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Krone und Herz

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10.10.18 12:12
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt
"Die Zuneigung erklärt sich häufig nur aus niedriger Gesinnung und hochmütiger Eitelkeit."
Voltaire
Das Mittelalter, zu heutigen Zeiten stark romantisiert, stellte die zeitliche Epoche zwischen dem Ende der Antike und dem Beginn der Neuzeit dar. Der Untergang des römischen Reiches wird dabei meist als das Ende jener Antike betrachtet, wohingegen sich die Renaissance, die auf das Mittelalter folgte, als Wiederentdeckung jener Zeit der großen Philosophen und Denker Griechenlands und Roms betrachtet.
Entgegen vieler Sagen und glorreichen Geschichten war das Mittelalter alles andere als eine angenehme Epoche. Geprägt war jene Zeit von Kriegen, Krankheiten und großer Armut des bürgerlichen Standes. Auf der anderen Seite lebte der Adel in Saus und Braus und scherte sich herzlich wenig um die Leiden des Volkes. Es war ebenfalls die Zeit der Könige. Einer von ihnen war König Vanité von Frankreich. Da keinerlei Gewaltenteilung vorhanden war, vereinte er die Macht der Exekutive, Legislative und Judikative alleine in sich. Die Geschichte, die ich zu erzählen gedenke, handelt von eben jenem Herrscher, der, so heißt es, vermutlich im 13. Jahrhundert lebte, wobei ich für die Richtigkeit dieser Angabe nicht garantieren kann. Schließlich vermag ich selber nur wiederzugeben, was mir selbst berichtet ward und jene nur, was ihnen mitgeteilt und so weiter. Bei Ereignissen, die derart weit in der Vergangenheit zurückliegen ist nunmal nicht auszuschließen, dass nicht alle geschilderten angeblichen Tatsachen auch der Wahrheit entsprechen. Doch was ist schon Wahrheit? Wahr kann nur etwas für einen selber sein. Und für mich liegt diese subjektive Wahrheit vor. Ich bin von der Wahrheit meiner Geschichte überzeugt, folglich muss sie es auch sein. Wie der Leser darüber zu urteilen gedenkt, obliegt einzig und allein seiner eigenen Entscheidungsgewalt. Mit weiteren Ausschweifungen möchte ich nicht vom Wesentlichen ablenken. Dies sollte der Vorrede genügen. Der Leser möge sich freundlicherweise in jene geschilderte Zeit zurückversetzen und alle vorliegenden Geschehnisse und Dialoge als Wahrheit akzeptieren, selbst wenn er dieses oder jenes als die künstlerische Freiheit des Erzählers zu erkennen glaubt.
Der Sommer des Jahres 1298 war ein besonders heißer und daher auch trockener. Verherende Ernteausfälle waren die Konsequenz. Die fast schon als Gottheit angepriesene Sonne wurde fortan zum Feind ernannt und wüste Beschimpfungen galten ihr und demjenigen, der unter ihr das Land regierte. Regen wurde sich herbeigesehnt, Menschen arbeiteten sich auf dem Feld zu Tode oder verhungerten elendig, das Vieh starb in Massen und die Armut der Bauern nahm neue, nicht für möglich gehaltene Ausmaße an.
