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Wer von der geheimnisvollen Stille des Waldes spricht, hat keine Ahnung. Der Wald ist nicht still. Er lebt. Er atmet. Blätter rascheln, Äste knacken, Tiere schleichen durchs Unterholz. Und auf einer kleinen Lichtung, tief in einem deutschen Wald, ist da noch etwas. Es quietscht. Leise und unregelmäßig. Dort, wo die Überreste des verlassenen Zelts stehen, dessen Aluminiumstangen sich im sanften Rhythmus des Winds wiegen.
Tautropfen schimmern auf der grünen Plane, rinnen herab und verschwinden in den winzigen Rissen, die Zeit und Witterung hinterließen.
Ein Eichhörnchen huscht zwischen den Bäumen umher, die Nase knapp über dem moosbedeckten Boden. Argwöhnisch hebt es den Kopf, mustert die Gegend, saugt die vertrauten Gerüche ein, bevor es sich wieder seiner Arbeit widmet. Fast könnte man meinen, es hätte die winzigen Blutflecke am Boden des Zelts bemerkt.
Nebel zieht auf, bedeckt das Land mit seinem kalten Atem. Schatten erheben sich, wandeln umher, in Erinnerung an längst vergangene Tage. Das Quietschen des Zelts wird vom Lachen zweier Jungen übertönt.
„Mensch, Alex! Nun warte doch mal!“, rief Elias dem Rücken seines ungeduldigen Begleiters zu, der ihm immer zwei Schritte voraus zu sein schien. Einmal war er bei dem Versuch ihn einzuholen bereits gestürzt und hatte sich böse das Knie aufgeschürft. Auf einen weiteren Versuch würde er es nicht ankommen lassen.
„Jetzt hab dich nicht so“, schalt Alex. „Benutz deine langen Beine und komm hierher!“
Dankenswerterweise war er inzwischen doch stehengeblieben und Elias konnte zu ihm aufschließen, ohne Gefahr zu laufen, sich auf den letzten Metern den Hals zu brechen.
„Was denkst du?“, fragte Alex. „Sieht doch ganz nett hier aus.“
„Ist jedenfalls die erste Stelle seit einer ganzen Weile, auf der genug Platz für das Zelt wäre.“
Alex grinste von einem Ohr zum anderen. Seine Augen blitzen zwischen strohblonden Strähnen hervor, seine Grübchen wurden deutlicher. „Sag schon, dass ich das gut gemacht habe!“, forderte er.
„Hast du gut gemacht“, sagte Elias. „Niemand kann so erfolgreich planlos im Wald herumsteuern wie du.“ Er drehte den Kopf und musterte besorgt den Weg, den sie gekommen waren. Abgesehen von ein paar abgeknickten Zweigen, hatten sie keine Spuren hinterlassen. „Ich hoffe, deine Fähigkeit uns wieder heil hier raus zu bringen, ist ähnlich überentwickelt.“
„Zerbrich dir darüber mal nicht dein hübsches Köpfchen.“ Noch immer breit grinsend, zog Alex einen Kompass aus der Tasche seiner Jeans und präsentierte ihn stolz seinem Freund. „Hab ich meinem Alten geklaut.“
„Wenn das bedeutet, nicht den Rest meines Lebens in einem Wald verbringen zu müssen, werde ich mal über die moralische Verwerflichkeit deiner Tat hinwegsehen.“ Elias ließ die Tasche, in der das Zelt verstaut war von seiner Schulter auf den Boden gleiten. Jedes Jahr verbrachte sein Vater ein Wochenende mit ihm in der freien Natur und so dauerte es nicht lange, bis ihre provisorische Schlafstätte bezugsfertig war.
„Das ging ja richtig fix“, lobte Alex und kroch durch den schmalen Eingang.
„Keine Minute zu früh. Es dämmert schon.“
Die dichte Bewaldung verschluckte einen beträchtlichen Teil der Sonnenstrahlen und die Dunkelheit um sie herum verdichtete sich mit alarmierender Geschwindigkeit.
Elias fröstelte, die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf. Ob der Grund dafür das fehlende Licht, der kühle Herbstwind, oder doch Alex war, dessen Atem über seinen Nacken strich, konnte er nicht sagen. Alles, woran er in dieser Sekunde dachte, war die Ersatztaschenlampe, die noch immer auf dem Küchentisch lag, wo er sie am Morgen postiert hatte.
