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Fortschritt als Rückschritt

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08.06.19 11:18
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt
Endlich! Der größte Teil der Arbeit war erledigt. Nur noch die Abhandlungen über die Freiheit des menschlichen Willens verfassen, die "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" lesen, aber dafür hatte er noch ewig Zeit. Bis zum nächsten Tag! Zudem nur noch den Vortrag für das Wirtschaftsseminar über die Überlegenheit des Kapitalismus im Vergleich zu allen anderen jemals existierenden Wirtschaftsformen verfassen und für die anstehende Prüfung in Mathematik mit dem Schwerpunkt der analytischen Geometrie lernen.
Edgar sah auf die Uhr. Ein Glück! Gerade einmal halb zwei in der Nacht! Noch so früh und nur noch so wenig zu erledigen! Er hatte es fast geschafft. Nur noch wenige Stunden durchhalten, pauken und schreiben was das Zeug hält. Alles im Bereich des Möglichen! Doch Zeit durfte er nicht länger verschwenden. Zeit ist schließlich Geld. Und Geld regiert die Welt. Also, keine Pause, keine Rast. Weitermachen bis er, wie beinahe jeden Tag am Schreibtisch einschläft.
Der folgende Tag war ein Samstag. Samstags hatte er immer einen Stand auf dem Wochenmarkt und verkaufte Fleisch. Von irgendetwas musste man schließlich leben, von irgendetwas musste man sich schließlich sein Studium finanzieren. Erst recht, wenn man, genau wie anderen, sechs Fächer studierte, da man ja ansonsten niemals einen guten Job in  der Wirtschaft bekommen kann.
Nach der Arbeit hatte Edgar sich mit Simon verabredet, bester Freund und Geliebter in einer Person. Einer der Menschen mit denen man zu jederzeit über alles sprechen kann. Jemand, der sich um die Sorgen und Bedürfnisse des Gegenübers mehr kümmerte, als um die eigenen.
"Eigentlich esse ich ja kein Fleisch!"
Edgars Stand hatte die Aufmerksamkeit eines Mannes auf sich gezogen, der zweifellos in der Wirtschaft tätig war und ebenfalls sechs Fächer studiert haben musste. Jedenfalls ließ sich dies aus der Kleidung des Mannes schließen, der ein pechschwarzes Sakko über einem strahlend weißen Hemd, eine dunkle Baumwollhose, lackierte und glänzende Schuhe trug.
"Aber das, was Sie hier anbieten, sieht schon sehr verlockend aus!"
"Sehen Sie sich nur genau um! Ich biete alles an, von Rindfleisch, bis hin zu Schweine-und Kalbfleisch. Alles nur die beste Qualität!"
Der Mann fuhr sich durch das blonde Haar, seine hinter schmalen Brillengläsern hervorschauenden Augen fixierten die Preisliste.
"Eigentlich esse ich ja kein Fleisch", wiederholte er.
"Das sagten Sie bereits."
"Der Umwelt zuliebe, wissen Sie? Meine Freunde sind alle Vegetarier, auch meine Lebensgefährtin ist überzeugt davon. Da dachte ich mir, dass ich das auch machen sollte. Genauso wie die anderen!"
"Interessant, der Herr. Wie lange sind Sie denn bereits Vegetarier?", erkundigte sich Edgar, aufrichtig interessiert an dem Mann, der sein Vorbild werden könnte, wegen seines erfolgreich abgeschlossenen Studiums von wahrscheinlich mindestens sechs Fächern, dem guten Job in der Wirtschaft und dem vielen Geld, dass er augenscheinlich macht. Nicht auszudenken, wie glücklich dieser Mann war! An nichts mangelte es ihm! Dafür lohnt es sich auch, jede Nacht am Schreibtisch einzuschlafen! Ob er wohl promoviert hat?
"Zwei Tage", erfolgte die Antwort.
Edgar zog skeptisch eine Augenbraue nach oben.