Man sollte meinen einem gerechten Herrscher ginge dies Leid seines Volkes zu Herzen und würde ihn dazu bewegen, Gegenmaßnahmen einzuleiten. Bei König Vanité von Frankreich trat dies jedoch mitnichten ein. Während sein Volk hungerte und, wir dürfen es ruhig sagen, wie Tiere zugrunde ging, vermehrte er seinen Reichtum und beutete diejenigen aus, die ohnehin nichts hatten. Im Kontext der Zeit betrachtet stellte Vanité selbstredend keine Ausnahme, sondern eher den Normalfall dar. Das Mittelalter war vieles, jedoch definitiv keine gerechte Zeit. Die Ernte der Bauern, die aufgrund der Dürre, die das Land wie ein Geist heimsuchte, ohnehin überaus dürftig ausfiel, heimste der König ein. Die Steuern erhöhte er ständig, vermutlich um damit den Aufbau seiner Armee zu finanzieren. Die Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit des Königs Vanité von Frankreich suchte jedoch bis zum heutigen Tag ihresgleichen. Ob er bereits von Kinderbeinen an derart verkommen und boshaft war, ist heute nicht mehr zurückzuverfolgen. Womöglich führte erst seine Krönung zum Größenwahn, denn dass Macht Menschen verändert, zum Negativen versteht sich, stellt eine unumstößliche Tatsache dar. Über wie viele Leichen er zu gehen hatte, um seine Ziele zu erreichen, war ihm einerlei, weshalb er getrost als skrupellos und heimtückisch zu bezeichnen ist. Im Übrigen ist noch zu erwähnen, dass des Königs größte Leidenschaft das Exekutieren war. Kaum etwas bereitete ihm mehr Freude als mitanzusehen, wie politische Gegner, Landstreicher und ähnliche Feinde zunächst aufs verwerflichste gefoltert und anschließend meist öffentlich hingerichtet wurden. Dass sich Vanité im Volke keiner großen Beliebtheit erfreute, ist überflüssig zu erwähnen. Doch was sollte man schon gegen die Macht dieses Tyrannen unternehmen, der selbige schamlos ausnutzte und sich seiner Überlegenheit erfreute?
Unter Berücksichtigung dessen liegt der Schluss, dass es sich bei diesem Mann keineswegs um einen moralisch hochstehenden Menschen handelte, nahe. Sicherlich wird sich der Leser fragen, wie es um das Liebesleben dieses berüchtigten Königs stand. Um diese Frage zu beantworten bedarf es eines Blickes in dessen Vergangenheit. Da seine Mutter an einer unbekannten Krankheit unmittelbar nach Vanités Geburt zugrunde ging, reifte das junge Kind gänzlich ohne den Kontakt zum weiblichen Geschlecht zum Manne heran, mit Ausnahme der zahlreichen Zofen und Dienstmägde, die, selbstredend in keinster Weise mit Respekt behandelt wurden. Dass diese Zeit den späteren König stark geprägt hat, ist nachvollziehbar. Schließlich stellt die Kindheit im Leben eines jeden Menschen die Jahre dar, in der er am meisten lernt, in der sich dessen Weltanschauung entwickelt und er am einfachsten zu beeinflussen ist. Eine nicht unerhebliche Anzahl an psychischen Erkrankungen haben daher ihren Ursprung in eben jener Zeit des Heranwachsens. Wurde der junge Mensch, um mich eines Beispiels zu bedienen, als Kind schwer misshandelt, wird er den Schaden, den dies angerichtet hat, besonders in seinem späteren Leben in aller Deutlichkeit zu spüren bekommen. Misstrauen, Angstzustände, Isolation, extreme und teils gegensätzliche Gefühle, die bis zum Selbstmord führen können, sind häufige Konsequenzen. Im Falle unseres Königs war das Aufwachsen ohne Mutter, ohne weibliche Bezugsperson mutmaßlich der ausschlaggebende Grund für dessen Hass auf das Weibsvolk. Den einzigen Kontakt, den er jemals zu den Weibern pflegte, war jener zu besagten Dienstmädchen, die seiner Achtung und Wertschätzung offenbar nicht wert waren. Somit lässt sich erklären, warum Vanité Frauen zutiefst verachtete und auch kein Interesse an intimen Beziehungen hatte. Zu behaupten, dass der König dem weiblichen Geschlecht vollkommen abgeneigt