Alex war Elias‘ Unruhe nicht entgangen. „Ah, du musst dich doch nicht vor der Dunkelheit fürchten“, stichelte er. „Guck, ich hab uns hübsche Kerzen mitgebracht!“
„Das sind Grablichter“, stellte Elias trocken fest.
Ungerührt zuckte Alex mit den Schultern. „Was anderes gab’s nicht. Die Kassiererin hat mir zwar ‘nen bösen Blick zugeworfen, aber was soll die Alte schon tun? Ich war schließlich zahlender Kunde.“
Elias verdrehte die Augen. „Willst du vielleicht noch ein kleines Tier opfern und einen dir unbekannten, lateinischen Text rezitieren?“
„Angst?“, fragte Alex herausfordernd. Er breitete die Arme aus und schloss die Augen. „Saccharum ova lac butyrum farina. Miscere. Coquere!“
„Witzig.“
„Auf das Tieropfer verzichte ich. Hab keine Lust, jetzt ein Eichhörnchen zu fangen. Außerdem sind die niedlich.“ Stattdessen zog er ein Yes-Törtchen aus seinem Rucksack, packte es vorsichtig aus und schnitt es mit seinem Taschenmesser in zwei ungleiche Hälften. „Nimm –„
Ein Windstoß riss die vor dem Eingang drapierte Plane zur Seite, fegte durch das Zelt und ließ die aufgestellten Kerzen gefährlich flackern.
„Wahnsinn!“, rief Alex. „Guck mal, wie es den Nebel rein treibt!“
Aber Elias hatte kein Interesse an den Nebelschwaden, die seine Beine kalt umspülten. Gebannt fixierte er einen Umriss, der sich auf der Zeltwand abzeichnete. Es brauchte erschreckend wenig Fantasie, um darin etwas unmenschlich Menschliches zu erkennen, dessen Klauen – sicher nur gebogene Äste – sich öffneten und schlossen.
„Erde an Elias! Halloooo.“ Alex‘ Hand, die vor Elias‘ Gesicht wedelte, nahm diesem kurzfristig die Sicht und als er den Blick das nächste Mal auf die Plane richtete, war nichts mehr zu sehen. Da hatten ihm wohl seine überspannten Nerven einen Streich gespielt.
„Lass uns etwas essen“, schlug er vor. Alltägliche Handlungen wirkten beruhigend und das war etwas, das er jetzt gut gebrauchen konnte. Er nahm eine Hälfte des Yes-Törtchens und schob es sich in den Mund. Aus seinem eigenen Rucksack kramte er eine Flasche Orangenlimonade, zwei Äpfel und eine Tupperbox mit belegten Brötchen hervor.
Kauend ließ er seinen Blick über das Innere des Zelts schweifen. Ihre Schlafsäcke lagen zusammengerollt im hinteren Eck, neben Alex‘ Rucksack, der bis zum bersten gefüllt zu sein schien.
„Was hast du denn alles eingepackt?“, erkundigte er sich. „Sieht eher aus, als würdest du eine Weltreise statt einer einfachen Übernachtung planen.“
„Quatsch!“, wehrte Alex unwirsch ab. „Das sieht nur so aus.“
„Gib es zu“, forderte Elias, „du konntest einfach nicht ohne deinen geliebten Stoffteddy schlafen.“
„Jaah, du hast mich erwischt. Nicht ohne meinen Fluffel.“ Die Anspannung wich aus Alex‘ Gesicht und wurde durch das gewohnte Grinsen ersetzt.
Elias atmete erleichtert aus. Ein Streit zwischen ihnen war das letzte, das er wollte. Insbesondere mitten im Wald, bei Nacht, umgeben von … Bäumen. Nichts als Bäume, schärfte er sich ein. Was auch immer er gesehen zu haben glaubte, war offensichtlich lediglich eine Sinnestäuschung gewesen.
„Ich hab Karten mitgenommen“, sagte Alex zwischen zwei Bissen. „Du hast die Wahl zwischen Mau-Mau und Strippoker.“
„Danke, ich denke, ich bleibe beim Mau-Mau.“
„Langweiler.“ Geschickt teilte Alex die Karten aus. Bevor er seinen eigenen Stapel aufnahm, führte er die Hände zum Mund und blies hinein. „Arschkalt hier. Wofür haben wir bis zum August gewartet, wenn wir jetzt doch frieren?“
„Wegen des dichten Bauchwuchses kommt kaum Sonnenlicht durch und der Boden kann sich nicht aufheizen. Deshalb kühlt es so schnell ab, sobald es dunkel wird.“
„Ach Elias“, seufzte Alex. „Kannst du mir nicht einfach mal zustimmen, anstatt eine Erklärung wie aus dem Lehrbuch abzuliefern? Übrigens bist du dran.“
„Ich hätte dir jetzt auch sagen können, dass es nicht kalt ist. Eigentlich finde ich es sogar recht angenehm.“ Er warf eine Herz-Acht auf den Stapel, schmunzelte über Alex‘ schmollenden Gesichtsausdruck und spielte gleich die nächste Karte. Die beiden Siebener, die der auf der Hand hatte, würde er sich für später aufheben.
