richtige.“
„Zusehen, wie du untergehst?“
„Warten, bis der Sand zur Ruhe kommt, sodass es leichter wird, mich herauszuziehen.“
Sie kniff die Augen zusammen.
„Vertrau ihm. Er versteht Sand besser als jeder andere.“
„Hmm.“ Sie schoss Akim einen Blick zu. Der Fährtenleser hatte die Augen auf das Wasser gerichtet. Jeder Zoll seines Körpers stand unter Anspannung. Sie schätzte, dass er gleichzeitig mit Ohren, Nase und Haut in alle Richtungen spähte. Stöhnend ließ sie sich neben Akim nieder.
„Hast du Schmerzen?“, erkundigte sich der Schmied, dessen Lippen sich blau färbten.
„Warum fragst du?“
„Wegen der Art, mit der du deinen Rücken und deine Schultern dehnst. Deinen Kopf hin und her bewegst.“
„Mhm. Mein Rücken und mein Nacken schmerzen. Und mein Kopf hämmert ganz schön.“
„Vermutlich die Anstrengung. Du solltest hin und wieder mit den Armen schwingen oder sie über den Kopf heben.“
„Ich werde es mir merken.“ Ihre Worte waren höflich, doch Tonfall und Mimik verrieten ihre Ungeduld.
„Es wird Zeit“, sprang Akim auf und streckte sich Jonoys Stab entgegen. Adiv war nicht halb so schnell auf den Beinen.
Gemeinsam zerrten sie den Schmied aus dem widerstrebenden Sandwasser. Auf Adivs Stirn erschien eine dicke Ader. Ächzend ließ sie den Alten los, sobald er wieder auf festerem Untergrund stand. Mit schmerzverzerrtem Gesicht massierte sie ihre Schultern.
„Nicht jetzt“, wies Akim auf das Meer. „Die Flut kommt. Wenn das Wasser kommt, könnte es gefährlich werden. Möglicherweise liegt eine ganze Scholle Flüssigsand vor uns. Wir müssen weg vom Strand.“
„Wir gehen wieder an Land“, fasste Jonoy zusammen.
„Was für eine verfluchte Insel“, klagte Adiv.
Der Tümpel schillerte in allen Regenbogenfarben, war von Gras und Sediment bedeckt. Auf Adiv wirkte er, allen Vorsichtsermahnungen Akims und Jonoys zum Trotz, einladend. Vor ihren Augen zuckten grelle Blitze. Ihr Kopf schien in mehrere Teile zerspringen zu wollen, ihr war übel und schwindlig und ihr Mund fühlte sich staubig an.
Stolpernd bewegte sie sich auf den trüben Pfuhl zu. Einerlei. Solange das Wasser kühlte und die Schmerzen hinter ihren Schläfen betäubte. Sogar in die Große Kloake wäre sie gesprungen, hätte sie ihre Pein gelindert.
Einen halben Atemzug, bevor das Fauchen erklang, stieg Akims Warnruf schrill in die Luft. Adiv hörte beide Geräusche gleichzeitig und drehte sich um die eigene Achse.
Im ersten Moment sah sie gar nichts. Dann löste sich die Verschwommenheit vor ihren Augen und sie erkannte eine Bestie. Ein olivgrünes Ungetüm, doppelt so groß wie sie. Brüllend raste es auf sie zu, mit einer Geschwindigkeit, die viel zu schnell für den massigen Leib war.
Als die Bestie sich näherte, unterschied sie absurd viele Details auf einmal. Dicke Schuppen, die in wechselnden Mustern den Rücken des Ungeheuers bedeckten. Den hässlichen Kopf, der in eine längliche Schnauze auslief, in deren Kiefer die größten Zähne steckten, die sie jemals gesehen hatte: spitz, schmutziggelb, scharf wie Dolche. Kaltblütige, kleine Augen. Krallenbewehrte kurze Beine. Ein langer Schwanz, aus dessen Ende armlange Stacheln ragten.
Jeder Fingerbreit kündete von gewaltiger Kraft.
Ihr schmerzumflorter Verstand ließ sie im Stich. Panik übernahm, lähmte sämtliche Muskeln. Sie hörte Jonoy brüllen, sah Akim speerschwenkend und aus voller Kehle schreiend, auf sich zu preschen, aber ihr Hirn gehorchte ihr nicht. Wie angewurzelt stand sie am Rand des Gewässers, die Arme schlaff am Körper. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Bestie, die durch das Wasser pflügte, Geifer durch die Luft schleudernd und schaumige Wellen schlagend.
Im ersten Augenblick glaubte er, eine Padchuri zu sehen, denn sie sprang nicht aus dem Tümpel, sie floss aus ihm hervor, triefend vor schwarzem Schlamm. Mit einem Satz war sie an ihm vorbei, setzte mit langen Sprüngen der Bestie hinterher. Ihre Arme hoben und senkten sich in einem wahnwitzigen Stakkato von Wurfbewegungen. Winzige Geschosse lösten sich aus ihren Fingern, pfiffen durch die Luft. Sie trafen das Ungeheuer an mehreren Stellen, blieben jedoch wirkungslos.
Ohne den Lauf abzubremsen, stürzte sich die Padchuri auf Adiv. Der Aufprall war so heftig, dass Adiv meterweit geschleudert wurde. Nach Atem ringend blieb sie auf dem Boden liegen. Das Untier ließ die Kiefer genau dort zuschnappen, wo sie soeben noch gestanden hatte.
Adivs Retterin hatte sich im Flug zu einer Kugel zusammengerollt und stand wieder auf den Beinen. Im nächsten Moment saß sie rittlings auf der Riesenechse, hinter dem lang gezogenen Schädel, Knie und Stiefelspitzen in den Boden gerammt. In den Fäusten hielt sie, aus dem Nichts hervorgezaubert, eine dünne Schnur, die sie mehrfach um jede Hand schlang.
Auf ihren nackten Armen erschienen Muskelstränge, als sie versuchte, die Schnauze mit der Lederschnur zu verschließen. Unter der Schlammschicht schlossen sich ihre Augen. Atem entwich stoßweise ihrer Kehle. Keine Dämonin, erkannte Akim, sondern ein Mensch. Eine Kämpferin.
Der Schwanz der Riesenechse zuckte von rechts nach links. Gefährlich nah schwangen die langen Stacheln an der Frau vorbei. Doch sie schien zu wissen, dass das Tier nicht in der Lage war, den Schwanz wie ein Skorpion zu gebrauchen, sie von oben zu zerschmettern.
Akim näherte sich mit erhobenem Speer, sah, welche Anstrengung sie der ungleiche Kampf kostete. Das Band schnitt in ihre Handflächen. Blut lief über ihre Finger, machte sie rutschig.
Vorsicht war geboten. Alles wäre verloren, wenn er ihr unbesonnen zu Hilfe eilte. Er umging den pendelnden Schwanz in gebührendem Abstand, nahm sich die Zeit, die Echse zu studieren, einen sicheren Stand zu suchen. Schließlich visierte er das Auge an und stach zu.
Wie von Sinnen begann das Tier zu zucken. Die Kämpferin erkannte, dass sie den unkontrollierten Kräften nicht mehr gewachsen war. Sie schwang sich auf ihre Füße. Einen Augenblick sah es aus, als würde sie auf dem rasenden Tierkörper tanzen. Gleich darauf löste sie die Lederschnur, sprang über die Schnauze in Akims Richtung, stieß ihn beiseite. Nicht einmal ansatzweise hatte er gesehen, woher die Messer kamen, die sie nun in den Händen hielt.
Ihre Augen fixierten die Echse auf der Suche nach einem Schwachpunkt, bedachtsam und ohne Furcht. Ihre Bewegungen waren sparsam. Als sammle sie Kraft für den nächsten Angriff.
In der Zwischenzeit hatte auch Jonoy die Sumpfechse umrundet und half Akim hoch. Er schaute abwechselnd zwischen der Frau und dem Tier hin und her, mit Blicken, die Akim nicht deuten konnte.
Kennt er sie?
Die Diebestochter erhob sich unter sichtlichen Schmerzen, hielt sich die Seite. Hoffentlich hatte sie sich beim Aufprall keine Rippe gebrochen oder ein Organ verletzt.
Unvermittelt griff die Bestie die fremde Kämpferin an. Blitzartig packte Akim den Speer, der aus dem Auge ragte, und trieb ihn tiefer hinein, während die Padchuri ihre Messer auf die Schnauze niederregnen ließ.
Jonoy hatte seinen Stock erhoben, wirbelte ihn um seinen Kopf und stieß mit einer überraschend gewandten Armbewegung zu. Der stumpfe Holzstab drang nicht durch den Schuppenpanzer, aber er raubte dem Tier kurz die Besinnung.
Aus vielen Wunden blutend, wurde die Echse langsamer. Nichtsdestotrotz blieb sie tödlich. Der Schwanz zuckte unentwegt hin und her, das verbliebene Auge rollte wild, vor Qual und Blut getrübt.
Adiv langte nach ihrem Schwert und humpelte zu den anderen, ängstlich darauf bedacht, dem Stachelschwanz nicht zu nahe zu kommen. Sie hob den Arm, doch ihre Lebensretterin schüttelte den Kopf und entwand ihr die Waffe. Jählings sprang sie erneut auf die Bestie zu, hieb auf sie ein, immer und immer wieder.
Nach ungezählten Schlägen hielt sie inne. Blutige Schuppen und Hautfetzen hingen vom Kopf des Ungetüms. Zerstochene Augen rannen den Schädel hinunter, doch die Schnauze schnappte weiterhin nach ihnen.
Schwer atmend wagte die fremde Frau sich näher heran, gestikulierte den anderen, Abstand zu wahren.
Dann, von einer Sekunde zur nächsten, kippte das Tier um.
Verblüfft schaute Akim seine Gefährten an. Indes trat die Kämpferin zu dem Tier, zupfte mit blutigen Fingern die Wurfgeschosse aus der widerspenstigen Haut, säuberte sie sorgfältig am Gras. Eingehend prüfte sie die winzigen Spitzen, bevor sie sie in ihre Taschen schob.
Als sie fertig war, reichte sie Adiv das Schwert.
„Danke“, sagte die Diebestochter langsam. „Für … alles.“
Die Frau nickte und wandte sich zum Gehen.
„Wartet“, rief Akim. „Wer seid Ihr?“
Die Frau blieb stehen und betrachtete ihn unter nassen, schwarzen Haaren, die über ihr Gesicht fielen. Ihre Augen funkelten in einem beunruhigenden Grün. „Esst den Gavial nicht.“
„Wollt Ihr nicht bleiben und Euch ausruhen? Gewiss hat Euch der Kampf Kraft gekostet. Wir könnten uns um Eure Wunden kümmern“, bot Jonoy an.
Akim nickte zustimmend.
Ungeduldig blickte sie auf ihre Hände. „Esst nichts von dem Tier“, wiederholte sie. „Fasst es nicht an. Einige Tagesmärsche von hier liegt Bantafej. Dort könnt ihr nach Staleph übersetzen.“
„Und wenn wir die Stadt lieber umgehen wollten?“, fragte Jonoy.
Sie schoss ihm einen langen Blick zu, bevor sie antwortete. „Bald werdet ihr auf die Ausläufer eines Nadelwaldes stoßen. Folgt ihm in östlicher Richtung. Ihr werdet den Forst erreichen, der vor den Toren Fedajs liegt. Ihr könnt die Garnison meiden, indem ihr den Forst nach Osten hin durchquert. Doch am anderen Ende erwarten euch nur die Sümpfe und das Ostmeer.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um, duckte sich und verschwand im Unterholz.
„Wir könnten ihr nachgehen“, schlug Akim vor.
Jonoy schüttelte den Kopf. „Hätte sie unsere Gesellschaft gewünscht, wäre sie geblieben. Lass sie gehen. Und Vorsicht vor dem Tier.“
„Ist es vergiftet?“
„Bestimmt. Die Sumpfleute sind bekannt für ihren Umgang mit Giften.“
Adiv schwindelte vor Schmerzen und überstandener Aufregung, dennoch horchte sie auf. „Kanntest du sie?“, fragte sie den Schmied.
Sie hat es auch bemerkt, dachte Akim.
„Woher sollte ich?“
Die Diebestochter zuckte mit den Achseln, bewegte vorsichtig ihren brummenden Kopf. „Ich glaube, ich muss mich ausruhen.“
„Sie ist sehr gut“, sagte Akim. „Tödlich wie eine Padchuri, eine Sanddämonin. Ich habe sie weder gehört noch gerochen noch gesehen. Sie muss in dem Pfuhl gelauert haben.“
„Ja“, sagte Jonoy versonnen. „Sie wäre eine wertvolle Begleiterin.“
Der Frost kam auf leisen Sohlen, lauerte über der Bucht wie ein Meuchelmörder. Seine Waffen waren hinterlistig, schläferten Sinn und Verstand ein: Bodendunst am Morgen, wolkenverhangener Himmel am Vormittag, fahles Sonnenlicht um die Mittagsstunde herum, Sprühregen am Nachmittag, dichter Nebel am Abend.
Wenn man morgens aufstand, bildete der Atem Wolken vor dem Mund. Eine dünne Schicht gefrorenen Wassers lag auf den Decken und Mänteln. Es roch anders. Klarer, intensiver, in den Nasenhöhlen beißend. Nadelhölzer. Harz. Seeluft. Fruchtbare Erde, die an der Oberfläche gefror.
Das also war Kânegg, die gefürchtete Sumpfinsel. Mächtige Klippen, an denen die Wogen in Fontänen zerstoben. Zerklüftete Steilküsten mit bizarren Brandungspfeilern, flachen Riffen, Felsentoren und treppenartigen Stufen.
Nachdem sie wegen der Pferde den sehr viel längeren Aufstieg um die Klippen herum genommen und das Plateau erreicht hatten, auf dem Banâfraggatanalan lag, wurde die Landschaft weniger atemberaubend. Eine windumtoste Hochebene dehnte sich vor ihnen aus. Darauf verstreut entdeckten sie halb versunkene, zerbrochene Mauerteile und umgestürzte Säulen, Überreste einer uralten Tempelanlage. Bisweilen stießen sie auf Tonscherben, verrostete Metallspitzen oder bemooste Steinkeile. Ansonsten gab es nicht viel, was das Auge fesselte.
„Nun, Prinz“, wandte sich Baraten an Ylaiy, „Wie gefällt es Euch hier? Ich muss gestehen, dass meine Pflichten mich bislang niemals an diese Gestade geführt haben. Dem Himmel sei Dank, wenn ich ehrlich sein darf. Ich finde es recht ungemütlich hier oben.“
Baraten zog Schal und Umhang enger um den Hals, verbarg die Nase im warmen Stoff. Sila und Rana hatten sich Kopftücher umgebunden; ihre Wangen glänzten rosa. Die Soldaten in ihren dünnen Uniformen blickten verfroren drein.
„Offen gestanden, bin ich etwas enttäuscht“, gab Ylaiy zu. „Ich hatte mehr erwartet als Wald, Wiese und Ruinen.“
„Immerhin befindet Ihr Euch an einem heiligen Ort. Die Vorfahren der Frâgg galten als große Naturzauberer. Hier oben hielten sie Zeremonien ab, um die Götter gnädig zu stimmen, ihren Rat einzuholen oder das Wetter zu beeinflussen. Abergläubischer Unfug. Dennoch überkommt einen ein eigenartiges Gefühl, wenn man hier steht.“
„Findet Ihr? Ich mag gern einräumen, dass die alten Völker außerordentliche Naturkenner waren, aber Zauberer? Die Architektur beeindruckt mich, aber das ist auch alles. Seht Euch die Steinquader an. Kunstlos, doch gleichmäßig und von derselben Größe. Ebenso die Säulen. Welche Leistung, die Blöcke aus der Klippe zu schlagen, nach oben zu hieven und sie zu bearbeiten! Das erkenne ich gern an. Leider ist ja nicht mehr viel übrig. Ein Jammer.“ Mit der Stiefelspitze trat er gegen einen aus der Erde ragenden Quader.
„Man weiß bis heute nicht, was die Frâgg veranlasste, ihre Jagdgründe und heiligen Stätten zu verlassen und in den unwirtlichen Süden abzuwandern, wo sie in den Sümpfen hausen wie die ersten Menschen. Ein Volk, das Kultur hervorgebracht hat, Meisterleistungen wie diesen Tempel hier!“
„Wann geschah das?“, mischte sich Videm ein.
Baraten wandte sich Hilfe suchend an den Prinzen. „Ihr seid der Mann mit dem unergründlichen Gedächtnis. Was berichten die Bücher?“
„Dass die Inselwelt sich in den frühen Kriegen völlig veränderte. Völker kamen und vertrieben andere. Stämme besiedelten neue Landstriche, schlossen Bündnisse mit anderen. Kulturen gingen unter, neue entstanden.“
„Eroberung und Ausrottung“, sagte Videm nachdenklich.
„Der Lauf der Geschichte. Es herrschte Krieg. Die Inseln mit ihren Stämmen, Unterstämmen, Sippen und Familien waren heillos zerstritten. Für ein friedliches Zusammenleben brauchte es einen Herrscher, Struktur und Ordnung, gemeinsame Gesetze, Sprache und Kultur.“
„Also setzt jemand sich als Souverän ein, vertreibt alteingesessene Stämme, erobert Land, unterjocht die Bevölkerung? Das scheint mir nicht der richtige Weg.“
„Welchen Nutzen hätten einzelne, unabhängige Völker? Ist es nicht besser, wenn sie als Einheit zusammenwirken? Die Bodenschätze und Naturreichtümer zusammen nutzen? Ich kann dir versichern, dass die Elboin, soweit es ging, auf Verhandlungen setzten, denn auf Kampf. Doch im Krieg gibt es nun mal Sieger und Verlierer. Opfer müssen erbracht werden, damit die Masse sich weiter entwickeln kann.“
„Das bedeutet, Krieg auf dem Rücken einzelner auszutragen. Tut mir leid, Ylaiy, hier sind wir nicht einer Meinung. Man kann friedlich Handel treiben, sich austauschen, voneinander lernen, ohne dass ein Volk sich über das andere stellt.“
„Ach ja? Wo wärst du heute, wenn Prant sich nicht mit Yruish verbündet hätte? Es war diese Koalition, welche die Grundlage für das heutige Reich legte.“
„Das weiß ich nicht. Aber das ändert nichts an meinen Gedanken.“
Sila war der politischen Diskussionen, die Ylaiy mit Videm und dessen Vater ausfocht, überdrüssig. Für die Männer schien es ein Spiel zu sein. Übungen in Redekunst, die in der Regel zugunsten des redegewandten Ylaiy ausgingen. Baratens analytischer Verstand und messerscharfe Logik verschafften ihm ebenfalls häufig Vorteile, während Videm fast immer den Kürzeren zog. Oft hatten die drei unterschiedliche Ansichten, die mitunter zum Streit führten. Nach einigen Stunden versöhnten sie sich stillschweigend wieder. Sila fühlte sich ausgeschlossen. Ihr stand es weder von Geschlecht noch von Rang zu, ihre Meinung kundzutun.
Sie hüllte sich in ihre Kleider, verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Blicke wanderten flehentlich zu ihrer Mutter, dann zu Baraten, dessen schwarz gewandete Gestalt ihr Unbehagen bereitete, obwohl er sich tadellos benahm und bei den Soldaten in hohem Ansehen stand.
Der Inquisitor fing ihren Blick auf und neigte zustimmend den Kopf. „Lasst uns dies Gespräch vertagen“, schlug er vor. Die Freundlichkeit verbarg den Befehlston nicht ganz. „Wir alle sind durchgefroren. Lasst uns Bantafej aufsuchen.“
„Wo liegt Bantafej?“, fragte Sila.
„Wir stehen gewissermaßen darauf. Vor langer Zeit hat man Banâfraggatanalan in Bantafej umbenannt. Heute bezeichnet man damit die einst zum Tempel gehörende Stadt. Ich nehme an, wir werden sie hinter dem Waldstreifen dort vorn finden. Der Nebel ist dicht. Wenn erst die Dunkelheit hinzukommt, ist es hier oben bestimmt nicht ungefähr…“
Mit einem röchelnden Laut brach er zusammen. Videm und Ylaiy starrten auf den gefiederten Pfeil, der aus seiner Brust ragte. Im selben Augenblick ging einer der Kavalleristen zu Boden. Sila glaubte, sich übergeben zu müssen, als sie den Pfeil im linken Auge sah. Vom Schaft tropfte eine hellrote Flüssigkeit, zäh wie Eidotter, auf den Untergrund.
Sie war so entsetzt, dass sie kaum spürte, wie ihre Mutter sie zu Boden riss. Das Geschrei der Soldaten, die sich hinter den Pferden verschanzten, drang nur dumpf zu ihr durch.
„Runter!“, schrie Ylaiy seinem Freund zu, der gelähmt den Pfeil betrachtete, der seinen Vater gefällt hatte.
Videm gehorchte ohne nachzudenken. Er rutschte neben den Getroffenen, umklammerte dessen Hand. Ylaiy lag bäuchlings neben ihnen, fassungslos auf Baraten starrend.
Rana hielt Sila im Arm, die ihre Hände vor die Ohren gelegt hatte, als wolle sie die Geräusche der Umgebung ausblenden. Dabei war es geradezu unheimlich still. Zwei oder drei Pfeile sirrten noch heran, trafen aber ihre Ziele nicht mehr. Wie eine Wand stand der Nebel um sie, verschluckte sowohl das Rauschen der Baumwipfel als auch den Wind und das Vogelgezwitscher.
Wimmernde Töne ausstoßend, kroch Sila zu dem getöteten Reiter. Sie drehte ihn auf die Seite, weg von sich, um die zerfetzte Augenhöhle nicht mehr sehen zu müssen.
„Wer ist das?“, rief Rana.
„Räuber“, schrie einer der Soldaten zurück. Er lugte hinter seinem Pferd hervor. „Im Wald vor uns. Sind wegen des Nebels und der Bäume nicht zu sehen. Wir müssen hier weg.“
„Weg wohin?“, fragte Ylaiy. „Hinter uns geht es hunderte Meter nach unten. Vor uns liegt ein nahezu nacktes Plateau.“
„Lasst uns einen Bogen schlagen, Herr. Wir teilen die Männer. Nähern uns dem Wald von zwei Flanken. Vielleicht flüchten sie oder wir können sie überwältigen.“
„Aber wir wissen doch gar nicht, wie viele es sind!“
„Wenn wir hier tatenlos warten, haben sie leichtes Spiel. Der Nebel ist ihr Verbündeter. Lasst uns den Spieß herum drehen“, sagte Videm. Der Soldat nickte zustimmend.
„Also los!“, befahl Ylaiy. „Sila, Rana, ihr bleibt bei Baraten! Stellt die Pferde um euch.“
Rana nahm Baratens Hand behutsam aus der Videms. „Ich kümmere mich um ihn“, versprach sie ihm. „Dort vorn könnt Ihr Euch eher nützlich machen. Für Euren Vater könnt Ihr im Augenblick nicht viel tun. Seid vorsichtig.“
Geduckt und Haken schlagend wie ein Hase folgte Ylaiy dem Anführer seiner Gruppe, einem blonden Hünen mit einem vernarbten Gesicht, quer über die Ebene. Am Waldrand hockten sie sich dicht nebeneinander ins Gras. Ein zerfallenes Mauerstück gewährte ihnen zusätzlichen Schutz.
Ylaiys Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Stille spann sie ein. Niemand wusste, wo die Räuber sich aufhielten, wie viele es waren, was sie als Nächstes planten.
Vielleicht sind sie geflüchtet.
Wunschdenken. Selbst er fühlte, tief in seinen drückenden Gedärmen, dass vor ihnen jemand lauerte. Hinter den Stämmen verborgen, den Bogen gespannt, den Dolch gezückt, die Keule schwingend. Er fühlte es. Und er hatte Angst. Furchtbare Angst. Lähmende Angst.
Doch als Videm ihn mit in den Wald zog, war er froh, dass er etwas tun konnte, anstatt wie ein Tier in der Falle zu hocken. Aufregung weitete Adern und Augen, die plötzlich besser zu sehen schienen, undeutliche Gestalten ausmachten. Die Erregung spülte die Angst fort, doch sie war so erstickend, dass er den Mund zu einem befreienden Schrei aufriss. Neben ihm stimmten die Soldaten in das Kampfgebrüll ein. Mit einem Mal war die Luft erfüllt von gellendem Lärm.