"Ich weiß, es ist noch nicht besonders lange, aber ökologisch nachhaltig zu leben, ist kein leichtes Unterfangen. Aber glauben Sie mir, dass ich mir alle Mühe gebe. Hier der Beweis!"
Demonstrativ winkelte der Mann ein Bein an, indem er das Knie nach oben zog und offenbarte Edgar somit seine lackierten Schuhe, die ihm bereits zuvor aufgefallen waren.
"Kunstleder! Habe sie erst gestern erstanden. Nagelneu! Meine vorherigen waren aus Krokdilleder! Warten Sie, ich habe noch mehr Beweise!"
Er zog sein Sakko aus, hielt es Edgar vor die Nase und verwies auf ein kleines, innerhalb des Anzugs angebrachtes Schild.
"Sehen Sie! Es wurde in Taiwan hergestellt und nicht in Bangladesch, wie das, was alle anderen tragen! Die Menschenrechtslage in Bangladesch war mir schlichtweg zu pikant, als dass ich dieses System weiter unterstützen würde! Nein, Fairness und Menschenrechte liegen mir genauso am Herzen wie der Umweltschutz!"
"Sie scheinen wirklich ein aufrichtiger Mann zu sein", pflichtete Edgar ihm bei. Da sich außer diesem einen Mann ohnehin niemand für seinen Stand zu interessieren schien und ansonsten keine weiteren Kunden zugegen waren, widmete er ihm all seine Aufmerksamkeit.
"Ich kann Ihnen auch sagen, woran das liegt! Ich habe Kant gelesen. Im Studium damals."
"Dann war also Philosophie eines ihrer sechs Studienfächer?"
"Ja, eines meiner zehn, ganz genau! Wissen Sie, wenn man nicht mindestens zehn Fächer studiert, hat man keine Chance mehr auf einen gut bezahlten Job. Da kann man direkt Taxifahrer werden!"
Edgar musste schlucken und war alles andere als erfreut über diese Aussage, über dieses vernichtende Urteil, über diese abfällige Bemerkung über alle Sechs-Fächer-Studierende. Sofort fühlte er sich unter Druck gesetzt und seltsam minderwertig. War er etwa zu faul? Oder mangelte es ihm an Intelligenz? Vielleicht an der nötigen Charakterstärke und Disziplin? Um Himmels willen, Erfolglosigkeit konnte so viele Gesichter haben, so viele verschiedene Facetten aufweisen. Wo sollte man da nur anfangen?
Er hielt einen Themenwechsel für angebracht, um sich wieder zu beruhigen, da er spürte, wie sehr sein Herz angefangen hatte zu rasen, die Schweißporen sich langsam zu öffnen begannen und das Gesicht rot anlief.
"Was genau imponiert Ihnen denn an Kant?", fragte er und erinnerte sich dabei wieder an die "Metaphysik der Sitten", über welche er noch eine kritische Stellungnahme zu verfassen beauftragt wurde. Aber erst für morgen, das war noch genug Zeit, also kein Grund zur Sorge!
"Vor allem die Umwertung aller Werte aber auch die Negation der Negation! Ich habe meine Doktorarbeit darüber geschrieben, müssen Sie wissen. Von Kant ist mir jedes einzelne Werk, jede noch so unbedeutende Schrift bekannt!"
Er war also doch ein Doktor! Interessant, interessant! Edgar hatte mit seiner Theorie recht behalten. Da konnte man dem Mann auch mal verzeihen, dass die Umwertung aller Werte eigentlich Nietzsche ist und die Negation der Negation von Hegel. Wenigstens war der Mann Doktor der Philosophie und hatte einen gut bezahlten Job in der Wirtschaft. Nur das zählte!
"Kant wäre begeistert von ihrem moralischen Handeln gewesen", sagte Edgar mit freudiger Stimme. "Nicht jeder ist mit einem solch unermesslichen Mitgefühl den Ärmsten der Armen gesegnet und nur die wenigsten legen eine solch umweltbewusste Lebensweise an den Tag!"