Sie hatten gerade das zweite Spiel begonnen – aus dem ersten war Elias als strahlender Sieger hervorgegangen, während Alex noch darum bemüht gewesen war, die vielen Karten auf seiner Hand zu sortieren – als Elias mechanisch nach seiner Jacke griff, die er über seinen Schlafsack geworfen hatte.
„Ha!“, rief Alex triumphierend.
„Was Ha!?“, fragte Elias verwirrt.
„Dir ist auch kalt!“
Elias erstarrte, die Jacke noch in den Händen. Alex hatte recht, seit er vor ein paar Minuten so große Töne gespuckt hatte, war es merklich kühler geworden. Seine Finger waren klamm und Gänsehaut hatte sich auf seinem Körper ausgebreitet.
„Die Kälte zieht vom Boden auf“, stellte er nüchtern fest.
„Der Boden ist noch das Wärmste hier“, widersprach Alex.
Probeweise streckte Elias die Arme nach oben und befühlte die Zeltplane, bevor er sich hinunter beugte und mit den Fingerspitzen über den Boden strich. Ja, hier war es wärmer, die kälteste Stelle schien das Zentrum des Zelts zu sein. Hatte er vielleicht irgendeinen Riss übersehen, durch den nun kalte Luft hineinströmte?
Alex‘ große Hand legte sich auf seine. „Guck nicht so besorgt. Du hast halt ein beschissenes Zelt angeschleppt, damit müssen wir jetzt leben. Ich halte dich schon warm.“
Den letzten Satz hatte Elias nicht mehr wirklich gehört, sein Blick war noch immer auf ihre Hände gerichtet; Erinnerungen bahnten sich langsam ihren Weg nach oben.
Erinnerungen an den Abend, an dem sie in seinem Zimmer auf dem Boden gesessen und Musik gehört hatten. Erinnerungen daran, wie sie gleichzeitig nach einer Kassette gegriffen und ihre Finger sich gestreift hatten. Für Elias war es Zufall gewesen, aber in den vergangenen Wochen war in ihm zunehmend der Verdacht gereift, dass das Timing zu perfekt gewesen war. Es würde zu Alex passen, die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes selbst in die Hand zu nehmen.
Elias hatte seine Hand damals genauso wenig zurückgezogen wie jetzt.
Sie hatten nie ein Wort darüber verloren. Kein Wort über die langen Umarmungen, wenn ein Abschied bevorstand. Kein Wort über ihre Hände, die manchmal wie von selbst nacheinander griffen. Kein Wort über die Art, wie Alex‘ Finger durch Elias‘ Haare fuhren und dieser wohlig seufzend die Augen schloss.
„Sag mal, können wir nicht ein Lagerfeuer machen?“, fragte Alex unvermittelt. „Ich hab mein Feuerzeug dabei.“
„Bei dem Nebel ist das Holz sicher schon zu feucht, da hilft uns dein Feuerzeug nicht weiter. Außerdem ist es hier drinnen immer noch wärmer als draußen. Lagerfeuer sind nicht ganz unbedenklich, weil nur die dem Feuer zugewandte Seite gewärmt wird. Dein Rücken kühlt weiter aus.“
Das war nur die halbe Wahrheit. Elias‘ Bedenken waren zwar nicht aus der Luft gegriffen, aber im Grunde wollte er einfach das Zelt nicht verlassen. Sofort hatte er wieder die Umrisse der klauenbewährten Pranken vor Augen, die nur darauf zu warten schienen, einen von ihnen zu packen und in die Dunkelheit zu zerren.
„Vielleicht sollten wir einfach schlafen gehen“, schlug er vor.
„Es ist erst kurz nach zehn!“, protestierte Alex. „Lass uns wenigstens noch ‘ne Runde Karten spielen. Dieses Mal mach ich dich platt!“
Nach kurzem Zögern stimmte Elias zu. Die Vorstellung, im Schlafsack zu liegen und alle Zeit der Welt zu haben, über die Umrisse, den Nebel und die Kälte nachzudenken, war nicht besonders verlockend.
