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Seit Jahrzehnten hing das Gemälde in der Diele der alten verlassenen Villa. Obwohl sich eine Staubschicht auf seiner Oberfläche gebildet hatte, leuchteten die Farben der gemalten Tulpen wie durch Magie.
Die Leute machten einen Bogen um das alte, bereits teilweise verfallene Herrenhaus. „Da drinnen geht es nicht mit rechten Dingen zu“, hörte man sie sagen, oder „In diesem Haus spukt es.“
Nun, die Gerüchte hatten sich in den letzten Jahrzehnten, seit dem Ableben der alten Gräfin vermehrt. Wirre, gruselige Geschichten rankten sich um das Gebäude und um das Bild. Man erzählte sich, dass der Geist der alten Dame in dem Tulpengemälde zugegen war ...
„So ein Unsinn!“, rief Michael. „Der Geist im Gemälde?“ Er schüttelte den Kopf. Seine Freundin glaubte doch nicht ernsthaft diesen Schwachsinn.
„Meine Mutter glaubt daran“, erwiderte Karoline ausweichend und rückte auf der Parkbank ein Stück von ihrem Freund weg. „Sie ist nicht verrückt.“
„Dein ganzes Dorf glaubt wohl daran“, murmelte Michael. In seiner Stimme lag Verachtung für die Dummheit der hiesigen Bevölkerung.
„Das kann dir doch egal sein“, erwiderte die junge Frau, erhob sich und stemmte die Hände in die Taille. Michael sah sie lange stumm und nachdenklich an.
„Was ist los? Wieso glotzt du so?“Karos Ärger über ihren Freund wuchs von Minute zu Minute.
„Lust auf einen Ausflug?“, meinte er nach einer Weile. „Ich weiß da einen Ort, an dem wir sicher ungestört sind.“Er erhob sich rasch, nahm ihre Hand und zog sie die breite Allee entlang.
Es war Herbst. Die Birkenallee sah wunderschön im Schein der untergehenden Sonne aus. Gelbe Blätter, weiße Stämme, dazu der blaue Himmel ohne Wolken. Wie ein Gemälde, überlegte Karo, als sie widerwillig ihrem Freund folgte. „Wohin gehen wir?“Aber Karo glaubte bereits die Antwort zu kennen. Die Villa lag am Ende des kleinen Parks. Die Dämmerung würde in einigen Minuten einsetzen. Die alte Jugendstilvilla lag verborgen in einem riesigen verwilderten Garten. Niemand würde die beiden jungen Leute sehen, denn keiner der Dorfbewohner wagte sich in die Nähe des verfallenen Gebäudes.
„Zur Villa, mein Schatz“, erwiderte Michael grinsend. „Es ist Zeit, diese dämliche Sache zu klären. Ich werde dir beweisen, dass an den Gerüchten nichts dran ist.“
Karo blieb abrupt stehen. Gänsehaut lief ihr auf und es wurde ihr trotz Daunenjacke kalt. „Das geht nicht“, keuchte sie. „Wir können da nicht einfach hinein.“
„Und wer soll uns daran hindern? Die Gräfin höchstselbst?“, war Michaels spöttische Antwort. Karo starrte ihn an. „Du bist ja sonst nicht so feig und eine Tussi“, maulte er.
„Ich bin keine Tussi, du Idiot!“, keifte Karo Michael an. „Ich meine nur, es wird bald finster. Wir können doch morgen am Vormittag herkommen.“
„Ich habe aber jetzt Lust dazu, die Gräfin zu treffen“, erwiderte der junge Mann und sah seine Freundin mit Hundeblick an. „Bitte, in der Dunkelheit ist es noch viel stimmungsvoller in eine Gruselvilla zu gehen.“
Karo seufzte laut, nickte und folgte ihrem Freund durch den verwilderten Garten bis zu einem kaputten Fenster. Das Mauerwerk der Villa war feucht im Schein der Handys und der Putz zum Teil abgebröckelt. Lautlos stiegen sie durch die Öffnung vorsichtig ins Gebäude ein. „Wo sind wir?“, flüsterte Karo, während sie den Raum mit ihren Handys ausleuchteten.
