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Das Findelkind

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29.06.19 18:48
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt
Den Apfel fest in der Hand umklammert, das dünne Tuch aus roter Seide auf dem Kopfe festhaltend, sodass es nicht vom Wind davongetragen wurde, stürmte Alejandra durch die auf dem Marktplatz versammelte Menschenmenge. Dabei stieß sie alte Frauen um, drückte Kinder rücksichtslos beiseite und wich geschickt starken Händen aus, die nach ihr langten.
Der Wochenmarkt hatte erneut zahlreiche Schaulustige von Nah und Fern angelockt. Orientalische Gewürze wurden zum Verkauf angeboten und erfüllten die Luft mit einem angenehmen Duft, Obst aus allerhand Ländern in allen Farben des Regenbogens wartete nur darauf, verzehrt zu werden. Großem Interesse erfreuten sich die Fleisch verkaufenden Stände. Fleisch vom Lamm, vom Schwein, Fisch, Gemüse, alles, was das Herz begehrte. Insbesondere das Herz eines jungen, vom Hunger zutiefst gepeinigten Mädchens, wie Alejandra es war.
Als der Hunger uerträgliche Ausmaße anzunehmen begann, sah sie sich dazu gezwungen, einem Verkäufer unauffällig einen Apfel zu entwenden. Dies blieb jedoch nicht unbemerkt, denn für ein derart hübsches Mädchen ist es unmöglich, gänzlich unterzutauchen und im Verborgenen zu agieren, ganz gleich wie sehr sie sich auch bemüht. Sie musste auffallen!
In solchen Momenten entfesselte Alejandra ungeahnte Kräfte. Trotz ihrer Unterernährung, war sie in der Lage, den wütenden Männern, die ihr hinterhereilten und ihr befahlen, sofort stehen zu bleiben und den Apfel zu bezahlen (von welchem Geld überhaupt?), geschmeidig und flink wie eine Gazelle den Löwen zu entkommen.
Auf wütende Zurufe, man solle die elende Gaunerin aufhalten, reagierten die meisten nicht. Womöglich aus Unfähigkeit, womöglich aber auch aus Mitleid. Denn selbst der Kleingeistigste muss wohl oder übel einsehen, dass ein jeder Mensch kriminell wird, wenn ihm die Befriedigung essentieller Grundbedürfnisse verwehrt bleibt. Also ließ man Alejandra entkommen. Ob man ihr ansah, dass sie überdies aufgrund ihrer familären Verhältnisse von der spanischen Inquisition verfolgt wurde?
Der Markt lag bereits weit hinter ihr. Nachdem sie sich mit einem hastigen Blick über die Schultern ein weiteres Mal versichert hatte, dass ihr bis hierhin niemand gefolgt war, hielt Alejandra, völlig außer Atem, das Herz wie eine Trommel pochend, inne und ließ sich in den sandigen Boden sinken.
Sie befand sich in gottverlassenem Land. Kaum fruchtbare Stellen, keine einzige Planze in Sicht. Sie wusste, dass sie an diesem Ort nicht lange bleiben konnte. Gänzlich ohne Vorräte mit Ausnahme des gestohlenen Apfels, würde sie nicht lange aushalten, vor allem nicht in der prallen Sonne. Nichtsdestotrotz war eine kurze Pause angebracht.
Alejandra entfernte ihr Kopftuch und ihr wallendes schwarzes Haar kam zum Vorschein. Mit dem Tuch wischte sie sich den Schweiß von der Stirn, der in Strömen ihr Gesicht herablief, die dunklen Augen benetzte und ihre Sicht trübte. Die spanische Sonne in Kombination mit der körperlichen Anstrengung, machte ihr sehr zu schaffen. Ihr wurde schwindelig, der Kreislauf spielte verrückt, der Kopf pochte in der Hitze, glühte und drohte regelrecht zu zerbarsten.
Alejandra biss kräftig in den Apfel. Der saftige Geschmack wirkte augenblicklich auf ihre Geschmacksknospen, das Wasser des Apfels sog sie begierig auf. Ihr ganzer Mund war erfüllt von der herrlichen Frische und Reinheit der Frucht.
Unwillkürlich seufzte sie und schloss die Augen, um den ohnehin schon starken Geschmack noch intensiver wahrzunehmen.
Welch wohltuende Erfrischung, dachte sie und verzehrte den Apfel in wenigen Augenblicken, so sehr verlangte es ihr nach der kostbaren und seltenen Nahrung.
Am liebsten hätte sie sich in den Sand gelegt und eine Weile geschlafen, doch diese Überlegung verwarf sie ebenso rasch wieder, wie sie gekommen war, als ihr die Risiken bewusst wurden. Vermutlich wurde immer noch nach ihr gesucht, sie war schließlich eine Zigeunerin, eine Kriminelle und in erster Linie natürlich ein Hurenkind, also quasi eine Hexe. Zudem befürchtete, sie in der Hitze nie wieder aufzuwachen und im Schlaf zu sterben. Nein, sie konnte keine Rast einlegen, sich eine wohlverdiente Auszeit genehmigen. Sie musste weiter! Schließlich knurrte der Magen immer noch. Wie lange sie doch keine anständige Mahlzeit mehr zu sich genommen hatte! Oh, wie lange das doch schon her war!
Der Fußmarsch schien kaum ein Ende zu nehmen. Dennoch kämpfte sich Alejandra unerbittlich vorwärst. Keine Rücksicht auf die müden Beine, die schmerzenden Füße, das pochende Herz, die Übelkeit. Das Leben hatte sie abgehärtet. Sie wusste, wie man sich durchsetzen konnte. Das hatte sie sich alles selbst beibringen müssen, da sie niemanden hatte, der sie an die Hand nehmen und ihr das Leben erklären konnte. Nein, dies hatte sie selbst alsbald feststellen müssen. Es war schwer, zweifellos, aber die Rückschläge und zahlreichen Niederlagen hatten sie stark gemacht.
Es gibt nichts zu befürchten, außer der Furcht selbst, sagte sie sich immer selbst.
Mittlerweile war es dunkel geworden. Die Nacht war über Spanien hereingebrochen. Immerhin kühlte es ein wenig ab, wenngleich die Luft nach wie vor trocken und schwer zu atmen war. Und immer noch keine Menschenseele in Sicht, abgesehen von Alejandra selbst.
Der wolkenlose Himmel über ihr, wies einige Sterne auf, die den Firmament erleuchteten und seltsam beruhigend glänzten und dem Mädchen, ebenso wie der sie scheinbar beobachtende Vollmond, den Weg zeigten.
Wenig später geschah etwas, was Alejandra selbst für kaum noch möglich gehalten hatte! Sie gelangte an einen Fluss, der sich wand und krümmte wie eine Schlange.
Erschöpft ließ sich das Mädchen nieder und beugte sich über das Wasser, um ihren entsetzlichen Durst zu löschen. Ihr Rachen hatte sich mittlerweile selbst in die Wüste verwandelt, die sie zu durchschreiten hatte. Wahrscheinlich hätte sie, dem Tod durch Verdursten nahe, nicht mehr lange ohne Wasser ausgehalten.
"Der Himmel hat dich geschickt, gesegnetes Wasser", seufzte Alejandra leise vor sich hin, den Verstand bereits etwas vernebelt. Als das Wasser ihre Lippen benetzte und sie ihren glühenden Kopf in den eiskalten Fluss hielt, aufpassend, nicht von der starken Strömung mitgerissen zu werden, fühlte sie sich wie neu geboren. Sie spürte wie das Leben sich wieder ihrer bemächtigte, wie das Blut wieder durch die Venen zu pulsieren begann, wie die Kraft und der Lebenswille wieder zurückkehrten. Das Elixier des Lebens hatte dem kurz vor dem Tod stehenden Mädchen neue Hoffnung eingehaucht.
Nun war es wirklich Zeit für eine Pause! Wer würde schon in diesem Niemandsland nach ihr suchen? Wohl nicht einmal die Inquisitoren! Wobei denen alles zuzutrauen war. Wenigstens war sie noch niemals einem von ihnen begegnet! Man kannte sie nur aus Erzählungen, ihrer leibhaftig ansichtig geworden, war bisher noch niemand. Dennoch wusste sie, dass man nach ihr suchte, nach ihr, der Zigeunerin. Ihre Füße vermochten sie nicht weiter zu tragen.
Alejandra zog ihre völlig zertretenen Schuhe aus und hielt ihre geschundenen, vom Laufen und Fliehen völlig wunden Füße ins Wasser und lehnte sich entspannt zurück. Auf dem Rücken liegend blickte sie verträumt in den Sternenhimmel, der unendlich weit entfernt und gleichzeitig zum Greifen nahe erschien. Währenddessen überlegte sie sich in welche Richtung sich ihr Leben wohl hätte entwickeln können, wäre ihr nicht das Hindernis der Geburt in die Quere gekommen und das Privileg der Geburt verwehrt worden. Womöglich wäre sie anstatt des dunkelhäutigen Mannes auf dem Markt gewesen und hätte Obst verkauft und davon selber im Überfluss zur Verfügung gehabt, anstatt es stehlen zu müssen. Womöglich wäre aus ihr eine große Tänzerin geworden, wie es seither ihr Traum gewesen war.
Alejandra schließ die Augen und lächelte bei der Vorstellung, wie sie, in ein weißes Kleid aus den feinsten Leinen wie ein Schwan über die Bühne schwebte und die Masse ihr zujubelte, begleitet von der herrlichsten Musik, die je ein menschliches Ohr vernommen hatte.
Womöglich wäre sie gar als Prinzessin geboren wurden und in einem prächtigen Schloss mit hunderten Dienern und tapferen Rittern aufgewachsen. Sie stellte sich vor, wie ihre unregelmäßig braun gebrannte Haut von goldenen Ringen und silbernen Reifen verziert wurde, wie ein blutrotes oder smaragdgrünes Kleid ihren zierlichen Körper umhüllte und eine kleine Krone in ihrem zu einem langen Zopf zusammengebundenen, schwarzen Haar steckte. Wie sie von gutaussehenden Prinzen umworben wurde und der Vater ihr jeden Wunsch von den Lippen abliest!
Alejandra öffnete wieder die tränenden Augen und richtete sich auf, da ihr Rücken vom Liegen auf dem harten Grund zu schmerzen begann. Sie sah an sich herab und musterte das rote, von Motten zerfressene, verschmutzte und übel riechende Gewand, das sie kleidete. Am liebsten hätte sie es abgestreift und wäre sofort in den Fluss gesprungen, um ein Bad zu nehmen. Einzig die Strömung hielt sie von diesem Vorhaben ab, da sich die Angst vor dem Ertrinken ihrer bemächtigte. So behielt sie ihre Kleidung an und verfiel wieder ihren wilden Träumereien, die, wenngleich sie sich niemals bewahrheiten würden, ihr doch Anlass zur Hoffnung verliehen und sie glücklich stimmten. Ab und an benötigte sie diese Form der Realitätsflucht einfach, um ihrem harten Leben überhaupt noch irgendeinen Sinn abzugewinnen. Denn, so fragte sie sich selbst, wofür sollte man schon noch leben, wenn nicht für seine Träume, ganz gleich wie unrealistisch und weltfremd diese auch erschienen!
