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Reisebekanntschaft

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21.07.22 14:46
6 Ab 6 Jahren
Fertiggestellt

Ich fuhr mit einem ICE, als an einem Halt mein Sitznachbar zustieg. An der Gepäckablage hatte er ein sperriges Gepäckstück abzulegen, bevor er zielsicher den Platz neben mir ansteuerte. Zunächst sah ich nur flüchtig sein Gesicht - und trotzdem war mir sofort klar: Ich kannte ihn, absolut sicher. Er nahm höflich lächelnd den Platz neben mir ein und schaute hinaus.

Jeder kennt diese Situation, da taucht ein Gesicht auf, bekannt, oder sogar vertraut, aber woher? Man mag ja niemanden anstarren. Also schiele ich aus den Augenwinkeln hinüber zu dem Herrn in Grau. Er kommt mir ausgesprochen sympathisch vor. Ich wage schließlich, ihn anzusprechen:

„Verzeihen Sie, kennen wir uns nicht?“ Nicht originell gerade, aber was hätte ich sonst fragen sollen. Mein Nachbar wendet sich zu mir, und jetzt, da er mir in die Augen schaut, erschrickt mich seine Blässe, und der Ausdruck seiner Augen lässt mich frösteln. Er schaut eigentlich durch mich hindurch, und doch bin ich gemeint, zweifellos.

„Ja, bestimmt.“ Er lächelt fein, nachsichtig möchte ich es nennen. Ein Prominenter, den halt jeder kennt? Aber mehr gibt mein Nachbar nicht preis. Die Beine übereinandergeschlagen blickt er aus dem Fenster. Und ich greife wieder zu meinem Buch, zu dessen Handlung ich aber nicht zurück finde. Mir ist kühl, seit er den Platz neben mir eingenommen hat. Als ob die Kühle des Bahnhofs ihn noch umgäbe.

Der Mitreisende muss sehr schlank sein, nicht einmal die Oberschenkel scheinen die grauen Hosenbeine zu füllen. Und mir fällt auf, dass von ihm nicht der geringste Körpergeruch ausgeht - und nicht der Hauch von Körperwärme.

Ob dieser Mensch unter einer schlimmen Krankheit leidet, die ihn so abgemagert hat? Vielleicht liegt es daran, dass ich ihn nicht wiedererkenne.

Ich hole Atem, um noch einmal einen Kontaktversuch zu wagen. In diesem Moment verzögert der Zug seine Fahrt, und mit einer entschiedenen Geste blickt mein Nachbar auf die Uhr an seinem Handgelenk. Offenbar hat er mein Ansinnen erraten und entschuldigt sich: „Tut mir leid, ich habe einen Termin. Ich muß aussteigen.“

Noch bevor der Zug zum Stillstand kommt, begibt sich der Reisende in Grau zum Ausgang und ergreift sein eigenartig abgewinkeltes Gerät, das in schwarzen Stoff gehüllt über den Koffern und Reisetaschen hängt.

Auf dem Bahnsteig drängt sich eine aufgeregte kleine Gruppe von Menschen. Ein Mann mittleren Alters liegt auf dem Bahnsteig, das Hemd bis zur Brust aufgeknöpft. Jemand beugt sich darüber, stumm. Steht auf, als sich zwei Sanitäter mit einer Trage den Weg bahnen.

Mein Zug nimmt unmerklich sanft seine Fahrt wieder auf. Der Sitz neben mir bleibt leer. Ich taste mit meiner Handfläche nach dem Nachbarsitz: Kalt! Wo doch gerade noch jemand darauf gesessen hat.

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