war, entspräche jedoch nicht gänzlich der Wahrheit, wenngleich zweifelsohne festzuhalten ist, dass er außer dem körperlichen Begehren nicht viel für sie übrig hatte und dass dies gar der einzige Grund war, warum er sie überhaupt an seinem Hof duldete. Er begehrte und spielte seine Macht aus, um die sinnlichen Frauen des Hochadels für sich zu gewinnen, was ihm als König selbstredend auch gelang, war das Objekt der Begierde nicht schon einem anderen versprochen. Zu erwähnen ist hierbei, dass er in seinen Bindungsversuchen ausgesprochen unbeständig war und sich nur ungern auf ein Weib festlegen wollte. Also tat er es auch nicht. Als Herrscher Frankreichs stand ihm das auch zu. Nicht auszumalen, wie viele Herzen er wohl damit brach. Doch was interessierte ihn das schon. Niemand schien seiner würdig zu sein, zumal keine der Frauen in der Lage war, ihm den erhofften Sohn zu schenken, den er als seinen Nachfolger unbedingt benötigte. Da er allerdings noch ein Mann war, der in der Blüte seines Lebens stand, war dieses Unterfangen noch nicht von Dringlichkeit. Vielmehr erfreute er sich seiner jugendlichen Schönheit und liebte es, mit seinem Charme die Frauen einer nach der anderen zu verführen.
Zum gegebenen Zeitpunkt war König Vanité, der im Übrigen aufgrund des ebenfalls recht frühen Todes seines Vaters früh den Thron Frankreichs bestiegen hatte, erneut ohne weibliche Begleitung an seiner Seite.
Zu jener Zeit nahm die Hexenverfolgung deutlich an Fahrt auf, maßgeblich vorangetrieben durch unseren König. Selbstredend bediente man sich, insbesondere Vanité, dieser menschenverachtenden Praxis, um sich politischer Gegner und Andersdenkender im Allgemeinen zu entledigen. Die große Furcht vor dem Unbekannten und religiöser Fanatismus spielten jedoch ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle, wenngleich wir festhalten können, dass sich der König von Frankreich nicht viel aus Religion machte. Es verging kein Tag an dem nicht entweder Vanité selbst oder seine engste Gefolgschaft die öffentlich ausgetragene Verbrennung einer in Verdacht geratener Frau anordnete (was sich überaus gut mit des Königs Frauenhass vereinbaren ließ). Da war jedoch noch nicht abzusehen, dass ausgerechnet diese dunkle Leidenschaft des Königs, selbigem noch zum Verhängnis werden würde...
Man nannte sie nur Juliette. Ihr Familienname war nicht bekannt, nicht einmal ihr selber. Dies ist darin zu erklären, dass es sich bei diesem zweifelsohne wunderschönen Mädchen um eines niederen Standes handelte. Unglücklicherweise hatte sie ihren Vater niemals kennengelernt. Er musste elendig verhungern, was definitiv auf die Rücksichtslosigkeit des damaligen König von Frankreich, dem Vater unseres Vanités, von dem ansonsten nicht viel bekannt ist, zurückzuführen ist. Dessen Herrschaft diente der des amtierenden Königs als Vorbild. Der Sohn eignete sich die Skrupellosigkeit des Vaters ebenfalls an. Somit war das Schicksal des Vaters dieses prachtvollen Mädchens besiegelt. Die Mutter der Kleinen fiel der gnadenlosen Hexenverfolgung des Sohnes zum Opfer. Sie wurde an einem Freitag dem 13. auf dem Scheiterhaufen hingerichtet, vor den Augen der damals zehnjährigen Tochter. Das Kind war fortan auf sich alleine gestellt und entwickelte sich nicht nur zu einer absoluten Überlebenskünstlerin (uns ist nicht begreiflich wie es einem derart jungen Menschen möglich war, alleine in der grausamen Welt zu bestehen), sondern auch, verständlicherweise, zu einer frühreifen und höchst erfahrenen Frau. Getrieben ward sie einzig von ihrem unbändigen Willen, der vermutlich aus ihrem grenzenlosen Hass dem König gegenüber resultierte. Dies hielt sie am Leben, denn sie konnte diesem abscheulichen Mann selbstredend weder verzeihen, noch dessen grausames Verbrechen jemals vergessen...
