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Die Großstadt

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02.09.19 22:46
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Als Therapeut hatte man es nun wirklich nicht einfach. Jeden Tag sich mit schwer Depressiven, Paranoiden, Sexsüchtigen und anderen Gestörten auseinanderzusetzen und dann auch noch von allen Seiten mit der Erwartung konfrontiert werden, man könne diesen anonymen und gesichtslosen Spinnern tatsächlich helfen, stellte eine wahrhaftig überfordernde Aufgabe dar. Wenn man dann selbst zu allem Überfluss noch von seiner Frau betrogen und verlassen wird und alle denken, man könne sich als Therapeut ja selbst heilen, bedürfe keiner Hilfe und müsse nun endlich seinen Mann stehen, versteht man wirklich, was es bedeutet, eine sinnlose Existenz zu sein.

All diese Erfahrungen musste er zu seinem Leidwesen machen. Wie der Mensch doch ohne seine Zustimmung in diese Gesellschaft, dieses Leben, diese Welt geworfen wird und dann sehen muss, wie er klar kommt. Schade, dass es nicht so etwas wie einen "Reset-Knopf" wie im Videospiel gibt. Sicher, der Notschalter ist immer zu betätigen, doch das ist nicht dasselbe. Es soll schließlich kein endgültiges "Game-Over" sein, sondern ein Neustart. Einfach die Zeit zurückspulen, um längst verstrichene Chancen doch noch zu ergreifen oder vielleicht seine eigene Geburt verhindern. Welch ein Dilemma das ganze Leben doch ist. Unzufrieden sind alle, doch sterben will auch keiner. "Super Mario" ist wirklich zu beneiden.

In seinen tiefschwarzen Mantel gehüllt, die Hände in den Taschen vergraben, schlenderte er die breite, schier endlose Allee entlang, die an den Seiten mit üppigen Bäumen bestückt war.

Zuhause war niemand. Die Frau war ausgezogen, die Tochter, für die er das alleinige Sorgerecht erhalten hatte, befand sich auf der Arbeit, um ihr Taschengeld aufzubessern.

Er konnte es nicht mehr aushalten. Die gähnende Langeweile, die triste Einsamkeit, machten ihm sehr zu schaffen. Als er begann, an seinem Schreibtisch sitzend, die Anzahl der Fliesen in seinem Arbeitszimmer zu zählen, realisierte er, dass er den unliebsamen Ort verlassen musste, um nach Abwechslung zu suchen.

Abwechslung gab es in der Stadt wenigstens genug. Immerhin das hatte sie zu bieten.

Wie im Fiebertraum zogen die Gestalten nur so an ihm vorbei. Er gewahrte verschwommene Umrisse, undeutliche Figuren, bunte Nebel. Explizit erkennen, konnte er nichts. Vielmehr erahnen. Mit Menschen glaubte er sich schließlich auszukennen.

Endlich wieder Mann sein, dachte er sich und setzte seinen Weg unbeirrt fort, hatte er doch nun endlich ein konkretes Ziel vor Augen.
Eigentlich musste er sich als Fachmann doch selbst therapieren können, dachte er. Eigentlich hatte man ihm unmissverständlich davon abgeraten. Doch hatte er eine Wahl? Wer kümmerte sich schon um so jemanden wie ihn? Ein arbeitsunfähiger Therapeut ist nutzlos. Man wird seine Praxis künftig bis in alle Ewigkeit meiden, sollte er sie jemals wieder öffnen. Denn sobald die Ursache seiner Auszeit bekannt wurde, wäre er ein Nichts. Vorausgesetzt es würde sich überhaupt noch jemand an ihn erinnern.

Die Schatten rasten in Windeseile an ihm vorbei. Ein unendlicher Menschenstrom, schien sich ihm zu widersetzen. Es galt sich, durch die Menge zu kämpfen, tapfer zu sein, durchzuhalten, so wie er es auch sonst immer getan hatte.
Ein depressiver Therapeut, welch eine Lachnummer! Wer würde sich schon für so jemanden interessieren?

Zeit ist das, was sicherstellt, dass das Schmerzhafte, das Unbegreifliche zur Normalität wird, dachte er. Doch wer konnte sich einen solchen Zustand schon als Normalität wünschen? Er sicherlich nicht! Doch welche Wahl hatte er schon? Erstmal Gras drüber wachsen lassen, dachte er. Das wird schon wieder!
Der Beruf des Therapeuten war schon höchst eigenartig. Jetzt, da er nicht mehr selbst involviert war, fiel es ihm erheblich leichter, rational darüber zu reflektieren und die für ihn schlüssigen Schlussfolgerungen herauszufiltern.
Wenn du glücklich bist, interessiert es dich nicht, wie unglücklich andere sind. Aber wenn du unglücklich bist, interessiert es dich sehr wohl, wie glücklich andere sind!