"Wahr, wahr! Aber ich halte Ihre Preise für etwas überteuert. Andererseits ist mir doch sehr nach etwas Fleisch!"
"Die Tiere, die geschlachtet worden, hatten ein gutes Leben. So kommt der Preis zustande. Das ist der Markt, verehrter Herr Doktor!"
Der Mann inspizierte die Preise genauer, sah sich im Anschluss nach Alternativen um.
"Verzeihen Sie, aber bei aller Liebe zu den Tieren, jeden Preis zu zahlen sehe ich mich dann doch nicht gewillt. Bei aller Menschenliebe muss ich schließlich auch mal an mich denken."
Edgar, der befürchtete, einen potentiellen Kunden zu verlieren, redete jedoch weiter auf den Mann ein und ließ sich von dessen Zögern nicht beirren. Schließlich glaubte er mit seinem scharfen Geschäftssinn dessen Schwachstelle ausfindig gemacht und gründlich analysiert zu haben.
"Guter Herr, ich halte Sie für einen überaus moralischen und intelligenten Menschen. Sie sind Vegetarier, tragen Schuhe aus Kunstleder und nicht etwa aus Krokodilleder und Kleidung aus Taiwan und nicht etwa aus Bangladesch. Ist es dann nicht ihre Pflicht einen armen Studenten wie mich zu unterstützen und obendrein noch etwas Gutes für die Umwelt zu tun?"
Der Mann geriet daraufhin ins Grübeln und legte seine Stirn in Falten. Schließlich willigte er doch ein und erwarb einen Kilogramm Schweinefleisch.
"Eigentlich esse ich ja kein Fleisch aber aus Gründen des Umweltschutzes bin ich bereit, eine Ausnahme vorzunehmen", meinte er als er Edgar das Geld reichte.
"In dem Sinne wünsche ich Ihnen viel finanziellen Erfolg in der Zukunft und einen gut bezahlten Job in der Wirtschaft!"
"Ich bedanke mich, mein Herr! Ein sehr aufschlussreiches Gespräch. Sie haben das Richtige getan!"
Übers ganze Gesicht strahlend, Edgars Lob offenbar richtig genießend, schritt der Mann von dannen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich wieder jemand für Edgars Stand interessierte. Ob er die Preise der der Konkurrenz anpassen sollte, dachte er sich, verwarf diesen Gedanken jedoch schnell wieder, in der Angst, dadurch nicht genug Profit zu machen. Nein, es würden sich schon noch Kunden für ihn interessieren. Er brauchte nur Geduld. Rom war schließlich auch nicht an einem Tag erbaut worden!
Tatsächlich begutachtete schließlich ein weiterer Mann Edgars Angebote. Der neue potentielle Kunde erschien jedoch äußerst ungepflegt, trug alte und teilweise bereits zerrissene Kleidung und hatte wohl kaum mindestens sechs Fächer studiert, geschweige denn zehn. So lange er Geld bringt, soll es mir recht sein, dachte Edgar. Jedoch zweifelte er daran, dass dieser Mann ihm etwas beibringen könnte.
Er grüßte Edgar mit einem warmen Lächeln, dieser erwiderte es.
"Wann sind Sie immer hier?", fragte der Mann schließlich und wandte sich Edgar zu.
"Jeden Samstag, den ganzen Tag und immer die gleiche Stelle. Sehen Sie sich genau die Angebote an, mein Herr! Nur bei mir gibt es die beste Qualität!"
"Sind Sie Student?"
"Ja, das bin ich."
"Sie müssen sich also hiermit hier Geld verdienen?"
Edgar hielt leicht verwirrt einen Moment inne. War das nicht offensichtlich und selbstverständlich?
"Richtig. Ich finanziere mir auf die Art mein Studium. Unter anderem."
"So, so", meinte der komische Kauz. "Finden Sie das System nicht auch unsinnig?"