Videm blieb stumm. Er stürmte voran, auf die Gestalten zu, die nun ihrerseits aufsprangen und sich den Angreifern entgegenwarfen. Ylaiy tat es Videm nach. Er hob das Schwert mit beiden Händen – wie immer verblüfft von dessen Gewicht – und schwang es im Kreis um seinen Kopf. Er wirbelte es nicht geschmeidig wie sein Freund, doch es reichte aus, den Mann in den zerlumpten Pelzgewändern zurückweichen zu lassen. Beinahe hätte er das Schwert fallen gelassen, als er sah, wie die Spitze eine blutige Spur in die Wange des Räubers riss.
Die Wucht war nicht groß genug, um den Mann ernsthaft zu verletzen. Eher machte der Angriff ihn wütend. Er packte seine langstielige Axt fester und schwang sie beidhändig gegen den Prinzen.
Zweifellos hätte Ylaiy in diesem Kampf den Kürzeren gezogen, denn die rohe Gewalt des Wegelagerers war seiner bescheidenen Waffenkunst überlegen. Es war Videm, der seine Klinge in die Hüfte des Räubers hieb. Geschockt beobachtete Ylaiy, wie der Mann sich brüllend im Gestrüpp wälzte, verzweifelt den Schnitt umklammernd, aus dem Blut hervor schoss und den Waldboden tränkte.
„Kommt“, keuchte Videm, ohne sein Opfer eines weiteren Blickes zu würdigen.
Ylaiy rannte ihm nach. An Videms Schwert klebte Blut, lief die Schneide hinab. Videm schien es nicht zu kümmern. Er kämpfte sich unbeirrt durch das Nadelgehölz, griff den nächsten Ganoven an, indem er dessen Keulenschwung auswich, und sich mit der Schulter gegen ihn warf. Bevor der Gegner sein Gleichgewicht wieder fand, traf ihn die Schwertspitze geradewegs ins Herz. Er brachte nicht einmal mehr ein Röcheln zustande, sondern kippte nach vorn, tiefer in das Schwert hinein. Mit einem Ruck zog Videm es zurück. Der Mann fiel zur Erde wie ein Sack Mehl.
Dem Dolchstoß eines dritten Räubers entging Videm, weil Ylaiy die Waffe geistesgegenwärtig mit dem Schwert zur Seite schlug und dabei das Handgelenk des Mannes verletzte. Videms Stahl durchtrennte seine Kehle, schnitt den Schrei ab.
Die folgenden Minuten erlebte Ylaiy wie im Rausch. Er torkelte hinter Videm her, das Schwert in einer Hand, mit der anderen Halt an Stämmen und Büschen suchend. Die einzigen Verletzungen, die er sich im Laufe dieses Tages zuzog, stammten nicht von Waffen oder Fäusten, sondern von den Dornen der Beerensträucher, Astspitzen, stacheligen Zweigen und Rinde. Dann und wann kam er Videm zu Hilfe, indem er blindlings auf alles einhackte, das vor ihnen auftauchte.
Videm jagte durch den Wald wie ein Tollwütiger, schwitzend, blutend, Keulen ausweichend, unter Messern durchtauchend, einmal sogar auf den Stiel einer ausgestreckten Lanze springend. Bis auf die geweiteten Pupillen blieb sein Gesicht versteinert, desinteressiert.
Neben ihnen, hinter ihnen, vor ihnen kämpften die Soldaten. Drei sanken tödlich getroffen auf den Boden. Ein vierter übersah eine Grube, die sich plötzlich unter ihm auftat. Das Gebrüll, als der angespitzte Pfahl ihn aufspießte, hatte nichts Menschliches mehr.
Es riss sogar Videm aus seinem Kampfdelirium, ließ ihn mitten in wildem Lauf auf der Stelle verharren. Ungebremst prallte Ylaiy gegen ihn. Aus dem Gleichgewicht gebracht, taumelten die beiden und stürzten in weiches Moos, wo sie schwer atmend liegen blieben.
Der Sturz schien Videm vollends zur Besinnung zu bringen. Er blickte um sich, fragend, verwirrt, desorientiert, das blutverschmierte Schwert und die lädierten Hände betrachtend. Er griff nach Ylaiys Schulter, als suche er Halt; einen Anker, der ihn aus den Tiefen des Rausches zurück an die Oberfläche zog.
Ylaiy war benommen. Jeder Muskel schmerzte. Sogar seine Zähne taten weh. Sein Hals fühlte sich wund an vom Schreien und seine Arme zitterten, als er sie ausstreckte.
„Sind sie weg?“, krächzte er nach einer Weile.
„Sieht so aus“, gab Videm zurück, nachdem er in den Wald hinein gelauscht hatte.
Das Waffengeklirr war verklungen, ebenso die Schmerzensschreie der Verwundeten.
Sich gegenseitig stützend, kamen sie auf die Beine, unsicher die Köpfe in alle Richtungen drehend. Der Nebel stand nicht ganz so tief inmitten des Gehölzes. Die Konturen der Bäume konnten sie recht gut ausmachen.
Während ein Sprühregen einsetzte, der ihre erhitzten Gesichter kühlte und den Nebel aufweichte, liefen sie vorsichtig zum Waldrand zurück, überrascht von der Entfernung, die sie im Kampf zurückgelegt hatten. Aus Angst vor weiteren Fallen setzten sie sorgfältig einen Fuß vor den anderen, den Boden nicht aus den Augen lassend.
Bald schon stießen sie auf die ersten Leichen. Keins der Antlitze erkannten sie wieder, was Ylaiy als Segen empfand. Trotzdem betrachtete er die Toten mit Beklommenheit.
„Ihr habt Mitleid mit ihnen. Mit den Räubern.“
Unter Videms Blick röteten sich Ylaiys Wangen. „Ja“, gab er zu. „Verrückt, nicht? Sie haben uns angegriffen. Dennoch fühle ich mich schrecklich. Und du? Keine Reue?“
„Nein. Ihren Tod haben sie selbst verschuldet.“
„Aber all das Töten? Macht es dir nichts aus?“
„Es ist deren Schuld.“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“
Videm warf ihm einen leeren Blick zu, erwiderte nichts.
Ylaiy seufzte. Scheu sah er zu den Reitern, die dabei waren, ihre getöteten Kameraden nebeneinanderzulegen.
Die drei letzten Männer der kaiserlichen Eskorte standen bedrückt um die Toten, unter denen sich auch der blonde Hüne befand, dessen Bauchdecke auseinanderklaffte. Die Axt, die die schreckliche Wunde verursacht hatte, lag neben ihm. Ein Soldat erbarmte sich, ging in die Knie und drückte ihm die Augen zu. Ein zweiter warf Ylaiy einen hasserfüllten Blick zu.
Sie würden lieber mich an seiner Stelle sehen.
„Gehen wir zurück“, sagte Videm. „Wir sollten…“
Ein lang gezogener Hilfeschrei schnitt ihm das Wort ab.
„Es gibt noch mehr von ihnen!“ Mit einem Satz sprang Videm in den Nebel hinein.
Ylaiy rannte ihm und den Soldaten hinterher, so schnell seine müden Beine ihn trugen. Verschwommen sah er, wie Videm auf einen Mann zu hetzte, der gebeugt über seinem Vater stand, den Dolch zum tödlichen Stoß erhoben. Ein zweiter Räuber rang mit einer der beiden Frauen, während die andere reglos am Boden lag.
Drei unumstößliche Fakten drangen in seinen Geist.
Cledent Baraten würde von der Hand des Räubers sterben.
Die Frau am Boden war Sila.
Rana würde den Kampf gegen den kräftigen Mann verlieren.
Wir kommen zu spät.
Er rannte weiter, ein Schluchzen in der Kehle. Diesmal schrie er nicht.
Videm preschte vorwärts. Zweige schlugen ihm ins Gesicht, Wurzeln schlängelten nach seinen Knöcheln.
Schneller. Schneller.
Sein Atem kam pfeifend, seine Lungen brannten, vor seinen Augen tanzten Flecken. Ungeachtet dessen trieb er sich zur Eile an, aber das Plateau schien sich in der Zwischenzeit vom Waldrand wegbewegt zu haben, denn der Abstand zu seinem Vater schrumpfte nicht.
Videm.
Plötzlich wähnte er sich in seinem Traum.
Die Gestalt seines Vaters lag auf der Seite. Sie verschmolz mit der Umgebung, mit dem Dunst und den Wolkenschleiern, die von der Bucht hinauf wehten. Er sah es aus der Entfernung nicht, aber er wusste, dass Blut aus ihr heraus lief.
Er rannte auf seinen Vater zu, doch seine Beine erreichten das Ziel nicht, so sehr er sich auch anstrengte.
Er wusste, wie der Traum endete. Nur diesmal würde er nicht erwachen. Die Grenzen zwischen Illusion und Wahrhaftigkeit zerliefen, als etwas Schwarzes aus dem Abgrund stob und über das Gras glitt wie ein Schatten an einem Sonnentag. Als er vorüber war, schwankte eine Gestalt und fiel.
Videm stürzte zurück in die Wirklichkeit, heulte auf und beschleunigte seine Schritte, hetzte auf seinen Vater zu, während seine Gedanken hysterische Purzelbäume schlugen. Sein Vater hatte bereits am Boden gelegen, getroffen von einem Pfeil, lange bevor der Schemen aus dem Nichts erschienen war. Schlagartig realisierte er, dass nicht die Gestalt seines Vaters gefallen war, sondern die eines Räubers.
Was um alles in der Welt ist das?
Narrten ihn seine Sinne? Im Laufen warf Ylaiy Blicke nach links und rechts und sah dieselbe Verwirrung in den Mienen der Soldaten. Anscheinend war er nicht verrückt. Sie hatten es auch gesehen, dieses Ding, das aus der Tiefe geschnellt war und einen der Wegelagerer umgeworfen hatte.
Der zweite Angreifer ließ Ranas Hals los und wandte sich, ein Messer in der ausgestreckten Hand, dem Wesen zu, das Ylaiy nunmehr als Menschen erkannte.
Die Frau - die Frau? - beschleunigte, als sie die bedrohliche Pose ihres Gegenübers wahrnahm, und stieß sich unmittelbar vor ihm in die Luft. Ylaiy hielt den Atem an. Sie sprang über den sich duckenden Mann, drehte sich im Flug um ihre Längsachse, landete hinter ihm. Im gleichen Augenblick schnürten sich ihre Arme um seine Kehle. Mit einer abrupten Drehung, in die sie ihr gesamtes Körpergewicht legte, brach sie ihm das Genick. Der Räuber wurde schlaff und sackte zusammen. All das ging so schnell, dass Ylaiys Verstand nicht hinterherkam.
Die Frau schüttelte ihre Arme, musterte Rana nach Anzeichen einer Verletzung und anschließend die anrückenden fünf Männer.
Ylaiy bemerkte, wie sie den Kopf nach hinten wandte, zur Steilwand hin. Offensichtlich überdachte sie ihre Fluchtmöglichkeiten. „Bleib“, rief er. „Dir wird nichts geschehen.“
Sie blieb. Ihre Haltung verriet Alarmbereitschaft und ihre Hände legten sich auf ihren Gürtel. Die Soldaten knurrten, murmelten etwas von versteckten Waffen. Halbkreisförmig schoben sie sich weiter vor.
Der Prinz hob beide Arme und wiederholte seine Worte in verschiedenen Mundarten. Er wusste nicht, ob sie ihn verstanden hatte, denn ihre verschlossene Miene, verborgen unter nassen Haarsträhnen, gab nichts preis.
Einige Schritte hinter ihr, nahe der Klippenkante, lag ein Gegenstand, nach dem sie sich bückte, ohne die Männer aus den Augen zu lassen. Ein Bogen aus hellem Holz, den keiner von ihnen gesehen hatte. Innerlich ohrfeigte Ylaiy sich für seine und die Nachlässigkeit der Soldaten, beschwor sich, zukünftig achtsamer zu sein.
Rasch hatte die Frau sich wieder aufgerichtet, wartete gelassen.
Videm trat zu ihr und beugte sich zu seinem Vater hinab, dessen Augen halb geschlossen waren.
„Lebt er noch?“, rief Ylaiy.
„Er lebt. Der Pfeil steckt in seinem Fleisch, nicht in seinem Herzen.“ Sie sprach Yr. Langsam und bedächtig formulierend, aber gut verständlich. Mit unergründlicher Miene musterte sie die Männer, die Hände am Gürtel, die Beine leicht gespreizt, jederzeit bereit, einem Angriff auszuweichen.
Ylaiy befahl den Soldaten, sich zurückzuziehen. Sie kamen seiner Anweisung nur widerstrebend nach, demonstrativ die Helme absetzend, auf denen ihre Rangabzeichen prangten.
„Ihr seid zu vertrauensselig“, schleuderte der älteste Reiter, ein Mann mit gespaltener Braue, ihm entgegen.
„Sie hat Baraten das Leben gerettet.“
„Sie hat einen Bogen und in Baraten steckt ein Pfeil.“
„Nicht meiner.“ Ihre Hand fuhr hinter ihre Schulter.
Sofort nahm die geschrumpfte Eskorte Angriffshaltung ein. Sie verzog spöttisch die Mundwinkel und präsentierte den Männern einen Pfeil aus ihrem Köcher.
„Er sieht anders aus als der in Baraten“, sagte Ylaiy.
Statt einer Antwort spuckte der Soldat aus.
Seine jüngeren Kameraden, beide mit kurz geschorenem dunklem Haar, zogen ihn mit sich. Der stämmige Grauschopf schüttelte sie ab, folgte ihnen jedoch zu den Pferden, düstere, abschätzige Blicke auf die Frau werfend. Ylaiy erinnerte sich, dass er neben dem unglücklichen Mann gelaufen war, der in der Grube einen qualvollen Tod gestorben war.
„Sie ist in schlimmerer Verfassung“, sagte die Frau mit einem Seitenblick auf Sila.
Ylaiys Magen verkrampfte sich. Er ging neben Rana in die Knie. Silas Augen waren geschlossen, ihr Gesicht so blass, dass selbst die Sommersprossen verschwunden waren. Aus ihrem Mundwinkel sickerte Blut. Entsetzt sah Ylaiy auf die blutdurchtränkte Vorderseite ihres Kleides. Silas Atem erschien kaum mehr als ein Röcheln.
Rana weinte leise. Sie hielt den Kopf ihrer Tochter im Arm, streichelte das blonde Haar.
„Was ist mit ihr?“ Der Prinz erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. Er klang so erschüttert, dass Videm von seinem Vater aufblickte und ihn mitleidig ansah.
„Messerstiche in den Leib. Vermutlich innere Verletzungen. Sie stirbt.“
Sein Haupt zuckte hoch. Sie sprach so gleichgültig, dass er sie entrüstet anstarrte. Ihre Miene blieb unbewegt.
„Das darf sie nicht. Man muss ihr helfen!“
„Bringt sie zu einem Heilkundigen.“
„Heilkundige. Wo? In Bantafej?“
„In Bantafej findet Ihr heutzutage nur Scharlatane und Quacksalber; wenn Ihr Glück habt, eine der Kräuterfrauen aus dem Alten Volk.“
„Können die sie retten?“
„Nein. Aber ihre Medizin mag reichen, ihr Leben zu verlängern, bis ihr Fedaj erreicht. Dort gibt es Ärzte, ein Haus für Kranke.“
„Fedaj ist zu weit.“
„Eine Tagesreise zu Fuß. Mit den Pferden könnt Ihr morgen früh dort sein, wenn Ihr die Nacht durchreitet. Beeilt Euch. Das Mädchen hat nicht mehr viel Zeit.“
„Könnt Ihr uns nach Fedaj führen?“
Unter gesenkten Wimpern wanderte ihr Blick nach rechts, wo Baraten lag, eine Hand um den Pfeil gekrampft, die andere in der seines Sohnes. Seine Augen waren offen, vor Qualen getrübt, seine Stimme leise, aber immer noch fest. Seine Glieder zuckten, wenn eine Schmerzenswelle durch seinen Körper raste.
„Nein.“
„Weshalb nicht? Ihr scheint das Gelände zu kennen. Wir sind fremd hier, müssen uns durch Dunkelheit und Nebel durch die Wälder schlagen, könnten uns verirren. Wollt Ihr den Tod des Mädchens verantworten?“
„Oder den Euren?“, gab sie mit kalter Stimme zurück.
Er winkte ab. „Es ist nicht mein Wohl, um das ich besorgt bin, wiewohl mein Sohn hier keinen dringenderen Wunsch verspürt, als mich in ärztliche Obhut zu bringen. Sila hingegen ist noch jung und an unserer Mission nicht beteiligt. Sie begleitet uns nur.“
„Wollt Ihr mir ein schlechtes Gewissen einreden?“
„Nein. Doch Ihr habt unseren sicheren Tod verhindert. Eure Tat wäre umsonst, stürbe sie. Ihr hättet vergebens an der Felswand gehangen für – wie lange? – Stunden?“
Die Köpfe aller Männer schnellten in Richtung Klippe. Ungläubig betrachteten sie das schroffe Gestein, das hinter der Kante senkrecht in die Tiefe fiel. Unbewusst lauschte Ylaiy auf das anbrandende Wasser.
Sie war die ganze Zeit hier?
„Ihr seid über die Felstreppe auf das Plateau gelangt, unmittelbar, bevor wir hier anlangten, nicht wahr?“
Sie gab keine Antwort auf Baratens Frage.
„Haben die Räuber Euch ebenfalls angegriffen?“, setzte Baraten nach.
„Ihr Pfeil verfehlte mich.“
„Also stürztet Ihr über die Kante, bliebt aber hängen.“
„Augenscheinlich waren sie nicht an mir interessiert.“
„Sonst hätten sie sich vergewissert, ob Ihr tot wart.“
„Möglicherweise blieb ihnen keine Zeit mehr dafür.“
„Ihr müsst ungeheuer stark sein.“
„Es gab Vorsprünge. Ich konnte mich abstützen.“
„Nicht gut genug. Eure Finger bluten trotz der Bänder.“
Sie musterte gleichgültig ihre Hände. „Ihr vergeudet Zeit.“
„Ich schaffe Zeit“, gab er hustend zurück. „Mit Eurer Hilfe werden wir Fedaj schneller erreichen.“
„Was ist mit Bantafej?“, mischte Ylaiy sich ein. „Den Kräuterfrauen?“ Immer wieder schweiften seine Augen zu Silas flatternden Lidern. Ranas Miene zeigte tiefe Sorgenfalten, während ihre bebenden Hände über den Körper ihrer Tochter glitten.
„Oh, ich bin davon überzeugt, mit Kräutern kann unsere Retterin Sila ebenfalls versorgen.“ Der Inquisitor brachte ein Lächeln zustande.
Die Frau hob den schwarzen Schopf und blickte den verletzten Mann erstmalig offen an. Ylaiy erkannte klare, ebenmäßige Züge. Ihre Haut war von einem dunklen Bronzeton. Salz klebte auf ihren Armen.
Mit einem Ruck griff sie hinter sich und nestelte ein Beutelchen aus ihrer Kleidung, das sie Rana hinhielt. „Die grünen Kugeln. Zerdrückt sie in Wasser aus Euren Schläuchen. Verstreicht die Paste auf ihren Wunden. Gebt ihr keinesfalls etwas zu trinken.“
Wortlos ergriff Rana das Säckchen und rannte zu den Pferden.
„Woher wusstet Ihr von den Kräutern?“, fragte Videm seinen Vater.
„Kämpfer werden oft verwundet. Es war naheliegend, dass sie Medizin mit sich führt.“
Zum zweiten Mal maß die Frau Baraten mit einem langen Blick. „Was ist mit Eurer Verletzung? Soll ich den Pfeil entfernen?“
„Ich wagte nicht, Euch darum zu bitten, aber ich wäre … dankbar.“
Wieder hustete Baraten, diesmal so heftig, dass die Farbe in seine Wangen zurückkehrte. Die Kämpferin zog die Augenbrauen zusammen, bedeutete Videm, die Schultern seines Vaters nach hinten zu drücken, und langte nach einem Stöckchen, das sie dem Verwundeten in den Mund schob. Dann griff sie vorsichtig nach dem Pfeilschaft, brach ihn über der Wundöffnung durch. Baraten wand sich, doch Videms Arme hielten ihn auf dem Rücken.
„Haltet Verbände bereit“, befahl sie den umstehenden Reitern, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Ylaiy dachte, sie würden die Anweisung verweigern, aber als Baraten aufstöhnte, zupfte der Grauschopf Stoffrollen aus den Satteltaschen.
Die Hände der Kämpferin betasteten derweil die Wunde. Mit dem Zeigefinger folgte sie dem Pfeil in das rohe Fleisch, was Baraten aufschreien und die Soldaten die Fäuste ballen ließ. Davon unbeeindruckt griff sie nach der Pfeilspitze, hielt jedoch gleich darauf inne und zog ihren Finger wieder heraus, ihn argwöhnisch musternd.
„Was ist?“, fragte Videm.
„Widerhaken. Ich kann den Pfeil nicht herausziehen, ohne noch mehr Schaden zuzufügen.“
„Und nun?“
„Ihr solltet den Pfeilstumpf abbinden, so gut es geht, damit er nicht behindert. Ansonsten könnt ihr nichts tun. Er muss nach Fedaj. Die Wunde lasst in Ruhe.“ Mit diesen Worten erhob sie sich, klopfte sich den Staub von den Knien und wandte sich zum Gehen.
Die Resteskorte trat ihr in den Weg.
Gegen die drei kräftigen Männer, die sie deutlich überragten, wirkte sie klein, aber keinesfalls machtlos. Ylaiy bemerkte, wie ihre Augen sich verengten und ihre Haltung sich veränderte, als sie sich angriffsbereit machte.
„Ich finde, du solltest tun, was der Inquisitor dir befohlen hat“, sagte der Soldat mit der gespaltenen Braue barsch. Seine Kameraden nickten zustimmend, die Hände am Schwertknauf.
„Ich habe keinen Befehl vernommen.“
„Wir schon“, antwortete einer der jüngeren Bewaffneten. „Und wir sind dafür da, die Weisungen des Hofes durchzusetzen und das Leben dieses Mannes zu schützen, koste es, was es wolle.“
„Des Hofes“, wiederholte sie. „Seit wann schickt der Hof seine hohen Beamten in die Wildnis Kâneggs?“ Sie sprach zu Baraten gewandt, doch dessen Augen waren nach oben verdreht. Schleim schien in seinen Atemwegen festzusitzen, denn er keuchte und räusperte sich fortwährend.
„Das geht dich nichts an“, gab der erste Reiter zurück. „Du hast nur den Befehlen zu folgen.“
„Und wer sollte mich zwingen?“ Sie schaute die Soldaten herablassend an, die Hände an den Hosennähten, das rechte Bein leicht eingedreht.
Die Männer grinsten grimmig. Wie eine Wand schoben sie sich vorwärts. Die Hände des Grauhaarigen schlossen sich. Ylaiy sah gewaltige Fäuste mit schwellenden Knöcheln.
„Beherrscht euch!“, rief er. „Sie hat uns geholfen, dafür werdet ihr sie nicht bestrafen!“
„Es geht um das Leben des Inquisitors“, bellte der Ältere.
„Ich befehle es! Verweigert Ihr meine Order, werdet Ihr als Verräter inhaftiert!“
Das brachte die Männer für einen Augenblick zum Schweigen. Sie zögerten sichtlich, sich gegenseitig stumm befragend. Schließlich schüttelte der Grauschopf trotzig den Kopf. „Nein, Hoheit. In dieser Angelegenheit ist der Leitende Inquisitor oberster Befehlshaber. Erst nach seinem Ableben rückt Ihr an diese Stelle. Was nicht geschehen wird, solange wir es verhindern können. Sie wird sich uns nicht in den Weg stellen.“
„Denkt doch nach!“, rief Ylaiy. „Wenn ihr sie zwingt, uns zu führen, wählt sie vielleicht den längeren Weg. Oder führt uns absichtlich in die Irre. Habt ihr die Grube vergessen? Was, wenn es noch mehr davon gibt? - Bitte hilf uns“, wandte er sich um, die Handflächen zusammengelegt. „Bringe uns nach Fedaj. Du sollst es nicht bereuen.“
Sie schnaubte verächtlich, musterte ihn mit einem Blick, den er nicht zu deuten wusste. Abscheu? Widerstand? Hass?