Im Thronsaal war König Vanité gerade in eine Partie Schach mit seinem ergebensten Diener, einem Mann namens Louis, der über ein ebenso boshaftes Wesen wie sein Herr verfügte und von dem es heißt, dass er viele Geschicke des Königs im Verborgenen leitete, vertieft, als sich plötzlich die gewaltige Flügeltür öffnete und eine Horde des Königs Soldaten eintrat, ein in Ketten gelegtes und unübersehbar geschändetes Mädchen in ihren Reihen. Heftig erregt über die unerwartete und vor allem unangekündigte Störung riss der impulsive König das Schachbrett zu Boden und erkundigte sich mit bebender Stimme nach dem Grund für das Erscheinen seiner Männer. Grob wie diese waren, schleuderten sie ihre Gefangene vor ihrem Gebieter auf den Boden und erklärten, dass es sich bei der Unbekannten um eine Hexe handelte, die mit dem Tode zu bestrafen sei. Ihre ihm, dem König, feindlich gesinnten Worte, die sie auf dem Marktplatz des nahegelegenen Dorfes, in dem sie, die Soldaten, Wache gehalten, verlauten ließ, legten keinen anderen Schluss nahe, als dass sie für den allgemeinen Frieden eine ernstzunehmende Bedrohung darstelle. Die Tatsache, dass er ein neues Opfer hatte, beruhigte das königliche Gemüt. Er warf der am Boden liegenden Gestalt einen zunächst verächtlichen Blick zu, der jedoch schnell einem neugierigen und leicht erstaunten Gesichtsausdruck wich. Das hasserfüllte Antlitz, das ihm entgegenblickte weckte etwas in des Königs Brustkorb. Diese unbekannte Gefühlsregung nicht weiter beachtend, fällte er sein übliches Urteil: Tod auf dem Scheiterhaufen und zwar wie immer bereits am folgenden Tag und in aller Öffentlichkeit. Nachdem er gesprochen, wurde das Mädchen weggebracht und in ihr Verließ geführt, wo ihr nichts anderes übrig blieb als auf den Tod zu warten und ihrem Ende entgegenzusehen.
Zunächst versuchte er noch das plötzliche Herzbeben zu ignorieren, als es ihm jedoch nicht mehr möglich war, begann König Vanité sich ernsthaft Sorgen zu bereiten. Ob es sich bei des Königs Befinden tatsächlich um Liebe oder schlichtweg um Wollust handelte, ist uns heute kaum noch möglich, mit Bestimmtheit zu sagen. Allerdings spricht vieles dafür, dass wirklich, zum ersten Mal in seinem Leben, zumindest im Ansatz so etwas wie Liebe vorlag. Zum einen zeigt seine große Besorgnis ob der körperlichen Regungen, dass er mit dieser Art Gefühl bisher noch nicht konfrontiert wurde und mit der Wollust war er schließlich bestens vertraut. Außerdem empfand er Gefühle für eine Gefangene, ein Bauernmädchen, eine Hexe und somit einem Weibe, das ihm aus materieller Sicht, also aus seiner gewohnten Sicht, nichts zu bieten hatte. Darum gehen wir, nicht zuletzt aus Gründen der Kunst und der romantischen Dichtung davon aus, dass der König unsterblich verliebt war, zumal ihm das Gesicht dieser Schönheit nicht mehr aus dem Kopf ging. Womöglich reizte ihn auch die Tatsache, dass er mit dieser unmöglich zu erfüllenden Liebe traditionellen Mustern zuwiderhandle und der Reiz des Verbotenen sich somit bemerkbar machte oder einfach das Bedürfnis seine königliche Überlegenheit einer armen Bauerntochter gegenüber