„Ich schätze mal, das war die Küche.“ Ein alter Gasherd, ein Tisch, Sesseln, die Türe zur Speisekammer, eine alte Kredenz, Geschirr. Der Kühlschrank fehlte. Ein alter Luster hing vom hohen Plafond.
„Heimelig, was?“, fragte Michael verschmitzt. Eine Staubschicht überall am gekachelten Fußboden, Spinnweben. Der junge Mann stieß mit dem Fuß die Türe zur Speisekammer auf. Ein paar alte leere Rexgläser standen in den Regalen.
„Wieso hat niemand diese Hütte übernommen, nachdem die Alte gestorben war?“, fragte Michael und sah sich erneut in der Küche um.
„Keine Nachkommen.“
„Aber irgendwem muss ja das Haus gehören, der Grund und so“, überlegte Michael.
„Keine Ahnung. Darüber wird nicht getratscht. Vielleicht weiß ja meine Mutter was.“Karoline ging langsam durch die Küche in das nächste Zimmer. Sie verspürte eine Mischung aus Neugierde, Aufregung und Angst.
„Weißt du, wo das sagenumwobene Gemälde hängt?“, fragte Karos Freund, während er ihr langsam nach trottete.
„In der Diele, habe ich mal gehört“, murmelte Karoline. Sie befanden sich momentan vermutlich im Wohnzimmer. „Wow, sieh dir die Möbel an“, hauchte sie, während das Licht des Handys über das Mobiliar wanderte. „Die sind antik und sicher was wert.“
„Vielleicht“, bemerkte Michael. Eine Vitrine mit einem alten Foto der Gräfin zog seine Aufmerksamkeit auf sich. „Eine stattliche Frau“, meinte er. Das Glas des Schrankes war zersprungen, aber das alte Foto konnte er klar erkennen.
„Oh ja, sie war eine Dame von Adel, sagt man. Nur soll sie angeblich ihren Mann getötet haben. Es konnte jedoch nie bewiesen werden. Er ist seit Jahrzehnten verschwunden.“
„Was sagst du da?“, fragte Michael. Er nahm soeben eine kleine Spieldose aus der Vitrine und zog sie gedankenverloren auf.
„Nun, er hatte sie mit einer Bediensteten betrogen", fuhr Karo fort. "Die Gräfin hat ihn daraufhin ermordet und die junge Geliebte auch, sagt man. Beide waren plötzlich verschwunden. Nur konnte man der Dame eben nichts nachweisen.“
„Die Geschichte passt wunderbar in diese Gruselvilla“, murmelte Michael. Alles Gerüchte, das war ihm klar. Einfach Unsinn. Er stellte die Spieluhr zurück in die Vitrine. Sie war anscheinend kaputt.
„Vielleicht stoßen wir ja auf ein paar Knochen, was meinst du?“, fragte der junge Mann gut gelaunt. „Wir müssen nur lange genug suchen.“
„Die Villa wurde in den fünfziger Jahren, als die beiden verschwanden, durchsucht, Micha. Da wirst du nichts finden.“
„Seit wann ist die Alte tot?“
„Anfang der siebziger Jahre, glaube ich.“
„Was?! Seitdem steht die Villa leer?“, fragte Michael überrascht.
„Nein, erst seit zwanzig Jahren oder so. Nachdem die Gräfin gestorben war, hat noch ihre Tochter hier gelebt.
"Aber ich dachte, sie hat keine Nachkommen."
"Hat sie auch nicht, ihre Tochter ist auch schon lange tot."
„Was ist mit ihr passiert?“
„Sie hat ja behauptet, dass es hier spukt und ist angeblich wahnsinnig geworden und in einer Anstalt verstorben.“
„Was für eine Geschichte!“, meinte Michael zufrieden. Das klang alles wirklich nach einem Stoff für einen Horrorfilm.
Die beiden jungen Leute arbeiteten sich von Zimmer zu Zimmer vor. So viele Räume! Sie waren schon seit über einer Stunde in dem Gebäude unterwegs, ohne die Diele zu finden.