„Vielleicht war sie es, die die Falle gelegt hat! Tischt uns allen hier ein Märchen auf und noch weitere ihrer Art lauern im Wald. Möglicherweise gehört sie zu den Räubern.“ Die Soldaten blieben hartnäckig.
„Unfug!“ Ylaiy wurde zornig. „Dann hätte sie ihre Freunde getötet!“
„Sie ist eine Einheimische! Eine Sumpfratte. Denen ist alles zuzutrauen! Ihr solltet sie in Fesseln legen und in Fedaj abliefern!“
„Das werde ich nicht tun, Mann! Sie hat uns geholfen. Ohne sie wäre Baraten bereits tot. Und jetzt eilt euch! Je länger wir warten und streiten, desto geringer sind seine und Silas Überlebenschancen.“
Heftig kämpfte Ylaiy gegen seine Emotionen an. Die Soldaten diskutierten halblaut miteinander, stießen unterdrückte Flüche gegen die Frau und ihn aus.
Erneut wandte er sich der Einheimischen zu, die dem Wortwechsel stumm gefolgt war. „Hilfst du uns nun? Ich bitte dich. Videm bittet dich, Rana fleht dich an.“ Die Angesprochenen sahen hoch, nickten zu seinen Worten.
Es war, als ob er gegen den Wind sprach. „Nein.“
„Warum nicht? Warum sperrst du dich dagegen, Leben zu retten? Immerhin hast du es vorhin auch getan!“
Ihr Blick wanderte zu Rana. Für einen Bruchteil trübte sich ihre Miene, doch als sie gleich darauf Ylaiy anblickte, war ihr Gesicht wieder eingefroren. „Wendet Euch am Waldrand nach Osten. Umreitet den Wald. Der Pfad ist anfangs schmal, doch er wird breiter werden und Euch geradewegs in den Forst führen. Dort gelangt Ihr an eine Kreuzung. Nehmt den Weg nach Norden. Ihr könnt ihn nicht verfehlen. Es ist der am stärksten berittene.“
Sie wandte sich zum Gehen. Ylaiy griff bittend nach ihrem Arm. Sie stieß ihn von sich. Sofort ließen die Soldaten alles fallen und gingen auf sie los.
Sie reagierte augenblicklich, indem sie sich zu Boden warf. Einer der jüngeren, der die raschesten Reflexe aufwies, bekam ihr Bein zu fassen. Schleunigst trat sie mit dem anderen kraftvoll gegen sein Knie. Der Mann heulte auf und kippte zur Seite, das zerschmetterte Gelenk umschlingend.
Die anderen beiden setzten ihr nach, traten nach ihr, doch selbst auf der Erde war sie schneller als die Schwerter, die durch die Luft zischten. Wie eine Echse schlängelte sie sich zwischen Beinen und niederfahrenden Klingen hindurch.
„Hört auf! Lasst sie!“, schrie Ylaiy. Die Reiter indes waren vollkommen auf die Frau fokussiert, die ihrem Befehlshaber die Hilfe verweigerte, und ihn damit zum Tode verdammte.
Ylaiys Blick schwenkte zu Videm, der fasziniert beobachtete, wie sie den Stiefeln auswich - auf dem Bauch, auf Händen und Füßen, auf dem Hosenboden. „Hilf mir!“
Videm sah zu seinem Vater. Baraten rang mit Atemnot und krampfartigen Schmerzen. Entschlossen packte er Ylaiy und zerrte ihn mit sich.
Der Soldat machte große Augen, als Videms Schwertspitze sich in seinen Nacken bohrte. „Noch eine Bewegung und es ist deine letzte.“
„Herr“, stammelte der Soldat.
„Pfeif deinen Kameraden zurück.“
Der Angesprochene rief heiser nach dem Grauschopf, der sich umdrehte und den Mund aufriss. Ylaiy nutzte die Gelegenheit und sprang vor ihn, mit dem Schwert auf die Brust zielend.
Die Frau blieb auf dem Boden sitzen, bis ihre Atmung sich normalisiert hatte. Dann erhob sie sich langsam, den Bogen auf ihrem Rücken justierend. Mit gleichgültiger Miene trat sie an den älteren Soldaten, starrte ihn an, als wolle sie sich seine Züge einprägen. Ylaiy befürchtete, sie würde ihm ein Messer in die Kehle stoßen, doch offensichtlich verstand sie sich darauf, ihre Gefühle im Zaum zu halten.
Schließlich drehte sie sich zu Videm. „Ihr solltet Euch beeilen.“
Ylaiy bedachte sie lediglich mit einem ihrer feindseligen Blicke, die ihn zunehmend verstörten. Seine Sympathien für sie begannen zu schwinden. „Ich verstehe dich nicht. Es sind nur einige Stunden bis Fedaj. Du müsstest uns nur in die Nähe bringen, nicht einmal bis an die Tore. Ich werde dafür sorgen, dass die Männer dir nichts antun.“
„Ihr werdet dafür Sorge tragen?“ Der kaum verhüllte Hohn verletzte ihn mehr als der Widerstand der Soldaten. „Verzeiht, Hoheit“, zog sie den Titel in die Länge, „aber ich sorge lieber selbst für mich.“
Jetzt war er es, dessen Schwerthand sich hob, was sie mit einem Hochziehen der Augenbrauen quittierte. Die verächtliche Gelassenheit brachte Ylaiy vollends gegen sie auf. Er öffnete und schloss die andere Hand, konzentrierte sich auf den Abdruck, den die Fingernägel in der Handfläche hinterließen. „Dann geh!“, knirschte er. „Bete, dass du nie wieder auf mich triffst.“
„Eine Drohung.“ Sie klang unbeeindruckt. „Gehabt Euch wohl, Prinz. Viel Glück auf Euren Wegen.“
Der Grauschopf setzte ihr mit einem tierähnlichen Laut nach, sobald sie den Männern den Rücken zugewandt hatte. Er hob das Schwert, um es ihr von hinten in den Leib zu rammen. Doch noch bevor Ylaiy oder Videm einen Warnruf ausstoßen konnten, hatte sie sich weggedreht. Sie wirbelte um den Soldaten herum, der von der Wucht des eigenen Hiebes nach vorn geschleudert wurde. Als sie an seiner Seite war, blitzte etwas in ihren Händen auf.
Sie wusste es.
Ylaiy schloss die Augen, als das Messer mit tödlicher Präzision in das Herz eindrang, der Mann auf die Erde polterte und reglos liegen blieb.
Totenstille setzte ein.
Das Brüllen der Kameraden zerriss sie. In einer einzigen geschmeidigen Bewegung fuhren ihre Hände an die Oberschenkel, an denen, in flachen Taschen verborgen, zwei Dolche steckten. Doch sie erkannte mit einem Blick, dass von beiden Gegnern keine Gefahr mehr ausging. Der eine lag, sein Knie umklammernd, am Boden, der andere stand bewegungslos, da Videms Schwert sich in seinen Nacken presste.
„Bleib besser hier“, sagte Videm zu ihm. „Bei mir bist du sicherer.“
Mit dem Fuß kippte die Sumpffrau den Grauschopf auf den Rücken, zog die Klinge aus der Brust, stieß sie in die Erde und verstaute das Messer im Gürtel.
„Wie groß muss Euer Hass sein“, erscholl Baratens Stimme hinter ihnen. Er hatte sich auf die Seite gedreht, sprach abgehackt und schwimmend vor Schmerz. „Ihr rettet Leben, doch Ihr nehmt es auch mit einer Kaltblütigkeit, die mich schaudern macht.“
Sie starrte an ihm vorbei in den Nieselregen. „So schaudert.“
Ylaiy hatte den Eindruck, dass sie mehr hatte sagen wollen, aber sie begnügte sich mit den zwei Worten.
„Er hat angefangen, nicht wahr? Der Krieg?“
Ihr eisiger Blick und die mahlenden Kiefer waren Antwort genug.
Baraten ließ sich stöhnend zurückfallen.
„Was meint Ihr?“ Ylaiy sah fragend in die Runde.
„Das Dekret Eurer Mutter“, entgegnete Baraten. „Es kommt zu spät. Was ist passiert?“
Sie schwieg lange, schwelenden Hass in den Augen. Ihre Stimme klang rau, als sie antwortete. „Die Dörfer brennen. Das Alte Volk stirbt.“
Baraten ächzte. „Wo?“
„Jenseits des Sumpfes. Ich sah Malardh in Flammen aufgehen, die Überreste zweier Fischerdörfer auf dem Weg nach Westen.“
„Große Siedlungen?“
„Macht das einen Unterschied?“ Zum ersten Mal wurde sie lauter.
Baraten wandte sich ab. Videm sah Scham in den Zügen seines Vaters. „Das hätte so nicht sein dürfen.“
„Aber die Kaiserin … Meine Mutter … Sie hat es doch befohlen. Sie hat es niedergeschrieben in jener Nacht, Ihr erinnert Euch doch, Baraten? Sie schrieb es nieder und die Boten ritten aus. Sie befahl ausdrücklich, dass keine Einheimischen zu Schaden kommen sollen wegen Yvain.“
Auf die Kämpferin schien Ylaiys Gestammel keinen Eindruck zu machen. „Wer ist Yvain?“, fragte sie Baraten.
„Das erfahrt Ihr erst auf dem Weg nach Fedaj.“
„Hat er etwas mit Eurer geheimnisvollen Mission zu tun?“
„Ein Geheimnis? Wie kommt Ihr darauf?“
Sie zuckte die Schultern. „Der Thronfolger und ein Inquisitor auf Kânegg? Ohne große Eskorte, unerkannt? Soldaten, die ungestraft Leben vernichten? Wegen Yvain?“
Ihre Worte hingen in der Luft. Der Reihe nach schaute sie zu Baraten, Ylaiy, Videm und Rana, die schluchzend ihre Tochter in den Armen wiegte.
„Begleitet uns und Ihr erfahrt alles. Ich verspreche es.“
„Was sollte ich mit Euren Geheimnissen anfangen?“
„Ich weiß es nicht“, sagte der Inquisitor. „Aber Ihr wirkt interessiert, auch wenn Ihr gut darin seid, Eure Neugier unter einer Maske aus Gleichgültigkeit zu verbergen.“
„Ihr glaubt, mich lesen zu können?“
„Das ist meine Arbeit. Ich habe tausende Verdächtige, Angeklagte und Verurteilte verhört. Ich bin sehr gut darin, Menschen zu lesen, wie Ihr es nennt. Ihr verbergt ebenso viel vor uns. Etwas, das Euch antreibt, in den Norden führt, vorbei an mordenden Soldaten und brennenden Hütten.“
„Nichts als Vermutungen.“
Baraten entging der Hauch von Unsicherheit nicht. Er lachte keuchend auf, wurde gleich darauf von einem Hustenanfall geschüttelt, der ihm Schweiß auf die Stirn trieb.
Sie wartete reglos ab, bis er wieder sprechen konnte.
„Geleit, Frau, das kann ich Euch bieten. Kaiserlichen Schutz. Mit uns gelangt Ihr nach Fedaj, vorbei an den Wachen, die Euch an den Kragen gingen, sobald sie Eurer ansichtig würden. Ich kann Euch hinein bringen in die Höhle des Löwen.“
„Wer sagt, dass ich nach Fedaj will?“
„Mein Gefühl. Meine Erfahrung. Euer verborgenes Interesse. Euer Hass auf die Soldaten und den Thronfolger hier. Er muss Euch wie der Erzfeind vorkommen. Der Sohn der Kaiserin. Stiefsohn Urdat Veis, den viele Frâgg als den eigentlichen Usurpator ansehen. Vor allem die Tatsache, dass Ihr noch hier seid. Ihr hattet die Räuber in Sekundenschnelle überwältigt, ebenso meine Männer. Ihr hättet längst von hier verschwinden können, aber Ihr bliebt. Warum? Weil Ihr schlau seid. Listig wie ein Fuchs. In dem Augenblick, in dem Ihr ahntet, wer wir waren, nahm ein Plan in Euch Gestalt an. Nun, ich nehme Euch die Entscheidung ab. Unsere Geheimnisse und unser Schutz im Austausch gegen Eure Geheimnisse und Eure Hilfe. Willigt Ihr ein?“
Er hustete, grün im Gesicht. Blut spritzte aus seinem Mund und trat in seine Augen.
Statt einer Antwort ging sie zu den Pferden und führte sie zu Rana. Dann winkte sie Videm heran, damit er ihr und Rana half, Sila auf den Tierrücken zu hieven. „Eine Bedingung“, sagte sie.
„Nur eine?“, würgte Baraten heraus.
„Eure Begleiter bleiben in Bantafej.“
„Einverstanden.“
„Sie sollen die Toten beseitigen. Alle Toten. Vorher renke ich das Knie Eures Untergebenen ein.“
Die beiden verbliebenen Soldaten erdolchten sie mit ihren Blicken, doch Baraten fand die Kraft, den Arm zu heben, um ihre Proteste im Keim zu ersticken. „Sie hat recht. Das Gesindel hat möglicherweise Verbündete in der Nähe. Werft sie über die Klippen. Eure Kameraden tragt zu der Grube, von welcher der Prinz sprach. Bedeckt sie. Danach wendet euch nach Bantafej. Lasst euch versorgen. Kehrt zum Hof zurück. Ihr habt gute Arbeit geleistet und sollt reichlich entlohnt werden. Teilt euch ein Säckel.“
Er wies mit dem Kopf auf den Münzsack an der Seite seines Rosses. Den Soldaten stand der Mund offen angesichts der unerwarteten Großzügigkeit. Sie nickten zum Zeichen des Danks und des Gehorsams.
In Ylaiy stieg Neid hoch, als er sah, mit welcher Würde und Leichtigkeit Baraten Anweisungen gab. Wie selbstverständlich sie ausgeführt wurden. Er versank in Grübeleien, beobachtete die fremde Frau, während der weiter geschrumpfte Tross sich bereit zur Abreise machte.
Sie war vor uns da, doch wir haben kein Boot gesehen.
Er betastete seinen Schopf. Feucht, benetzt vom Sprühregen, doch nicht nass wie ihrer.
Es war Salz auf ihrer Haut.
Er ritt an den Abgrund, blickte in die Tiefe, sah die Gischt meterweit in den Himmel steigen. Die Wellen brandeten mit solcher Kraft an die Klippen, dass sie kleinere Boote zerschellen ließen. Sie musste draußen auf dem Ozean auf die ersten Vorsprünge geklettert und über sie hinweg Richtung Ufer balanciert sein. Anstrengend und gefährlich. Sie musste eine ausgezeichnete Schwimmerin sein oder sie hatte gelogen, als Baraten ihre Geschichte aufdeckte.
Abwesend trat er dem Pferd in die Flanken und lenkte es den anderen hinterher, als der Schrei des unverletzten Soldaten ihn fast vom Tierrücken stürzen ließ.
„Die Räuber! Sie verschwinden! Bei meiner Seele, so etwas habe ich noch nie gesehen.“ Der Berittene war zurückgesprungen. Mit Daumen und Zeigefinger zeichnete er hastig verworrene Zeichen auf seine Stirn. Ylaiy erkannte sie als uralte Symbole der Dämonenabwehr.
Hokuspokus.
Wenn er ehrlich war, stand ihm beim Anblick der rauchenden Leichname selbst der Sinn nach göttlichem Beistand, doch er sprang vom Pferd - viel gelenkiger als bei der Abreise von Yruish - und trat näher an die Räuber.
Es war furchtbar, so widerlich, dass er sich die Nase zuhielt wegen des ranzigen Gestanks. Über den Leichen hatte sich eine gelbliche Qualmsäule gebildet, die rasch zur Bucht hin abzog.
Gleich darauf registrierte er eine Bewegung. Die Kämpferin tauchte neben ihm auf, das Gesicht nachdenklich verzogen. Auch Videm trat hinzu, würgend wegen des beißenden Qualms und des Fäulnisgestanks. „Argh“, stieß er hervor. „Was geschieht hier?“
„Sie verwesen“, gab die Frau zurück.
„Ihr meint, sie lösen sich auf?“ Videm klang ungläubig.
„Seht selbst. Das Fleisch schwindet und verwandelt sich in Fett. Die Knochen kommen zum Vorschein.“
„Ist das nicht ein wenig zu schnell?“
„Viel zu schnell. In den Sümpfen im Süden herrschen hohe Temperaturen und hohe Luftfeuchtigkeit. Aber nicht einmal dort verfaulen Tote innerhalb einer Stunde. Hier ist es kalt und das Salz in der Luft sollte verlangsamend wirken. Das ist höchst ungewöhnlich.“
„Hier stimmt etwas ganz und gar nicht“, nickte der Prinz. Trotz des ekelerregenden Anblicks leuchteten seine Augen vor wissenschaftlicher Begeisterung. „Wo sind die Fliegenlarven? Die Maden? Was soll der Rauch? Es entstehen Gase, wenn ein Körper verrottet, aber doch nicht in Form einer Säule. Und, oh, seht hin! Die Knochen lösen sich auf. Sie verschwinden. Das ist … das ist … Mir fehlen die Worte! Ich muss das aufschreiben, gleich heute Abend.“
„Das ist ein Spuk“, sagte der Soldat verängstigt.
„Zauberei“, murmelte Videm.
Die Kämpferin schwieg. Ihre unergründlichen Augen lösten sich erst von dem Spektakel, als die Toten verschwunden waren und nur zwei Häufchen qualmender Kleidungsstücke zurückblieben. Sie ging zu einem der Haufen und hob ein Wams hoch. Es war fadenscheinig, an mehreren Stellen eingerissen. Auf dem Rücken hatte es ein Loch mit dunklen Rändern. Mit einem unterdrückten Zischen ließ sie es fallen, als die Ränder sich nach allen Seiten ausbreiteten und ihr die Fingerkuppen versengten.
Entgeistert schauten sie zu, wie das Kleidungsstück mit einem Fauchen vom Antlitz dieser Erde verschwand, als hätte es nie existiert.
Rücklings lag Sila auf dem gutmütigen Wallach, der ihren Zustand zu fühlen schien und vorsichtig einen Huf nach dem anderen durch das dürftige Hochlandgras zog. Fedaj war nahe, aber noch nicht in Sichtweite. Laubbäume hatten sich unter die Nadelhölzer gemischt und die Blätter am Boden nahmen beständig zu. Rana hockte mit bekümmerter Miene auf ihrer Stute. In schlimmen Momenten wähnte sie Sila bereits tot. Dann schreckte sie auf, tastete hinüber zum Hals ihres Kindes, atmete hörbar aus, wenn sie den Pulsschlag spürte. Jedes Mal flehte sie ihre Tochter stumm an, die Augen zu öffnen. Doch Silas Wimpern glichen violetten Schatten.
Auch Cledent Baratens Zustand verschlechterte sich. Die meiste Zeit dämmerte er vor sich hin, bis ein Hustenanfall oder ein Schmerzenskrampf ihn erfasste. Videm blieb neben ihm. Mit seiner sorgenumwölkten Stirn und dem verzweifelten Blick ähnelte er Rana.
Ylaiy ritt am Ende der kleinen Kolonne. Immer wieder wanderten seine Augen über Sila und Baraten. Abwesend kaute er auf den Nägeln, riss winzige Hautfetzen von den Fingerspitzen.
Die Kämpferin wartete, bis der Weg sich verbreiterte und sie neben den Baratens ausschreiten konnte. Sie hatte keine Mühe, mit dem Tempo der Pferde mitzuhalten.
„Wer ist Yvain?“, wiederholte sie ihre Frage.
Baraten hüstelte, die Augen zu Halbmonden geschlossen.
„Willst du ihm nicht etwas Zeit geben? Du kommst schon zu deinem Recht!“, empörte sich Ylaiy.
Sie sah ihn kaum an. Das brachte Ylaiy noch mehr auf, doch Baraten hob besänftigend die Hand. „Er ist der Neffe der Kaiserin. Ihre Schwester, die Drana’sora, lebt in Fedaj. Vor fast sechs Wochen verschwand er im Forst von Fed, drei Meilen vor den Stadttoren. Er war von berittenen Männern umgeben, die ständig zu seinem Schutz abgestellt waren. Man fand die Leibwächter und ihre Pferde. Allesamt tot, grausam entstellt. Von dem Jungen fehlt jede Spur.“
Die Frau schwieg eine Weile. Hinter ihrer Stirn arbeitete es. Schließlich stellte sie eine seltsame Frage. „Trug er eine Uniform?“
„Warum um alles …“ Baratens Antwort ging in einem Hustenanfall unter. Er fasste sich mit beiden Händen an den Hals, der schlagartig bis zur Unförmigkeit angeschwollen war, und keuchte pfeifend. Sein Brustkorb hob sich in dem verzweifelten Bemühen nach Luft.
Die Kämpferin brachte das Pferd zum Stehen, riss mit einem Ruck Baratens Umhang und Mantel auf, schnitt die Untergewänder entzwei.
Vergebens.
Mit vor Grauen verzerrten Gesichtern beobachteten sie, wie der Inquisitor blau anlief. Seine Zunge schien immer größer zu werden. Poren öffneten sich. Eitrige Flüssigkeit lief aus ihnen heraus. Blut sickerte aus seinen Augen, sammelte sich in den Ohren, platzte in Blasen aus Nase und Mund.
Hastig hüllte die Kämpferin ihren Kopf in ein Tuch. „Trug er Uniform?“, wiederholte sie, lauter diesmal.
Baraten blubberte, versuchte, Worte zu artikulieren, doch niemandem gelang es, sie zu verstehen.
„Sprecht!“, rief die Frau, mit der Faust auf seinen Brustkorb einschlagend. Videm zuckte bei dem Hieb zurück.
Ylaiy griff sie am Arm. „Was tust du? Lass ihn in Ruhe!“
„Nein, Prinz“, antwortete Rana an ihrer Stelle. „Lasst sie gewähren. Er stirbt! Sie hält sein Herz am Schlagen.“
Videms Augen wurden zu dunklen Löchern und er erstarrte, während Ylaiy zu fiebernder Geschäftigkeit erwachte. „Was? Dann, dann … beatmen. Wir müssen ihn beatmen. Er bekommt doch keine Luft!“
Die Kämpferin riss ihn hart am Kragen zurück, als er sich über Baraten beugen und ihm den eigenen Atem einflößen wollte. Ylaiy wehrte sich gegen ihren eisernen Griff. Wut und Verzweiflung ließen ihn hässlich aussehen und ihr schmähliche Dinge entgegen brüllen.
Mit der flachen Hand schlug sie ihm auf die Wange. Ylaiy tobte, als sein brodelnder Verstand realisierte, dass sie ihm soeben eine Ohrfeige verpasst hatte. Er hob die Arme, boxte um sich, traf sie aber kaum.
Endlich drangen ihre Worte an sein Ohr. „Er ist vergiftet. Der Pfeil. Er war vergiftet.“
Unversehens wurde er still. „Was?“
„Ich weiß nicht, welches Gift sie verwendet haben, aber ich rate Euch, Euren Mund nicht in sein Blut zu tauchen.“
Sie atmete schwer, als sie sich erneut Baraten zuwandte, dessen Haut zerlief wie Siegelwachs. Blut, Eiter und Lymphe vermengten sich zu einer stinkenden, klebrigen Substanz, die seinen Körper bedeckte wie ein Kokon. Der Inquisitor kämpfte gegen die Atemnot, zuckte und zappelte. Das Gesicht war kaum noch zu erkennen, die Bewegungen der Lippen ein kaum merkliches Auf und Ab in den Schlieren.
„Trug er Uniform?“
„Ja“, gurgelte Baraten. „Er ist Soldat.“
Die Kämpferin prallte zurück und entfernte sich einige Schritte. Sie nahm die blutbespritzten Tücher vom Kopf, knüllte sie zusammen, warf sie in einen Laubhaufen. Danach zog sie die Umhangkapuze weit in die Stirn. Ihr Antlitz verschwand im Schatten. Sie wirkte sehr nachdenklich.
Baraten wandte die verschmierte, unförmige Masse, die einst sein Gesicht gewesen war, seinem Sohn zu. In ihm standen Trauer, Wehmut und so viel Liebe, dass Videm trocken aufschluchzte.
„Ich bin so stolz auf dich“, artikulierte er mühselig. Dann blickte er angestrengt zu Rana. „Er soll die Wahrheit erfahren. Er ist ein Mann.“
Rana nickte. Tränen liefen über ihre Wangen.
„Verzeih mir“, war das Letzte, was Cledent Baraten sagte, bevor er für immer die Augen schloss.