auszukosten und zu genießen. Liebe hin oder her, dass er das Mädchen zumindest begehrte, ist bewiesen, schließlich beauftragte er des Nachts, da sein Verlangen die Kontrolle über seinen Verstand erlangte, seinen Diener damit, die Gefangene aus dem Verließ in sein Schlafgemach zu geleiten. Als Grund gab er an, er wäre sich in Bezug auf das Dasein als Hexe des Mädchens nicht länger derart sicher wie zu Beginn und wolle verhindern einen vorschnellen Schluss zu treffen, weshalb er sie zuvor noch persönlich zu inspizieren wünsche. Seine wahren Absichten behielt er für sich, nicht zuletzt aus Scham und Angst davor, einiges an Ruf einzubüßen. Der Diener, wenngleich ein wenig verwirrt, handelte wie ihm befohlen und nur kurze Zeit später befand sich die Gefangene, selbstredend nach wie vor an den Händen gefesselt, in des Königs Schlafgemach, ihm direkt gegenüber. Dieser befahl seinem Diener, die beiden alleine zu lassen und die Wachen nur auf seine ausdrückliche Anweisung eintreten zu lassen. Dann waren sie ungestört.
Eine lange Zeit lang standen beide nur da, ausdruckslose Mienen aufgesetzt und starrten einander an, wobei dem König das Feuer, das hasserfüllte Glänzen in den Augen des Mädchens nicht entging. Sein wollüstiger Blick musterte sie von oben bis unten und er hatte alle Mühe, sein großes Entzücken zu verbergen.
Des Mädchens Antlitz ließ sein Herz dahinschmelzen wie erhitzte Butter oder Schnee, der der glühenden Sonne ausgesetzt ist. In ihren leidenschaftlichen braunen Augen lag dennoch ein nicht zu übersehender Hauch von Melancholie, der darauf hindeutete, dass sie in ihrem noch so jungen Leben, das, geschätzt, erst 16 Jahre andauerte, bereits viel Leid zu ertragen hatte. Ihre Haut war braun gebrannt von der harten Arbeit auf dem Feld, bei der sie der prallen Sonne ausgeliefert war und ihr schwarzes Haar ward in einem Zopf zusammengeflochten. Ihr schmaler und noch kindlicher Körper (bedingt durch den Mangel an Nahrung, den sie zu beklagen hatte, aufgrund der Dürre in diesem Sommer), ward geschunden von zahlreichen Misshandlungen und der harten körperlichen Arbeit. Unter dem Lumpen, den sie trug, zeichneten sich bereits ihre wohlgeformten Brüste ab, die jedoch noch nicht vollständig gereift waren, was dem König selbstredend nicht entging. Trotz dieser augenscheinlich schwächlichen und kränklichen Erscheinung machte der König in ihrem Gesicht, bedingt durch die feurigen Augen eine tiefe Entschlossenheit aus, die ihn erkennen ließ, dass es sich bei dem Mädchen zweifelsohne um eine wahre Kämpfernatur handelte, die einiges zu ertragen vermochte und daher überaus ausdauernd und eine starke Persönlichkeit war.
Nachdem Vanité seine ausgiebigen Betrachtungen, die die unbekannte Schönheit in aller Seelenruhe und ohne ein Wort zu sagen über sich hat ergehen lassen, abgeschlossen hatte, begann er, eine Konversation aufzubauen.
"Holde Maid, wie ist dein Name?", fragte er. Keine Antwort. "Oh, ich verstehe", setzte er hinzu und betrachtete dabei die Handfesseln des Mädchens. "Du wirst wohl erst reden, wenn ich dich davon befreit habe. Nun, das lässt sich einrichten."