Doch plötzlich: „Micha, sieh mal“, stammelte Karo mit leiser Stimme. Sie leuchtete auf ein Gemälde auf dem rote Tulpen in einer Vase zu sehen waren.
„Der Tulpenstrauß“, hauchte Michael und trat einen Schritt näher an das Bild heran.
„Die Blumen leuchten wirklich, als wären sie frisch gemalt“, meinte Karo noch immer leise.
In diesem Moment ertönte eine Melodie, aus einem anderen Zimmer. Leise, aber unverkennbar.
„Hörst du das?“, fragte Karo entsetzt. Ihre Händen wurden feucht und ihre Knie weich.
„Das ist bloß diese Spieldose“, meinte ihr Freund, nachdem er sekundenlange gelauscht hatte.
„Und wieso fängst sie plötzlich zu spielen an?“, fragte Karo.
„Hm. Sie ist nicht kaputt. Der Mechanismus ist alt und ja, er klemmt und sie spielt wieder, na und?“ Michael zuckte mit den Schultern. „Lass es uns mitnehmen.“Er deutete auf das Gemälde.
„Bist du wahnsinnig? Es ist verwunschen.“
„Glaubst du den Mist noch immer?“, fragte er und legte seine Hand auf die Leinwand. Noch bevor Karo etwas erwidern konnte, zuckte Michael zurück. Er betrachtete seine Hand im Licht der Taschenlampe. Sie war rot und glänzte. Michael schaute leichenblass auf das Gemälde. Aus einer Tulpe tropfte frische Farbe. Er trat einen Schritt zurück. Die Blume, sie bewegte sich! Sie pulsierte und die Farbe wurde allmählich dunkelrot. Ein Rinnsal hatte sich gebildet und tropfte zu Boden. Michael starrte auf das Gemälde, ohne sich zu bewegen. Seine Hand, die das Handy hielt, zitterte.
„Das ist Blut“, keuchte Karo in seinem Rücken. „Sieh mal, die Tulpe, sie gleicht einem schlagenden Herz.“Michael traute seinen Augen nicht, er konnte es deutlich erkennen. Als wäre das nicht genug, erschütterte ein Erdbeben die Jugendstilvilla in ihren Grundfesten. Michael reagierte rasch. Er packte Karo am Arm und zerrte sie weg, sie liefen durch die Zimmer, hetzten auf ein Fenster zu und kletterten hinaus. Im Garten angelangt, bahnten sie sich einen Weg durch die Sträucher, irgendwie, nur weg von dieser verfluchten Villa. Sie stolperten über einen verwucherten Hügel. Im Mondlicht konnten sie ein kleines metallenes Kreuz sehen, inmitten eines hohen Baumes. Es war kaum zu erkennen.
„Da sind sie“, hauchte Karo außer Atem. „Da hat sie sie begraben.“
Abermals bebte die Erde, begleitet von einem tiefen Brummen. Die Villa ächzte. Michael und Karo schauten zurück zu dem alten Gebäude. Ein Teil des maroden Daches stürzte soeben krachend ein. Karo starrte an die Stelle, wo noch vor einigen Sekunden ein Giebel sichtbar war. Hatten sie etwas damit zu tun? Hatten sie den Frieden des Hauses und der Gräfin gestört? War das Erdbeben ihr Zorn darüber? Karo schüttelte die Gedanken ab.
„Nichts wie weg!“, schrie Michael, als der Boden unter ihnen erneut bebte. Die beiden jungen Leute hetzten weiter. Sie kletterten über den Zaun, liefen durch den Park, die Birkenallee hinauf. Erst vor der Haustüre von Karos Elternhaus machten die beiden halt.
„Bitte komme noch rein, ich brauche dich“, keuchte Karo verschwitzt und zittrig.
„Ja, ich dich auch. Ich kann nicht glauben, was ich gesehen habe“, stöhnte Michael, noch immer blass. „Bitte erzähle es keinem.“
„Werde ich nicht“, versprach ihm seine Freundin.
In dieser Nacht war an Schlaf nicht zu denken.
Am nächsten Tag traute Karo ihren Ohren nicht, als sie Radio hörte. Das Dorf war das Epizentrum eines leichten unerklärbaren Erdbebens gewesen ...
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