Entsetzte Stille senkte sich auf die Gruppe. Betäubt starrten Videm, Ylaiy und Rana auf den Leichnam. Nur der Verstand der Kämpferin realisierte das kräftige Flügelrauschen. Ihr Kopf ruckte hoch. In Windeseile sprang sie unter den Bäumen hervor, fixierte den dunklen Himmel. Sie glaubte, einen riesigen Schatten über ihn gleiten zu sehen. Doch Regentropfen fielen ihr in die Augen und sie musste sich eingestehen, dass sie möglicherweise nur eine Wolke wahrgenommen hatte.
Ein richtiger Wald. Kein verseuchter, verrotteter, verfaulter Dschungel mit mannshohen Farnen und Schachtelhalmen, taubengroßen Libellen und Milliarden von Tieren, die sie entweder töten oder in den Wahnsinn treiben wollten.
Genüsslich sog Adiv die klare, kalte Luft ein, die ihre Sinne berauschte. Eine Welle des Heimwehs überkam sie, so sehr erinnerte die Mischung aus Fichtenholz, Harz und wilden Beeren sie an Kaadaa.
Ich muss verrückt sein. Ich bin dem Gefängnis entronnen, aber ich sehne mich nach zu Hause.
Lächelnd kratzte sie über einen verschorften Moskitobiss.
Sie lagerten auf einer Anhöhe, die sie vor zwei Stunden erklommen hatten. Die Anhöhe war Menschenwerk, eine künstliche Aufschüttung, die einst als Aussichtspunkt oder Bollwerk gedient haben mochte. Gegenwärtig lag sie gut versteckt unter dichten Sträuchern. An drei Seiten ragten Bäume in die Höhe, Nadelhölzer genauso wie Laubgewächse. Blätter übersäten den gefrorenen Boden. Kein Pfad führte den Hügel hinauf. Das Beste war, dass keine Stiefelspuren die Erde verunreinigten.
Ansonsten wimmelte es im Forst von Hufspuren, Fußabdrücken und Furchen, die Kutschen und Handwagen in den Untergrund getrieben hatten. Akim hatte ihr die Spuren erklärt. Berittene Soldaten, umherziehende Händler, wandernde Handwerker, streunende Diebesbanden, spielende Kinder. Kreuz und quer durch den Forst verlief ein Netz breiter Straßen. In regelmäßigen Abständen ragten Pfähle an den Wegesrändern auf.
„Sie dienen der Orientierung, vor allem im Winter. Damit die Leute sich nicht im Schnee verirren.“ Jonoy schien alles zu wissen und zögerte nicht, es unentwegt an sie und Akim weiterzugeben. Manchmal brummte ihr der Kopf von all den Informationen, mit denen der Schmied sie fütterte.
Akim war den Schneisen frühzeitig ausgewichen. Unbehelligt hatte er sie auf die Anhöhe geführt. Von hier aus erkannten sie die Mauern der Militärstadt, deren Zinnen im Dunst schwammen.
Das Wetter auf der Insel war zum Verzweifeln. Es kam nur in Extremen vor: Hitze, Feuchtigkeit, Kälte, Nebel. Als sei es nur dazu da, die Menschen fernzuhalten. Wobei das kühle Klima des Nordens ihr wesentlich angenehmer erschien als der schwüle, drückende Süden. Vielleicht, weil es dem Kaadaas ähnelte.
In einem Anflug von Melancholie griff sie nach dem Beutel ihrer Mutter und stülpte ihn um. Nicht zum ersten Mal betrachtete sie die Döschen und Säckchen. Sie enthielten allerlei Kräuterspitzen, zerriebene Gräser, geraspelte Rinde, getrocknete Blüten, die längst ihre Farbe und vermutlich auch ihre Wirkung verloren hatten, eine schmierige Paste und zusammengebundene Halme.
Erinnere dich.
Hatte ihre Mutter sie je eingeweiht in ihre medizinischen Kenntnisse? Sie über die Gifte aufgeklärt? Ihre Faust schloss sich um das Leseglas ihres Vaters, während sie an ihn dachte, an den Kuss, den sie ihm jeden Tag widerstrebend gegeben hatte. Wehmut und Trauer fielen sie an. Reue, wenn sie an die Buchstaben und Zeichnungen dachte. Ein wenig mehr Mühe und Aufmerksamkeit, mehr hätte es nicht gebraucht. Ob Arlen ein besserer Schüler gewesen war? Ihre Gedanken jagten zurück, suchten nach dem Gesicht des Jungen. Neugierige Augen. Ein liebenswürdiges, mit Zahnlücken durchsetztes Grinsen, das die Menschen dazu brachte, ihn in ihre Herzen zu schließen.
Selbst ihre Eltern.
Hastig schob sie das Leseglas weg, nahm die Werkzeuge in die Hand, wog sie, begutachtete sie. Schlüssel in unterschiedlichen Formen und Größen, Haken, Ösen aus dünnem Eisendraht, seltsame Geräte mit zwei Beinen, die man zusammendrücken konnte; geschaffen, um kleine Dinge zu greifen.
Die Goldmünzen hielt sie prüfend in der Hand, verstaute dann zwei in der Hosentasche. Sie wusste nicht, wie viel die Münzen wert waren, doch sie mochten ausreichen, ihnen den Weg nach Fedaj hinein zu erkaufen.
Als sie den leeren Rucksack schüttelte, weckte sie die Aufmerksamkeit Akims, der an sie heran rutschte, ihr den Beutel aus den Händen nahm. Er rüttelte ihn durch, das Ohr an das Leder gelegt, und entdeckte eine verborgene Öffnung dicht unter der Wulst, welche die Kordel hielt, mit der man den Beutel zuzog.
Die geheime Tasche bestand aus kunstvoll gekreuzten Schnüren, die Adiv für Ornamente gehalten hatte. Sie half Akim, die Schnüre aufzufädeln. Dann langte sie in die Innentasche.
„Pergamente“, stellte sie fest. „Dünn und sehr brüchig. Sieht so aus, als wurden sie mehrfach beschrieben.“
„Was steht darauf?“, fragte Akim, nachdem Adiv vorsichtig die erste Tierhaut entfaltet hatte.
„Zeichnungen. Krakeleien. Dieselben wie auf unseren Wänden. Aufzeichnungen meines Vaters, aber ich kann sie nicht entziffern.“
Ein wenig Mühe und Aufmerksamkeit. Mehr hätte es nicht gebraucht.
Neben ihnen bewegte sich der Schmied im Schlaf. Unter seinen Lidern rollten die Augen hin und her.
Er schlief oft in den letzten Tagen. Die Anstrengungen des Marsches, die Nachtwachen, die ihn bestürmenden Gedanken und die Sorge vor der Zukunft erschöpften ihn. Immer häufiger waren sie gezwungen, eine Rast einzulegen. Wenn sie dann an seiner Seite wachte, nutzte Akim die Zeit, um den Weg auszuspähen und Nahrung zu erbeuten. Sein neuer Speer leistete ihm dabei hervorragende Dienste. Sie aßen gut; jeden Abend wohlschmeckendes, kräftigendes Fleisch von Kaninchen, Hasen, Wasserratten. Das Schlangenfleisch kostete Überwindung, doch es mundete nicht schlecht und war überraschend weich. Den jungen Alligator, den sie über dem Feuer geröstet hatten, warfen sie allerdings weg; er war zäh und schmeckte nach Schlamm. Zum Nachtisch bevorzugte Adiv eine Handvoll säuerlicher Beeren, während Jonoy auf einem Salbeiblatt kaute und Akim aus seinem Vorrat von Insekten, Maden und Käfern naschte.
Als er zu einem Schrei ansetzte, legte Adiv eine Hand auf den Mund des Alten, die andere auf seine Brust. Jonoy erwachte mit einem erschreckten Ausdruck in den verschwommenen Augen.
„Pst. Es ist alles in Ordnung. Du hast geträumt.“
Er setzte sich stöhnend auf. „Wenn das so weiter geht, bin ich bald nur noch eine Hülle von Mensch.“
„Ach was“, winkte Adiv ab. Sie verlieh ihrer Stimme einen betont forschen Beiklang. „Erzähle von deinem Traum. Er mag wichtig sein.“
„Das sagst du jedes Mal.“
„Weil es stimmt, alter Mann.“ Sie gab ihm einen aufmunternden Klaps.
Jonoy verdrehte die Augen. Gegen Adivs Beharrlichkeit war er in der Regel machtlos. „Alles ist undeutlich, wie immer. Geheimnisvolle Gestalten im Nebel. Sie kommen mir bekannt vor, sind aber so vage, dass ich nichts mit ihnen anfangen kann. Der Flug, auch wie immer. Wüste, Felsen, Blau. Dann endlos Grün in allen Schattierungen. Mittlerweile bin ich sicher, dass es sich um die Sumpfinsel handelt. Ich meine, hast du schon einmal mehr Grün gesehen als hier?“
„Nein. Allerdings fanden meine Ausflüge meist unter der Erde statt.“
„Erneut Blau, dunkel diesmal, eher ein Grau. Weiß. Unermesslich viel Weiß. Weiß mit Mustern.“
„Vor dem Weiß kommt noch ein Gewässer“, dachte sie laut. „Das Meer nördlich von hier? Ist es dunkel?“
„Hmm. Die Festung ist grau, der Himmel, die Felsen im Umkreis sind es, warum nicht auch das Meer?“
„Wir sind auf dem richtigen Weg, ich weiß es.“ Zur Bekräftigung hieb Adiv mit der Faust auf den Boden.
„Soso. Du weißt es. Der viel gerühmte sechste Sinn?“
„Was?“
„Vergiss es“, winkte Jonoy ab. „Deine Idee ist nicht schlechter als alle anderen. Nun sind wir einmal hier, da können wir unserer Spur genauso gut weiter folgen.“
„Du zweifelst noch immer?“
„Du nicht?“
Sie schlug die Augen nieder. Für einen Augenblick herrschte bedrücktes Schweigen. Dann fiel Jonoys Blick auf die Pergamentbündel. „Hammer und Amboss! Was ist das? Woher kommt das?”
Sie berichtete von der verborgenen Tasche. „Mutter muss sie dort hineingesteckt haben, als sie aus unserer Wohnung floh. Die Niederschriften gehörten meinem Vater.“
„Kannst du sie lesen?“
„Nein“, sagte sie kleinlaut.
„Zeig her. Vielleicht erkennen wir etwas.“
Adiv breitete die vier Schriften auf der Erde aus. Sie benutzte kleine Steine, um sie an den Ecken zu beschweren, achtete darauf, dass der Untergrund nicht feucht oder zu schmutzig war. „Gut. Dieses Pergament ist eine Abschrift von einer der Zeichnungen an unserer Wand.“
„Das ist das Dran’bara. Die Kopie ist recht detailliert. Schaut! Buchten, Halbinseln, Landzungen. Da ist die Meerenge, die wir durchschwommen haben. Die Straße von Takaa. Die Beschriftung ist in der Reichssprache.“
„Sie sieht so klein aus“, staunte Adiv. „Nicht einmal so groß wie mein Finger, doch wir haben Tage benötigt, um von hier nach dort zu kommen.“ Sie wies mit dem Zeigefinger auf die entsprechenden Stellen.
„Kaadaa ist riesig!“, rief Akim dazwischen.
„Das ist nur die Ausdehnung über der Erde“, nickte Adiv.
Jonoy wirkte erregt. „Der größte Teil besteht aus dem Gefängnis. Schaut, hier oben! Seht ihr den Stern hier? Das ist K’yr. Die Bastion gibt es tatsächlich im Gebirge.“
„So sind diese Zacken Berge?“
„Ich vermute es. Hier, Akim, das ist Berlen. Dein Dorf ist nicht eingezeichnet. Es liegt ganz am Rand im Südwesten. Auch hier finden sich die Zacken.“
„Die Huon-Hügelkette. Danach die Dünen, sehr große Wanderdünen. Die bekannteste ist die Warad.“
„Sie sind nicht beschriftet. Offenbar kennt sich der Zeichner in Berlen nicht gut aus.“
„Auf diesen beiden Inseln schon“, sagte Akim.
„Yruish und Prant. Die Zentren des Reiches, fast völlig erschlossen. Schaut euch die Hauptinsel an. All die Striche sind Straßen und Wege.“
„Sie führen überall hin.“
„Auf Yruish ist das Reisen unkompliziert. Man kann sich ein Pferd nehmen oder einen Esel. Man kann eine Kutsche besteigen, einen Handwerker oder Bauern bitten, auf dem Wagen mitfahren zu dürfen, oder man läuft. Entlang der Straßen, vor allem der Hauptrouten, gibt es viele Orte mit Wirtshäusern und Ställen.“
„Auf Yruish verlaufen die Straßen kreuz und quer. Auf Prant sind sie geradlinig“, bemerkte Adiv.
„Auf Prant leben die besten Handwerker und Gelehrten, unter ihnen Baumeister, Straßenplaner und Tüftler. Das Straßennetz wurde künstlich angelegt. Wie ein Pajut-Brett.“
„Was ist das?“, fragten Adiv und Akim gleichzeitig.
„Oh, Kinder, was wisst ihr doch wenig! Pajut ist ein Denkspiel. Man spielt es auf einem Holzbrett. Linien unterteilen das Brett in Felder, auf denen man seine Spielsteine bewegt. Irgendwann bringe ich es euch bei.“
Sie schwiegen, für den Augenblick in einer glücklichen Zukunft.
„Wo sind wir jetzt? Auf der Karte, meine ich“, fragte Adiv.
Jonoy strich sich über den zerzupften Bart. „Hmm, ungefähr hier. Dort ist wieder ein Sternsymbol.“
„Fedaj“, erriet Akim.
„Ja. Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass die Sterne Militärlager sind. Garnisonen und Festen, die kleineren eher Zeltlager.“
„Sie sind überall auf Kânegg und Staleph“, warf Adiv ein. „Auf den anderen Inseln gibt es kaum welche.“
„Berlen ist zu lebensfeindlich. Da sind die vier Oasen im Osten mit Stützpunkten nahe der Furt. Dahinter kommt die Wüste. Unbekanntes Land. Doch ich habe so ein Gefühl, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Prants Erfinder und Yruishs Geldverleiher einen Weg durch die Dünen finden. Dann wird auch Berlen erschlossen. Sie werden es erkunden, nach Rohstoffen durchwühlen, den Handel ausbauen. Und wenn es der Sand ist, den sie nach Yruish schiffen.“
„Yruish, Prant und das Gefängnis sind genau genommen riesige Stützpunkte“, meinte Akim leise. „Deswegen sind keine Sterne eingezeichnet.“
„Stimmt. Der größte Stern von allen ist Fedaj. Seht ihr die schraffierte Fläche mit den Wolken darin? Das dürfte Wald sein. Hier steht es auch: Forst von Fed. Darin befinden wir uns gerade. Der Punkt links von Fedaj ist übrigens Bantafej, von dem uns deine Padchuri berichtete.“
„Abgesehen davon gibt es hier oben nicht viel“, sagte Adiv. „Wälder, eine zerklüftete Küste, dahinter das Meer. Wellenlinien sind Wasser, das begreife selbst ich.“
„Ja, und hier, hinter den Wellenlinien, so weit im Norden, dass es kaum mehr auf die Karte passt, die unbekannte Insel. Die, die auf anderen Landkarten nie auftaucht.“
„Unglaublich“, schüttelte Adiv den Kopf.
„Nicht wahr? Das Kaiserreich existiert seit ungezählten Generationen. Aber niemand hat je zuvor dieses Eiland gesehen. Kein Mensch berichtet davon, und doch soll es da sein? Ich weiß nicht. Ich habe meine Zweifel.“
„Die alten Madif erzählen von ihm“, korrigierte Akim. „Vielleicht haben sie es gekannt.“
„Woher denn? Für Madif liegt die Insel am anderen Ende der Welt. Sie ist ein Mythos, vergiss das nicht.“
„Was, wenn der Mythos wahr ist? Wenn das Eisland aus Eis besteht, wie Jula berichtete? Schwimmt es dann? Hat es sich von Berlen losgerissen? Ist nach Osten getrieben? Vor langer Zeit?“
„Das klingt mehr als abenteuerlich.“
„Gradh und ich fanden Muscheln in der Wüste. Dabei liegen die Küsten weit weg.“
„Was besagt das?“, fragte Adiv verwirrt.
„Dass das Land einst anders aussah. Es gab Wasser, wo heute Sand ist. Warum sollte es nicht auch eine Insel vor Berlen gegeben haben?“
„Eine Insel aus Eis wäre geschmolzen“, erwiderte Adiv.
„Vielleicht war es damals noch nicht so warm. Möglicherweise sind ja die Gewässer heute immer noch kalt, obwohl das Land warm ist?“ Akim sah Jonoy und Adiv beschwörend an. Seine Hand schwebte über der Karte.
„Also gut“, beschloss Jonoy. „Konzentrieren wir uns auf die Eisinsel. Es gibt wenige Anmerkungen zu ihr auf der Karte. Aber da ist das Kreuz, welches du neulich erwähnt hast.“
„Gibt es das auch auf Berlen?“, fragte Akim, einer plötzlichen Eingebung folgend.
„Hier. Das ist die Stelle, an der ich dich fand, denn dort siehst du Puard. Die Entfernungen stimmen.“
„Wenn alle Sterne Militärstützpunkte bedeuten, alle Wellen Wasser, alle Flächen Waldland, alle Striche Wege, dann sind alle Kreuze …“
„Felsen?“ Adiv klang ungläubig.
„Die sind gezackt“, gab der Junge zurück. „Aber besondere Felsen. Schwarze Felsen. Nicht nur der auf Berlen. Es gibt einen auf der Eisinsel, einen hier unten, weit draußen im südlichen Meer und hier.“
Sein Finger stieß in das Pergament. Adiv hielt die Luft an und starrte zu Jonoy, der ebenso verblüfft aussah wie sie.
„Auf K’yr?“
„Das Kreuz ist hier, verdeckt durch die Zeichen für Gebirge und Militärbasis“, bestätigte Jonoy. „Hast du je einen Schwarzen Felsen gesehen, Adiv? Einen, der aus dem Nichts erschien und sich dann wieder auflöste?“
„Stellst du die Frage im Ernst?“
„Ist K’yr von der Boragha aus zu sehen?“
„Man sieht Felsen. Sie haben seltsame Formen: Säulen, Flaschen, Kalebassen.“
„Eine schwarze Felsnadel wäre sicher aufgefallen.“
„Außer vielleicht nachts. “
„Eine abwegige Idee“, formulierte Jonoy nachdenklich.
„Sehr“, gab Adiv zurück.
„Wer weiß“, sagte Akim.
Sie schwiegen lange, starrten auf die Karte.
„Ich glaube tatsächlich, der Name der Eisinsel ist Drahórsul“, merkte Jonoy schließlich an. „Er ist nicht in Yr geschrieben, erinnert aber daran. Eine frühe Variante oder eine bestimmte Mundart. Die Buchstaben sind anders, aber ähnlich. Das würde die Aussagen Julas und Chadas bestätigen.“
„Was noch?“, fragte Adiv.
„Nicht viel. Die Eisinsel ist ziemlich … blank. Entweder, weil man nicht wusste, wie es dort aussah oder weil es dort nichts gibt.“
„Außer Eis“, sagte Akim.
„Ich sehe eine gerasterte Fläche hier im Süden, doch ich weiß nicht, was sie bedeutet. Ein See? Dann das Gewirr aus Strichen im Westen.“ Der Schmied zuckte ratlos mit den Schultern.
„Lasst uns die anderen Pergamente betrachten“, schlug Adiv vor und entrollte das nächste Bündel.
„Sieht die Zeichnung nicht aus wie die Eisinsel auf dem ersten Pergament?“ Akims Stimme klang aufgeregt.
„Bei meinem Barte, du hast recht“, erwiderte Jonoy. „Eine vergrößerte Zeichnung der ersten.“
Gespannt beugte er sich vor. Die Diebestochter und der Fährtenleser lehnten sich über seinen Rücken und betrachteten das Pergament. Im Gegensatz zum ersten schien es sorgfältiger gearbeitet. Es gab Zeichen und Buchstaben in schwarzer, roter und blauer Tinte.
Adiv erkannte die Buchstaben der größten Beschriftung wieder. Sie verliefen quer über die Insel. Drahórsul. Wie Luftblasen stiegen ein paar der verschnörkelten Lettern aus ihrer Erinnerung auf und ein warmes Gefühl durchströmte sie. Für einen unwirklichen Augenblick sah sie sich in Arlens Alter. Wie sie sich über den wackligen Tisch beugte. Langsam mit dem Finger die Buchstabenkolonnen abfuhr, die ihr Vater ihr hinhielt.
Erinnere dich.
Ja doch. Aber die Rückblicke kamen qualvoll. Sie konnte nur einen nach dem anderen bewältigen.
„Da ist die gerasterte Fläche wieder“, sagte Jonoy. „Sie nimmt fast den gesamten südlichen Teil ein.“
„Kannst du den Namen entziffern?“, wollte Akim wissen.
„S. Ein T. Was ist das? Ein Y? Und dieses? F. Nein T. Nein, doch ein F. Ein waagerechter Strich. Ein T. H oder A. Nein, ein H. Der nächste ist ein A. Und ein L. STYF-THAL. Dann erneut ein Strich. Das dahinter ist undeutlicher, in Kleinbuchstaben geschrieben.“
„Vielleicht, weil es kein Name ist“, schlug Adiv vor.
„Was sonst?“
„Eine Landschaftsbezeichnung?“
„Hmm. Versuchen wir es. Der erste Buchstabe ist noch groß. Ein E, würde ich sagen.“
„Ebene“, sagte Adiv, nachdem sie unhörbare Wörter gemurmelt hatte.
„Ebene, ja.“ Jonoy übersetzte das Wort für Akim.
„Dann sind alle Raster Ebenen“, überlegte Akim halblaut. „Fast die gesamte Insel. Kaum Berge.“
„So ist die Insel unglaublich flach“, schlussfolgerte Jonoy. „Nur kleine Spitzen. Hügel. Erhebungen.“
„Dann hier das Kreuz“, fuhr Adiv fort. Langsam gefiel ihr das Rätselraten. „Ein Schwarzer Felsen? Das Kreuz ist rot. Für das Blut?“
„Oder weil es etwas Wichtiges kennzeichnet“, warf Jonoy ein. „Sieh hier! Die vielen Striche im Westen. Sie enthalten auch viel Rot. Wenn ich recht habe, muss dort etwas Bedeutsames sein.“
„Ein Palast?“, schlug Adiv vor.
„Vielleicht der Ort, an den sie die Kinder bringen“, presste Akim heraus.
Ein Kloß verstopfte Adivs Kehle. Sie schluckte und räusperte sich, bevor sie weiter sprach. „Falls es eine Festung ist, dann ist sie ein Irrgarten. Es gibt Unmengen an schwarzen und roten Strichen. Kreuz und quer durcheinander. Welchen Namen trägt der Ort?“
„Oje“, murmelte Jonoy. „Ein Gewirr von Buchstaben. Immerhin in Großbuchstaben.“ Er betrachtete das Wort. Seine Zunge spielte mit der Unterlippe, erwischte ein Barthaar, das er abwesend ausspuckte. „O’shu’o-gh. Oder so ähnlich.“
„Klingt grässlich“, sagte Adiv.
„Eine Sprache, die ich nicht kenne.“
„Hier ist ein blauer Strich, der von O’shu’o-gh zu dem Felsensymbol führt. Ein Weg?“ Akims Augen huschten über das Pergament.
„Mhm.“ Jonoy wirkte unschlüssig.
„Darf ich mal versuchen, den Namen unter dem Kreuz zu lesen?“, fragte Adiv. „Die meisten Lettern hast du schon einmal genannt. Andere wollen mit aller Macht aus meinem Geist hervor.“
„Nur zu.“
„Gut. Also: U, _, _ A, L‘ T, H, O, N, N. Ich erinnere mich nicht an die beiden“, sagte sie, auf den zweiten und dritten weisend.
„R, D.“
„Urdal‘Thonn. Davor stehen Wörter in Kleinbuchstaben, also keine Eigennamen. Es sind zwei Wörter, oder?“
„Ja“, bestätigte Akim.
„Santeuon“, entzifferte Jonoy mühsam und blickte zweifelnd auf. „Das ergibt wenig Sinn.“
„Zwei Wörter“, wiederholte Adiv.
„Sante uon?“
„Von. Das u ist ein v. Sante von. Das stimmt immer noch nicht.“
„Sand von?“, schlug Akim vor.