Alejandra wäre beinahe eingeschlafen, bis ein markerschüttender Schrei sie plötzlich aus den Träumen riss und äußerst brutal in die bittere Realität zurückholte.
Sie war regelrecht darauf trainiert, auch im Schlaf die kleinsten verdächtigen Geräusche wahrzunehmen, um, im Fall der Fälle, schnellstmöglich die Flucht zu ergreifen. Aus diesem Grund schreckte das Mädchen hoch, bis sie kerzengerade aufrecht saß. Voller Angst blickte sie sich um, die Quelle des Geräuschs ausfindig zu machen, mit dem schlimmsten rechnend.
Sie haben mich, schoss es ihr unwillkürlich in den Kopf. Jeden Augenblick würden die Inquisitoren aus dem Gebüsch springen und sich auf sie stürzen, Hände würden aus dem Fluss auftauchen, ihre Füße greifen und sie ins Wasser ziehen, um sie dort zu ertränken.
Doch nichts dergleichen geschah! Es war wieder ruhig, als wäre nie etwas gewesen. Nur das Plätschern des Wassers war zu vernehmen.
Hatte sie sich alles etwa nur eingebildet? Gewiss als Folge ihres anstrengenden Tages! Sie war einfach nur übermüdet, das war alles.
In diesem Augenblick, hörte sie erneut einen Schrei, dann noch einen, und noch einen und noch einen.
Das hört sich an wie, überlegte Alejandra, doch ihr fiel die Antwort nicht ein. Wie...wie...
Erst jetzt gewahrte sie, dass ein kleiner Korb, einer, den man normalerweise mit Äpfeln füllt, über das Wasser glitt und von der Strömung wild hin-und hergerissen wurde. In dem Korb befand sich etwas...oder jemand.
Alejandra erhob sich, kniff die Augen zusammen, um bei der Dunkelheit besser sehen zu können und erkannte, dass die verzweifelten Schreie von einem weinenden Baby stammten, eben jenem armen Geschöpf, welches in einem Korb über den Fluss schwamm.
Ohne auch nur einen einzigen Augenblick nachzudenken, warf sich Alejandra bekleidet in das Wasser, schwamm mit aller ihr noch gebliebener Kraft gegen die Strömung und griff nach dem Korb. Selbiger drohte ihr zu entgleiten, doch es gelang ihr trotzdem, ihn mit einer Hand festzuhalten und mit der anderen nach dem rettenden Ufer zu greifen, während sie wild mit den Beinen um sich schlug. Ihr Kopf geriet oftmals unter Wasser. Sie schluckte Wasser, hustete, ihre Lungen füllten sich langsam mit Wasser. Ihr zarter Körper drohte zwischen der Strömung in alle Einzelteile auseinander zu fallen und doch dachte sie nicht einen Augenblick darüber nach, den Korb loszulassen, um mit beiden Händen nach dem Ufer zu greifen und sich selbst somit zu retten.
So geschah es, dass Alejandra und das nach wie vor schreiende Baby weiter flussabwärts getrieben wurden. Alejandra kämpfte gegen den Drang, selbst um Hilfe zu schreien an, zum einen, da sie ihre wertvollen Kräfte nicht sinnlos verschwenden wollte, zum anderen, weil sie wusste, dass sie diese Situation alleine zu bewältigen hatte und ihr dies mit all ihrer Stärke und Ausdauer auch gelingen würde. Also gab sie sich einen kräftigen Ruck und als sie eine Stelle erreichten, wo die Strömung nicht mehr so stark war, sammelte sie all ihre Kräfte und unternahm einen letzten Versuch, ans Ufer zu gelangen, den Korb mit ihrem Leben beschützend. Da der Fluss an dieser Stelle glücklicherweise nicht so breit war, gelang es ihr tatsächlich, sich mit einer Hand am rettenden Ufer festzuklammern. Ihre langen Fingernägel bohrten sich tief in den Untergrund, um nach Halt zu suchen. Sie zog den Korb nahe an sich heran und setzte diesen mit aller Kraft auf dem Boden ab, bevor sie sich selbst, trotz des enormen Gewichts ihrer vollkommen durchnässten Kleidung, aus den reißenden Fängen und wütenden Klauen des Wassers befreite und sich herauszog.
Völlig erschöpft aber glücklich rollte sie sich über den Boden und blieb einen Moment liegen, bevor sie sich dem Baby widmete. Es hatte mittlerweile aufgehört zu weinen. Alejandra nahm es behutsam aus dem Korb heraus und begutachtete es zunächst hinsichtlich möglicher Verletzungen. Das Kind schien diesen Kampf um das Überleben unbeschadet überstanden zu haben.
Welch ein Glück!
Alejandra hielt das Kind in den Armen und sah sich sein Gesicht an. Das in weiße Tücher gehüllte, gebrechliche Baby war ein Junge mit dunkler Haut, ungewöhnlich langem blonden Haar, welches aus wunderschönen Strähnen bestand und hellwachen, großen und melancholisch wirkenden blauen Augen.
"Oh, wie schön du bist!", säuselte Alejandra und gab dem Baby einen Kuss auf die Stirn.
Der Junge setzte ein breites, herzerwärmendes Lächeln auf, welches Alejandras Inneres mit wohliger Wärme erfüllte.
"Wer hat dir das angetan, du armer Junge", flüsterte sie mit schwacher Stimme und vergoss einige Tränen. Sie hielt das Kind fest in ihren Armen und drückte es an ihre Brust, direkt an ihr wild schlagendes Herz.
So sehr sie auch den Moment genoss, endlich wieder mit einem menschlichen Wesen in Kontakt zu treten, und zwar mit einem, welches ihr nicht nach dem Leben trachtete und noch völlig unberührt von allem Bösen und der Schlechtigkeit der Gesellschaft war, so wusste sie auch, dass das Findelkind unbedingt versorgt werden musste und dass sie nicht dazu in der Lage war, zumindest nicht an diesem Ort.
Sie spürte, wie das Kind zitterte und streichelte daraufhin seinen Kopf. Eines stand fest. Sie, Alejandra war den steitigen Kampf um das Überleben gewohnt, dieser unschuldige Junge nicht. Er durfte die Nacht unter keinen Umständen an diesem Ort, in der Wildnis verbringen. Dies würde mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Ende bedeuten. Sie musste sich also schnellstmöglich um eine Unterkunft und entsprechende Versorgung für das Baby bemühen, bevor es zu spät war. Doch wie nur?
Alejandra dachte einen Augenblick nach und kam schließlich zu der Erkenntnis, dass eine Ortschaft logisch betrachtet ganz in der Nähe sein musste. Schließlich wurde das Findelkind flußabwärts gespült. Würde sie entgegen der Strömung wandern, so konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie auf menschliche Zivilisation stoßen musste. Von dort aus musste ein grausamer Mensch den armen Jungen in den Fluß geworfen haben. Von einem Unfall war aufgrund des Korbes und der Unbeschadetheit des Kindes nicht auszugehen.
"Ich lass dich nicht alleine", flüsterte Alejandra dem Findelkind ins Ohr. "Ich werde auf dich aufpassen. Halte durch, mein Kleiner! Bald ist es geschafft."
Erneut liebkoste sie den Jungen, der sich in ihrer Gegenwart sichtlich geborgen fühlte, da er ihr erneut ein Lächeln schenkte, sie mit seinen großen blauen Augen, wie ein Hundewelpen anhimmelte und sich fest an sie klammerte.
"Wie heißt du eigentlich?", sagte Alejandra und wusste, dass sie keine Antwort erhalten würde, da das Kind noch nicht sprechen konnte.
"Ich nenne dich `El regalo´ - `Das Geschenk´! Denn du bist ein Geschenk des Himmels! Ich bin jetzt deine Mama und auf dich aufpassen!"
Alejandra küsste den Jungen erneut und machte sich dann mit ihm in den Armen (er wog kaum etwas) auf den Weg, dem Fluss entgegen der Strömung folgend.
"Mama passt auf dich auf!"
Nachdem sie bereits eine Stunde unterwegs waren und ihre Beine schwer wie Blei wurden, stießen sie in der Tat auf ein Dorf. Alejandras Überlegungen hatten sich folglich als richtig herausgestellt.
Die bescheiden eingerichteten, jedoch einen gewissen Charme ausstrahlenden Häuser bildeten zwei Hälften, eine rechts und eine links vom Fluss. Der Übergang erfolgte mithilfe einer Brücke. Das Dorf war sehr idyllisch und stellte somit einen großen Kontrast zu der Wüste dar, aus welcher Alejandra kam. Rund um den Fluss wuchsen bunte Blumen und prächtige Bäume. Die Straße war sauber und gut gepflastert, sehr angenehm für Alejandras überanstrengte Füße. Obwohl es tiefste Nacht war, war die Straße dennoch von einzelnen Laternen erleuchtet. Die Wege waren völlig verlassen, nur Alejandra und der Junge, der in ihren Armen sanft eingeschlafen war.
So schwach ihre Beine auch waren, so stark waren ihre Arme, die nicht unter der Last des Kindes nachließen, sondern im Gegenteil eben deswegen ungeheuerliche Stärke und Sicherheit ausstrahlten. Dennoch war es an der Zeit, endlich eine Unterkunft zu finden.
Alejandra klopfte an der Tür des ersten Hauses, welches sich in ihrer unmittelbaren Reichweite befand. Niemand öffnete. Sie versuchte es erneut. Niemand öffnete. Weiter zur nächsten Tür. Genau das gleiche. Bei der übernächsten Tür öffnete jemand, doch die Frau schickte Alejandra und den Jungen weg, da sie nach Einbruch der Dunkelheit niemanden mehr hereinließe.
Schließlich hatte Alejandra doch Erfolg.
Ein Mann mittleren Alters öffnete die Tür.
"Seid gegrüßt, señor! Entschuldigen Sie die unerwartete Störung zu solch später Stunde, doch wir sind in Not! Lassen Sie uns doch bitte eintreten und bei Ihnen nächtigen!"
Der Blick des Mannes fiel auf das Baby. "Wer ist das?", fragte er.
"Das ist...mein Kind", gab Alejandra zurück. "Wenn Sie mich nicht aufnehmen möchten, dann sei es so! Aber haben Sie doch bitte Erbarmen und Mitleid mit meinem armen Jungen! Bieten Sie wenigstens ihm eine sichere Unterkunft!"
"Was sprechen Sie denn da, señorita? Natürlich nehme ich sie beide auf! Treten Sie ein, mein Haus gehört Ihnen!"
Mit diesen Worten machte er Platz und ließ Alejandra mit dem Findelkind eintreten.
"Habt vielen Dank, señor! Gott segne sie!"
"Sicherlich habt ihr furchtbaren Hunger! Kommt mit, in der Küche ist reichlich zu essen!"
Eine halbe Stunde später saßen Alejandra mit dem Kind auf dem Schoß und der fremde Mann gemeinsam am Tisch und aßen. Alejandra fütterte zunächst den Jungen, bevor sie selbst Nahrung zu sich nahm, obwohl sie vor Hunger beinahe ohnmächtig wurde. Nach langer Zeit konnte sie sich endlich noch einmal richtig satt essen. Sie verspeiste Brot mit Käse, trank Milch und bekam gar eine Hähnchenkeule nur für sich.