Mit diesen Worten befreite er die Gefangene von ihren Fesseln. Kaum war sie losgelöst, stürzte sie sich schließlich voller Hass auf den König und ging ihm an die Gurgel. Dieser wiederum rief nicht nach Hilfe, sondern überwältigte die Angreiferin alleine nach einem kurzen aber heftigen Kampf. Er stemmte die vom Hunger stark geschwächte Gefangene auf das Bett und hielt sie fest.
"Du Schwein, du widerliches Schwein", rief das Mädchen. "Wegen dir habe ich meine Eltern verloren. Oh Schande über dich du elender Herrscher."
"Bleib ruhig und rede mit mir. Ich muss mit dir sprechen."
Das Mädchen schrie weiter und warf Vanité die übelsten Beschimpfungen an den Kopf. Als er schließlich einsah, dass sie keine Ruhe geben würde, schlug er sie, woraufhin sie tatsächlich verstummte.
"Hör mir endlich zu", sagte er. "Was auch immer mit deinen Eltern geschehen ist, ich habe dich aus einem ganz bestimmten Grund hierher befohlen. Du gehörst jetzt mir. Du musst mit mir kooperieren, weil ich es dir als dein König befehle."
"Du bist nicht mein König. Du bist ein elender Mörder, sonst nichts. Du hast meine Mutter auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Dafür sollst du im Fegefeuer brennen, du Unmensch."
"Du bist das schönste Mädchen, das ich jemals gesehen habe und daher will ich dich besitzen. Ich habe das Recht darauf!"
Das Mädchen begann zu schluchzen und bitterlich zu weinen.
"Niemals werde ich mit dir kooperieren. Was du mir und deinem gesamten Volk angetan, ist unverzeihlich."
Vanité entgegnete, als hätte er die Antwort des Mädchens nicht vernommen: "Aufgrund deines niederen Standes vermag ich nicht dich zur Frau zu nehmen. Dies wäre nicht mit einem Ansehen und meiner sozialen Stellung zu vereinbaren. Sei dir jedoch im Klaren darüber, dass du sterben wirst, solltest du dich widersetzen. Das gleiche Schicksal wie das deiner Mutter, von der du berichtest, wird auch dich ereilen. Doch ich gewähre dir die Möglichkeit zu wählen, in all meiner Barmherzigkeit und Großzügigkeit, die auch du noch zu schätzen lernen wirst."
"So sei es. Ich werde sterben und meinen Eltern folgen."
Der König war geschockt von dieser Antwort, hatte er doch mit der gegenteiligen Reaktion gerechnet. Seine Drohung hatte keinerlei Wirkung gezeigt.
"Dein Volk verhungert und du tust nichts dagegen. Du lässt unschuldige Menschen hinrichten. Du bist ein Tyrann und ein unfähiger Herrscher und der Tod erscheint mir als Erlösung, wenn ich durch ihn einer Verbindung mit einem Scheusal wie dir entgehe", sprach das Mädchen plötzlich ganz ruhig. Sie leistete keine Gegenwehr mehr und schien sich mit ihrem Schicksal abgefunden,  ja, mehr noch, sogar angefreundet zu haben.
Der König antwortete darauf nichts. Stattdessen berührte seine Hand langsam den Körper, des sich noch in seinem Griff befindenden Mädchens. Diese griff jedoch des Königs Hand mit ihrer eiskalten, packte fest zu und drückte ihn weg. In dieser Geste lag eine derart starke Aussage und Entschlossenheit, dass der König völlig überrascht von ihr abließ. Allein die Tatsache, dass sich jemand, vor allem eine Frau ihm widersetzte versetzte ihn in Schockstarre. Entsetzt von der tödlichen Kälte des Blickes des Mädchens, wich er zurück. Mit fester und von Willensstärke nur so trotzender Stimme sagte sie: "Schände meiner nicht durch deine Berührung, Unhold!"
