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Sätze: | 58 | |
Wörter: | 1.116 | |
Zeichen: | 6.305 |
Sie war gefangen in einem Gefäß aus Glas und niemand durfte sie berühren, denn inzwischen war aus ihr eine wertvolle Rarität geworden. Ein Schild unter dem Glasgefäß wies darauf hin, dass ein intelligentes Alarmsystem sie bewacht. Ein weiteres beschrieb, wie sie entstand, wer sie besaß, wie alt sie war und ihren geschätzten Wert.
Als ich den Raum betrat, in dem sie sich befand, spürte ich eine Schwere und eine unerträgliche Stille, die mich zu dem Glasgefäß hinzog, in dem sie dalag - zum Schweigen verurteilt.
Ihr letzter Ton, der schon längst verklungen, ging in der Vergangenheit verloren und nahm ihre Hoffnung mit, ihre letzte Melodie in die Welt zu tragen:
Ob für die Passanten auf der Straße, oder für das gehobene Publikum im Orchester des Opernhauses. Sie wollte erklingen für die Menschen; den einsamen kranken Bettler oder für die Gattin eines erfolgreichen Geschäftsmannes - egal für wen. Denn dafür wurde sie erdacht und erschaffen... für nichts anderes. Und nun lag sie da in ihrem Gefängnis aus Glas und musste für alle Zeit in der Stille verharren... unberührt und stumm.
Ich schloss meine Augen und sah sie in den Händen der Menschen, die ihr einst Leben einhauchten, weil sie mit ihr Melodien - ja sogar ganze Symphonien erklingen ließen. Es waren Hände, die sie liebevoll berührten und mit ihr alles teilten. Was auch immer sie und diese Menschen gemeinsam erlebten, sie war stets ein guter Zuhörer der Seelen und legte ihre Töne tröstend um jene, die sich danach sehnten.
Jeden Tag sah ich in dem Museum nach ihr und hörte ihr zu, obwohl sie nicht einen Ton von sich gab, denn:
Manchmal erzählt die Stille mehr, als jedes gesprochene Wort...
"Ja, ich weiß" flüsterte eine Stimme, die mich an meiner Wahrnehmung zweifeln ließ; denn nicht meine Ohren vernahmen sie, sondern mein Herz. Wie konnte das sein? Niemand stand nehmen mir und die letzten Besucher waren schon auf dem Weg zum Ausgang. Dann bemerkte ich, dass der Glaskasten, in dem sie sich befand, ein regenbogenartiges Licht auf den Boden warf, dessen Ende sich genau vor meinen Füßen befand. War sie es, die mit mir sprach? Oder waren es meine Gedanken, die mir einen Streich spielen wollten?
Ein helles Glockengeläut aus der Lautsprecheranlage riss mich aus meinen Gedanken und mein Blick auf die mächtig große Wanduhr im Raum verriet mir, dass das Museum gleich schließen würde. Ich schaute noch einmal zum Glasgefäß, wo sie eingeschlossen war und auf den Regenbogen, der eben noch vor meinen Füßen endete. Doch nun war er verschwunden.
In der darauf folgenden Nacht hatte ich einen Traum, der mich den ganzen Tag grübeln ließ:
Es war ein Feuer, dessen hungrige Flammen nach ihr griffen, während sie ohne Angst ihrem Schicksal entgegen blickte. In ihrem Gefängnis aus Glas ergab sie sich schweigend dem Tod - wobei ich tatenlos zusehen musste.
Dieser Traum ließ mich den ganzen Tag nicht los und Gedanken in mir gediehen und wuchsen, die ich nicht haben durfte. Ich war doch gerade vor ein paar Tagen entlassen worden und hatte zum ersten Mal "ungesiebte" Luft geatmet. Nie wieder wollte ich diese Mauern von innen sehen. Und wenn ich rückfällig werden würde, dann wäre ich wieder dort: Im Knast - genauso, wie sie es war... Außerdem sprang nichts dabei für mich heraus, weil sie nicht die übliche Hehlerware war, die ich bei meinen alten Kontakten verkaufen könnte. Nein, das ist total verrückt, dachte ich, während in meinen Gedanken ein Plan entstand, um sie da rauszuholen. Aus ihrem gläsernen Knast; aus ihrem Schweigen, das ihr auferlegt wurde.