"Sie essen wahrlich, als sei dies die erste Mahlzeit, die Sie jemals im Leben zu sich genommen hätten", stellte der Mann schmunzelnd fest. "Es ist genug da! Greifen Sie nur zu!"
"In der Tat", begann Alejandra. "Lang ist´s her, dass ich zuletzt ein solch üppiges Mahl vorfand. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!"
Der Mann reichte ihr die Hand.
"Mein Name ist übrigens Pedro".
"Sehr erfreut! Ich bin Alejandra und das ist `El regalo´."
"`El regalo´", meinte Pedro verwundert. "Ist das wirklich sein richtiger Name?"
"So pflege ich ihn zu nennen. Er ist das wichtigste in meinem Leben. Alles, was mir noch geblieben ist, verstehen Sie?"
Pedro nickte. "Ja, ja ich verstehe. Aber, Alejandra. Ich darf Sie doch so nennen, oder? Also Alejandra, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten aber ist das wirklich ihr Kind? Nichts für ungut aber mir erscheinen Sie ein wenig zu jung, um bereits Mutter zu sein. Darf ich mich nach Ihrem Alter erkundigen?"
Alejandra verschluckte sich beinahe an dem Käse, trank aber einen kräftigen Schluck Milch und riss sich zusammen. Eine solche Frage hatte sie nicht erwartet, zumindest empfand sie dieselbe als unangemessen. Da sie jedoch tief in der Gunst des Mannes stand und nicht unfreundlich sein wollte, antwortete sie:
"Ich bin dreiundzwanzig. Mein Kind ist ein Jahr alt. Ich halte dieses Alter für angemessen."
Natürlich war diese Aussage gelogen, Alejandra war in Wahrheit gerade einmal sechzehn Jahre alt und über das Alter des Findelkindes vermochte sie schließlich keine exakte Auskunft zu liefern.
"Dreiundzwanzig?", wiederholte Pedro verwundert und zog skeptisch eine Augenbraue nach oben, nachdem er Alejandra genaustens gemustert hatte. Schließlich meinte er dennoch: "Nun gut! Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten. Was ist mit dem Vater des Jungen?"
Erneut musste sich Alejandra einer Lüge bedienen: "Er ist noch vor der Geburt des Kleinen an der Cholera zugrunde gegangen. Es vergeht kein Tag, an dem ich Miguel nicht aufs Schmerzlichste vermisse!"
"Das tut mir leid."
"Ist schon gut!"
Eine Zeit lang sagte keiner der beiden ein Wort. Alejandra genoss die Speisen, bis ihr Magen zu platzen drohte und sie nicht mehr imstande war, auch nur einen einzigen weiteren Bissen zu sich zu nehmen.
"Ich kann Ihnen nicht genug danken, Pedro!"
"Das brauchen Sie auch nicht", antwortete dieser. "Ich nehme an, dass Sie sehr müde sind! Oben im Dachgeschoss ist ein kleines Bett für sie und Ihr Kind vorbereitet. Ich geleite Sie dorthin!"
Mit diesen Worten erhob sich Pedro von seinem Stuhl und ging eine Treppe hinauf. Alejandra drückte das Findelkind an sich und folgte ihm.
Oben gelangte sie in einen kleinen Raum, direkt unter dem Dach, in welchem sich nichts befand, mit Ausnahme eines kleinen Bettes und einer Wolldecke.
"Hier können Sie die Nacht verbringen, Alejandra."
"Vielen Dank, das ist mehr als wir benötigen!"
"Ich wünsche eine angenehme Nachtruhe!"
Mit diesen Worten verabschiedete sich Pedro, verließ das Zimmer und schloss die Türe hinter sich.
Alejandra legte den Jungen vorsichtig in das Bett. Den Daumen im Mund, war der Kleine bereits eingeschlafen.
Das Mädchen legte sich neben das Baby an den Rand des Bettes, deckte sie beide zu und nahm das schlafende Kind in die Arme. In dieser Position schlief sie, totmüde wie sie war, beinahe augenblicklich selbst ein.
Wie lange hatte sie nicht mehr in einem richtigen Bett geschlafen? Freilich, mittlerweile war sie das Schlafen auf hartem Boden  oder im besten Falle einem Heuhaufen gewohnt, vorausgesetzt sie fand überhaupt einen einigermaßen sicheren Schlafplatz, was keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellte. Aus diesem Grund fühlte Alejandra sich wie im Himmel als ihr die Übernachtung in einem richtigen Bett ermöglicht wurde, erst recht, wenn sie einen geliebten Menschen direkt neben sich hatte.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, schloss sie aus der Tatsache, dass die Sonne durch das kleine Fenster grell in ihr Gesicht schien, dass der darauffolgende Tag bereits in vollem Gange war und das Leben wieder begonnen hatte, was bedeutete, dass sie wahrscheinlich zwölf Stunden oder mehr geschlafen hatte. Wahrscheinlich mehr als im letzten Monat insgesamt.
Alejandra streckte sich, gähnte und rieb sich langsam den Schlaf aus den Augen. Als erstes fiel ihr Blick auf das Findelkind, welches sich nach wie vor, tief und fest schlafend, in ihren Armen befand.
"Guten Morgen, mein Engel. Hast du gut geschlafen?", begrüßte sie den Jungen und küsste ihn sanft auf die Wangen.
Der Kleine öffnete vorsichtig seine blauen Augen. Alejandra verlor sich in selbigen. Es war, als würde sie in das Meer eintauchen oder den unendlichen Himmel. Das Kind begrüßte sie mit einem Lächeln und gab einige Laute von sich.
"Ich habe dich auch lieb, `El regalo´", sagte Alejandra und konnte nicht anders, als das herzerwärmende Lächeln zu erwidern.
Plötzlich wurde ihr schlagartig bewusst, wie viel sie mit dem Jungen gemeinsam hatte. Sie beide waren Außenseiter, von der Gesellschaft verstoßene und somit unerwünschte Menschen. Getrieben und auf der Flucht aber glücklich, weil sie einander hatten, aufgrund einer einmaligen Überschneidung ihrer beider tragischer Einzelschicksale.
Wie überraschend das Leben doch sein kann, dachte Alejandra. Im Moment bist du gottverlassen und einsam und im nächsten Moment beschert dir das Schicksal einen Menschen, wie er liebenswerter nicht sein könnte.
Sie fragte sich, ob es nicht möglich sein könnte, dass jeder Mensch im Grunde gleich ist, sich ein Leben nicht wesentlich von einem anderen unterscheidet. Im Grunde machen alle Menschen die gleichen Erfahrungen. Bestimmte Muster kehren in jedem Leben wieder, wenngleich zumeist in abgewandelter Form. Daraus folgt, dass so etwas wie eine metaphysische Idee vom menschlichen Leben existent sein muss. Wir alle wachsen auf, verlieben uns und erleiden Liebeskummer, uns alle ereilen sowohl Erfolge als auch Rückschläge. Zwar fallen diese Erfahrungen bei jedem anders aus, gemeinsam ist jedoch, dass sie sich wie eine Art Muster durch das Leben eines jeden Menschen ziehen. Die Rückschläge in ihrem Leben waren beispielsweise der Verlust ihrer Eltern und die Verfolgung. Die Rückschläge in dem noch kurzen Leben des Findelkindes waren die offensichtliche Abneigung der Eltern und die damit einhergehende Verbannung. Und am Ende eines jeden Lebens erwartet uns der Tod. Das bloße Menschsein scheint mit einem vorgegebenen Erfahrungsschatz und den gleichen Mustern einherzugehen, wodurch wir alle miteinander verbunden sind. Nur so konnte sich Alejandra die Verwebung verschiedener Schicksale erklären, wie es bei ihr und dem Findelkind der Fall war. Ihre Liebe zu dem verstoßenen Jungen erreichte schließlich grenzenlose Ausmaße, als ihr bewusst wurde, dass sie das gleiche Schicksal teilten, dass er ein Teil von ihr und sie ein Teil von ihm war. Eine leibliche Mutter könnte ihr Kind nicht mehr lieben, als Alejandra das Baby, so viel stand fest! Ihre Schicksale waren nun untrennbar miteinander verbunden. Ihre Leben hingen voneinander ab. Alejandra wusste, dass diese einmalige Verbindung nicht mehr rückgängig zu machen war und sie nun bis an den Rest ihres Lebens mit "El regalo" verbunden war. In jenen Stunden lernte sie, was es wirklich bedeutete, einen Menschen zu lieben, da sie zum ersten und wahrscheinlich einzigen Mal in ihrem Leben aufrichtig und wahrhaftig liebte! Sie erkannte dies daran, dass sie bereit war, dem Kleinen alles zu geben, wenn es sein musste, gar ihr Leben, in dem Wissen, dass der Junge, aufgrund seines Alters und seiner Abhängigkeit, ihr niemals etwas zurückzugeben in der Lage war. Eine reine Beziehung aus praktischen Zwecken oder der gegenseitigen Nützlichkeit zuliebe, war somit kategorisch ausgeschlossen und wich somit der Liebe.
"Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht", sagte Pedro am Tisch. Alejandra aß erneut von den köstlichen Speisen, die ihr großzügig zur Verfügung gestellt wurden. Dem Kind verabreichte sie Milch und ließ es keinen Augenblick aus den Augen. Die meiste Zeit hatte sie es entweder auf ihrem Schoß sitzend oder in den Armen haltend, wobei sie fühlte wie in dem schmalen Brustkorb das kleine Herz hämmerte. Dies zu spüren ließ auch Alejandras Herz höher schlagen und sie unwillkürlich lächeln. Liebe flutete ihr Gemüt, Licht breitete sich in ihrem Innern aus und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie glücklich und gelassen.
"Das hatte ich, vielen Dank. Lange habe ich nicht mehr so gut geschlafen", antwortete Alejandra schließlich.
"Das freut mich sehr! Wissen Sie, es ist bereits eine Zeit lang her, dass in diesem Bett geschlafen wurde."
Pedros Miene verdüsterte sich schlagartig und er legte seine Stirn in Falten. Er wirkte nachdenklich und blickte einen Augenblick ins Leere.
Alejandra nickte nur und widmete ihre Aufmerksamkeit dem Baby in ihren Armen, mit dem sie spielte und an dessen liebevollem, authentischem und ungekünsteltem Lachen, sie sich in höchstem Maße erfreute. Wenn das Kind lachte, war es, als öffneten sich die Pforte des Himmels und Alejandra vernahm Engel, die Harfe spielten.
"Sie lieben ihr Kind", stellte Pedro fest und lächelte schwach.
Alejandra sah ihm in die dunklen Augen und erblickte düstere Melancholie. Sie hatte ein Gespür für Menschen und ihre Emotionen. Dies hatte sie im Laufe ihres Lebens erlernt, da sie mit unzähligen Menschen in Kontakt gekommen war, bedingt durch ihre Ungebundenheit und ständige Flucht. Aus diesem Grund erkannte sie sofort, dass Pedro traurig war.
"Ich liebe ihn über alles", gab sie zurück.
"Könnten Sie sich vorstellen, dass er nicht mehr bei Ihnen wäre?"
"Um Himmels Willen! Niemals könnte ich das! Niemals!"
"Ich konnte es damals auch nicht."