"Komm mit mir", versuchte es der König ein letztes Mal. Und, verehrter Leser, ich selbst vermag es kaum zu glauben, doch es heißt, dass der große Vanité just in diesem Augenblick vor einer einfachen Bauerntochter auf die Knie fiel und sie wahrlich anflehte, sich auf ihn einzulassen, und sich gar für den Mord an ihrer Mutter entschuldigte, nachdem er ihr seine grenzenlose Liebe gestanden. Der König, der vor Gewalt niemals zuvor zurückschreckte, getraute sich nicht, diese unscheinbare, von Schmerzen und Leid zerfressene, zierliche und halb verhungerte Gestalt ohne dessen Zustimmung zu berühren, was die ungeheure Ausstrahlung und den eisernen Willen dieses beeindruckenden Mädchens eindrucksvoll unter Beweis stellt. Mit ihrer unfassbaren Präsenz schien sie den gesamten Raum einzunehmen, mit ihrem gewaltigen Schatten zu füllen und damit den König zu ängstigen, der den Zorn und die Rache Gottes zu fürchten begann, der diesen Engel auf die Erde schickte, um ihn für seine Missetaten zu richten.
"Es wird dir schmerzen mich hinrichten zu lassen", sagte das Mädchen zu dem verwirrt, verzweifelt und fast schon lächerlich am Boden liegenden König, der nun, wie sie es sich schon immer wünschte, zu ihren Füßen lag, den sie endlich, nach all den elenden Jahren des Wartens unter Kontrolle und genau in der Position hatte, in der sie ihn sehen wollte.
"Ich weiß, dass du mich hinrichten lässt, da du dir ansonsten einen Fehler eingestehen müsstest und du dir diese Blöße vor dem Volk niemals geben würdest. Also werde ich sterben, doch nicht als dein Opfer, sondern als dein Bezwinger. In der körperlichen Auseinandersetzung bin ich dir hoffnungslos unterlegen, doch ich verfüge über Waffen von solch verherender Macht, die du dir nicht in deinen kühnsten Träumen auszudenken vermagst und gegen denen du wiederum hoffnungslos ausgeliefert bist. Ich bin bereit diese Welt zu verlassen. Doch du wirst den Schmerz meines Verlustes, die Last dieser Ungerechtigkeit und all deiner Missetaten, auf die ich dich aufmerksam gemacht, nicht ertragen können und elendig unter dieser Last zusammenbrechen. Zu stark ist dein Verlangen, zu gewaltig die ungeheuerliche Leidenschaft, die sich deiner bemächtigte. Damit wirst du erheblich mehr leiden als ich und wirst endlich begreifen, dass du im Unrecht bist. Dies ist meine Rache, die Rache für meine Eltern und all die Menschen, die unter deiner Herrschaft zu leiden haben. Du wolltest meinen Namen wissen. Ich verrate ihn dir mit Vergnügen, damit du deinen Verlust, deinen Schmerz zu benennen in der Lage bist. Ich bin Juliette und ich werde dich heimsuchen, in den Wahnsinn treiben. Ich bin das Volk, das sich gegen dich stemmt, die fleischgewordene Hoffnung des Widerstandes, der Erlöser, der Frankreich zurück in die Freiheit führt. Gedenke meiner, du Unhold!"
Bleich vor Angst kroch der König auf allen vieren so weit wie möglich von dem Mädchen weg, das sich vor ihm aufgebäumt hatte und rief die Wachen herbei, was dem Mädchen ein hämisches Grinsen ins Gesicht schnitzte, da dies das Zeichen für die Aufgabe des Königs und ihrem damit einhergehenden endgültigen Sieg war. Sie hatte alles gesagt, was es zu sagen gab und ließ sich daher seelenruhig und ohne auch nur den geringsten Widerstand zu leisten, abführen. Sie war mit sich im Reinen und hatte ihre Lebensaufgabe erfüllt. Sie würde als Heldin sterben und damit den größtmöglichen Sieg davontragen, den ein Mensch nur erringen kann. Eben jene Stille ängstigte Vanité nur noch mehr, da er nur an die lauten Töne gewöhnt war.