In ihre Jacken gehüllt und die Schlafsäcke als zusätzliche Maßnahme um die Schultern drapiert, schafften sie es, während der nächsten Spiele – die Alex allesamt verlor – die unnatürliche Kälte zumindest aus ihren Gedanken zu vertreiben.
„Dieses Mal klappt’s!“, prophezeite Alex als er seine Karten aufnahm. „Dieses Mal m–“ Ein Rascheln ließ ihn verstummen.
Sie waren ein gutes Stück mit den Fahrrädern gefahren und dann noch mal eine ganze Weile zu Fuß quer durch den Wald gelaufen, bevor sie sich für diese Stelle entschieden hatten. Ausreichend Zeit, um sich an die Geräusche des Walds zu gewöhnen. Aber dieses Rascheln war zu nahe, um es nur am Rande registrieren und anschließend ignorieren zu können.
„Was ist das?“, fragte Alex flüsternd.
Elias lauschte angestrengt. Es klang, als wäre, was auch immer das Geräusch verursachte, höchstens zwei Meter von ihrem Zelteingang entfernt. Vielleicht näher. Er versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie der Boden der kleinen Lichtung ausgesehen hatte. Waren Äste darauf zerstreut, die knacken würden, wenn sich jemand näherte? Laub? Hatte er möglicherweise Wildspuren übersehen?
„Ist bestimmt nur ein Eichhörnchen“, versuchte er sich und Alex zu beruhigen.
„Alter, sogar ich weiß, dass diese Viecher nicht nachtaktiv sind.“
„Dann eben ein Marder“, sagte Elias achselzuckend.
„Verflucht, bin ich ein kleines Kind, dem man die Wahrheit nicht zumuten kann?“, zischte Alex. „Sag endlich, was du denkst!“
„Das habe ich gerade. Vermutlich ist es wirklich nur ein Mader, schlimmstenfalls ein Dachs und auch der wird sicher nicht in unser Zelt stürmen und uns die Haut von den Knochen fressen.“
„Herzlichen Dank für dieses Bild. Keine Wölfe oder Bären?“ Das Rascheln war noch immer unverändert nahe, kam jetzt aber von rechts; so, als würde sich etwas vorsichtig um das Zelt herumtasten.
„Die gibt es hier nicht. Auch keine tollwütigen Füchse. Wirklich gefährlich werden könnten uns wohl nur Wildschweine, die aber menschenscheu sind. Wenn du nicht gerade einen Frischling in deinem Rucksack versteckst, sollte da keine Gefahr bestehen.“
„Und warum guckst du dann, als hättest du den Sensenmann persönlich gesehen?“
Kurz überlegte Elias, Alex von seinen Bedenken zu erzählen, verwarf die Idee aber rasch wieder. Entweder, er würde ihn für hysterisch halten, oder ernst nehmen und Elias war sich nicht sicher, welche Variante er bevorzugte.
„Es ist nichts. Fühlt sich nur ungewohnt an, mit dir hier zu sein. Bisher war bei solchen Ausflügen immer mein Vater dabei und hat in Situationen wie dieser die Führung übernommen.“ Er lächelte verzagt. „Ist schon seltsam. Mir ist längst klar, dass mein Vater nicht unfehlbar ist, aber ich fühle mich in seiner Nähe trotzdem immer, als könnte sich die ganze Welt gegen uns verschwören und wir würden dennoch heil davon kommen.“
„Und mit mir ist das anders?“ Alex klang gekränkt.
Elias wusste nicht, wie er darauf antworten sollte und starrte auf seine Füße. Das Knacken eines dünnen Zweigs ließ ihn zusammenfahren.
„Das reicht“, bestimmte Alex. „Ich geh nachsehen.“ Er zog sein Taschenmesser, schnappte sich die Taschenlampe aus seinem Rucksack und war bereits im Begriff, den Reisverschluss des Zelteingangs zu öffnen als Elias ihn zurückhielt.
„Nicht. Du könntest etwas aufscheuchen.“
„Ich werde etwas verscheuchen!“
„Dann nimm wenigstens meine Taschenlampe, die ist leistungsstärker.“
In der Sekunde, in der Alex das Zelt verließ, wurde er von Dunkelheit und Nebel verschluckt. Nach ein paar Schritten konnte Elias nicht einmal den Schein seiner Taschenlampe ausmachen. Fluchend griff er nach der Lampe, die Alex zurückgelassen hatte und stürzte hinterher.