"Wovon sprechen Sie?"
"Einen geliebten Menschen zu verlieren. Das konnte ich mir nicht vorstellen. Und doch trat es ein."
Alejandra schwieg und schluckte nur. Es entstand ein unangenehmes Schweigen. Das Mädchen wusste nicht, wie sie reagieren sollte und wartete die Reaktion Pedros ab. Womöglich brach er das Schweigen und erzählte seine Geschichte von sich aus, ohne dass sie nachfragen musste, was ihr zutiefst zuwider war, da sie Pedro unter keinen Umständen in Bedrängnis bringen oder ihn traurig machen wollte. Letztendlich erhob tatsächlich der Mann wieder das Wort und setzte mit seinen Erläuterungen an.
"Ich bin nicht immer alleine gewesen, müssen Sie wissen." Erst in diesem Augenblick bemerkte Alejandra, dass Pedro tatsächlich alleine war. Weder in der vergangenen Nacht, noch am heutigen Tag hatte sie eine mögliche Frau oder aber Kinder gesehen. Er wohnte alleine.
"Einst hatte ich eine Frau. Sie verließ mich jedoch. Ein reicher Kaufmann hatte ihr den Kopf verdreht und sie ließ mich mit unserer sechzehnjährigen Tochter alleine zurück."
"Wo ist Ihre Tochter jetzt?"
"Auch sie hat mich verlassen. Ist von uns gegangen. An der Schwindsucht zugrunde gegangen. Vor zwei Jahren war es."
Alejandra beobachtete, wie sich die Gesichtszüge Pedros vor Schmerz grässlich verzogen. Ungehemmt begann er zu weinen, ließ den Tränen freien Lauf, bebte am ganzen Leib und hielt sich eine Hand vor das Gesicht.
"Oh meine Clara. Wie konntest du mir das antun? Wieso nur hast du mich verlassen!", schluchzte er herzzerreißend.
Instinktiv und von Mitleid ergriffen, legte Alejandra ihre Hand auf die Pedros und streichelte selbige sanft mit dem Daumen. Das Findelkind begann ebenfalls leise zu weinen.
"Es tut mir unendlich Leid für Sie, Pedro. Das Leben ist ungerecht. Zutiefst ungerecht! Gott scheint nur gut zu den Schlechten zu sein. Zu den Guten dagegen ist er schlecht!"
"Wahr, wahr", pflichtete Pedro ihr bei und sah auf. Die Hand, mit der er zuvor noch sein Gesicht bedeckt hatte, legte er jetzt wiederum auf die Alejandras. Die Blicke der beiden trafen sich, doch die stechenden Augen Pedros bereiteten Alejandra Unbehagen. Sie konnte den Blick nur kurz halten und sah dann beschämt nach unten.
"Sehen Sie mich an, Alejandra", befahl der Mann mit einer solchen Stärke in der Stimme, die dem Mädchen keine andere Wahl ließen, als der Anordnung Folge zu leisten. Sie nahm den Blickkontakt wieder auf und lief dabei scharlachrot an.
"Sie erinnern mich an sie! Sie erinnern mich an meine Clara, an mein kleines Mädchen", sagte Pedro und seine Augen weiteten sich vor Erstaunen.
"Sind Sie sicher", stammelte Alejandra und musste erneut wegsehen vor Scham.
Pedro stand auf, kam um den Tisch herum, bis er genau hinter Alejandra, die noch auf ihrem Stuhl saß, stand. Er beugte sich zu ihr vor, umfasste ihre Schultern mit festem Griff und flüsterte ihr ins Ohr:
"Bleiben Sie hier! Es wird Ihnen bei mir an nichts mangeln! Ich will nicht erneut verlassen und allein gelassen werden."
Alejandra zuckte zusammen. Ihr Magen zog sich krampfhaft zusammen. Um sich zu beruhigen, streichelte sie den Kopf des Kindes, das sich mittlerweile ebenfalls wieder beruhigt hatte. Erst dann antwortete sie:
"Das ist leider nicht möglich, Pedro. Wissen Sie, ich bin nicht dazu gemacht, an einem Ort zu verweilen. Ich muss weiter!"
"Das können Sie mir nicht antun, Alejandra. Ich flehe Sie an! Bleiben Sie bei mir, ersetzen Sie Clara und werden Sie mein neues Mädchen! Ich werde sonst nie wieder glücklich!"
"Aber Pedro, ich kann..."
"Sie müssen", unterbrach der Mann sie.
Alejandra wusste, dass sie mit einem Verbleib bei Pedro nicht nur sich selbst, sondern auch den Mann in große Gefahr bringen würde. Die Inquisitoren waren ihr nach wie vor auf den Fersen. Sie konnte es sich eigentlich nicht erlauben, sich dauerhaft niederzulassen. Andererseits getraute sie sich nicht dies Pedro mitzuteilen. Dafür kannte sie ihn schlichtweg nicht gut genug. Was, wenn er ein Verräter wäre? Nein, sie durfte einem Menschen nicht blind vertrauen, dies stellte ein zu großes Risiko dar. Nur dem Baby in ihren Armen vertraute sie. Jenem Kind in dessen wunderschönen Augen sich ihre eigene Existenz spiegelte.
Doch, was geschähe mit dem Jungen, wenn sie weiterzöge? Sie konnte ihn unmöglich mitnehmen. Die Reise war viel zu anstrengend für ihn. Bei dem Gedanken nicht bei dem Kind zu sein, spürte Alejandra wie ihr das Herz schwer wie ein Stein wurde. Der Junge war auf sie angewiesen...und sie auf ihn! Ihn einfach zurückzulassen, könnte sie niemals übers Herz bringen. Hier, bei Pedro befanden sie sich beide in guter Obhut. Er würde für das Kind sorgen und nicht zuletzt auch für sie selbst.
Alejandra drehte sich zu Pedro um und sah ihm in die Augen. In seinem Blick erkannte sie die gleiche Leidenschaft, das unbändige Feuer, wie es ihre Augen aufwiesen, wenn sie das Kind betrachtete. Pedro schien sie also aufrichtig zu lieben, so aufrichtig, wie sie das Findelkind.
"Ich bleibe, aber nur unter einer Bedingung!"
"Alles, oh du meine geliebte Tochter! Du Licht meines Lebens! Kein Wunsch soll dir unerfüllt bleiben", schwärmte Pedro und seine Miene erhellte sich schlagartig.
"Mein Kind muss auch bleiben dürfen. Du musst es ebenso gut versorgen, wie mich! Versprich es, Pedro. Dann bin ich dein!"
Der Mann nahm sie in die Arme.
"Selbstverständlich, mein Kind! Ich nehme euch beide in mein Haus auf! Das einzige, was ich will ist, dass das Bett auf dem Dachboden nicht mehr leer steht."
Pedro wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen und schluchzte leise, nachdem er die Umarmung gelöst hatte.
"Gehörte das Bett ihrer Tochter?", fragte Alejandra interessiert.
Pedro nickte nur stumm. Es war ihm anzusehen, dass er weiterhin enorm mit den Tränen rang und es ihm nicht möglich war, weitere Worte darüber zu verlieren. Ein beklemmendes Gefühl bemächtigte sich Alejandras. Der Gedanke daran, dass sie die vergangene Nacht unwissentlich im Bett eines verstorbenen Mädchens ihres Alters verbracht hatte und wohl noch viele zukünftige Nächte dort zubringen wird, ließ sie innerlich erschaudern. Ebenso zuwider war ihr die Vorstellung, die Rolle eines ganz speziellen Menschen zu übernehmen, eine Tochter zu sein, etwas, das sie niemals gelernt hatte, einen einzigartigen Menschen zu ersetzen. Wie konnte Pedro ihr nur so viel Verantwortung zuteil werden lassen? Alejandra wusste, dass dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt war, da einen Menschen zu ersetzen, vollkommen unmöglich ist, in Anbetracht der Einmaligkeit eines jeden von uns. Nichtsdestotrotz musste sie schweren Herzens einwilligen. Sie dachte an das Findelkind, ihr Kind. Sie tat es ihm zuliebe! Sie hatte keine Wahl!
"Noch heute Abend werde ich eine Feier veranstalten! Das ganze Dorf soll dich, meine neue Tochter kennenlernen! Ich will, dass sie dich sehen, dass sie uns zusammen sehen! Ja, sogleich will ich alle nötigen Vorkehrungen treffen! Bleibe hier, geliebte Tochter!", sprach Pedro und nahm die vollkommen überforderte und paralysierte Alejandra erneut unter Tränen in die Arme.
"Meine Liebe zu dir kennt keine Grenzen", fuhr er leidenschaftlich fort und bedeckte Alejandras Stirn mit heißen Küssen väterlicher Zuneigung. "Warte hier, versprich es! Ich bereite deine Willkommensfeier vor!"
Pedro ließ Alejandra mit dem Kind in seinem Haus zurück und machte sich, wie angekündigt, auf den Weg, eine Feier vorzubereiten. Das Mädchen konnte sich dem nicht widersetzen. Sie musste alles brav über sich ergehen lassen. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Die kommenden Stunden verbrachte sie damit, sich mit aller Leidenschaftlichkeit um das Baby zu kümmern.
Das halbe Dorf war eingeladen. Auf dem Dorfplatz war ein großes Zelt aufgebaut. Viele Reihen von langen Bänken waren aufgestellt, die Tische mit Speisen und Getränken unterschiedlichster Art bedeckt. Ganz vorne hatte man gar eine kleine Bühne eingerichtet. Das Fest war in volllem Gange. Die Sonne war bereits untergegangen und wich Mond und Sternen.
Pedro und Alejandra standen vorne auf der Bühne, alle Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die beiden. Das Mädchen spürte förmlich die fragenden Blicke wie Nadelstiche, vernahm das ihr geltende Gemurmel und Getuschel und sah in unzählige ausdruckslose Gesichter. Als dann auch noch Pedro sich ihr aufdringlich näherte und gar seinen starken Arm auf ihre schmalen Schultern legte, lief sie endgültig vor Scham rot an. Peinlich berührt machte sie sich so klein wie möglich.
"Sicherlich sind viele von Euch an dem Anlass dieser spontanen Feier interessiert", begann Pedro seine Rede. "Und, was soll ich sagen? Der Anlass steht neben mir! Das ist Alejandra!"
Das Getuschel nahm weiter zu, aus hinteren Reihen erfolgte gar schallendes Gelächter.
Pedro fuhr unbeirrt fort: "Nein, ich habe nicht etwa ein neues Weib geehelicht. Stattdessen habe ich eine neue Tochter! Ja, Ihr habt richtig vernommen! Ich habe Alejandra adoptiert, sie gehört jetzt zu meiner Familie!"
Vonseiten der Masse erfolgte plötzlich großer Applaus. Pedros Freude kannte keine Grenzen. Alejandra war in erster Linie einfach nur glücklich darüber, dass "El regalo" in seinem Bett schlafen konnte, in Sicherheit war und all dies nicht miterleben musste.
"Lasset uns Alejandra einen freudigen Empfang bereiten!", forderte Pedro lauthals.
Ein alter Mann aus der ersten Reihe reichte ihm ein Glas Rotwein. Dieses hob Pedro feierlich in die Luft. Die Menge tat es ihm gleich.