Edgar hatte nun wahrlich nicht mit einer solchen Frage gerechnet. In den Sinn kamen ihm die unzähligen Stunden des Lernens, der Arbeit am Schreibtisch, die vielen Tage, die er ohne ein Gefühl von Sinnhaftigkeit auf dem Marktplatz verbracht hatte, das ständige Bemühen, Anschluss zu finden, sich nicht zu verlieren.
"Ich verstehe Ihre Frage nicht."
"Ich glaube eher, dass Sie mich nicht verstehen möchten. Sie tun es aber ganz genau!"
"Das ist beleidigend!"
"Ist es nicht vielmehr beleidigend, dass wir für Geld arbeiten müssen? Ist dieses System nicht vollkommen von Widersprüchen durchzogen?"
"Wie meinen Sie das? Wofür soll ich denn sonst arbeiten, wenn nicht für Geld?"
"Arbeit sollte aus dem Menschen selbst kommen, der innere Antrieb sollte ausschlaggebend sein. Die Art der Arbeit muss selbst und frei bestimmt werden."
"Mag sein, doch Geld ist unbedingt vonnöten. Wie soll man denn sonst überleben?"
Der seltsame Mann lachte und klopfte Edgar auf die Schultern. "Genau das ist das Problem, mein Junge!"
"Wie verdienen Sie denn ihr Geld", stellte Edgar, der sich in seiner Würde angegriffen fühlte, eine Gegenfrage.
Der Mann ging nicht weiter darauf ein, sondern fragte selbst weiter nach.
"Sind Sie glücklich?"
Die Provokationen des Mannes nahmen kein Ende und somit versuchte Edgar, sich mehrmals zu rechtfertigen, doch ohne Erfolg. Der Mann blieb hartnäckig und wiederholte seine Frage mit äußerster Gelassenheit.
"Was soll das alles?"
"Beantworten Sie doch einfach die Frage. Ich verstehe nicht, warum Sie ständig ausweichen müssen!"
Es reichte. Nun platzte Edgar endgültig der Kragen.
"Ich habe keine Zeit dafür!"
"So, so", meinte der Kauz nur und nickte scheinbar bestätigend. "Schieben Sie es nur weiter auf! Sie werden sehen, was Sie davon haben!"
"Erfüllung finde ich sicherlich nicht darin, hier den ganzen Tag zu stehen und am Abend noch eine schriftliche Ausarbeitung vorbereiten zu müssen. Aber das geht Sie auch gar nichts an! Das sind meine Angelegenheiten!"
"Wenn Sie selber sagen, dass es Sie nicht erfüllt, warum gehen Sie dem dann noch nach?"
"Das sagte ich bereits. Weil ich das Geld brauche, warum denn sonst?"
"Finden Sie das System immer noch so gut?"
Verärgert sah Edgar den Mann an, wusste auf diese Frage jedoch nicht mehr zu antworten.
"Ich mache Ihnen einen Vorschlag", bot der Mann an, kramte seinen Geldbeutel hervor und drückte Edgar einen Schein in die Hand. "Nehmen Sie das hier und nehmen sich den restlichen Tag frei. Tun Sie etwas für Ihr Wohlbefinden."
Überrascht nahm Edgar das Geld entgegen und steckte es sich schnell ein. "Ich danke Ihnen, mein Herr. Was darf ich Ihnen im Gegenzug anbieten?"
"Gelassenheit und Lebensfreude. Fleisch esse ich übrigens nicht, der Umwelt zuliebe", sagte der Mann nur und ging davon.
Überaus perplex starrte Edgar ihm hinterher, bis er in der Menge, bestehend aus anzugtragenden Männern, die einen guten Job in der Wirtschaft ausübten, zehn Fächer studiert hatten und denen Menschenrechte und der Umweltschutz sehr am Herzen lagen, verschwand.
"Fehler im System", murmelte der Student leise vor sich hin und packte seine Sachen zusammen.

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