„Sand auf einer Eisinsel? Nein, das denke ich nicht. Außerdem steht hier ein e am Ende.“
Wieder starrten sie minutenlang auf die Karte, so angestrengt, dass Adiv die Buchstaben vor den Augen verschwammen. Sie schloss sie und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Plötzlich verharrte ihre Hand in der Luft und fiel dann mit einem Klatschen auf ihren Schenkel. „Senke!“, rief sie aus. „Senke von Urdal’Thonn. So heißt das.“
„Sehr gut.“ In Jonoys Gesicht stand Anerkennung. „Eine Vertiefung“, erklärte er Akim.
„Von der Senke führt ein Weg nach O’shu’o-gh“, wiederholte dieser, das neue Wort sorgsam artikulierend. „Wo sie Kian und Arlen gefangenhalten. Hoffe ich.“ Seine Lippen schimmerten bläulich. Die Haut glich Asche.
Dann wären sie wenigstens noch am Leben, dachte Adiv.
„Der Weg selbst trägt ebenfalls einen Namen“, sagte Jonoy. „Er lautet Vadrassallan.“
„Styf-thal-Ebene, Senke von Urdal’Thonn, den Weg von Vadrassallan in die Festung. Das ist unser Kurs.“ Akim hatte sich erhoben, den Speer in der Hand. Er sah aus wie ein Krieger. Störrische Entschlossenheit stand in seinem Gesicht.
„Oye atu alon“, rief Jonoy, in seine Landessprache zurückfallend. „Nichts überstürzen, Junge. Das sind bloße Vermutungen! Spekulationen, Theorien.“
„Ich weiß das. Ich weiß auch, was ich gesehen habe. Den Felsen, die Bur-an-gnea. Ich folge den Spuren. Julas Erzählungen, Chadas Sagen, deinen Träumen, Adivs Karten. Es passt alles zusammen. Genug Beweise.“
„Doch wohin führen sie uns?“ Jonoy raufte sich den Bart.
„Nach Drahórsul. Hinter Fedaj beginnt das Meer. Wir müssen über das Meer.“
„Wie? Das Wasser hier ist viel, viel kälter als das zwischen Kaadaa und Kânegg. Hier herrscht Winter. Es gibt vielleicht keine Inseln, auf denen man rasten kann. Ein Bündel hilft uns nicht weiter!“
„Wir brauchen ein Boot.“
„Niemand gibt uns ein Boot. Du musst es kaufen. Mieten. Wir haben kein Gold.“
„Meine Münzen“, fiel Adiv ein. Sie kramte das Erbe ihrer Mutter aus ihrer Tasche. „Da! Ich habe noch mehr davon.“
„Heiliger Blasebalg!“
„Würde es für ein Boot reichen?“
„Ich habe keine Ahnung! Man müsste jemanden finden, der sich damit auskennt. Jemanden, der ein Boot aussucht und aufpasst, dass man uns nicht übers Ohr haut. Wir benötigen eine Mannschaft. Ich kann rudern, notfalls ein kleines Segel setzen, aber mehr auch nicht. Ihr seht, Kinder, die Sache ist nicht so unkompliziert, wie ihr glaubt.“
Adiv verfiel in entmutigtes Schweigen. Akim scharrte mit dem Schuh im Laub, den Blick auf Fedaj gerichtet. „Wir müssen hinein“, stieß er hervor.
„Wir sind Flüchtlinge! Da drin leben hunderte, tausende Soldaten. Enttarnen sie uns, sterben wir.“
„Es gibt keinen anderen Weg. Wir brauchen eine Mannschaft und ein Boot. Wärmere Kleidung, Vorräte, Zelte, Decken. Uns muss etwas einfallen.“
„Wir könnten uns verkleiden“, schlug Adiv vor. „Unser Aussehen verändern. Dort drin gibt es ja bestimmt auch gewöhnliche Einwohner. Unter ihnen fallen wir nicht auf.“
„Wie willst du Akims Haut färben? Sein Haar glätten? Ich könnte mich von Haaren und Bart trennen, aber ich bleibe ein zu kurz geratener, alter Sta. Fedaj ist eine Feste. Streng bewacht. Es wird schwer, überhaupt erst hinein zu kommen.“
„Ihr seid sogar in den Kaiserpalast gelangt.“
„Sieh, wohin es uns gebracht hat.“
„Wir laufen um Fedaj herum durch den Forst, wie es die Frau gesagt hat. Nähern uns von hinten.“ Akim war nicht umzustimmen.
Jonoys Kopf sackte von einer Schulter auf die andere. Er sah zu Akim, der ihn eindringlich anstarrte, zu Adiv, deren Zunge sich unter der Oberlippe rollte, in den grauen Himmel. „Einverstanden“, stöhnte er. „Ich beuge mich. Ihr würdet ja doch nur in euer Verderben laufen.“
Akims Augen leuchteten auf. „Versucht, aus den übrigen Pergamenten noch mehr heraus zu lesen. Ich spähe einen Weg aus.“
Der Wind trug die Stimmen zu ihm heran, obwohl der Nebel sein Bestes tat, sie von seinen Ohren fernzuhalten. Sofort duckte er sich ins Strauchwerk. Rasch und lautlos huschte er durch die Büsche an schlanken Stämmen vorbei, näher heran an die Sprechenden. Hinter einem Brombeerstrauch kauernd, lugte er durch die stachligen Zweige, den Speer wurfbereit in der Hand, mit der anderen das Schwert greifend, das offen an seinem Gürtel hing.
Was er sah, ließ ihn die Augen aufreißen. Vier Männer und zwei Frauen standen im Halbkreis beisammen. Sie musterten den Waldboden, schätzten mit den Armen Entfernungen ab, wiesen auf bestimmte Punkte in der Umgebung. Gradh und er hatten so dagestanden. Am Morgen nach Kians Verschwinden, als sie die zerstörte Hütte inspiziert hatten. Sofort befielen ihn düstere Vorahnungen.
Vor allem die Padchuri erweckte seine Aufmerksamkeit. Wie vor fünf Tagen war sie in Leder gekleidet und mit einem Bogen bewaffnet. Arme und Schultern waren nicht mehr nackt, sondern mit einem Mantel bedeckt. Darüber trug sie einen Umhang, dessen Kapuze sie über ihren Kopf gestülpt hatte. Aufrecht und ohne sich zu rühren, stand sie vor den beiden Männern, von denen einer wild gestikulierend auf sie einredete. Sie antwortete einsilbig.
Der andere Mann war kaum älter als er selbst, aber doppelt so breit und um einiges größer. Er hatte ungewöhnlich blasse Haut und helle Haare, die unter einer Kappe hervorschimmerten. Er sprach ruhig und besonnen, besänftigend, schlichtend. Akim hatte den Eindruck, dass er sehr abwesend war. Sein Blick schwirrte oft in die Ferne, verharrte im Nirgendwo.
Der hochgewachsene, schlanke Mann mit der lauten, unwirschen Stimme kam ihm bekannt vor. Er steckte in dicker, pelzbesetzter Kleidung und trug eine gefütterte Mütze. Etwas war an ihm, das ihn irritierte.
Für den Moment schob er die Verwirrung beiseite, konzentrierte sich auf die zweite, unbekannte Frau. Groß und sehr schön erschien sie ihm. Sie hatte gütige, von Lachfältchen bekränzte Augen, eine kleine, nach oben geneigte Nase und einen volllippigen, leuchtend roten Mund. Ihren fülligen Körper umhüllte ein Kleid, dessen Farbe aussah wie der Nachthimmel Berlens bei Neumond. Es passte nicht in die nach Harz und Pilzen duftende Umgebung. Auch der schwarzblaue Schleier, der an ihrem kunstvoll frisierten Haarknoten befestigt war, gehörte eher in die bevölkerten Straßen der Hauptstadt. Ihr Haar erinnerte an dunklen Honig.
Sie trug Handschuhe, die bis zum Ellenbogen reichten, einen Umhang mit Pelzkragen und vor ihrem Bauch eine Tasche mit zwei Öffnungen, in die sie ihre Hände geschoben hatte. Akim hatte den Eindruck, dass sie fror, woran nicht nur das Wetter schuld zu sein schien. Sie wirkte betrübt und in sich gekehrt, auch wenn sie aufmerksam zuhörte, Fragen stellte und beantwortete und ein freundliches Lächeln aufgesetzt hatte.
Hinter ihr standen zwei Männer mit nichtssagenden Gesichtern, stocksteif, die Köpfe in den Himmel gestreckt. Unter ihren Mänteln blitzte roter Uniformstoff durch. Erschreckt glaubte Akim Soldaten vor sich, beruhigte sich erst, als er keine Waffen sah.
Ihre Gehilfen, mehr nicht.
Leise atmete er auf.
Der hochgewachsene Mann mit den leicht nach vorn gekrümmten Schultern redete pausenlos aufgeregt auf die Padchuri ein. Seine Arme kreisten, beschrieben Bögen, hoben und senkten sich. Akim fühlte sich von der Unruhe angesteckt. Er konnte nachvollziehen, warum Adivs Retterin auf dem Absatz kehrtmachte und begann, den Waldboden genauer zu inspizieren.
Sie suchen tatsächlich etwas.
Gespannt konzentrierte er sich auf die Worte.
„Ich sage dir, sie haben ihn weiter südlich entführt. Dort müssen wir schauen. Aber der Boden ist gefroren und der Überfall ist Wochen her. Wir werden nichts mehr finden außer Knochen, hörst du?“
Unbeeindruckt lief sie den Weg Richtung Haupttor und zurück. Ob sie wirklich suchte oder lediglich bemüht war, dem Redeschwall zu entkommen, wusste Akim nicht. Vorstellbar war beides.
Die Worte beschäftigten ihn, hakten sich in seinem Kopf fest. Entführt, Überfall, Knochen.
Was geht hier vor?
„Ylaiy, so lass sie tun, was sie tun muss. Sei dankbar, dass sie uns hilft.“
Die Stimme der gut gekleideten Frau klang angenehm. Tief und schnurrend, von weiblicher Überzeugungskraft. Sie nahm ihn so gefangen, dass er erst mit Verspätung realisierte, dass sie den Mann beim Namen genannt hatte.
Ylaiy.
Der Prinz. In Pelz und Leder gekleidet wirkte er muskulöser und selbstbewusster als im Palast. Die Haare waren gewachsen und er trug einen sorglos gestutzten Kinnbart. Sein Gesicht sah gesünder aus mit der kräftigen Farbe und ohne die Augenringe.
So hat er doch gehandelt!
Hatte er eine Spur Kians gefunden? Eine, die ihn ebenfalls in den Norden geführt hatte?
In Akims Kopf arbeitete es. Fragen stürmten auf ihn ein, ließen ihn die Gegenwart vergessen.
Und seine Vorsicht.
Im selben Augenblick, in dem er einen Vogel hinter sich aufflattern hörte, wusste er, dass er entdeckt worden war.
„Bleib am besten genau dort, wo du bist.“
Sie klang vollkommen ruhig, beinahe schon freundlich, und doch ging von ihrer Stimme eine Gefahr aus, die Akim auf der Stelle festnagelte. Er erinnerte sich an das Gift im Gavial, an ihre unerhörte Schnelligkeit, an die Muskeln auf Armen und Rücken, schluckte Angstspeichel hinunter und starrte auf die Personengruppe, die sich hundert Meter vor ihm befand. Gerade noch hatte er sie das Waldstück absuchen sehen, jetzt stand sie hinter ihm.
Wie hat sie mich entdeckt? Ich habe mich nicht bewegt.
„Dein Atem“, sagte sie auf seine stumme Frage hin. „Hast du das nicht gewusst? Wenn es kalt ist, wird er zu Rauch.“
„Das sieht aus dieser Entfernung niemand, wenn er nicht darauf achtet“, gab er zurück, bemüht, respektvoll zu klingen.
„Dann nenne es ein Gefühl.“
„Gefühl“, echote er mit tauben Lippen.
„Das kennst du doch. Jemand, der sich so leise in einer mit Buschwerk und Laub bedeckten Gegend zu bewegen weiß, kennt sich aus in der Wildnis. Muss sich auf sein Gefühl verlassen können. Auf seine Sinne und Instinkte. Wer bist du?“
„Akim Parati“, sagte er folgsam. Er kam gar nicht auf den Gedanken, einen anderen Namen anzugeben. Sie hätte sofort gewusst, dass er log.
„Wir sind uns schon einmal begegnet, Akim Parati. Bereits da dachte ich, dass du am falschen Ort seiest. Wie auch deine Gefährten. In den Sümpfen, dort, wo sich kaum Einheimische hin verirren, geschweige denn Fremde. Nun treffe ich dich wieder, unweit der Feste, in deren Nähe ihr euch ungern begeben wolltet. Zumindest war das mein Eindruck. Was also tust du hier? Bist du mir gefolgt?“
„Nein“, würgte er hervor, als er die Messerspitze im Nacken fühlte. Diesmal hatte er sie herankommen hören, aber er musste zugeben, dass sie sich darauf verstand, sich so leise zu bewegen wie er selbst. „Ich wollte es“, gab er zu. „Doch Jonoy war dagegen.“
„Wo sind deine Gefährten?“
„Nicht weit von hier auf einer Anhöhe.“
„Und du?“
„Ich wollte den Weg ausspähen.“
„Den Weg wohin?“
„Die Küste. Hinter Fedaj.“
Die Klinge entfernte sich. „Dreh dich um.“
Sie musterte ihn gewissenhaft. „Du bist ein Kämpfer.“
„Ich brauche die Waffen zur Jagd, allenfalls noch zur Verteidigung.“
„Wenn du die Kinder finden willst, wirst du vielleicht kämpfen müssen.“
„Ihr wisst von ihnen?“
„Vom Prinzen. Seine Geschichte im Austausch gegen meine.“
„Wisst Ihr etwas über meinen Bruder?“
Sie schob ihr Messer zurück in den Gürtel. „Komm.“
Die anderen erwarteten sie am Wegesrand. Ylaiy und der andere Mann hatten ihre Schwerter gezückt und sich vor die schöne Frau geschoben, die links und rechts von ihren Lakaien flankiert wurde.
„Wen bringst du uns da?“, rief Ylaiy. „Moment, ich kenne dich! Du bist der Junge mit dem verschwundenen Bruder! Der von den Flügelwesen berichtete und von dem Felsen!“
„Akim Parati“, stellte ihn die Padchuri vor. „Seine Gefährten befinden sich in der Nähe.“
Die andere Frau reichte ihm die Hand. „Sei gegrüßt, Akim“, schnurrte sie mit ihrer wohlklingenden Stimme. „Von dir und deinen Freunden habe ich schon vernommen. Ich bin froh, dass ihr am Leben seid und ich euch kennenlernen darf. Ich bin Ysaidire, die Schwester der Kaiserin. Man nennt mich Drana’sora. Wenn ich alles richtig verstanden habe, dann wollt ihr auf die geheimnisvolle Insel, von der mein Neffe berichtete?“
„Drahórsul“, erwiderte Akim mechanisch.
„Ich begleite dich zu deinen Gefährten“, sagte die Padchuri.
„Ihr habt uns zurückgelassen. Im Kerker. In den Sümpfen. Wir wären fast gestorben.“ Akims Augen flackerten über den Prinzen, blieben an der Kämpferin hängen.
Er wich zurück, als sie ihn an den Schultern herumdrehte und mit sich zog.
„Ein Kind meines Stammes wurde geraubt“, verkündete sie knapp. „Frauen ermordet. Soldaten machen Jagd auf das Alte Volk. Genug Gründe, Fremde zu meiden.“
„Ihr hättet fragen können.“
„Fragen? Was?“
„Wer wir sind. Wohin wir wollen.“
„Hättet ihr die Wahrheit gesagt?“
Er schwieg. Schüttelte den Kopf.
„Ihr saht aus wie Gejagte. Fremde, die etwas verbargen. Die Städte mieden, anstatt in ihnen Zuflucht zu suchen. Es war besser, euch aus dem Weg zu gehen.“
„Auch wenn es den Tod der Frau bedeutet hätte, die Ihr zuvor gerettet hattet?“
„Ihr wart erschöpft, besonders sie, aber gut genährt. An deinem Gürtel hing Trockenfleisch. Ihr wusstet euch zu wehren. Ich kenne Einheimische, die vor Angst erstarren. Sich kampflos fressen lassen. Es galt abzuwägen.“
„Euer Leben gegen unseres?“
„Wenn ich sterbe, stirbt Bada.“
Akim zuckte zurück. Die Gleichgültigkeit, mit der sie menschliche Existenzen gegeneinander abwog, verstörte ihn.
Er straffte sich. „Ich kenne Bada nicht, aber sie muss Euch viel bedeuten. Kian bedeutet mir viel. Und Adiv. Und Jonoy. Auch ihr Leben ist es wert, dass man darum kämpft.“
Sie zog eine Augenbraue hoch. „Dann lass sie uns holen.“
Fedaj entpuppte sich als Unikum, als Stadt, die mehrere Städte in sich vereinte. Eine Ansammlung geschäftiger Handelsviertel und Märkte, armseliger, schmutzstarrender Handwerkerhütten und Zeltlager, verwinkelter Straßenzüge mit Wirtsstuben, Bordellen und verrauchten Wohnhäusern, nach Fisch und verdorbenen Innereien stinkender Molen, trüber Hafenbecken, schmucker Steinhäuser, Kasernen und Krankenhäuser.
Aus der Ferne sah Fedaj, das alte Fadal, trutzig aus wie eine Burg, mit Wehrmauern, Zinnen und Türmen. Aus der Nähe bemerkte man, dass die Mauern rissig waren, die Zinnen herausgebrochen, die Türme schief. Bettler und Betrunkene schliefen auf den Wehrgängen oder kauerten auf Türschwellen.
Nebelschwaden und beißende Winde trieben die Einwohner in ihre Behausungen, sodass die Festung verlassen wirkte; einsam wie ein Fels, der sich gegen das Meer lehnte. Graue Schwermut wölbte sich über Stadt und Mensch. Unrat bedeckte Ecken und Kanten. Er lag auf den unbefestigten Wegen und den rutschigen Holzplanken, welche die Straßen überbrückten und die Leute zwangen, sich vorsichtig aneinander vorbei zu zwängen.
Akim hatte ihr ausgemalt, wie er zum ersten Mal die Hauptstadt betreten hatte und von der Pracht und Schönheit wie erschlagen gewesen war. Er hatte die weißen Mauern des Palastes beschrieben, die hohen Gebäude, breite Straßen, sauber gekleidete Menschen. Im Gegensatz dazu war Fedaj hässlich, schmutzig, kalt und laut. Nach nur einem Tag hasste sie es. Sie verabscheute das Stimmengewirr, das Gebrabbel in unterschiedlichsten Sprachen und Mundarten. Hasste die Einwohner, die mürrisch blickten, auch wenn sie lachten, rohe Scherze trieben, feilschten oder sich miteinander unterhielten. Ausschließlich die Residenz der Drana’sora war ihr vorgekommen wie aus dem Märchenland, wiewohl sie sich neben dem Kaiserpalast bescheiden ausnehmen musste.
Wieder fühlte sie Blicke auf sich gerichtet. Unfreundlich, unverhohlen neugierig, missmutig, feindselig. Sie schüttelte sich unter dem Umhang, den die Kaiserinschwester ihr hatte besorgen lassen.
Zugegeben, sie boten ein ungewöhnliches Bild. Der dunkelhäutige Junge mit den kohlschwarzen Augen. Der kurzgewachsene Mann vom Umfang eines Weinfasses, der sich an einen Stock klammerte und dessen Bart im Wind wehte wie ein Schleier. Der Prinz, dessen Angesicht hier niemand kannte, in reich bestickter Kleidung. Der schweigsame, missgestalte Prant, der in Gedanken verloren schien. Die Kämpferin, die als einzige neben den Bohlen lief, unbeeindruckt von knöcheltiefem Schlamm und kläffenden Hunden, die im letzten Moment ihren Stiefeln auswichen.
Adiv selbst trug die Lederkluft ihrer Mutter. Ihre Schultern bedeckte der Umhang, auf ihrem Kopf saß eine Mütze, unter der ihr leuchtendes Haar hervorquoll. Sie hatte es seit Wochen weder gewaschen noch gekämmt. Ihre Kopfhaut juckte und brannte. Hoffentlich hatte sie keine Läuse.
Die Blicke streiften über ihre Haut, kribbelnd, unangenehm. Zum Glück blieben die Augen der Fedaj-i fast immer an der stolzen Gestalt der Kriegerin hängen und sie versteiften. Verzogen abschätzig die Lippen, flüsterten sich hämische Worte zu. Manche sahen weg, wenn der Blick der Sumpffrau wie zufällig auf sie fiel, manche wandten ihr den Rücken zu, andere starrten provozierend zurück. Einige schauten eindeutig hasserfüllt. Soldaten vor allem. Auf die Kämpferin schien das alles nicht viel Eindruck zu machen. Ungerührt pflügte sie durch den Matsch. Mehrmals stießen Passierende sie an. Ein Kriegsknecht rammte sie so hart, dass sie stehen blieb und ihm nachblickte. Er grinste gehässig zurück.
Adiv betete stumm, dass sie den Forst bald erreichten.
Kurz vor dem Tor wichen sie einem weiteren Rekruten aus. Der sprang in den Schlamm, sah die Kämpferin und stoppte wie angewurzelt, ihren Weg blockierend, Herausforderung um die Lippen. Adivs Retterin machte eine einzige, undeutliche Bewegung und der Soldat fiel, Schimpfworte ausstoßend, auf die Knie. Erst als die Lakaien der Kaiserinschwester ihm etwas zuraunten, verstummte er. Die Kriegerin drehte sich nicht einmal nach ihm um.
„Ihr glaubt also ernsthaft, noch etwas zu entdecken?“
Jonoy zuckte mit den Schultern. „Die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen, Prinz. Es ist Wochen her; die Witterung hat die meisten Spuren zerstört.“
„Alle Spuren“, betonte Ylaiy. „Vergesst nicht: Unmittelbar nach dem Vorfall fanden Untersuchungen und Befragungen statt. Das Waldstück wurde genauestens inspiziert, alles in Augenschein genommen, alles Mögliche durchdacht.“
„Auch das Unmögliche?“
„Nein“, gab Ylaiy zu. „Aber wir haben uns umgeschaut, wie Ihr wisst. Nach anderen Spuren gesucht. Wir wussten um die Bur-an-gnea, genau wie sie.“ Mit dem Kopf wies er auf die Kriegerin, die abseits stand und in den Wald starrte. Auf einen ungeübten Beobachter wirkte sie gedankenabwesend, doch ihre Augen wanderten unter dem Saum der Kapuze aufmerksam hin und her.
„Ich möchte keinesfalls die bisherigen Bemühungen in Frage stellen. Aber glaubt mir, der Junge hat die Augen eines Adlers und die Ohren einer Fledermaus. Wenn jemand eine Fährte findet, und sei sie auch noch so unbedeutend, dann er.“
„Keine Fährte ist ohne Bedeutung“, gab die Kämpferin zurück. Sie sah in den wolkenschweren Himmel, aus dem ein Regen fiel, der so fein war, dass er kaum den Boden benetzte.
Stunden später riss Adiv den Mund auf und gähnte. Sie hatte sich eng in ihren neuen Mantel gewickelt und die Arme vor der Brust verschränkt. Im Laufe des Nachmittags, der vorüber schlich, als wären die Gesetze der Zeit für ihn außer Kraft gesetzt, war es kälter geworden. Der Sprühregen hatte aufgehört, doch Wolkenberge verdunkelten den Tag.
Gelangweilt ließ sie sich auf einem moosbewachsenen Baumstumpf nieder, ungeachtet der Nässe, die ihr durch alle Kleiderschichten drang.
Ylaiy und Videm hockten mit angezogenen Beinen auf einem umgestürzten Stamm. Anfangs hatten sie Akims Bemühungen mit Interesse und einer Portion Argwohn verfolgt, das eine oder andere kommentiert. Aber bald schon unterhielten sie sich über andere Dinge. Hinter ihnen ragten die Lakaien wie Statuen auf.
Jonoy stand neben Adiv, auf den Stock gestützt, die Augen geschlossen. Dann und wann öffneten sie sich, suchten nach dem Jungen, fanden ihn niedergebeugt über den Waldboden, schlossen sich wieder.
Die Kriegerin wich nicht von ihrem Fleck. Zuweilen warf Adiv ihr einen Blick zu. Immer traf er auf wachsame Augen.