"Auf Alejandra!", rief er und leerte sein Glas in einem Zug.
"Auf Alejandra!", skandierte die Menge.
Der Scham des Mädchens war plötzlich schlagartig verschwunden. Sie genoss das Rampenlicht, die Aufmerksamkeit die man ihr, einem Niemand, auf einmal widmete, der Applaus der ihr und nur ihr allein galt. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich gewürdigt, respektiert, anerkannt, gar bewundert. Ein großartiges Gefühl. Übers ganze Gesicht lächelnd, jedoch nach wie vor mit hochrotem Kopf, winkte Alejandra den Gästen zum Dank.
Wein und Bier flossen in Mengen. Ganze Ferkel wurden verspeist. Die Stunden vergingen wie Minuten und in jener Nacht gab es wohl keinen, der sich nicht prächtig amüsierte. Alejandra gelang es gar, einen ihrer Lebensträume zu verwirklichen. Vom Wein erhitzt und daher mit ausreichend Selbstbewusstsein ausgestattet, bewegte sie sich in Richtung Bühne. Sie warf ihre alten Schuhe ab, sodass sie barfuß war. Pedro hatte ihr bereits zuvor ein wunderschönes rotes Kleid zur Verfügung gestellt. In selbiges hineinzuschlüpfen, getraute sie sich zuvor noch nicht, doch unter Einfluss des Alkohols streifte sie, auf der Bühne stehend und somit von allen Gästen beobachtet, ihr altes, schmutziges Gewand ab, sodass sie vollkommen entblößt zu sehen war.
Unwillkürlich erhoben sich Gäste staunend von ihren Plätzen, um einen besseren Blick zu erhalten. Bewunderndes Seufzen war zu vernehmen, die Augen der Männer weiteten sich beim Anblick ihres nackten Körpers, die Kinnladen der vor Neid erstarrenden Weiber klappten nach unten. Pedro sah beschämt zur Seite, war der Anblick der unbekleideten Tochter wohl für jeden Vater ein unangenehmer Moment. Dennoch konnte er nicht widerstehen, dem Mädchen einen verstohlenen Blick zuzuwerfen, was ihn sofort erröten ließ.
Alejandra dagegen griff nach dem Kleid und schlüpfte elegant in selbiges hinein. Auch die dazugehörigen, weißen Schuhe zog sie an und schmückte sich mit den ebenfalls vorhandenen Ringen und Ketten.
Da stand sie nun auf der Bühne, in ihr rotes Kleid gekleidet. Die Menge hielt den Atem an, keiner wagte es auch nur das geringste Geräusch von sich zu geben. Alejandras atemberaubende Schönheit, versetzte jeden in Staunen. Noch niemandem hatte sich zuvor ein derartig unbeschreiblicher Anblick geboten. Als sie sich sicher war, die ungeteilte Aufmerksamkeit eines jeden Anwesenden endgültig für sich gewonnen zu haben, setzte Alejandra, die sich fühlte wie eine Prinzessin, zum Tanz an.
Unter tosendem Applaus wirbelte sie über die Bühne, untermalt von der Musik der anwesenden Musiker. Ohne Zweifel stellte dies das größte Spektakel dar, dass das Dorf seit langer Zeit erlebt hatte. Alejandra ließ alle Herzen mit ihrem unvergleichbaren Auftritt höher schlagen und niemand hatte sie an diesem Abend nicht lieb gewonnen!
Eine halbe Stunde dauerte Alejandras Auftritt, der größte in ihrem bisherigen Leben. Als sie im Anschluss die Bühne verließ, gelangte sie kaum einen Schritt vorwärts, ohne von zahlreichen Händen berührt zu werden, ohne dass sich ihr jemand in den Weg stellte und von ihr schwärmte, ohne dass sie von allen Seiten applaudiert und Zurufe wie "Viva Alejandra" erhielt.
War sie noch wenige Tage zuvor von einer Menschenmenge umgeben, die ihr Leid zufügen wollte und durch die sie sich mühselig kämpfen musste, so wurde sie jetzt von einer vergleichbaren Menschenmenge gefeiert und wie eine Göttin verehrt.
Freilich, es dauerte eine Weile, doch schließlich hatte sich Alejandra erfolgreich den Weg nach draußen aus dem Zelt heraus gebahnt. Innen hielt Pedro nochmal eine Rede, in welcher er sie in den höchsten Tönen lobte, wovon sie jedoch nicht mehr viel mitbekam.
Sie brauchte schlichtweg frische Luft. Sie war müde vom Tanzen, der Kopf schmerzte ihr aufgrund des reichlichen Genuss des Weines (überdies war sie an jenem Abend zum ersten Mal überhaupt mit Alkohol in Berührung gekommen). Tausende Eindrücke wirkten auf sie und wirkten überfordernd.
Sie sog die kühle Nachtluft genüsslich ein, atmete tief, um sich wieder zu beruhigen.
"Hallo Alejandra", ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihr. Das Mädchen erschrak und wandte sich um. Sie gewahrte, dass sich von hinten heimlich ein junger Mann an sie herangeschlichen hatte, den sie ein paar Jahre älter als sie einschätzte. Aus unerklärlichen Gründen strahlte er eine gewisse Aura aus, in deren Bann Alejandra sofort geriet. Wie angewurzelt blieb sie stehen, unfähig sich in irgendeiner Weise zu regen.
"Wer sind Sie?", fragte sie.
Der Unbekannte trat ins Licht, sodass sie ihn nun in seiner vollen Pracht bestaunen konnte. Der großgewachsene, schlanke Mann, in ein schwarzes Gewand gekleidet, ähnelte jenen Männern, von denen Alejandra immer geträumt hatte. Sofort verlor sie sich in seinen dunklen Augen, die braungebrannte Haut übte, ebenso wie das lange, dunkle Haar einen enormen Reiz auf sie aus. Besonders die kräftigen Wangenknochen, die Stärke und Überzeugungskraft, die seine überaus fein geschnittenen Gesichtszüge ausstrahlten, waren geprägt von männlichem Selbstvertrauen.
Seine tiefe aber klare Stimme erklang erneut:
"Mein Name ist Juan. Ich habe dich die ganze Zeit über während der Feier beobachtet, Alejandra."
Er näherte sich ihr, legte seine Hände auf ihre Schulter und blickte ihr tief in die Augen. Eine solche Nähe duldete Alejandra für gewöhnlich nicht, doch sie war wie versteinert aufgrund der unbeschreiblichen Schönheit des Unbekannten.
"Du bist wunderschön", flüsterte er ihr ins Ohr. "Ich will dich, Alejandra. Nur dich! Komm mit mir!"
Ohne eine Reaktion abzuwarten ergriff Juan Alejandras warme Hand und führte sie vom Schauplatz des Geschehens fort.
Die Straße war einsam und verlassen und nur von wenigen Laternen beschienen, wie in der Nacht als sie ankam.
Wie in Trance folgte Alejandra dem Fremden und fühlte sich wie in einem Traum. Schließlich erreichten die beiden das Haus des Mannes und ohne auch nur ein weiteres Wort miteinander gesprochen zu haben, führte er sie in sein Schlafgemacht.
Breit grinsend, der Blick von Feuer und Leidenschaft erfüllt, schloss Juan die Tür hinter sich und streifte langsam sein Gewand ab. Er befahl Alejandra näher zu treten und sie gehorchte, nach wie vor von dem Charme und der Schönheit des Mannes gefesselt.
"Zum Glück bekommt der alte Pedro nichts hiervon mit", lachte er. "Du wirst schön brav schweigen, nicht wahr?"
Alejandra nickte. Er grinste.
"Sehr gut! Das wird nämlich auch eine einmalige Angelegenheit!"
Wild stürzte Juan sich auf das Mädchen, umklammerte sie fest wie ein Tiger seine Beute und drückte seine brennenden Lippen auf die Alejandras. Diese erwiderte den Kuss ihrerseits voller Leidenschaft.
Juans Hände glitten an ihrem Körper herab, berührten ihre Brüste und versuchten, das Kleid zu entfernen.
"Nein, warte!", schrie Alejandra voller Panik plötzlich auf. Die Wirkung des Weines begann nachzulassen und erst jetzt realisierte sie, was wirklich vorging und in welche Situation sie geraten war. Sie realisierte auch, dass sie das eigentlich gar nicht wollte. Juan fletschte die Zähne, offensichtlich erregt durch ihre Abneigung. Der blasse Vollmond schien durch das Fenster und erhellte sein Gesicht. Seine Schönheit war wie verflogen, er erschien Alejandra auf einmal wie ein Monster, ein wildes Tier, das sich auf sie stürzte und zu zerfleischen drohte.
"Aufhören! Aufhören!", schrie Alejandra in ihrer Verzweiflung, stellte fest, dass sie mit ihrem Flehen nur das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung erreichte. Juan riss grob an ihrem Kleid und es gelang ihm, ihren Oberkörper zu entblößen.
Just in diesem Augenblick verspürte Alejandra etwas, das nicht von ihrem Peiniger ausgelöst wurde. Ein Stich in ihrem Herzen.
"El regalo", schoss es ihr sofort durch den Kopf. Er weint, er weint, er weint. Er fühlt sich allein, er ist einsam, ich muss zu ihm! Sofort! SOFORT!!!
Instinktiv und nur durch das mütterliche Band verbunden, spürte Alejandra, dass das Findelkind nach ihr verlangte. Es lag ganz alleine in seinem Bett und war aufgewacht! Es brauchte seine Mama!
Juan hatte sie mittlerweile zu Boden gerammt und versuchte ihr den Rest ihres Kleides ebenfalls auszuziehen. Seine gierigen Krallen langten nach ihr. Doch von dem Hilfeschrei ihres Babys beflügelt und mit ungeahnten Kräften ausgestattet, holte Alejandra mit ihrer freien Hand aus und schlug Juan die Faust mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft in das Gesicht. Überrascht von der Stärke dieses plötzlichen Angriffs und dem Schmerz heulte er auf. Blut rann augenblicklich aus seiner Nase. Alejandra nutzte die Gunst des Augenblicks und stieß dem Angreifer das Knie mit voller Wucht in den Unterleib.
Juan krümmte sich und rollte sich zur Seite ab. Alejandra erhob sich schreiend:
"Ich muss zu meinem Baby, du verdammtes Monster!"
Sie verpasste ihm einen erneuten Tritt in die Seite und ließ sogleich einen weiteren folgen. Rippen brachen, Juan gellte vor Schmerz auf.
"Du hast ein Kind", winselte er mit letzter Kraft.
"Ein Kind, das ich über alles in der Welt liebe", gab Alejandra energisch zurück, richtete ihr Kleid wieder und verpasste dem am Boden liegenden Juan einen letzten Schlag.
"Du hast ein Kind, du elende Hure! Du verdammte Hure! Ketzerei, Ketzerei!", murmelte er kaum verständlich und enorm geschwächt.
Alejandra warf ihm einen letzten verachtenden Blick zu und stürmte hinaus. Was sie nicht mehr hörte war, dass Juan ihr wütend nachrief:
"Das wirst du bereuen, das zahle ich dir heim, du dreckige Ketzerin! Dafür wirst du büßen, Hure!"
Im Anschluss fiel er vor Schmerz in Ohnmacht.