Und so beschloss ich doch, sie aus ihrem Gefängnis zu befreien...
Ein paar Tage später saß ich in der Fußgängerzone und hielt sie in meinen Händen... konnte sie endlich berühren und fühlen, was und wie sie war und - spürte ihre Melodie, die sie noch einmal erklingen lassen wollte. Und so nahm ich den Bogen in meine Hand und legte sie mit meiner anderen Hand sachte auf meine Schulter. Meine Finger glitten über ihre Saiten, als ich den Bogen sanft ansetzte, um zärtlich über ihre Seele zu streichen und der erste Ton erklang. Alle Menschen, die an uns vorüber gingen, hielten inne und blieben stehen, um zu lauschen... Nicht mir, sondern um sie zu hören - und ihren Klängen nachzufliegen...
Als der letzte Ton verklungen war, überkam mich eine Müdigkeit, die sich wie ein schwerer Schleier über mich legte. Also beschloss ich, sie in den Geigenkasten zu legen. Vorsichtig schloss ich den Kasten zu und erhob mich, um nach Hause zu gehen. Meine Schritte wurden schwer und ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, als ich endlich in meiner Behausung ankam. Sachte legte ich den Geigenkasten auf den Tisch in der Küche ab und schlurfte ins Wohnzimmer, um mich dort auf der durchgesessenen Couch abzulegen. Sofort fielen mir meine Augen zu, als ich mich unter der Wolldecke eingekuschelt hatte...
Irgendetwas brannte in meinem Hals und ich schnappte nach Luft, als ich erwachte. Die Luft, die ich einatmete, schmeckte nach Rauch... Himmel! Feuer! Ich riss meine Augen auf, die durch den Rauch in der Wohnung brannten, als ungewollte Tränen versuchten, dieses Brennen zu löschen. Ich schreckte hoch und versuchte die Wohnungstür zu erreichen, obwohl der Rauch mir die Sicht nahm und ich immer wieder keuchen musste, weil mir die Luft weg blieb.
Dann fiel mir Viola ein, die noch auf dem Küchentisch lag. Sofort suchte ich mich tastend bis zur Küche vor, um sie zu holen. Doch dann sah ich, dass der Geigenkasten in lodernden Flammen stand und erkannte, dass Viola verloren war. Für immer...
Ihre letzte Melodie war verklungen; und doch blieb sie - in mir.
Nachdem alles genau von den Feuerwehrleuten untersucht worden war, stellte sich heraus, dass eine brennende Kippe im Geigenkasten das Feuer ausgelöst hatte. Da ich jedoch Nichtraucher war, blieb die Frage, wie diese Kippe dort hinein gelangen konnte. Wahrscheinlich war es irgendein Passant in der Fußgängerzone, der seine Zigarette bedenkenlos dort hinein schnippte...
Damit es keine "Nacheiferer" gibt und niemand nachverfolgen kann, wie ich die Alarmanlage im Museum geknackt habe, habe ich diesen Teil der Geschichte ausgelassen.
Ich bin übrigens wieder im Knast gelandet, weil ich diese eine Melodie hören und meiner einzigen Freundin ihren letzten Wunsch erfüllen wollte, den ich mir nie selber erfüllen konnte...
Danke Viola.
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BerndMoosecker • Am 16.04.2024 um 20:59 Uhr | |
Liebe Silly, eine berührende Geschichte, die mich sehr bewegt hat. Die Melodie hören, die Melodie des Lebens. Die eine Melodie, die niemand sonst hört. Wer in der Lage ist diese Melodie zu verinnerlichen, nur der kann in sich selbst ruhen. Höre ich die Melodie? Ab und zu, ja. Nein, sogar oft, aber genau so oft habe ich das Gefühl, ich bin nur geboren, um ruhelos suchen bis zum Schluss. Liebe Grüße Bernd |
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