Akim schien alles um sich herum vergessen zu haben. Spiralförmig bewegte er sich über den Boden. Kein Zweiglein, kein Blatt schob er beiseite, ohne vorher Lage und Beschaffenheit begutachtet zu haben. Er kontrollierte Furchen, Fahrrinnen, Markierungspfähle, Baumstämme, Buschwerk. Hob Steine an, tastete über Moos, zerrieb Erde. Es war faszinierend, ihm zuzusehen, doch nach Stunden ergebnisloser Suche ermüdete der Anblick.
Adiv gähnte erneut und überlegte, wie lange sie noch würde ausharren müssen. In diesem Augenblick richtete Akim sich auf, stützte die Arme in den Rücken und kehrte zum Waldrand zurück.
„Nun?“, begrüßte ihn die Kriegerin.
„Nicht viel“, gab er zu. Er wirkte niedergeschlagen.
„Das ist besser als nichts.“
„Ein Abdruck könnte von einem Bur-an-gnea stammen, denn er sieht aus wie der, den Gradh mir in Ranand zeigte.“
„Wo?“
„Ihr solltet ihn von oben sehen.“
Ohne ein weiteres Wort lief die Kriegerin zu einem Baum, nahm Anlauf und sprang ab. Ihre Hände fanden einen Ast. Mühelos hievte sie sich hoch und schlug die Kapuze zurück.
Akim war indes zu dem Abdruck gelaufen. „Hier, seht Ihr? Sucht nicht nach Hufen oder Pfoten. Ihr müsst größer denken. Folgt den Aufwerfungen.“ Sein Arm umschrieb die Ausdehnung.
„Das ist unmöglich“, sagte Ylaiy, der mit Videm auf den umgestürzten Stamm gestiegen war.
„Bist du sicher, dass es eine Fährte ist, oder liest du etwas hinein, weil du willst, dass es so aussieht?“
Akim wandte sich der Kriegerin zu. Er wirkte nicht verletzt, vielleicht, weil sie ihre Frage ohne die heuchlerische Sanftheit gestellt hatte, die man Kindern mit zu viel Fantasie gern angedeihen lässt.
„Sie ähnelt der auf Berlen. Allerdings könnten es auch Spuren von Wagenrädern sein.“
„Das war mein Gedanke. Abdrücke von Reifen, unterschiedlich alt, vom Regen aufgeweicht, verwischt, gefroren, wieder aufgetaut.“
Die anderen sahen sich ungläubig an. Jonoy kicherte in seinen Bart. Fehlt nur noch, dass er sich die Hände reibt, dachte Adiv. Um ihre Lippen spielte ebenfalls ein Lächeln.
„Irgendetwas, das deinen Verdacht erhärtet?“, fragte die Sumpffrau.
„Oder uns mehr überzeugt?“, rief Ylaiy bissig.
Videm stieß ihn in die Seite.
Akim seufzte. „Nicht viel. Abgebrochene Zweige, geknickte Äste. Sie lassen sich in Übereinstimmung bringen mit der Spur, aber…“
„… sie könnten auch anderweitig beschädigt worden sein“, ergänzte die Kriegerin und sprang vom Baum herunter.
„Ihr sagt es. Ich fürchte, das war Zeitverschwendung.“
„Nein, ich glaube dir. Du warst sehr gründlich. Deine Schlussfolgerungen bleiben zweifelhaft, doch zwei Dinge stärken sie.“
„Die da wären?“, erklang Ylaiys Stimme in ihrem Rücken.
„Wären die Abdrücke Radspuren, befänden sie sich außerhalb der befahrenen Wege. Weshalb sollten Wagenlenker sich durch unwegsames Gelände quälen?“
„Zum Überholen?“, schlug Adiv vor. „Oder zum Ausweichen?“
„Selbst dafür wären die Schneisen breit genug.“
„Und der zweite Grund?“, fragte Ylaiy.
„Als Euer Vater starb“, sagte sie zu Videm, der die Augen senkte, „standen wir unweit von hier. Ich dachte, ich hätte es mir eingebildet, aber je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass ich es wirklich sah. Vielmehr hörte.“
„Was?“
„Flügelrauschen. Einen Schatten am Himmel. Ich denke, ich habe einen von ihnen gesehen.“
„Ist das jetzt Beweis oder Wunschdenken?“, fragte Adiv. Gleich darauf fühlte sie sich vom Blick der Kriegerin durchbohrt.
„Ein Beweis für Akims Vermutung ist es streng genommen nicht“, wandte Ylaiy ein. „Yvain verschwand vor Wochen. Man fand die Erde zerwühlt und einen Fetzen seiner Uniform in einem der Sträucher. Du sprichst von einem Ereignis, das vor zwei Tagen stattfand. In der Nähe, aber nicht an dieser Stelle.“
„Es beweist die Existenz der Flügelwesen. Dass sie hier waren. Diesen Ort kennen. Jodanam hat sie gesehen. Der Junge und ich ebenfalls. Der Abdruck passt dazu.“
„Warum kamen sie zurück?“, mischte sich Adiv ein. „Wollten sie ein weiteres Kind?“
„Ich glaube eher, es hatte mit uns zu tun. Vielleicht sind sie Späher. Gesandt, uns aufzuhalten. So wie die Wegelagerer auf uns zu warten schienen. Räuber, die vergiftete Pfeile mit Widerhaken benutzen. Die ein Gift verwenden, das ich nicht kenne. Die sich nach ihrem Tod auflösen. Sie stammten nicht von hier. Genauso wie die Vögel dienen sie einem mächtigeren Herrn. In jedem Fall bedeutet es eins…“
„Wir sind auf der richtigen Spur“, murmelte Ylaiy.
„Aber das hieße“, stieß Adiv hervor, „dass sie uns beobachten. Sie wissen, wo wir sind.“
„Und sie werden weiter angreifen“, schlussfolgerte Jonoy.
Der Thronfolger übernahm das Reden. Wie selbstverständlich trat er vor die anderen, die mit erwartungsvollen Mienen zu ihm sahen. Der Schmied, Akim und Adiv saßen auf hohen, unbequemen Lehnstühlen, Videm und die Kriegerin standen an die holzvertäfelte Wand gelehnt. Der Wind rüttelte an den Fensterläden des zwischen Speichern versteckten Schreibzimmers. Ein Kaminfeuer brannte so niedrig, dass es ständig drohte, auszugehen.
Vor Ylaiy lag ein Blatt mit Notizen. Er war sorgfältig zu Werke gegangen, hatte mit jedem einzeln gesprochen, mitgeschrieben, nachgehakt, verglichen.
„Das Meiste wisst ihr. Ich beschränke mich auf eine Zusammenfassung der wichtigsten Fakten“, sagte er und ließ den Blick reihum kreisen.
Er sah seine Tante an, die unmerklich nickte, aufstand, die Tür öffnete und den Gang in beide Richtungen hinunter spähte. Als sie zurückkehrte, schüttelte sie den Kopf und gab das Zeichen, anzufangen. Ihre Lakaien hatte sie weggeschickt.
„Wir wissen von vier Kindern, die in den vergangenen Wochen verschwanden. Nicht ausschließen können wir, dass weitere zu Schaden gekommen sind. Bei Kian kamen sie nachts, zu zweit. Sie gingen geschickt vor. Denkend. Planend. Trotz ihrer Größe hinterließen sie kaum Spuren. Akim und sein Lehrmeister folgten ihnen. Im Herz des Großen Tales fanden sie den Schwarzen Felsen. Auf dem Felsen befand sich wohl eine Art Altar. Seltsame Männer und Frauen vollführten dort ein Ritual. Die Flügelwesen bewachten Käfige, aber da ist sich Akim unsicher. An die vielen Gebeine hingegen erinnert er sich.
Bei dem Kind aus Syriakins Dorf und in Jonoys Traum waren Soldaten in die Entführungen verwickelt. Das legt nahe, dass sie auch bei Arlen als Helfer fungierten, den Jungen nach oben schleppten und Adivs Freundin töteten. Bei Yvain und Bada gab es ebenfalls ein Blutbad.“
Die Anwesenden schwiegen erschüttert, von Erinnerungen aufgewühlt. Jonoy schob Ylaiy einen Becher Wasser hin, den dieser dankbar hinunter stürzte. Die Kaiserinschwester nutzte die Unterbrechung, um sich nochmals zu vergewissern, dass es keine ungewollten Zuhörer gab.
„Mittlerweile wissen wir, dass die Flügelwesen den Namen Bur-an-gnea tragen. Den Legenden der Madif nach leben sie auf der Eisinsel Drahórsul. Sie rauben Kinder, um ihren Herrscher mit frischem Blut zu versorgen. Bei den Madif ist Drahórsul ein gigantischer Eisberg, in den Aufzeichnungen Frier Blands hingegen ein Fels. Im Mythos ist das Eisland bevölkert von einem magischen Volk. Blands Schriften verweisen teilweise auf geschichtliche Ereignisse aus den Wirren der frühen Kriege. Sie berichten von einer Bevölkerung, die aus Angehörigen des einheimischen Volkes und Nachfahren der B’shua besteht.“
Der Wind fuhr in den Kamin. Beißender Qualm drängte in den Raum. Die Kriegerin hatte den Finger an die Lippen gelegt. Die Kaiserinschwester saß mit besorgten Augen auf der Kante ihres Stuhles.
„Spekulationen“, murmelte Jonoy.
„Nicht nur“, widersprach Adiv. „Denk an die Karten meines Vaters. An die Aufzeichnungen von diesem Bland.“
„Die Existenz der Flügeltiere“, sagte die Drana’sora.
„Wissen wir, woher dein Vater die Karten hatte?“ Videm blickte Adiv an.
„Nein. Und nun ist es zu spät, ihn zu fragen.“
„Wie viele Schicksalsfäden hier zusammenlaufen“, sagte die Kaiserinschwester sinnend. „Hätte Vei Akim und Jonoy nicht ins Gefängnis gesteckt und Videms Vater sie nicht zum Tode verurteilt, wären sie Adiv niemals begegnet. Sie wären nie geflohen, nie in die Sümpfe gelangt, nie auf Syriakin getroffen.“
„Einerlei, warum - wir sind hier“, entgegnete diese. „Und wir vergeuden Zeit. Alle Hinweise deuten auf die Eisinsel. Lasst uns ein Schiff suchen und in See stechen. Unterwegs werden wir genug Zeit finden, Theorien zu wälzen.“ Damit stieß sie sich von der Wand ab, als wolle sie im selben Augenblick die Reise antreten.
„So wollt Ihr uns begleiten?“
Die beiläufig gestellte Frage Jonoys ließ sie innehalten und den Kopf neigen. Gespanntes Schweigen legte sich über den Raum. Adiv wurde bewusst, dass sie bis zu diesem Moment überhaupt noch nicht darüber nachgedacht hatte, was nun weiter geschehen würde.
Jonoy sah ernst in die Runde. Adiv fiel auf, wie er den Augenkontakt mit Videm mied. Akim tat häufig das Gleiche. Dann erinnerte sie sich an den Anblick der beiden in den Fässern, an den qualvollen Tod, den sie beinahe erlitten hätten. Dachte an den Armstumpf ihrer Mutter, das Leben unter der Erde. Sie musterte den stämmigen Sohn des Inquisitors, horchte in sich, nicht zum ersten Mal, seit sie ihm begegnet war. Sie fühlte keinen Hass. Für die Handlungen seines Vaters war er nicht verantwortlich. Alle wussten das. Aber solche Dinge brauchten Zeit. Unauffällig schweiften ihre Augen über den Thronfolger und die Kriegerin. In Ylaiys Haut mochte sie nicht stecken. Jonoy und Akim waren darauf bedacht, Missgunst und Spannungen zu vermeiden; die Kriegerin ganz sicher nicht.
„Jeder von uns“, sagte Jonoy, „sollte sich darüber im Klaren sein, dass diese Reise gefährlich werden wird. Sind wir einmal auf See, ist es zu spät für eine Umkehr.“ Eindringlich sah er sie der Reihe nach an.
„Ihr werdet auf euch allein gestellt sein“, fügte die Drana‘sora hinzu. „Die Kaiserin hat mir zugesichert, mich zu unterstützen, doch bis eine Flotte ausgerüstet ist, geht noch mehr Zeit ins Land.“
„Es ist natürlich schlauer, sich zusammen zu schließen“, warf Ylaiy ein. „Gemeinsam sind wir besser gerüstet als im Alleingang.“
„Ich glaube, das ist uns sowieso vorherbestimmt“, sagte Jonoy. „Ja, verdreht ruhig Eure Augen“, blaffte er die Kriegerin an, „ich selbst hätte vor Wochen keinen Nietnagel auf Dinge wie Schicksal oder Vorherbestimmung gegeben! Aber Ihr habt auch nicht meine Träume! Sie haben mich erst zum Felsen, dann hierher geführt. Das lässt sich nicht wegreden!“
„Kommt endlich zum Punkt.“
„Der Punkt seid ihr. Ihr alle. Denn ich habe euch alle in meinen Träumen gesehen. Zusammen, versteht Ihr?“
Syriakin ließ sich wieder gegen die Wand fallen. „Wir haben denselben Weg. Es wäre töricht, ihn getrennt zu gehen.“
„Ich komme auch mit“, sagte Akim leise.
„Ich auch. Ich wüsste sowieso nicht, wohin ich sonst sollte. In dieser Stadt bleibe ich jedenfalls nicht. Hier gibt es mehr Soldaten als in der Boragha.“ Die Kaiserinschwester schmunzelte über Adivs störrisches Gesicht.
„Ich gehe auch“, verkündete Ylaiy und blickte zu Videm.
„Mein Vater ist für diese Sache gestorben“, sagte dieser langsam. „Ich werde für ihn gehen. Außerdem“, holte er tief Luft, „habe ich auch geträumt. Nicht nur von meines Vaters Tod, auch von euch, wie der Schmied. Und von anderen Dingen, aus denen ich nicht schlau werde. Ich muss wissen, was es mit ihnen auf sich hat. Sonst verliere ich den Verstand.“
Adiv schaute zum Fenster, an dessen Läden der Wind rüttelte. Durch den Spalt sah sie Schneeflocken treiben.
„Dann ist es beschlossen“, sagte die Kaiserinschwester. „Lasst uns morgen die letzten Vorbereitungen treffen.“
„Wo genau liegt die Insel eigentlich?“, fragte Videm. Wie immer, wenn er ungefragt etwas sagte, schreckte er die anderen auf. „Wie kommen wir hinüber? Wohin gehen wir, wenn wir dort sind?“
Er hatte die Fragen an seinen Fingern abgezählt und schaute scheu die Kriegerin an. Zu seinem Erstaunen trat ein anerkennender Ausdruck in ihre Züge.
„Wie ihr wisst, habe ich ein Pergament der Eisinsel“, merkte Adiv auf. „Darauf ist der Ort eingezeichnet, von dem wir glauben, dass zu ihm die Kinder gebracht wurden.“
„Ja“, entgegnete der Prinz, in wissenschaftlichen Eifer fallend. Er wühlte in seinen Unterlagen und kramte eine dünne Pergamentrolle hervor. „Und das hier beschreibt meiner Meinung nach den Weg zur Insel. Bland gab es mir. Leider ist vieles unleserlich. Immerhin wird ersichtlich, dass es eine Meerenge gibt, einige Meilen östlich von hier. Die Meeresenge von Dal wird sie genannt.“
„Ist sie für Schiffe befahrbar?“, erkundigte sich die Kriegerin.
„Ich weiß es nicht. Auf der Karte sieht man eine Reihe von Kreisen, markierten Flächen und anderen Symbolen. Manches davon könnte ein Tintenfleck sein oder eine verschüttete Flüssigkeit.“
„Inseln und Untiefen vielleicht“, dachte Jonoy laut.
„Riffe, Strömungen“, nickte Ylaiy. „Mehr als vage Anhaltspunkte liefert uns das Pergament nicht.“
„Aber dass es die Meerenge gibt, ist sicher?“, wollte die Kaiserinschwester wissen.
„Wenn ich die Abschrift richtig deute.“
„Andere Karten besitzt Ihr nicht?“, fragte Jonoy.
„Nur den Reisebericht. Er gibt Hinweise auf die Insel selbst, nicht auf den Weg zu ihr. Sonst haben wir nur Adivs Schriften.“
„Zwei hatten wir schon untersucht. Diese beiden habe ich weggeräumt, als Akim und Syriakin uns holten.“ Adiv öffnete die geheime Tasche ihres Beutels und zog die Rollen heraus, nach denen Ylaiy begierig griff. „Jonoy hält sie für weitere Landkarten.“
„Zumindest eine davon“, ergänzte der Alte. „Diese hier. Sie trägt die Überschrift O’shu’o-gh. Der Ort, von dem wir glauben, dass dorthin die Kinder gebracht wurden. Wir vermuten, dass es sich um eine Art Festung handelt. Das würde auch zu meinem Flugtraum passen.“
„Dann wäre dies ein Plan der Festung“, murmelte die Kriegerin, die Hände auf den Tisch gestützt.
Adiv blinzelte unter den Ärmeln der Sumpffrau hindurch. Sie entdeckte eine Reihe winziger Täschchen auf den Unterseiten, in denen Gegenstände steckten.
Vermutlich hat sie die Taschen voller Gifte.
Sie zwang ihre Gedanken auf die Karte zurück und nickte zu Syriakins Bemerkung. „Wenn wir recht haben, ist die Festung ein wahrer Irrgarten. Allein dort hindurch zu kommen, ist ein Wagnis.“
Aufmerksam studierte die Kriegerin die verschlungenen Gänge. „Was ist das in blauer Farbe? Tore?“
„Wenn es welche sind, müssen wir viele passieren.“
„Darüber zerbrechen wir uns später den Kopf. Bewahre diese Zeichnung gut auf. Sie könnte von großem Wert sein.“
„Ich werde sie mir einprägen“, bot sich Ylaiy an. „Ich bin gut darin, mir Dinge zu merken.“
„Einverstanden“, antwortete die Sumpffrau. „Ihr prägt Euch die Wege ein, dann verwahrt das Mädchen den Plan. Besser, zwei wissen Bescheid. Nur für den Fall des Falles.“
An diesem Punkt realisierte Adiv zum ersten Mal wirklich, dass die Reise sie alle ins Verderben führen konnte. Schnell rollte sie die Karte zusammen, bevor ihre zitternden Finger sie verrieten. „Das dort ist das letzte Pergament meines Vaters“, sagte sie matt.
Alle sieben beugten sich über den Tisch, sodass ihre Köpfe sich beinahe trafen.
In der Mitte des Pergamentes befand sich die Zeichnung eines Zylinders, der mit schwarzer Tinte gefüllt worden war. Rote Kreise verliefen um das obere Ende. In der Nähe der Kreise sah man einige willkürlich scheinende Krakel, welche die Form zweier runder, aneinanderstoßender Berggipfel aufwiesen. Um den Zylinder angeordnet gab es außerdem drei dicke schwarze Kreise. Die Kreise waren jedoch nicht durchgehend gezeichnet, sondern mit mehreren kurzen Strichen.
„Pa-tunalteh“, buchstabierte Ylaiy mühsam das einzige Wort.
Sie sahen sich ratlos an. Nur über Akims Gesicht zuckte etwas.
Syriakin hatte sein Mienenspiel gesehen. „Sprich“, forderte sie ihn auf.
„In meiner Sprache gibt es ein Wort, das diesem ähnlich klingt. Pą-ruh-nahtэ-en.“
„Nie gehört“, sagte Ylaiy nach kurzem Nachdenken. Auch Jonoy schüttelte den Kopf.
„Es ist ein Bilderwort aus der Sprache der Alten. Solche Wörter gibt es nur wenige. Sie sterben aus. Ich kenne es, weil Gradh es ein paarmal gesagt hat, wenn er über Chadas Geschichten sprach. Bilderwörter sind wie Rätsel. Sie bestehen aus Einzelwörtern, die zusammengesetzt ein neues bilden. Die einzelnen Teile heißen: pą – Vogel, ruh – weit, Ferne, nahtэ – Ring, en – Stein.“
„Das ergibt keinen Sinn“, meinte Adiv.
„Man muss sie zusammenfügen“, erwiderte Ylaiy.
„Der Vogel erinnert mich an die Flügeltiere“, merkte die Drana’sora an. „Doch das liegt daran, dass die Ungeheuer überall aufzutauchen scheinen in letzter Zeit.“
„So weit hergeholt ist das nicht“, widersprach Jonoy. „Immerhin fand sich die Zeichnung in einem Paket mit den Karten der Eisinsel. Spinnen wir den Faden also weiter.“
„Der Stein ist der Fels in der Wüste“, sagte die Kriegerin.
„Der Fels, auf dem die Bur-an-gnea landen“, übersetzte der Schmied.
„Dann sind die geschwungenen Linien gar keine Berge“, vermutete Adiv, „sondern die Flügelwesen?“
„Könnte sein“, hauchte Ylaiy, mit dem Finger die Zeichen nachfahrend. „Ja, es könnten Vögel sein. Fliegende Wesen.“
„Die von dem Schwarzen Felsen wegfliegen oder auf ihm landen“, ergänzte Akim.
„Und sie fliegen in die Ferne? Kommen aus der Ferne?“, schlug Adiv vor. „Was ist mit dem Ring? Tragen Vögel Ringe?“
„Manche Jäger in der Wüste benutzen Falken“, erklärte Akim. „Die tragen Ringe als Zeichen ihres Besitzers.“
„Diese Kunst kennt man auch auf Staleph“, nickte Jonoy, „wahrscheinlich im gesamten Kaiserreich.“
„Dann sind die Bur-an-gnea abgerichtet?“ Adivs Stimme klang fast schon belustigt. „Jemand schickt sie auf Beutezug und sie kehren zurück?“
Bedrücktes Schweigen setzte ein, als klar wurde, dass Adivs Vorschlag so abwegig nicht war.
Plötzlich verloren alle die Lust am Rätselraten. Wie auf ein geheimes Zeichen hin richteten sie sich auf.
„Das heben wir uns für später auf“, sagte Ylaiy. Niemand widersprach. „Immerhin haben wir die Karten.“
„Schon“, entgegnete Jonoy, „Aber, Prinz, ich hoffe, Ihr seid Euch immer im Klaren, jeder von euch, dass das zwar alles irgendwie plausibel klingt, aber letztlich alles …“
„… Spekulation ist. Ja, alter Mann, das haben wir begriffen“, erwiderte Adiv.
„Eigentlich ist sie ein Fischerboot. Geeignet für das Segeln in Küstennähe. Diese Boote sind so selten geworden, dass sie fast schon Raritäten sind. Und wie für jeden Schatz zahlt man natürlich den entsprechenden Preis.“
Der übel riechende Fischer in seiner schlecht sitzenden Kleidung grinste zahnlos. Er rieb seine schwieligen Finger aneinander und sah die bunt zusammengewürfelte Reisegruppe gierig an. Es kam fast nie vor, dass Fremde sich vor das nördliche Tor verirrten, und noch seltener, dass sie ein Schifferboot mieten oder gar kaufen wollten.
„Den Preis lasst meine Sorge sein“, winkte die hoch gewachsene, füllige Frau in dem weit geschnittenen Kleid ab. Sie hatte ihren teuren Mantel eng um ihren Körper geschlungen, um sich gegen den scharfen Wind zu wappnen, der erbarmungslos in Wangen und Fingerspitzen biss.
„Bis zu welcher Wassertiefe ist sie geeignet?“
Die Frau, die diese Frage stellte, war um einiges schlanker als die gut gekleidete Matrone. Der Fischer sah sie abschätzend von oben nach unten an. Bei ihr war nichts zu holen. Ihr Gesicht war schmutzig und trug Spuren alter Verletzungen. Ihre Kleidung war die der Ureingesessenen, schmucklos, funktional, bedeckt von Dreck und Staub. Wahrscheinlich gehörte sie zu einem der Stämme, die in den Wäldern und Sümpfen hausten wie die ersten Menschen. Er rümpfte die Nase und zog lauthals Rotz hoch, bevor er sich wieder an die reichere Frau wandte.
„An wie viel hattet …“
Weiter kam er nicht. Ohne Vorwarnung schnellte der Arm der Einheimischen nach vorn, packte seinen Hals. Mit eisernem Griff drückte sie zu, sodass ihm der Schleim in der Kehle stecken blieb.