"Ist ja schon gut, Mama ist ja da", tröstete Alejandra das lauthals weinende Findelkind und nahm es in die Arme. Langsam beruhigte es sich in der Gegenwart des Mädchens bis es schließlich zu weinen aufhörte und wieder sein offenherziges Lächeln aufsetzte.
Alejandra entschied sich, das Kind zu stillen, der nächste Entwicklungsschritt in der intimen Beziehung mit "El regalo".
In Gegenwart des Babys verspürte auch sie innere Ruhe und größtmögliche Ausgeglichenheit.
Gerade als sie das zufriedene Kind zurück ins Bett gelegt hatte, öffnete sich unangekündigt die Tür zu ihrem Dachgeschosszimmer.
Es war der offensichtlich gut angetrunkene Pedro. Er lallte:
"Sie lieben dich, Alejandra, sie lieben dich und ich liebe dich auch."
"Ich weiß", gab sie zurück und lächelte sanft.
"Wo bist du gewesen, mein Kind? Wir haben dich gesucht!"
"Ich war die ganze Zeit bei meinem Kind. Ich konnte es nicht länger allein lassen."
Alejandra entschied sich, die entsetzliche Begegnung mit Juan vorerst zu verschweigen. Dennoch war ihr bewusst, dass dieser sich wohl bald an ihr rächen würde.
"So, so", lallte Pedro nur.
"Gute Nacht, Pedro!"
"Gute Nacht, mein Engel!"
Pedro verließ taumelnd das Zimmer und polterte die Treppen hinunter. Die Feier war offiziell beendet.
Der Zeitpunkt ist gut, dachte Alejandra. Wenn ich jetzt das Dorf verlasse, fällt es niemandem auf. Alle sind sie betrunken und schlafen. So eine Gelegenheit bekomme ich nie wieder.
Das Mädchen wusste, dass sie an diesem Ort nicht mehr lange verweilen konnte. Dafür hatte sie zu viele Feinde, zu viele Verfolger. Sie musste ihr Wort brechen und Pedro verlassen, auch wenn ihm dies das Herz brechen würde, zu seinem Schutz und zu ihrem. Ein ruhiges Leben in Frieden war einfach nicht für sie bestimmt. Flucht, das war ihr Lebensinhalt. Schon immer gewesen. Daran ließ sich nichts ändern.
Wenn nicht jetzt, dann nie!
Alejandra stand auf und bewegte sich in Richtung Fenster. Die Türe zu nehmen wäre Pedro wahrscheinlich nicht entgangen, also wählte sie den Hinterausgang.
Als sie am Fenster stand, es öffnete und ihr die kühle Nachtluft entgegen peitschte, wandte sie sich ein letztes Mal zu ihrem geliebten Baby um. Erstaunt stellte sie fest, dass es aus seinem tiefen Schlaf aufgewacht war und sie regungslos anstarrte.
"Schlaf wieder ein, mein Schatz", sprach Alejandra. "Mama muss gehen! Mama wird dich für immer lieben!"
Das Findelkind hörte nicht auf, das Mädchen mit seinen melancholischen Augen anzustarren. Diese schienen die Größe von Untertellern anzunehmen. Der Blick drohte Alejandra das Herz zu zerreißen.
"Mach es mir doch nicht so schwer!", bat sie, doch sie erkannte, dass sich in den Augen des Kindes Tränen bildeten.
"Nein, bitte nicht weinen!"
Tränen kullerten die Wangen des Babys hinunter und Alejandra verspürte Stiche im Herzen. Nein, unmöglich konnte sie das Geschenk des Himmels einfach so zurücklassen.
Sie schloss das Fenster wieder und kehrte in das Bett zurück, das Kind zu liebkosen und den Schlaf zu erwarten.
"Nein", flüsterte sie. "Sollen sie mich holen! Ich verlasse dich nicht! Nur der Tod soll uns trennen!"
Und so schlief Alejandra mit dem Findelkind in den Armen ein und verschwendete in ihren Träumen keinen Gedanken an Flucht, da sie nur von dem Baby träumte.
Die zweite Nacht im Hause Pedros war ebenso entspannt und ruhig verlaufen, wie die vorherige. Selbst der Gedanke daran, dass dieses Bett vormals der verstorbenen Tochter des Mannes gehört hatte, störte Alejandra nun nicht mehr. Ganz im Gegenteil, das Bett schien wie von einem schützenden Geist, einer wachenden Seele umgeben, die alle bösen Mächte abwehrten, Alpträume nicht zuließen und allgemein einen Rückzugsort darstellten, wie er schöner kaum sein könnte.
Dem Findelkind schien es genauso zu ergehen. Jedenfalls schlief es ebenso tief und fest wie Alejandra.
Diesmal erwachte das Mädchen nicht jedoch spät am Tag, wie es zuvor der Fall gewesen war, sondern in der Früh. Ihren geliebten Sohn ließ sie weiterschlafen, da sie es nicht über das Herz brachte, seinen friedlichen, ungetrübten Schlaf, der ebenso unschuldig und rein war wie das Kind selbst, zu stören. Nichts war schließlich so heilig wie der Schlaf eines Kindes.
Alejandra suchte die Küche auf und fand dort zu ihrem Erstaunen bereits den frühstückenden Pedro vor.
"Guten Morgen, mein Kind", begrüßte er sie freudestrahlend. "Hast du gut geschlafen?" Nach der langen Feier am Vorabend hatte Alejandra nicht damit gerechnet, dass der Mann bereits zu solch früher Stunde wieder bei Kräften war. Elende Nachwirkungen des Alkohols waren ihm in keinster Weise anzusehen.
"Guten Morgen, Pedro! Ja, das habe ich. Doch überrascht es mich, dich schon so früh anzutreffen. Ursprünglich gedachte ich, das Frühstück vorzubereiten, da ich damit rechnete, du würdest nach dieser kurzen Nacht länger im Bett verweilen."
Pedro lachte. "Wahrlich, du kennst mich noch nicht gut genug, Alejandra! Ich schlafe stets nur vier bis fünf Stunden in der Nacht. Mehr bedarf es nicht für mein Wohlbefinden. Das frühe Aufstehen ist mir im Laufe der Zeit zu einer Gewohnheit geworden!"
"Der Morgen legt den Grundstein für den weiteren Verlauf des Tages", stimmte Alejandra zu.
Pedro kam ihr entgegen und nahm sie kurz in den Arm.
"Wie hat dir deine Feier gefallen, mein Kind?"
"Außerordentlich gut, Pedro! Ich bin dir sehr dankbar dafür!"
"Alejandra, du brauchst dich für nichts zu bedanken! Ich stehe tief in deiner Schuld, es ist an mir, dir etwas zurückzuzahlen für das Vertrauen, das du mir entgegenbringst."
Alejandra nickte, hatte jedoch einen Kloß im Hals, da sie daran dachte, wie gerne sie gestern Nacht geflüchtet wäre, wie kurz davor sie stand, Pedro heimlich zu verlassen. Das schlechte Gewissen überfiel sie, in Anbetracht der Ahnungslosigkeit und Gutherzigkeit des Mannes.
"Eines noch", sagte Pedro. Alejandra sah ihn fragend an und sie spürte, dass ihr Puls heftiger als sonst zu pulsieren begann. Ein  schwierig zu identifizierendes Gefühl von Angst bemächtigte sich ihrer.
Hoffentlich spricht er mich nicht auf das Kind an. Was ist, wenn er von Juan und mir erfahren hat? Was, wenn er Gedanken lesen kann und von meinen Fluchtgedanken weiß?
Pedro musterte sie mit einem Blick, der nichts Gutes verlauten ließ. Tatsächlich wirkte er so, als könne er Gedanken lesen.
"Was ist", stammelte Alejandra in negativer Erwartung und zog sich leicht zurück.
"Nenn mich nicht Pedro!"
Er legte seine Hand auf Alejandras Schultern. "Nenn mich Vater! So wie ich dich Tochter nenne! Wir sind eine Familie, du bist mein Kind!"
Das Mädchen wich zurück und entzog sich dem Griff des Mannes. Sie warf ihm einen leicht abstoßend wirkenden Blick zu und nahm eine verkrampfte und unsicher wirkende Haltung ein.
"Was ist, Alejandra? Warum weichst du vor mir zurück? Fürchte dich nicht vor deinem Vater!"
Pedro ging leicht auf sie zu und um keinen Verdacht zu erregen, stürzte sich Alejandra ihm in die Arme.
"Ich liebe dich Vater", seufzte sie, sich alle Mühe gebend, authentisch zu wirken. Sie fühlte sich schlecht dabei, die Worte auszusprechen, war schlichtweg falsch. Sie hatte einen leiblichen Vater gehabt und dieser lebte nicht mehr. Jetzt war sie unabhängig, auf sich allein gestellt. Einen anderen Mann als Vater zu bezeichnen, erschien ihr respektlos ihrem richtigen Vater gegenüber. Andererseits wollte sie den Mann, der so viel für sie getan und womöglich gar ihr Leben, und was noch viel wichtiger war, das Leben des Babys gerettet hatte, nicht verletzen. Um sich als dankbar zu erweisen, ließ sie sich auf dieses seltsame "Vater-Tochter-Spiel" ein, ihrem Gewissen zuwiderhandelnd und somit in einen inneren Konflikt geratend.
"Ich liebe dich auch, Alejandra, meine Tochter", seufzte Pedro zurück und Alejandra war sich beinahe vollkommen sicher, dass er in diesem Moment an Clara dachte. Selbstverständlich konnte sie den Kummer dieses einsamen Mannes nachvollziehen und sein Bedürfnis nach tiefen, emotionalen zwischenmenschlichen Beziehungen, um der Bedeutungslosigkeit seines Daseins entgegenzuwirken.
Alejandra löste die Umarmung und gewahrte, dass in Pedros Augen erneut Tränen glitzerten.
"Soll ich dir ein Bad einlaufen lassen?", bat er freundlich an und Alejandra willigte ohne nachzudenken sofort ein.
Wie lange war es her, dass sie sich nicht mehr richtig gewaschen hatte? Zuweilen kam sich Alejandra wie ein wildes Tier vor, ohne Würde, weil es an Pflege und Zuneigung für den Körper mangelte. Das heiße Bad, das Pedro ihr vorbereitet hatte, stellte eine enorme Erleichterung, eine absolute Wohltat für Körper und Geist dar. Er stellte ihr gar besonders wohltuende Öle, Seife und Düfte zur optimalen Pflege zur Verfügung.
Der sich in all den Wochen und Monaten, wenn nicht gar Jahren angesammelte Stress, fiel von ihr ab. Es war, als würden Wasser und Seife nicht nur den Dreck von ihrer Haut entfernen, sondern auch alle Sorgen und Ängste von ihr abspülen. Sie dachte nicht mehr an ihre Verfolger, an die Inquisitoren, an das Schicksal des Findelkindes, an Juan. All dies geriet in weite Ferne, verlor an Bedeutung. Es gab nur sie, das Bad und den gegenwärtigen Augenblick.
Die sich in tiefster Entspannung befindende Alejandra, erwachte plötzlich aus ihrer Trance, als es an der Tür klopfte und Pedro, ohne eine Antwort abzuwarten, eintrat (ein Schloss zum Absperren, war nicht vorhanden).