Unwillkürlich musste er den Kopf senken, um dem Anblick geisterhafter, womöglich glücklicher Gesichter zu entgehen.
Ob man es ihm ansah? Die Depression? Wie sah ein Mann aus, der hintergangen und verlassen wurde? Ist es einem Therapeuten ins Gesicht geschrieben, wenn er seinen Job aufgeben musste?

Er spürte zahllose, unendliche Blicke, die sich wie Messerstiche in seine Haut bohrten und plötzlich kam es ihm vor, als ob alle ihn nackt sehen konnten.
Vor Scham bog er in eine kleine, dunkle Seitengasse ab, um der Hektik und dem Verkehr auf der Hauptstraße zu entgehen.

In dieser Gasse wurde er einer Vergewaltigung ansichtig, doch um das Schreien der Frau schien sich niemand so recht zu scheren. Man war es schlichtweg gewöhnt. Er spazierte an dem Täter, der sich grausam an seinem Opfer verging, vorbei, ohne in irgendeiner Weise einzugreifen. Er hatte schließlich besseres zu tun. Bilder, Töne und Reize ließen ihn mittlerweile ohnehin kalt. Alles nichts Neues! Jeden Tag das gleiche!

Nichtsdestotrotz spürte er, wie die Erregung in ihm anstieg. Wie sie von den Haarspitzen bis zu den Zehenspitzen in Lichtgeschwindigkeit rauf und runter lief und seinen gesamten Körper unter Strom setzte, als würde eine tollwütige Feldmaus unter seiner Hose und seinem Mantel nach Belieben herumflitzen. Wenigstens war er gleich da.

Abwechslung, Abwechslung, Abwechslung. Dessen bedurfte er jetzt. Schnell. Sofort. Jetzt. Die Möglichkeit hatte er hier, nur hier.

Kurz darauf fand er sich vor einem nicht kleinen Gebäudekomplex wider. In der Ferne waren Kaminöffnungen zu sehen, die teuflische Rauchschwaden hervorbrachten, welche den Himmel in triste Dunkelheit hüllten. Durchbrochen ward das finstre Nichts nur durch LED-Lichter, blinkende, in allen Farben des Regenbogens aufleuchtenden Farben, die sein Gesicht bestrahlten und es, wie in einem LSD-Traum, unnatürlich verzerrten und schrecklich entstellten.
Er zahlte und trat ein. Seine Wünsche tat er kund. Blond sollte sie sein, idealerweise blauäugig und, bevorzugt, minderjährig! Hier störte es ohnehin niemanden. Hier war dies an der Tagesordnung. Keiner kannte ihn, keiner würde ihn je wieder sehen. Vielleicht war er ja gar morgen schon tot. Davor sich wenigstens noch einmal wie ein Mann fühlen! Ja, das war sein Ziel. Wenigstens dieses bisschen Glück und Würde musste man ihm gewähren!

Und er hatte Glück! Hier wimmelte es ohnehin von minderjährigen Gymnasiastinnen, die ihr mageres Taschengeld aufzubessern gedachten. Auch für ihn war eine bereit. Und er für sie.

Man geleitete ihn zu dem vorgesehenen Zimmer. Er bedankte sich recht artig, der Schein der Freundlichkeit, der Schein des Interesses musste schließlich aufrecht erhalten werden. Er fühlte in seiner Tasche. Die Kondome waren noch da, wo sie sein sollten. Wunderbar, alles war vorbereitet!

Gierig leckte er sich die Lippen und spürte dabei, wie das Blut in seinen Adern in Wallung geriet und das Herz höher schlagen ließ. Ein Moment der Vorfreude und Erwartung, den er bereits lange Zeit nicht mehr gefühlt hatte. Wonne erfüllte sein Inneres. Instinktiv öffnete er kurz vor dem Eintreten den Knopf und griff sich mit der linken Hand in die Hose, um zu spüren, wie er immer härter und härter wurde. Dann stieß er mit der Rechten die Tür gewaltsam auf, riss sich die Hose gänzlich auf, betrachtete das sich auf dem schmalen Bett befindende Objekt der Begierde und wusste nicht wie ihm geschah. Einige Augenblicke der grenzenlosen Reue und endlosen Scham später, realisierte er mit weit aufgerissenen Augen, dass das knapp bekleidete, junge, blonde Mädchen, das ihm ebenfalls völlig entgeistert entgegenstarrte, seine eigene Tochter war.

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