„Bis zu welcher Wassertiefe ist sie geeignet?“ Ihre Stimme war unverändert. Sie sprach leise und beherrscht, doch mit einer gewissen Schärfe. Ihre Augen waren von einem Grün, das ihm geradezu ins Mark ging. Er sah hilflos zu ihren Begleitern, aber diese schwiegen. Im Gesicht des hübschen, jungen Dings meinte er sogar, einen beifälligen Ausdruck zu sehen.
„D-d-d-d-das weiß ich nicht. Wir Fischer halten uns in den geschützten Gewässern südlich der vorgelagerten Inselgruppe auf.“
„Wie tief sind die Gewässer nördlich der Inseln?“ Ihr Griff blieb fest. Er fluchte innerlich, weil er nicht wusste, wie er seiner Frau später die blauen Flecken erklären sollte. Niemals würde sie ihm glauben, dass eine Frau, die halb so breit war wie er, sie ihm beigefügt hatte.
„In meiner Jugend habe ich mich mal einige Meilen weiter hinaus gewagt. Das Wasser dort ist mit dem Lotfaden kaum zu ergründen. Den Anker konnte ich nicht mehr setzen. A-a-aber das Boot steuerte sich immer noch gut“, beeilte er sich, zu versichern, als er sah, wie sich ihr Gesicht verdüsterte.
„Besitzt Ihr eine Karte des Gebietes?“
Seine Augen weiteten sich. „Ihr meint … von … nördlich der Inseln? Nein. Ich wüsste nicht, dass überhaupt Karten existieren. Im Norden kommt kein Festland mehr, bis man auf die Eisinsel stößt.“
„Wer behauptet das?“
Die Frage wurde hastig von dem Mann hervorgestoßen, der in ähnlich teure Gewänder gekleidet war wie die Matrone. Möglicherweise ihr Bruder.
Der Fischer zuckte mit den Schultern. „Die Alten“, sagte er unbestimmt. „Ihr wisst schon. Gemurmel im Wirtshaus. Märchengeschichten, aus denselben Quellen wie die über Tiefseeungeheuer und Riesenkraken. Fischerleute sind abergläubisch. Meine Alte fängt an, das Zeug zu erzählen, wenn nachts ein Gewitter niedergeht. Das hat ihre Mutter schon getan, und davor deren Mutter. Manchmal kommen Fremde nach Fedaj, die eigene Erzählungen mitbringen. Bevor man es sich versieht, gibt es im nächsten Winter eine neue Geschichte, die sich angeblich genau so zugetragen hat.“
„Dann erinnere dich. Was genau erzählen die Alten? Deine Frau?“, fragte die Einheimische. Noch immer hielt sie ihn auf Armlänge von sich. Immerhin hatte sie ihren Griff so weit gelockert, dass er Luft bekam. Dafür hatte sich ihr Knie in unangenehme Nähe zu seinen Genitalien bewegt. Beim kleinsten Fehler würde er gewaltige Schmerzen verspüren.
„Sprecht doch selbst mit ihr“, schlug er mit einem vorsichtigen Blick auf ihr Knie vor. „Sicher wird sie gern heute Abend bei einem guten Becher Branntwein ihren Sagenschatz mit Euch teilen. Ich habe für derlei Unsinn wirklich nicht viel übrig.“
Die Einheimische warf ihren Begleitern einen fragenden Blick zu. Bis auf den Jungen mit dem hässlichen Kopf, der stumpf vor sich nieder starrte, nickten alle stumm.
„Einverstanden“, erwiderte sie. „Jetzt erzähle mir alles über das Boot, was ich wissen muss. Lass nichts aus. Beschönige nichts. Ist sie ihren Preis wert, erhältst du dein Gold.“
„Sie ist ein gutes Boot“, beteuerte er. „Und Ihr könnt mich loslassen. Ich weiß, wann ich eine Lektion gelernt habe, besonders wenn sie so nachdrücklich gelehrt wird.“
Die Frau musterte ihn noch einen Augenblick kalt, dann ließ sie seine Kehle los. Er stöhnte erleichtert, rieb sich den schmerzenden Hals, räusperte sich und zog die nach Fisch stinkenden Hosen über den Bauch. „Dreißig Schritte lang, acht breit. Zweimaster mit verkürzten Spieren, einem dreieckigen und einem viereckigen Segel. Dadurch am Wind sehr schnell, selbst bei ihrem gedrungenen Rumpf. Praktisch, weil man das Großsegel nicht ständig einholen muss. Schwierig beim Wenden, vor allem mit einer ungeübten Mannschaft. Wie gesagt: Sie ist ein Fischerboot, für waghalsige Manöver ungeeignet.“
„Das könnte in den unbekannten Gewässern zum Problem werden“, warf der Weißbart ein, der aufmerksam zugehört hatte.
„Ihr werdet schnell lernen müssen“, sagte die Einheimische. „Niemand der hiesigen Fischer wird uns auf die Insel begleiten.“
„Insel? Welche Insel? Doch nicht …“ Der Fischer war sichtlich entsetzt, als ihm dämmerte, welchen Plan die seltsame Gruppe hegte. „Gute Frau, schlagt Euch das aus dem Kopf! Und ich meine das wohlwollend“, fügte er schnell hinzu und hob abwehrend die Hände, bevor sich ihre Finger wieder um seine Kehle legen konnten. Dann senkte er seine tranige Stimme zu einem Flüstern. „Wir reden hier von einer mehrtägigen Reise in unerforschten Gewässern! Hochsee, versteht Ihr? Die Winde, das Wetter, es ist verdammt kalt da draußen. Ich habe nicht gelogen. Dies ist ein gutes Boot. Mein Großvater hat es gebaut; es war sein Meisterstück. Aber es ist nicht geeignet, in Stürmen bei hohem Wellengang zu segeln. Hinzu kommt das Unbekannte. Ich kann Euch den Weg durch die vorgelagerten Inseln aufzeichnen, aber dann … Die Alten brummeln von Untiefen und Sandbänken. Von Inseln, die manchmal so winzig sind, dass sie kaum aus dem Wasser ragen. Von Riffen mit messerscharfen Kanten. Und vergesst nicht: im Norden gibt es Eis und Schnee. Die Routen der Eisberge kann man nicht vorhersagen. Manche behaupten, sie seien auch unter Wasser so riesig wie die Gebirge auf Kaadaa.“
„Wir werden eben aufpassen müssen.“ Sie war unerschütterlich in ihrer Gelassenheit, erinnerte selbst ein wenig an einen Eisberg.
Er schob sich die Wollmütze in den Nacken, kratzte sich am Kopf, auf dem Haare klebten, die so dicht mit Schuppen besprenkelt waren, dass sie wie gepudert aussahen. „Wie Ihr wollt. Sagt nicht, ich hätte Euch nicht gewarnt. Aber ich fürchte, Ihr habt soeben meinen Preis in die Höhe getrieben.“
„Wie das?“, begehrte der Gutgekleidete auf.
„Ganz einfach. Bislang rechnete ich damit, meine Kleine zurückzubekommen. Doch nun? Ich muss an meine Zukunft denken. Mir ein neues Boot besorgen.“
Der junge Mann wollte weiter protestieren. Die reiche Frau schnitt ihm kurzerhand das Wort ab. „Das akzeptieren wir. Wir haben wohl kaum eine Wahl.“
„Nein, gute Frau. Die Janta mag nicht hochseetüchtig sein und die Jüngste ist sie auch nicht mehr, aber sie ist gut in Schuss. Sie hat einen Laderaum, geräumig genug, Eure Habseligkeiten darin unterzubringen. Sogar eine Kajüte gibt es. Raum zum Schlafen und Kochen. Das werdet Ihr brauchen, glaubt mir.“
„Janta?“, fragte das hübsche Ding.
„Nach meiner Großmutter. Alt und dick, aber zuverlässig und ziemlich flink, wenn es sein muss.“
„Es kam mir immer schon seltsam vor, dass in einem Inselstaat wie Yruish die Seefahrt einen solch geringen Stellenwert hat. Man sollte meinen, Schiffbau und Schiffsverkehr trieben hohe Blüten, dabei sind wir in dieser Hinsicht fast unterentwickelt.“
Jonoy nickte. „Da habt Ihr recht, Drana’sora. Das mag daran liegen, dass das Wasser flach und von Archipelen durchzogen ist. Hochseeschifffahrt zu entfernten Reichen würde eine ganz andere Bootskunst erfordern, aber dazu besteht schlicht keine Notwendigkeit.“
„Noch nicht“, stimmte sie zu.
„Ich danke Euch nochmals, dass Ihr bereit seid, die nicht unerheblichen Ausgaben zu übernehmen.“
„Eure Höflichkeit ist vollendet, mein Freund“, gab die Angesprochene zurück. „Doch sprecht nicht mehr davon. Es mag wie eine Floskel klingen, aber für meinen Sohn ist mir tatsächlich kein Aufwand zu hoch. Er ist mein ein und alles.“
Trotz ihrer farbenfrohen Kleidung und ihres fröhlichen Naturells konnte sie ihre Sorge nicht verbergen. Schminke kaschierte die dunklen Ringe und Kummerfalten um Augen und Mund, doch in ihrem Inneren tobte die Beunruhigung, die sich immer wieder in Wort und Tonfall Bahn brach.
„Außerdem scheint niemand von euch mit unseren kalten Wintern vertraut, was mich bei Eurer Weltläufigkeit erstaunt. Auch mein Neffe gilt als sehr belesen, dabei scheint es zwischen dem Papier und unserer frostigen Wirklichkeit einen großen Unterschied zu geben.“
„Ich mag weit gereist sein, aber in diese Gegend hat es mich nie zuvor verschlagen. Offen gestanden, bin ich überrascht über das missliche Wetter hier. Soweit ich weiß, liegen Teile Stalephs und selbst Berlens nördlicher als Fedaj, doch habe ich dort niemals solch kalte Tage erlebt.“
„In diesem Jahr ist der Winter früh zurückgekehrt. In der Hinsicht steht Eure Reise unter keinem guten Stern. - Seht, da vorn sollten wir die Grautiere erstehen können, von denen ich sprach. Der Händler züchtet sie seit Jahrzehnten. Sie gelten als ausgesprochen widerstandsfähig und an die Witterung angepasst, sind dabei lammfromm und von gefälligem Gemüt. Ihr werdet begeistert sein. Kommt schnell!“
Ihr Kummer war echt, daran bestand für Jonoy kein Zweifel. Dennoch besaß die Kaiserinschwester eine befremdliche Oberflächlichkeit, die es ihr ermöglichte, ohne Übergang Thema und Stimmung zu wechseln. Wie Akim, der hinter ihnen her trottete, hatte er noch nicht entschieden, ob das ein Vorzug oder Nachteil ihrer Person war.
Die Maultiere gingen ohne Widerstand in den Besitz der Kaiserinschwester über, welche die Zügel an ihren Diener weiterreichte. Sie dankte dem Händler und lenkte Jonoy und Akim mit einer Mischung aus Überschwang und höfischer Eleganz zu den nächsten Ständen. Nacheinander erstanden sie große Brennholzbündel, Decken, Überhosen, Mäntel, wollene Socken und Unterwäsche, Geschirr, Kochtöpfe, Seile aus Hanffasern, Lederschnüre, Werkzeuge, Trockenfleisch, Salzfisch, Handschuhe, Teeblätter und eine Unmenge weiterer Kleinigkeiten. Am Ende waren Maultiere und Diener so überladen, dass sie auf der mit Holzplanken ausgelegten Straße schwankten.
Am Gasthaus trafen sie auf Ylaiy und Videm. Der Thronfolger hatte zusätzliche Kleidung aus feinen Fellen besorgt, dicke Mützen und Fäustlinge. Er war in düsterer Stimmung. Sila ging es nicht gut, berichtete er. Sie war aus der Ohnmacht erwacht, doch schläfrig und so geschwächt, dass sie kaum den Kopf heben konnte. „Sie wird mit ihrer Mutter in Fedaj bleiben“, sagte er leise.
„Ich werde dafür Sorge tragen, dass es beiden an nichts mangelt“, versprach die Kaiserinschwester. Ihr Neffe dankte ihr mit einer Verbeugung.
Auch Videm wirkte schwermütig. Er hatte stumm am Grab seines Vaters gestanden, bis Ylaiy ihn gefunden und weiter gezogen hatte.
Es war erst Nachmittag, aber der Himmel verdunkelte sich bereits, sodass man das Gefühl hatte, die Nacht bräche herein. Menschen hasteten mit gesenkten Köpfen an ihnen vorbei. Sogar die patrouillierenden Soldaten wirkten übermüdet.
Wenn ich hier leben müsste, würde ich mich früher oder später ins Meer stürzen.
Verdrießlich schüttelte Jonoy den Kopf. Die Stadt begann, dem Gemüt zuzusetzen.
Adiv stürzte mit ihren Einkäufen herbei, als sie soeben das Gasthaus betreten wollten. So unbekümmert hatten die anderen sie noch nie gesehen. Ihre Haare flogen, ihre Wangen glänzten rosig, ihre blauen Augen blitzten aufgekratzt. Artig händigte sie ihrer Gastgeberin das Wechselgeld aus und drehte sich zweimal um ihre Achse, um die neue Überbekleidung zu präsentieren. Die Sachen waren eindeutig getragen, aber robust, warm und praktisch. Einzig der Schildkamm, den sie in ihre Manteltasche schob, verriet einen Funken Eitelkeit.
Die Wirtsstube präsentierte sich dunkel und verraucht. In der Nähe der offenen Feuerstelle war es gemütlich, doch schon wenige Tische weiter zog es so entsetzlich, dass die Talglichter auf den grob zusammengezimmerten Tischen beständig ausgingen.
Die Kriegerin saß in der Nähe des Feuers, die Beine an die prasselnden Flammen geschoben, die Hände um einen Krug warmen Dünnbieres gelegt. Im Schein des Feuers sahen ihre herben Züge weicher aus als üblich. Sie schien die wohlige Wirkung des Alkohols zu genießen, ignorierte die angetrunkenen Männer hinter sich geflissentlich. Als die Reisegesellschaft, kalten Wind hereinbringend, polternd zu ihr stieß, rutschte sie fast widerstrebend beiseite.
„Habt Ihr nichts erstanden?“, erkundigte sich Adiv, die seufzend ihre durchfrorenen Füße ausstreckte.
Statt einer Antwort wies die Kriegerin auf ein Kleiderbündel und auf zwölf merkwürdige Holzrahmen, die am Tisch lehnten.
„Das ist alles?“ Prüfend nahm die Kaiserinschwester einen der Rahmen in die Hand.
„Sie sind mit Tiersehnen bespannt. Man befestigt sie mit Riemen unter den Stiefeln. Die Umfassung verhindert ein Einsinken.“
„Rechnet Ihr mit so viel Schnee?“, fragte Adiv.
Die Sumpffrau zuckte mit den Schultern und musterte Akim, der aufgeregt auf der Bank hin und her rutschte. Der Diebestochter dämmerte, dass er Schnee gar nicht kannte. „Und das da?“, erkundigte sie sich, während am Tisch Gespräche einsetzten.
„Hemden. Unterbekleidung, Leinenhosen. Die Felle sind für vieles zu gebrauchen. Ich kann sie um Gesicht, Hände, Füße schlingen. Und die wollenen Socken wärmen gut.“
„Es ist schon verflucht kalt hier.“
„Scheußlich“, bestätigte die Kriegerin. Mit einem großen Schluck leerte sie ihr Bier und bestellte ein neues.
Der Wirt zögerte sichtlich, bevor er den Krug so heftig vor ihr abstellte, dass Schaum über den Rand schwappte. „Mehr gibt es nicht.“
Schlagartig wurde es still am Tisch. Alle Augen richteten sich auf Syriakin, die mit unbewegtem Gesicht den Schaum abwischte, den Schenk gedankenvoll betrachtend.
„Guter Mann!“, empörte sich die Kaiserinschwester. Von zwei Dienern gestärkt, schob sie sich vor den Wirt. „Sie ist Euer Gast! Sie bezahlt für ihr Getränk, verursacht keinerlei Ärger. Wie könnt Ihr nur!“
„Noch“, knurrte der Zurechtgewiesene, vom Auftreten der höfischen Frau wenig beeindruckt. „Aber jeder weiß, dass das Schlangenvolk keinen Alkohol verträgt.“
Für einen Moment war die Drana’sora sprachlos. Geschockt von den Worten und dem Ausdruck tiefster Verachtung in der Miene des Mannes, hielt Adiv den Atem an. Beklommen betrachtete sie die Kämpferin aus dem Augenwinkel, während die Kaiserinschwester ihre Stimme wiederfand.
„Diese Frau ist mein Gast.“ Sie hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Ihre Stimme klirrte wie Eis. Nun war sie Dame, unerreichbar, gebieterisch. „Sie ist mein Gast, habt Ihr das verstanden? Macht sie Euch zur Feindin, und Ihr habt mich zur Feindin. Glaubt mir, guter Mann, das ist das Letzte, was Ihr wollt.“
Verunsicherung schlich sich in das Gesicht des Wirts. Die Drana’sora gab sich nicht als solche zu erkennen, doch ihr hoher Stand war nicht zu übersehen. Adiv fand es fast schon absurd, dass die kaiserliche Schwester von kaum jemandem auf der Straße erkannt wurde. Wie alle Höflinge wurde sie vom Volk ferngehalten. Niemand rechnete damit, dass Adlige Orte wie die Schänke aufsuchten.
Mittlerweile hatte die sich gefüllt. Trotz der zahlreichen Menschen, die sich in der Stube drängten, herrschte eine beinahe atemlose Stille. Der Wirt, der unschlüssig vor der von Dienern umrahmten Frau stand, erntete die ersten Lacher, doch Adiv bemerkte, dass das Gros der männlichen Gäste verdrießlich auf Syriakin starrte. Adiv war verwirrt, denn in manchen Mienen sah sie neben Verlangen auch unverfälschten Hass. Denselben Ausdruck, den sie in den Augen der Soldaten auf der Straße wahrgenommen hatte.
Der Gastwirt lenkte schließlich ein, indem er sich wortlos abwandte. Eine Entschuldigung gab es nicht. Die Gruppe blieb bis auf vereinzelte Blicke und anzügliche Bemerkungen unbehelligt. Dennoch entschlossen sie sich stillschweigend, das Abendmahl in der Heimstatt ihrer Gastgeberin zu sich zu nehmen.
Syriakin sprach kein Wort mehr und sah niemanden an. Sie packte ihre Sachen, trank in wenigen Zügen den Krug aus, warf Münzen auf den Tisch und verließ das Wirtshaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Draußen befahl die Kaiserinschwester ihren Dienern, den Fischer und seine Gemahlin sofort nach deren Eintreffen zur Residenz zu geleiten.
Schweigend lief die Kriegerin dem Tross voran, eindeutig nicht gewillt, über das Vorkommnis zu sprechen.
Adiv ließ sich zurückfallen. „Jonoy“, raunte sie. „Was hatte das Ganze zu bedeuten? Wieso gerät sie unentwegt in Schwierigkeiten?“
„Nun, in dem Fall lag es wohl daran, dass manche Menschen so voller Hass und Vorurteile stecken, dass sie ihre gute Kinderstube vergessen.“
„Warum nannte er sie Schlange und deutete an, sie würde zu viel trinken?“
„Dummheit und Ignoranz. Sie gehört dem Volk an, das seit Anbeginn der Zeiten auf Kânegg zu Hause ist. Frâgg leben sehr zurückgezogen, seit die Insel von immer mehr Fremden heimgesucht wird. Sie gelten als fast ausgestorben. Ausgerottet trifft es wohl besser. Man nennt Menschen wie sie Schlangen, Echsen, Sumpfratten. Manche behaupten, alle Einheimischen würden ständig unter dem Einfluss von Rauschmitteln stehen. Den Männern dichtet man Gewalttätigkeit an, den Frauen unterstellt man, sie seien … nun ja … willig. Die Vorurteile gehen so weit, dass man sagt, sie könnten zaubern und beherrschten alle Gifte dieser Welt. Der Fantasie der Eroberer sind da keine Grenzen gesetzt.“
„Aber das ist ihre Insel. Die anderen müssten sich anpassen.“
„Das passiert nie. Die, die erobern, stülpen den Einheimischen ihre Gesetze, ihre Regeln, ihre Lebensweise über. Mit dem Sumpfvolk hatten sie allerdings wenig Erfolg. Im Laufe der Zeit flohen die meisten in die Wildnis und lebten ihr altes Leben weiter. So gut das eben geht, wenn man ständig Gefahr läuft, den Widersachern zu begegnen.“
„Sie könnten sich auflehnen.“
„Ja, das sollte man meinen. Einst galten die Frâgg als mutig und kampfbereit. Doch stelle dir ein Volk verstreuter Kleinststämme vor, deren Lebenswandel sich seit hunderten von Jahren kaum verändert hat. Sieh dir hingegen eine Stadt wie Fedaj an! Militärisch ausgebildete Soldaten. Organisierte Truppen mit Pferden, Waffen, Rüstungen. Welche Wahrscheinlichkeit auf Erfolg hätten die Einheimischen? Zumal sie untereinander genauso streiten wie überall auf der Welt.“
„Wenn sie alle wären wie sie …“
„Es sind nicht alle wie sie. Das ist vermutlich der zweite, möglicherweise gewichtigere Grund, warum sie in Schwierigkeiten gerät. Manche Menschen ziehen Probleme an. Sie gehört zu ihnen. Ohne Zweifel.“
Kein schlechter Tausch gegen die dünne Suppe und das fade Brot der Wirtsstube, dachte Adiv, als sie in die Seezunge biss. Dann fiel ihr Blick auf die in sich gekehrte Kriegerin, die am Rande der Tafel saß und mit ihrem Brot spielte, und beschämt legte sie die Gabel beiseite. Sie langte nach dem Kelch, der verdünnten Wein enthielt. Syriakin hatte ihn abgelehnt, erinnerte sie sich, stattdessen um Wasser gebeten, von dem sie zuweilen nippte.
Um sich von ihren bedrückenden Gedanken abzulenken, ließ Adiv ihre Augen über die Menschen schweifen, die das Schicksal zu ihren Gefährten bestimmt hatte.
Die Kaiserinschwester hatte ihr türkisfarbenes Kleid gegen ein schlichtes schwarzes getauscht und eine neue Schicht Puder aufgetragen. Wangen und Mund glänzten kirschrot. Lider, Wimpern und Brauen waren mit Kohle nachgedunkelt. Ihr Äußeres wirkte aufgesetzt, genau wie ihre Fröhlichkeit. Charmant unterhielt sie ihre Gäste, aber Trauer und Sorge nisteten in ihrem Antlitz.
Ylaiy saß am oberen Ende der Tafel neben seiner Tante. Gesellschaftlich stand er über ihr, hatte Jonoy ihr erklärt, doch das Hausrecht erlaubte der Herrin des Anwesens den Platz an der Stirnseite. Der Prinz sah betrübt aus. Bisweilen zerrte er verstohlen an dem Kragen seines uniformähnlichen Wamses. Das schmutzigblonde Haar war feucht und hinter die Ohren gestrichen. Dadurch wirkte er viel jünger. Außerdem hatte er sich rasiert, allerdings nicht besonders geschickt, wie ein Schnitt am Kinn bezeugte.
Seine Augen sind schön mit ihren goldenen Punkten.
Videm hatte neben Ylaiy Platz genommen. Auch er hatte sich vom Schmutz des Tages gereinigt und die Haare gebürstet. Den Bartflaum jedoch hatte er stehen lassen und die Reisebekleidung lediglich abgeklopft. Er redete wenig, schien sich aber nicht unbehaglich zu fühlen. Speisen und Getränke nahm er formvollendet zu sich. Wenn die Kaiserinschwester ihn ansprach, antwortete er ohne Verlegenheit.
Neben Videm saß die Sumpfjägerin. Sie trug ihre Lederkluft, hatte nur Umhang und Waffen abgelegt, zumindest die sichtbaren.
Rechts neben der Drana’sora thronte Jonoy, der Einzige, der sich den Tafelfreuden unbeschwert hingab. Schwatzend, lachend, philosophierend und belehrend füllte er seinen Teller ein ums andere Mal. „Man muss diese Momente genießen, auch in den Tagen der Dunkelheit und Sorge. Sonst hat man nichts, an das man sich gern erinnert. Schöne Erinnerungen sind das, was uns am Leben hält.“
Akim kauerte still am unteren Ende der Tafel. Unentwegt wanderten die Kohleaugen über die Anwesenden, den Raum, die Wachen an der Tür und die beiden Lakaien, die sie bedienten. Er begnügte sich mit Brot, Lammfleisch, Wasser und säuerlichen Äpfeln. Süßspeisen und Fisch verschmähte er. Dafür betrachtete er vor jedem Schluck versonnen seinen Wasserbecher, trank mit einem Ausdruck tiefsten Glücks.