Entgeistert starrte sie ihn an, vor Schreck die Augen weit aufgerissen, reflexartig ihre Brüste mit den Händen bedeckend.
Pedro hatte ein sanftes Lächeln aufgesetzt, doch dies lenkte kaum von seinen mit feuriger Leidenschaft durchfluteten Augen ab. Einen vergleichbaren Blick hatte das Mädchen erst in der Vornacht gesehen und dieser hatte sie zutiefst verstört.
"Was...was machst du hier", stotterte sie,  unruhig und nervös werdend.
"Ich komme nur, um dir den Rücken zu waschen!"
Mit diesen Worten griff Pedro nach einem Stück Seife und näherte sich Alejandra.
"Vater, dazu bin ich selbst in der Lage!"
"Aber das ist doch viel zu schwierig für dich, lass mich dir helfen!"
Alejandra ließ ihn gewähren, kauerte sich in der Wanne jedoch so weit wie möglich zusammen, um so wenig wie möglich von ihrer Haut zu entblößen. Pedro rieb ihr sanft den Rücken, doch ihre Nackenhaare richteten sich vor Erschaudern auf. Jede Berührung fühlte sich wie ein elektrischer Schlag an, der sie unwillkürlich zusammenzucken ließ.
"Oh, Alejandra!", setzte Pedro in schwärmerischem Ton und begutachtete ihren Körper. "Du bist so wunderschön! Deine Haut, so rein! Der Körper, so wohlgeformt! Das Haar, so lang!"
Alejandra lief rot an vor Scham, ähnlich wie auf der Bühne während der Feier. Sie sagte nichts, stattdessen sprach Pedro weiter:
"Weißt du, mein Mädchen, ich bin mir nicht mehr ganz sicher, was unsere Beziehung angeht."
Nun musste Alejandra doch das Wort ergreifen. Sie konnte sich nicht länger zurückhalten.
"Was soll das heißen?"
"Je mehr ich dich betrachte und je intensiver ich dich und insbesondere deinen Körper studiere, desto mehr gerate ich in einen inneren Konflikt."
"Jeder von uns kämpft gegen innere Dämonen und trägt Konflikte aus, von denen niemand etwas mitbekommt."
"Das ist richtig, doch diesmal ist es anders. Ich liebe dich, Alejandra, so viel steht fest. Doch vermag ich nicht mehr zu sagen, ob es sich hierbei um rein väterliche Liebe handelt, oder ob nicht noch etwas anderes dahintersteckt."
"Was meinst du, Vater?"
"Ich begehre dich, Alejandra! Du sollst mein Weib werden! Ich will nicht länger die Tochter ersetzt haben, von nun an sollst du mir als Ehefrau gehören!"
"Nein!", sagte Alejandra nur, sich bemühend, möglichst einschüchternd zu klingen, was ihr mitnichten gelang.
"Wehr dich nicht! Lass es geschehen!"
Pedro griff mit beiden Händen zu und zog das Mädchen ganz eng an sich heran. Alejandra schrie aus Leibeskräften und schlug wie wild um sich. Niemand, der sie hörte, niemand der ihr helfen konnte. Ein weiteres Mal in ihrem Leben befand sie sich in einer Extremsituation, in welcher sie auf sich allein gestellt war.
"Pedro, lass mich los!", schrie das Mädchen, doch es nützte nichts. Seine starken Hände berührten sie überall, glitten an ihrem Körper herab. Er hatte sie mittlerweile so fest in seinem unbarmherzigen Griff, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte.
Doch Geschehnisse wiederholten sich. Alejandra spürte Schmerzen in ihrem Herzen. Das Baby war aufgewacht, hatte begonnen zu weinen und verlangte nach seiner Mutter, verlangte nach ihr.
"Mein Kind, mein Baby", schrie Alejandra auf. Pedro erstarrte als wäre er aus Stein. Sein Griff war nach wie vor zu fest, um ihm zu entkommen, aber er hielt augenblicklich inne.
"Der Junge ist aufgewacht! Er muss seine Mutter sehen! Ich muss ihn sehen! Pedro, lass mich sofort los! Ich muss zu meinem Kind!"
Pedros Augen weiteten sich. Das Feuer und die Gier in selbigen erlosch wie von Geisterhand und wichen blankem Entsetzen. Auf einmal gewann er die Kontrolle über seine Triebe zurück, der Verstand setzte wieder ein und er erkannte, was er getan hatte.
"Was habe ich getan? Oh, was habe ich nur getan?", rief er. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz und sofort ließ er Alejandra los.
Diese sprang aus der Wanne, griff zu einem Handtuch, welches sie sich in Windeseile umwarf und eilte in das Dachgeschoss zu dem Findelkind.
Pedro sackte kraftlos zusammen, kauerte sich auf den Boden und bedeckte das Gesicht mit seinen Händen vor Scham und Entsetzen vor der eigenen Tat.
"Schande über mich! Schande über mich", rief er immerfort.
Nachdem das Baby von Alejandra gestillt wurde, beruhigte es sich schnell wieder. Auch das Mädchen kam nach dem Schock schnell wieder zu sich, da der Anblick des Kindes ihr Herz besänftigte. Pedro hatte ihr auf ihr Bett ein neues Kleid bereitgelegt, diesmal eines aus smaragdgrüner Seide. Zweifellos hatten all die Kleider, die er ihr schenkte, einst Clara gehört und er wollte jetzt sein neues Mädchen darin sehen. Nichtsdestotrotz zog sie sich das Kleid an und legte den Kleinen zurück in das Bett. Im gleichen Moment öffnete sich die Tür und Pedro stand erneut im Türrahmen. Es war ihm anzusehen, dass er geweint hatte. Zudem war er nach wie vor vollkommen rot angelaufen vor Scham. Er brachte kein Wort heraus.
"Komm herein", bot Alejandra an. Vorsichtig leistete der Mann dem Angebot Forderung.
"Was ist nur in mich gefahren", begann Pedro nach wie vor vollkommen zerstreut und voller Angst vor sich selbst.
"Pedro, beruhige dich!"
"Ich bin ein Monster! Keine Entschuldigung der Welt vermag mein Handeln auszugleichen, vergessen zu machen. Wie konnte ich dir das nur antun?"
"Du hast im richtigen Moment wieder zu dir gefunden. Noch konntest du rechtzeitig abbrechen. Du hast mir keinen Schaden zugefügt!"
Alejandra lächelte ihn an. Es war ein warmes, aufrichtiges Lächeln.
"Du bist so gut zu mir, Alejandra! Ich verdiene deine Gutherzigkeit nicht! Kannst du mir jemals verzeihen? Ich war nicht ich Selbst!"
"Schon gut, ich kann dein Leid nachvollziehen. Den Verlust von Frau und Kind zu verkraften stellt ein schwieriges Unterfangen dar. Ich vergebe dir!"
Pedro nahm das Mädchen herzlich in die Arme und weinte. Das Baby war wieder friedlich eingeschlafen.
"Wie kann ich das nur jemals wieder gut machen?", heulte Pedro herzzerreißend. Er löste die Umarmung und ließ sich schwach auf das Bett sinken, direkt neben das Findelkind.  Er atmete schwer, griff sich gelegentlich an die Brust. Nach einer Pause, die er definitiv benötigte, um sich wieder zu sammeln, ließ er verlauten:
"Du kannst nicht hier bleiben! So schwer es mir fällt, dies zu sagen, doch es ist die Wahrheit! Bliebest du, so könnte etwas Schreckliches geschehen! Ich weiß nicht, ob ich in Zukunft nicht noch einmal den Verstand verliere, von bösen Mächten fremdgesteuert, von Bedürfnissen und Verlangen angetrieben werde und mich dem, wie eben, nicht widersetzen kann. Ich bin nicht länger in der Lage, dich vor mir selbst zu schützen. Doch dir darf nichts zustoßen, dir und deinem Kind! Du musst beschützt werden. Mein Herz zerreißt bei dem Gedanken, dich nicht mehr wiederzusehen, Alejandra, aber es ist die einzig richtige Entscheidung! Du musst mich so schnell wie möglich verlassen, sonst kann ich für nichts garantieren!"
Diese Worte ausgesprochen zu haben, die Pedros Seele bereits seit Längerem zu quälen drohten, stellte eine regelrechte Erleichterung für ihn da. Er wirkte augenblicklich gelöster und von einer unglaublichen Last befreit.
Alejandra nahm neben ihm auf dem Bett Platz und legte ihren Arm tröstend um seine Schulter. Pedro war nach wie vor völlig aufgelöst.
Sie riss sich zusammen, denn nun war es an ihr, dem Mann, der sie gerettet hatte, etwas anzuvertrauen. Und sie vertraute ihm, ungeachtet des Vorfalls in der Wanne.
"Auch ich habe dir etwas mitzuteilen, etwas das ich dir schon längst hätte sagen sollen! Pedro, ich bin eine Zigeunerin. Ich bin kriminell und werde gesucht. Die Inquisition ist hinter mir her, da ich ein Hurenkind bin!"
Pedro erhob den Kopf, sah ihr ins Gesicht und blickte sie entgeistert an.
"Du bist was?", setzte er ungläubig an, doch Alejandra unterbrach ihn wieder.
"Schweig und höre mir aufmerksam zu! Dieser Junge ist nicht mein Kind! In Wahrheit wurde er als Findelkind ausgesetzt und in einen Fluss geworfen! Er wäre beinahe ertrunken, ich habe ihm das Leben gerettet! Ich weiß, dass ich dich verlassen muss. Ich muss diesem Ort den Rücken kehren, kann hier nicht länger verweilen. Ich bringe uns alle in große Gefahr!"
Pedro starrte Alejandra einige Zeit lang an, undeutlich etwas vor sich hin stammelnd. Die Minuten vergingen und keiner der beiden sagte ein Wort. Schließlich lächelte Pedro schwach und meinte:
"Weißt du was, Alejandra? Für mich bist du vieles, allen voran ein guter Mensch, eine hervorragende Tänzerin und fürsorgliche Mutter, aber ganz sicher keine Kriminelle! Ein so besonderer Mensch wie du ist mir im Leben noch nicht begegnet!"
Alejandra erwiderte das Lächeln und bedankte sich mit einem Kuss auf Pedros Wange, der diesen erröten ließ.
Die Tatsachen nicht ignorierend, machte sich Pedro sofort an die Arbeit.
"Wenn dem so ist, haben wir keine Zeit zu verlieren, deine Flucht vorzubereiten!"
Er stellte dem Mädchen einen kleinen Beutel zusammen, den sie auf dem Rücken tragen konnte und den er mit Proviant für die Reise füllte.
"Was geschieht mit dem Kind?", erkundigte sich Alejandra als ihr Blick erneut auf den Jungen fiel, der mittlerweile wieder aufgewacht war und sie mit seinen wachen Augen ansah und liebevoll anlächelte.
"Warum lassen wir das nicht das Kind entscheiden?", meinte Pedro und beide sahen den Kleinen erwartungsvoll an.
Als hätte es auf diesen Moment gewartet, öffnete das Baby den Mund und sprach die ersten Worte seines Lebens:
"Mama!"
Beinahe zu Tränen gerührt, nahm Alejandra freudestrahlend das Kind in die Arme.