Wie geplant fand am folgenden Tag die Hinrichtung statt. Obwohl der König wusste, dass er damit seine vernichtende Niederlage besiegeln würde, gab es für ihn kein Zurück mehr. Das Schicksal, Gott hatte entschieden und er war somit machtlos. Es war ihm unmöglich, sich dem Willen des Allmächtigen zu widersetzen. Nichtsdestotrotz ordnete Vanité eine Änderung an. Juliette sollte nicht auf dem Scheiterhaufen qualvoll zu Tode kommen, sondern ihr sollte der wesentlich schnellere Tod durch die Guillontine gewährt werden, zudem unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Des Königs teuflischer Berater Louis wollte nicht wahrhaben, dass sein Gebieter für ein einfaches Mädchen niedersten Standes derartige "Vergünstigungen" bereithielt und äußerte sich sehr abfällig über die Bauerntochter. Dies wiederum missfiel dem König und er verteidigte seine Geliebte so gut es ihm möglich war, ohne Aufsehen zu erregen. Denn daran, dass Gott das unlöschbare Feuer der Liebe in ihm entflammt hatte, konnte er ebenfalls nichts ändern. Diese völlige Machtlosigkeit, machte dem Ego des Herrschers sehr zu schaffen.
Kurz bevor die Hinrichtung stattfand suchte Vanité in einem ungestörten Moment ein letztes Mal die Nähe zu Juliette, um sich zu verabschieden. Diese küsste ihn leidenschaftlich, selbstredend keineswegs aus Liebe, sondern um das Verlangen des Wollüstlings noch weiter zu entfachen und um ihm damit den baldigen Verlust noch schmerzhafter zu machen. Als dann der Moment ihres Todes gekommen war, brach Juliette kurz zuvor in triumphierendes Gelächter aus, Gelächter des Sieges, Gelächter der Überlegenheit, Gelächter zur endgültigen Demütigung des Königs, teuflisches, höllisches Gelächter, das bis zu seinem Tode ewig in seinem Kopf widerhallen würde. Immer und immer und immer wieder.
Nach langem Zögern und äußerst widerwillig gab Vanité den letzten Befehl, dem Juliette jemals zu hören bekommen sollte. Der König wollte zwar nicht hinsehen, konnte seinen Blick jedoch nicht abwenden, zu nahe ging ihm das, was sich unmittelbar vor seinen Augen abspielte. Doch selbst nachdem der Kopf bereits zu Boden gefallen war, schien ihr Lachen anzuhalten. Die Mundwinkel waren von einem teuflischen Grinsen verzerrt. Vanité erbleichte augenblicklich, eilte schleunigst davon und übergab sich. Niemals würde er diesen grässlichen Anblick vergessen könnnen. Und er weinte und weinte und weinte.
Wenige Tage später ließ er seinen ergebenen Berater Louis ebenfalls hinrichten, da dieser hinter des Königs verborgenem Geheimnis gekommen war. Juliette dagegen ermöglichte er, als einzigem Menschen überhaupt, ein anständiges, ja, beinahe königliches Begräbnis. Dies verstand er als Zeichen seiner grenzenlosen Liebe und Zuneigung. Sein Herz ward gebrochen, die Krone setzte er ab. Das Mädchen suchte ihn, wie angekündigt heim, jede Nacht, ließ ihm keine Ruhe, später auch tagsüber. Es gab kein Entrinnen. Schwermütig und zutiefst melancholisch wurde er. Wann genau er starb, ist uns nicht überliefert, ebensowenig wie die Ursache seines Todes. Von unerträglichem Kummer, einem Attentat bis hin zu Selbstmord ist jede Theorie vertreten. Wie so oft bleibt uns auch hier die Wahrheit verborgen. Doch eines gilt als sicher. Juliette lacht noch immer im Grabe über ihre geglückte Rache...

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