Langsam glitt Adiv in einen Zustand wohliger Zufriedenheit. Sie fühlte sich satt, berauscht und erhitzt von Wein und Kaminfeuer. Nur der Gedanke, sich in der Früh zum Hafen zu schleppen, auf einen Holzkahn zu klettern und in lebensfeindliche Gewässer zu stechen, störte ihren Frieden.
Bevor die Trägheit sie vollends übermannte, schwangen die Türen auf und der Fischer betrat den Raum. Alle Kaltschnäuzigkeit war auf dem kurzen Weg vom Eingang bis zum Esszimmer von ihm abgefallen. Er war so eingeschüchtert von der Pracht, dass er verlegen die kotigen Stiefel an den Hosenbeinen abrieb und die Wollmütze in den Fingern knetete. Seine Frau stand mit großen Augen an seiner Seite. Sie war ebenso breit und vierschrötig wie er, trug dieselbe nach Fisch stinkende Kleidung, nur dass sie zusätzlich eine Schürze vor ihren Busen geschlungen hatte. Ihre Haare steckten unter einem straff nach hinten gebundenen Tuch.
„Kommt herein, gute Leute!“, rief die Kaiserinschwester und ging dem Paar entgegen. „Wir haben Euch erwartet und sind froh, dass Ihr Euer Kommen einrichten konntet. Ich bin sicher, wir finden noch ein Plätzchen an unserer Tafel.“
Sie klatschte in die Hände und sah sich nach den Lakaien um, die dienstbeflissen herbei eilten, saubere Gedecke auf den Armen balancierend.
Ylaiy und Videm sprangen auf. Sie traten hinter den Stuhl der Gastgeberin, sodass der Fischer sich plötzlich in unangenehmer Nähe zur Kriegerin wiederfand, die er entsetzt anstarrte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und zog ihre Augenbrauen hoch. Adiv lächelte in sich hinein, als sie eine Spur von Spott in Syriakins Zügen entdeckte.
„Bedient Euch!“ Die Kaiserinschwester nickte den Fischerleuten auffordernd zu.
Zögernd griffen diese nach den ersten Köstlichkeiten. Zu Adivs Belustigung würdigten sie den Fisch keines Blickes, sondern schaufelten sich, mutiger werdend, Fleisch und Gemüse auf die Teller, derweil Ylaiy ihnen Wein einschenkte.
Während sie geräuschvoll aßen und mit jedem Bissen ihre Schüchternheit ablegten, musterten sie die Reisegesellschaft. „Also“, begann der Seemann mit vollem Mund, „die Herrschaften wollen rüber auf die Polarinsel?“
Die Angesprochenen sahen sich an, bis sie sich in stummem Einverständnis auf Ylaiy als Sprecher einigten, der die Frage knapp bejahte.
„Warum?“ Jetzt wurden die Blicke des Fischers und seiner Frau lauernd.
„Forschung“, entgegnete Ylaiy ohne Zögern.
Als das Paar ihn verständnislos ansah, verschränkte er die Hände hinter dem Rücken und schritt die Längsseite der Tafel entlang. „Seht Ihr, ich bin Gelehrter. Ich beschäftige mich mit Büchern und Schriften. Mit Legenden und Mythen, Volkssagen und Märchen. Versuche, herauszufinden, was davon wahr oder falsch ist.“
„Warum?“, setzte der Fischer nach.
Das brachte Ylaiy kurz ins Stocken. „Ist es nicht wichtig, Bescheid zu wissen über alle Dinge des Lebens? Wissen bringt Macht. Man kann Dinge verbessern oder ändern, versteht Ihr?“
Ratloses Starren wies eher auf das Gegenteil hin, bis der Alte gleichgültig mit den Schultern zuckte. „Wie Ihr meint. Jedem das Seine. Ihr wollt die Insel also erkunden? Herausfinden, wer dort lebt?“
„Fürs Erste wäre ich schon zufrieden, einen Weg dorthin zu finden. Ich habe Pergament und Tinte dabei. Einige Instrumente. Ich könnte versuchen, den Seeweg zu vermessen und ihn genau zu kartografieren.“
„Wozu?“ Diesmal kam die Frage aus dem Mund der Frau.
„Damit jeder dorthin segeln kann, ohne Gefahr zu laufen, sich zu verirren.“
„Ja, aber was sollen die Menschen dort? Es gibt hier alles, was wir brauchen und auf der anderen Seite nur Eis und Schnee, nach allem, was man so hört.“
„Wer weiß, vielleicht…“
„Was hört man denn so?“, unterbrach die Kriegerin den Prinzen und warf ihm einen schnellen Blick zu. „Ihr sagtet, Eure Frau wüsste einiges zu berichten.“
Der Fischer war zusammengezuckt, als die Sumpffrau unversehens den Mund geöffnet hatte. Jetzt sah er sie furchtsam von der Seite an. Sie beachtete ihn nicht, sondern schaute abwartend zu seiner Gemahlin, deren Kopf sich rot gefärbt hatte.
„Nun ja, wisst Ihr, diese Geschichten sind sehr alt. Ereignisse, von denen meine Großeltern berichteten, die sie von ihren Großeltern aufgeschnappt hatten. Ich glaube nicht, dass sie alle wahrhaftig passiert sind. Man erzählt sie Kindern, um ihnen ein wenig das Fürchten zu lehren, vor allem den unartigen.“
„Schauermärchen.“
„Ihr sagt es. Die meisten sind gruselig und es schüttelt einen, selbst wenn man sie schon oft gehört hat. Dennoch mögen die Menschen sie. Die Winter hier sind lang. Duster. Die Märchen lenken von Einsamkeit und Trübsinn ab.
Die tranige Stimme der Fischerin sank auf ein Flüstern zusammen.
Die Kriegerin stemmte die Arme auf den Tisch und beugte sich an dem Fischer, der reflexhaft zurückwich, vorbei zu ihr. „Erzählt. Auch Kleinigkeiten. Es spielt keine Rolle, ob die Geschichten wahrheitsgetreu sind oder nicht.“
„Euch hätte ich nicht für eine Gelehrte gehalten“, quetschte der Fischer heraus. Seine Schweinsäuglein musterten die Sumpffrau argwöhnisch, doch ein eisiger Blitz aus smaragdgrünen Augen genügte, ihn wieder zusammenschrumpfen zu lassen.
Adiv biss sich auf die Innenseite ihrer Wangen. „Womit lehrt man ungezogene Kinder das Fürchten?“, fragte sie die Fischersfrau, die einen scheuen Blick auf Syriakin warf, bevor sie schluckte und weitersprach. „Man droht ihnen mit dem Eisriesen, der herüberkommt und sie mitnimmt, wenn sie nicht gehorchen. Groß wie ein Eisberg durchschreitet er das Meer. Nachts geht er an Land, friert die Menschen mit seinem Atem ein und raubt die Kinder. Drüben, auf seiner Insel, werden sie in unterirdische Verliese gesperrt, wo sie Sklavendienste verrichten und nie wieder die Sonne sehen.“
Die Alte hielt inne, die Schultern gekrümmt, als wappne sie sich gegen Schläge. Ihr Gemahl schnaubte und zog die Nase hoch, doch er verstummte abrupt, als keiner der Anwesenden die Erzählung kommentierte. Stattdessen herrschte gebanntes Schweigen.
„Weiter“, drängte Ylaiy schließlich leise.
„Natürlich sind diese Geschichten Ammenmärchen. Aber jeder in und um Fedaj wächst mit ihnen auf, versteht Ihr? Und irgendwann, nun ja, fängt man an, sie zu für wahrhaftig zu halten. Sich zu ängstigen. Es ist wie mit dem Glauben, den manche Leute hegen. Sie haben ihre Götter nie gesehen, wagen es jedoch nicht, sie zu verleugnen.“
„Religionen und Kulte, ebenso viele Lieder, basieren oft auf einem wahren Ereignis“, gab Jonoy zu bedenken. „Ein winziger Kern Wahrheit nur, im Laufe der Generationen von unzähligen Schichten Mythos und Legende umhüllt.“
Die Fischerin runzelte die Stirn. „Ihr sucht nach dem Kern?“
„So könnte man sagen.“
„Darüber weiß ich nichts. Doch ich kann Euch kundtun, was die Leute behaupten. Was sie denken, obwohl sie nicht an den Eisriesen glauben. Zumindest nicht nach außen hin.“
„Was behaupten sie?“, fragte Ylaiy gespannt.
„Dass es Bewohner drüben gibt. Wie sie aussehen, was sie tun, wie sie leben, weiß keiner, denn niemand, der bei Verstand ist, überquert das Nordmeer. Die Sage geht, dass sie die letzten Überlebenden eines untergegangenen Volkes sind, die sich auf der Insel angesiedelt und überlebt haben. Im ewigen Eis. Man munkelt, das sei nur mithilfe von Magie möglich. Darüber kursieren wilde Geschichten. Im Winter, wenn die Männer ihre Abende in den Wirtshäusern verbringen, erzählen sie sich die absonderlichsten Fabeln.“ An dieser Stelle warf die Fischersfrau ihrem Gemahl einen scheelen Seitenblick zu, bevor sie fortfuhr. „Der Branntwein sorgt für eine besondere Würze. So erzählt man sich, das Zaubervolk auf der Insel verleibe sich das Blut der Menschen ein und damit deren Kraft und Wissen.“
Nachdem sie ihre Ausführungen beendet hatte, war das Zischeln des Feuers das einzige Geräusch im Raum. Selbst die Atemlaute waren verstummt.
Die Kriegerin brach das Schweigen, indem sie aufstand und mit verschränkten Armen vor das Fenster trat. Adiv sah ihr nachdenkliches Gesicht in der Scheibe.
„Sind jemals Kinder aus Fedaj verschwunden?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
„Ihr meint, wegen des Riesen? Ich sagte doch, dass dies ein Schauer…“
„Beantwortet meine Frage“, unterbrach die Sumpffrau barsch. „Sind jemals Kinder verschwunden?“
Adiv beobachtete das Antlitz der Kriegerin. Sie wähnte, eine Spur eines Schattens darüber huschen zu sehen.
„Ich weiß nicht. Ich nehme es an.“ Die alte Frau schaute hilflos zu ihrem Mann, der verdrießlich mit den Schultern zuckte und mit dem Fingernagel in seinen Zahnstummeln polkte. „Gewiss. Kinder verschwinden überall. Neugeborene, die keiner will. Mädchen laufen ihrem Liebsten hinterher. Knaben fliehen vor prügelnden Vätern oder aus einer ungeliebten Arbeit.“
„Es gab Fälle von vermissten Kindern über die Jahre verstreut“, mischte sich die Drana’sora ein.
„Ungewöhnliche?“
Wieder die Schatten im Spiegelbild. Regungen, die nicht vom Feuer stammten.
„Das Verschwinden eines Menschen stellt immer ein ungewöhnliches Ereignis dar, findet Ihr nicht? In den meisten Fällen fanden wir die Leichen der armen Geschöpfe. Oft trieben sie im Wasser.“
„Und die anderen?“
Die Kaiserinschwester sah an die Decke, während sie nachdachte. „Drei, vielleicht vier, wurden nie gefunden.“
„Bestimmt sind es mehr“, fügte die Fischersfrau hinzu. „Die Behörden erfahren ja nicht alles. Verzeiht, gnädige Frau“, setzte sie mit einem verlegenen Blick auf ihre Gastgeberin hintan.
„Möglicherweise haben wir hier den Kern für das Eisriesenmärchen“, sann Jonoy halblaut, sich durch den Bart streichend. „Ungelöste Fälle von verschwundenen Kindern. Abergläubisch, wie die Menschen nun mal sind, versuchen sie, eine Erklärung zu finden, so absurd diese auch sein mag.“
Wieder schwiegen alle. Adiv glaubte, in den Gesichtern der anderen die Gedanken zu lesen, die ihr selbst durch den Kopf schossen. Verschleppte Kinder. Bei Nacht entführt. Von keiner Menschenseele gesehen. Auf die Insel gebracht.
„Woher wisst Ihr eigentlich, dass die Insel aus Eis besteht?“, rutschte ihr heraus.
Das Ehepaar glotzte Adiv verständnislos an.
„Seht Ihr, Ihr sprecht beständig von der Eisinsel. Gleichzeitig sagtet Ihr, niemand wäre jemals dort gewesen. Woher wisst Ihr also von der Beschaffenheit der Insel?“
„Sie liegt im Norden. Da ist es kälter als im Süden, nicht wahr? An den meisten Tagen zieht eisiger Wind vom Meer aus in die Stadt. Auf dem Wasser merkt man den Unterschied noch deutlicher, je weiter man sich von der Küste entfernt. Die Eisberge treiben aus dieser Richtung heran. Ansonsten…“
Der Fischer brach ab. Seine Frau nahm den Faden auf. „Ansonsten wissen wir eigentlich alles aus den alten Sagen. Erstaunlich, dass Ihr fragt. Ich habe nie darüber nachgedacht. Es war einfach klar. Die Geschichten beschreiben die gefährliche Überfahrt über die Meerenge …“
„Meerenge?“, hakte Jonoy sofort nach.
„Nördlich von hier. Hinter den Schären. Gespickt mit Inseln, Riffen, Sandbänken.“
„Das klingt zwar immer noch sehr vage, aber doch so, als ob jemand die Enge tatsächlich durchquert hätte“, stellte Jonoy fest.
„Existiert eine schriftliche Aufzeichnung der Geschichten?“, erkundigte sich der Prinz.
Der Fischer schnaubte. „Guter Herr, in Fedaj gibt es keine Gelehrten. Dies ist eine Handelsstadt. Eine Garnison. Fischer, Soldaten, Händler, Handwerker, Jäger, Fallensteller. Ein paar Heilkundige. Etwas anderes werdet Ihr hier nicht finden.“
„Keinen Schreiber, der Korrespondenzen für andere betreibt?“ Ylaiy gab sich nicht so leicht geschlagen.
„Korreswas?“
„Schriftliches. Geschäftsbriefe, Gesetzestexte, Steckbriefe. Solche Dinge.“
„Nein. Die Herrschaften haben ihre Schreiberlinge oder krakeln selbst. Die Händler regeln alles per Handschlag. Gesetze und Urteile werden auf dem Markt verkündet.“
„Niemand hier besitzt ein Pergament? Eine Karte?“, rief Ylaiy.
Besänftigend legte ihm seine Tante die Hand auf den Arm. „Fedaj ist nicht Yruish.“
„Diesen Wasserweg“, wandte sich die Kriegerin aufs Neue an die Fischersfrau. „Könnt Ihr den beschreiben? Was erzählen die Geschichten über ihn?“
„Meine Kehle ist schon ganz trocken.“
Ohne ein Wort füllte Syriakin der Frau Wein nach. Rasch griffen die fleischigen Finger der Fischerin nach dem Becher und führten ihn an die Lippen. Nach einem großen Schluck wischte sie sich leise rülpsend über den Mund. „Meine Großmutter trug mir einmal einen Reim über die Meerenge vor. Vor langer Zeit.“
„Erinnert Ihr Euch?“
Unter den hypnotischen Blicken der Kämpferin wurde es dem Fischerweib sichtlich unbehaglich. „Ich denke schon. Mein Gedächtnis ist wie ein Sieb, wenn es um gewöhnliche Dinge geht, aber die Sagen sind für alle Zeiten hier oben drin“, tippte sie an ihren Kopf.
„Ist ja auch genug Platz vorhanden“, grummelte der Fischer.
Seine Frau setzte zu einer Schimpftirade an, welche die Kriegerin mit einer ungeduldigen Handbewegung im Keim erstickte. Der Fischer lehnte sich mit verschränkten Armen im Stuhl zurück und grinste boshaft.
Seine Gemahlin blitzte ihn wütend an, verkniff sich jedoch eine Reaktion. Stattdessen hub sie zu sprechen an. „Die Schären erreichten sie ohne Not, doch dahinter lauerte bereits der Tod. Es erwartete sie die Enge von Dal, tückisch und grausam und voller Qual. Zwei Inseln zunächst, von Westen her, und heulende Winde peitschten das Meer. Die Inselchen nannten sie Wulord und Feín, sie ließen sie rechts, doch dann kam die Pein. Nebel und Schnee versteckten das Meer, sie stießen auf Riffe, die liefen quer.“
Monoton rezitierte die alte Frau die Zeilen. Ihre Augen starrten auf die Wand hinter Adiv. Jonoy und Ylaiy verzogen das Gesicht angesichts der Qualität der Verse, auch Ylaiys Tante und Videm tauschten verhalten spöttische Blicke.
Die Kriegerin hörte aufmerksam bis zum Ende zu. Zur Überraschung aller wandte sie sich anschließend an die Kaiserinschwester, bat um Pergament und Tinte.
„Wollt Ihr das Gehörte niederschreiben?“
„Nein. Aber Euer Neffe.“
Mitternacht war fast erreicht, als das Ehepaar mit roten Wangen zum Eingang torkelte und sich mit einer unbeholfenen Verbeugung verabschiedete. Sie wirkten zufrieden und aufgekratzt; die Fischerin wegen der ihr zuteilgewordenen Aufmerksamkeit, ihr Gemahl wegen der Silbermünzen, die in seinem Geldbeutel klimperten. Sie verneigten sich sogar vor den Lakaien, die mit unbewegten Gesichtern die Tore hinter ihnen schlossen.
Als die Alten gegangen waren, sahen die Reisegefährten sich an. Ihnen allen war anzumerken, wie sehr sie sich nach den wenigen Stunden Schlaf sehnten, die ihnen noch bis zum Aufbruch blieben. Die Wärme des Kamins, den die Lakaien mit frischen Scheiten gefüttert hatten, das Essen und der Wein machten Glieder und Gedanken schwer.
„Sind wir schlauer als zuvor?“, fragte Ylaiy, die Augen auf das bekritzelte Pergament geheftet.
„Zumindest sind wir nicht dümmer als zuvor“, gab die Kriegerin zurück. Sie wirkte nachdenklich, war zum Fenster zurückgekehrt und blickte hinaus. Ihre Hände spielten mit einer dünnen Schnur, die sie aus ihrer Tasche gefischt hatte.
„Was haben wir denn herausgefunden? Eine Handvoll verworrener Gespenstergeschichten, naiver Volksglaube, geschrieben in armseligen Versen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“ Er klang müde und frustriert.
„Sie sind das Einzige, was einer Wegbeschreibung gleichkommt. Unter Umständen rettet die kümmerliche Poesie dieser Leute in nicht allzu ferner Zukunft unser Leben.“
Sie fixierte den höfischen Mann auf eine Art, die eine unangenehme Spannung erzeugte, obwohl Gesicht, Stimme und Körperhaltung vollkommen ruhig blieben.
Der Kaisersohn nickte, doch sein Kopf schien wie mit einem Gewicht beschwert. Seine Bernsteinaugen schimmerten unverkennbar feindselig.
Die Kriegerin maß Ylaiy noch lange Sekunden, bevor sie sich mit einem knappen Nicken in die Runde verabschiedete. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden.
Der Morgen war genauso kalt, windig und unangenehm, wie Adiv befürchtet hatte. Obwohl sie die Nacht mit gefülltem Magen in einem Bett verbracht hatte, hing die Müdigkeit bleischwer in ihren Knochen.
Ungeachtet der frühen Stunde zeigten die Gassen sich voll von geschäftigen Menschen, hungrigen Hunden, umherstreunenden Katzen, Ratten und anderem Nagegetier. An den Straßenecken fraßen Schafe und Ziegen. Schweine suhlten sich auf den morastigen Höfen. Trotz des Meerwindes roch es verraucht. Von überall ertönte Pferdegetrappel und aus den Kasernen im Westen und Süden hörte sie Trompeten und rhythmische Trommelschläge.
Am Hafen musterten alle missmutig und besorgt das schiefergraue Meer, während Lakaien die Mulis über eine Laderampe unter Deck führten und Bündel hineintrugen.
Das Wasser schien ihnen zuzuflüstern, ihm nicht zu nahe zu kommen. Es wirkte bedrohlich. In der Ferne schimmerten die vorgelagerten Schären im Frühnebel.
Akim war der Erste, der sich vor der Drana’sora verneigte.
Den Tränen nahe riss sie den Wüstenjungen in ihre Arme. „Du musst mir nicht danken. Ich bin Euch zu Dank verpflichtet.“
„Wir sind doch bislang gar nicht aufgebrochen“, warf Adiv ein.
Die Kaiserinschwester wandte sich ihr zu. „Natürlich seid Ihr das. Ihr alle. Vor langer Zeit schon. Habt Schlimmes erlebt. Noch mehr steht Euch bevor. Verliert den Mut nicht! Bis zum Eintreffen der kaiserlichen Truppen seid Ihr die Einzigen, die die Kinder retten können. Ich weiß, niemand vermag zu sagen, ob sie wirklich dort sind. Vielleicht sind sie längst …“ Erstickt brach sie ab und sah mit tränenumflorten Augen auf die Wogen. „Ich denke, eine Mutter würde es fühlen, wenn ihr Kind … wenn es … gegangen ist. Ich fühle das nicht. Ich fühle es nicht. Ich weiß, dass mein Sohn lebt.“
Sie schämte sich nicht, ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Auch in Adivs Augen glitzerte es. Die anderen blickten betreten zu Boden.
Ylaiys Tante fing sich schnell. „Ich bete für Eure gesunde Rückkehr. Und die der Kinder. Mögen alle Götter mit Euch sein.“
Schmatzend drückte sie Adiv einen Kuss auf die Wange. Dann schloss sie ihren Neffen in die Arme, flüsterte ihm ins Ohr. Von Videm verabschiedete sie sich mit einem Händedruck und einem Schulterklopfen. Den Schmied zog sie in eine Umarmung wie einen alten Bekannten.
Vor Syriakin zögerte sie. Die Sumpfjägerin schaute die Drana‘sora mit einem Ausdruck an, den jeder anders deutete. Auf Ylaiy und Videm wirkte er abweisend, Jonoy glaubte, Unsicherheit zu erkennen, Akim Zuneigung. Adiv sah eine Art Verbundenheit zwischen den Frauen. Mit einem Lächeln streckte die Kaiserinschwester beide Hände aus und strich über die Oberarme der sichtlich versteifenden Sumpffrau. „Man sagt, wer auf Rache aus ist, schaufle zwei Gräber. Doch er hat es verdient.“ Ihre rätselhaften Worte schwebten im Wind, nachdem sie gegangen war, ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen.
Die sechs Gefährten erklommen das Boot über eine Leiter. Der Fischer erwartete sie an Bord. Er hatte bereits die Segel gesetzt und ging nun einmal um das Deck herum, wobei seine geschwollenen Hände das Holz liebkosten wie eine Geliebte. „Behandelt sie gut“, rief er, bevor er an Land kletterte, die Leiter hoch stieß und das Haltetau nach oben warf, das Akim auffing.
Im nächsten Moment setzte die Janta sich rumpelnd in Bewegung.
Die Sumpfjägerin lief über das Deck, begutachtete alles, stellte sich hinter das Steuerrad. Mit geübten Griffen drehte sie daran, schätzte Entfernungen und Wasserstand ein, hob die Nase in den Wind. Schließlich nahm sie Kurs auf das offene Meer.
Die Männer und Adiv traten an die Reling und betrachteten die schnell kleiner werdende Stadt. Der Wind trieb einen Geruch nach Asche vor sich her.
„Da brennt etwas!“ Akim zeigte auf eine Rauchsäule.
„Hoffentlich geht es der Drana‘sora gut“, murmelte Jonoy.
„Das ist weit entfernt von ihrem Palast“, erwiderte Ylaiy. „Mitten in der Stadt. Wahrscheinlich eins der Warenhäuser oder …“
„… das Wirtshaus“, sagte Adiv ausdruckslos.
Schweigen legte sich über die fünf Menschen, die sich gleichzeitig zu der Frau hinter dem Steuerrad umdrehten. Deren Blick war auf das Wasser gerichtet, ihr Gesicht unergründlich.
„Er hat es verdient“, murmelte Adiv. Doch in das Mitgefühl, das sie für die Kriegerin empfand, mischte sich ein fader Beigeschmack.
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Kapitel: | 6 | |
Sätze: | 2.538 | |
Wörter: | 26.873 | |
Zeichen: | 160.486 |
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