"Seine ersten Worte!"
Pedro, ebenfalls gerührt von dem Anblick sagte:
"Das ist ein deutliches Bekenntis!"
Das Mädchen küsste das Kind.
"Ich lasse dich nicht zurück! Gemeinsam schaffen wir das!"
Dieser herzzerreißende Moment wurde jäh durch heftiges Pochen an der Haustür unterbrochen, welches bis in das Dachgeschoss widerhallte.
Pedro und Alejandra erschraken, die Tür wurde erneut bearbeitet. Da es sich bei selbiger um eine überaus robuste Tür aus feinstem Eichenholz handelte, die, darüber hinaus noch versperrt war, hielt sie dem stand. Noch.
Eine laute Stimme erklang von draußen und wenngleich sie nur gedämpft an des Mädchens Ohren drang, so erkannte sie diese doch sofort. Zu sehr hatte sie sich in ihr Gedächtnis gebrannt.
"Dies ist das Haus des Mannes, der mit der Ketzerin kooperiert!"
Es war Juan! Doch er war nicht alleine! Begleitet wurde er von Inquisitoren!
Alejandra lief leichenblass an, ihrer eigentlich dunklen Haut entwich jedwede Farbe und sie kämpfte gegen den Drang an, sich übergeben zu müssen.
"Sie haben mich, sie haben mich! Die Inquisition! Sie sind da!"
Die Hände über dem Kopf zusammenschlagend taumelte das Mädchen im Zimmer hin und her, fieberhaft nach einer Lösung suchend.
"Wir müssen den Jungen in Sicherheit bringen", entfuhr es ihr und beim Gedanken daran, was die Inquisitoren dem Kind antun würden, lief ihr ein eiskalter Schauer den Rücken herunter.
Pedro eilte zu einem Schrank und kramte einige Sachen hervor. Es war als hätte ein Geistesblitz ihn ereilt, nie zuvor schien er so sicher zu wissen, was er zu tun hatte.
"Wir lassen ihnen eine Minute, um uns freiwillig entgegenzutreten!", ertönte Juans Stimme von außen. "Dann brechen wir die Tür ein!"
Pedro eilte zurück zu Alejandra. Er trug einige Tücher bei sich.
"Nimm das Kind an dich", forderte er.
Alejandra nahm den Jungen in ihre Arme, küsste ihn auf Stirn und sagte:
"Es wird alles gut! Mama ist bei dir!"
Das Kind strahlte nach wie vor über das ganze Gesicht und wiederholte sein erstes Wort:
"Mama! Mama! Mama!"
Pedro wickelte den Jungen mit einem der Tücher um den Leib des Mädchens, sodass sie ihn nicht festhalten brauchte.
Im Anschluss knotete er die übrigen langen Tücher zu einer Art Kordel zusammen, die sich in windeseile zu einem langen Seil zusammensetzte. Hierbei ging er erstaunlich geschickt und geistesgegenwärtig vor.
"Wir brechen die Tür jetzt ein", schrie Juan von draußen, Pedro blieb unbeeindruckt.
Alejandra widmete ihre Aufmerksamkeit dem Findelkind und tröstete es. Ansonsten ließ sie Pedro agieren.
Die Tür pochte, laute Stöße waren zu vernehmen, Holz heulte auf, knirrschte, bog sich.
Pedro war fertig! Das fertige Seil warf er aus dem Fenster des Dachgeschosses. Es reichte tatsächlich bis zum Boden. Da sich die Haustür auf der anderen Seite des Hauses befand, konnte man sich von dem Dachgeschoss aus, unauffällig davon schleichen.
"Verlass das Land", sagte Pedro. "Gehe zusammen mit dem Jungen und werdet glücklich zusammen!"
Alejandra sah den Mann einen Moment verwirrt an.
"Was soll das denn heißen? Du kommst doch mit oder etwa nicht?"
"Nein, Alejandra! Ihr seid schneller, wenn ihr zu zweit seid! Nehmt keine Rücksicht auf mich! Ich stelle mich den Inquisitoren!"
"Ich lass dich nicht zurück, Pedro!"
"Du hast mir in der kurzen Zeit, die uns beiden leider nur vergönnt war, mehr gegeben als jemals ein Mensch zuvor! Durch dich habe ich gelernt, was es bedeutet ein Mensch zu sein! Ich muss meinen Fehler wieder gutmachen! Ich stehe tief in deiner Schuld, Alejandra! Und jetzt sei nicht dumm und rette dich und das Kind! Ihr habt nicht mehr viel Zeit!"
Die Tür hielt den feindlichen Angriffen nach wie vor stand, doch es war nur eine Frage von Sekunden, bis sie fiel.
Pedro küsste Alejandra auf die Stirn, die beiden umarmten sich ein letztes Mal. In den Augen des Mädchens glänzten Tränen.
"Leb wohl, mein Vater!", verabschiedete sie sich.
"Leb wohl, mein Engel! Mach etwas aus deinem Leben und aus dem des Jungen! Ich werde euch immer im Herzen tragen! Und jetzt beeilt euch!"
Alejandra warf sich aus dem Fenster und ergriff erst im Fallen das Seil bestehend aus stabilen Tüchern, um somit wertvolle Zeit zu sparen. Pedro hielt die Leine von oben mit aller Kraft fest.
Dann geschahen viele Dinge gleichzeitig.
Die Tür barst, sie explodierte regelrecht und eine undefinierbare Anzahl wütender Männer stürmten das Haus. Schritte schwerer Stiefel polterten die Treppe hinauf und näherten sich bedrohlich. Währenddessen beobachtete Pedro, wie Alejandra mit dem Baby unten ankam, sich ein letztes Mal zu ihm umwandte, um ihm einen Luftkuss zuzuwerfen und dann wie eine junge Gazelle davonrannte.
"Adios, señorita", sagte Pedro leise und sah dem Mädchen hinterher, bis es nicht mehr zu sehen war. Dann ließ er das Seil fallen, schloss das Fenster, wandte sich Richtung Tür und erwartete sein Schicksal.
Direkt im nächsten Augenblick betraten fünf bewaffnete und Kruzifixe tragende Männer den Raum, einen von ihnen erkannte Pedro sofort als Juan, den wohl unbeliebtesten Mann im ganzen Dorf. Dieser trat vor.
"Wo habt Ihr sie versteckt!", fuhr Juan Pedro an.
"Ihr Narren", lachte Pedro, sich den übrigen Inquisitoren zuwendend. "Hier gibt es keine Ketzerin! Ich lebe seit vielen Jahren allein!"
"Er lügt", schrie Juan ihn an. "Durchsucht das Haus!"
Drei der Männer leisteten der Anordnung Folge, kehrten jedoch bald darauf resigniert zurück, da sie nicht fündig wurden.
"Die Hure lebt hier, das weiß ich!", schrie Juan, völlig außer sich vor Wut.
"Wenn Sie gestatten, meine Herrn, so würde ich das Rätsel gerne auflösen", sprach Pedro ruhig. "Der wahre Ketzer befindet sich in ihren Reihen!"
Er deutete auf Juan.
"Dieser Mann hat sein einjähriges Kind verstoßen und es jämmerlich im Fluss ersaufen lassen!"
Verstörte Blicke der übrigen Inquisitoren wurden Juan zuteil. Dieser, vollkommen überrascht von dieser Aussage lief kreideweiß an. Freilich, Pedro wusste nicht, dass es sich hierbei tatsächlich um Juan handelte. Er hatte es einfach behauptet, doch aus der Reaktion dieses abscheulichen Mannes, konnte er schließen, dass er mit seiner Behauptung wirklich recht hatte.
Entgeistert blickte dieser Pedro an und stammelte: "Was, woher wisst ihr?"
"Ist das wahr?", fragte einer der Inquisitoren, Juan ernst musternd.
"Naja, also...NEIN! LÜGE! LÜGE! ERSCHIEßT DEN KETZER!"
"Abführen", befahl der gleiche Mann, der sich als Hauptmann der kleinen Gruppe herausstellte. "Falsche Informationen preiszugeben und dann auch noch Verrat an einem Kind Gottes zu begehen! Euer Schicksal wird später entschieden!"
Juan leistete zwar erbitterten Widerstand, wurde jedoch schnell von den übrigen Männern überwältigt und in Fesseln gelegt.
Der Hauptmann und einer seiner Kollegen verweilten jedoch noch bei Pedro.
"Woher wisst Ihr überhaupt davon?", erkundigte sich der Hauptmann. "Wenngleich Eure Anklage der Reaktion des Betroffenen nach zu urteilen, der Wahrheit entspricht, müsst ihr Euch selbst noch als unschuldig erweisen!"
Um von Alejandra abzulenken, opferte sich Pedro.
"Ich weiß es, weil wir zusammengearbeitet haben. Ich bin ebenso schuldig wie er. Wir haben uns diesbezüglich zerstritten und aus diesem Grund hat er mich bei Ihnen verraten. Es gibt keine Ketzerin, es hat nie eine gegeben! Für all diese Taten bin ich verantwortlich! Ich habe ein Doppelleben geführt. Doch der Betrug ist aufgefallen und um ehrlich zu sein, bin ich dankbar darüber, denn jetzt kann ich vor Gott Buße tun! Ich bin der Ketzer, nach dem ihr gesucht habt. Lasst es jeden wissen, teilt es Euren Vorgesetzten, all jenen Anführern mit, für die Ihr arbeitet. Es ist vorbei!"
Des Hauptmanns Miene verfinsterte sich. Er griff in den Gürtel und nahm eine Schusswaffe hervor. Seinem Kollegen sagte er mit:
"Verkünde die Botschaft, dass wir die beiden Ketzer gefunden haben und dass unsere Jagd in dieser Hinsicht somit abgeschlossen ist! Bring den anderen um, der uns falsche Informationen geliefert hat! Erschieß ihn an Ort und Stelle. Ich werde diesen Fluch jetzt endgültig beenden!"
Der angesprochene Inquisitor verneigte sich unterwürfig.
"In Christus. Amen!", ließ er verlauten und entfernte sich umgehend.
"Nur zu", meinte Pedro zu dem Hauptmann. Er breitete die Arme aus, nahm tief Luft und schloss die Augen. Der Inquisitor lud die Waffe, ein lautes Klicken ertönte. Das letzte, was Pedro hörte, war ein lauter Knall, das letzte woran er dachte, war Alejandra wie sie in ihrem roten Kleid mit dem Findelkind in den Armen vor ihm tanzte...
Alejandra dagegen tauchte mit ihrem über alles geliebten Kind unter. Es hieß, dass sie Spanien tatsächlich verlassen konnte, begünstigt dadurch, dass die Inquisition die Suche nach ihr abgebrochen hatte, in der Annahme, der Fall hätte sich erledigt. Das Hurenkind Alejandra hielt niemand mehr für eine real existierende Person, sondern nur für die Erfindung eines krankhaften Geistes eines tatsächlichen Ketzers. Was genau aus Alejandra und "El regalo" geworden ist, ist nicht überliefert und bis zum heutigen Tage unbekannt. Sie sind nie wieder gesichtet worden! Doch wo auch immer sie sich befinden, was auch immer sie tun, ich bin mir sicher, dass es ihnen gut geht und sie glücklich sind! Der Herr segne und beschütze sie!

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