„Alex?“, wisperte er in die Stille. „Wo bist du?“
„Hier“, hörte er die Stimme seines Freundes. Er war nah, keinen Meter vor ihm. „Dieser beschissene Nebel! Ich seh die Hand vor Augen nicht!“
„Bleib wo du bist“, wies Elias ihn an. „Wenn wir zu weit weggehen, finden wir bis zum Morgen nicht mehr zum Zelt zurück.“
„Keine Sorge, ich werd ‘nen Scheiß tun und noch weiter in diesen verdammten Wald laufen!“
Das Rascheln setzte wieder ein. Etwas schnaufte. Laut. Nahe.
Elias war wie erstarrt. Alles in ihm schrie, ins Zelt zurückzustürzen, sich in Sicherheit zu bringen. Aber er weigerte sich, Alex alleinzulassen.
Das Rascheln war jetzt direkt neben ihm. Ein fauliger Hauch umwehte seinen Körper. War das Wind, der über seine schweißbedeckte Haut strich, oder heißer Atem?
Die Luft um ihn herum wurde knapp, sein Herz raste; Lichter begannen, vor seinen Augen zu tanzen.
Etwas stieß gegen seinen Schuh, fauchte laut, zog sich zurück. Das Rascheln entfernte sich, bis es kaum noch hörbar war, nur gelegentlich von Schmatzgeräuschen unterbrochen. Einige grauenhafte Sekunden verstrichen, bis er begriff, dass das Keuchen in seinen Ohren von ihm selbst stammte. Und dann lachte er.
Elias lachte bis sein Hals kratzte und seine Lungen brannten. Tränen rannen über seine Wangen und er wischte sie ungeduldig fort.
„Ein Igel!“, rief er Alex zu. „Es ist verdammter Igel!“
„Elias?“, fragte Alex verunsichert. „Bist du okay?“
Keuchend nickte er, bis ihm klar wurde, dass Alex ihn nicht sehen konnte. „Ja“, würgte er hervor, als die Hysterie, die ihn kurzzeitig erfasst hatte abebbte. „Alles in Ordnung.“
Vorsichtig tastete er sich nach vorne, bis seine Fingerspitzen über die kühle Lederjacke seines Freundes strichen. Dieser wirbelte herum, das Messer fest umklammert und bereit zum Angriff.
„Ich bin’s“, beeilte Elias sich zu sagen. „Lass uns zurück ins Zelt gehen.“
Er griff nach Alex‘ Hand und zog ihn mit sich. Erst, als der Reißverschluss fest verschlossen war und sie den Nebel ausgesperrt hatten, beruhigte sich seine Atmung allmählich.
„Es geht mir gut“, beteuerte Elias noch einmal und hoffte inständig, Alex würde aufhören, ihn so anzusehen. So abwägend. Besorgt.
Endlich erhörte dieser seine stillen Gebete und wandte sich dem Zelteingang zu. „Die ganze Aufregung wegen eines Igels?“ Er versuchte gelassen zu wirken, aber er war blass und feine Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Sein Atem bildete weiße Wölkchen vor seinem Gesicht und er rieb mit den Händen über seine Arme. „Warum ist es hier drin so verflucht kalt? Ich schwöre, draußen hatte es mindestens zwanzig Grad!“
„Die Aufregung hat dein Herz schneller schlagen lassen und deine Körpertemperatur erhöht“, erklärte Elias.
„Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“
Das tat er wirklich nicht – in den wenigen Minuten, die sie draußen verbracht hatten, schien es im Zelt sogar noch kälter geworden zu sein.
„Ich will einfach nur schlafen und diese Nacht hinter mich bringen“, erwiderte Elias lustlos.
Alex schaffte es nicht ganz, seine Enttäuschung darüber, dass der von ihm vorgeschlagene Ausflug so schief gegangen war, zu verbergen und Elias bereute seine Worte prompt.
Betreten schweigend breitete er seinen Schlafsack über dem Boden aus. Der Stoff fühlte sich klamm an, als hätte er in den vergangenen Stunden nicht in einem trockenen Zelt, sondern in dem dichten Nebel, der sie nach wie vor einhüllte gelegen.
Immer wieder warf er flüchtige Blicke auf Alex, der ihm jedoch den Rücken zugewandt hatte und an seinem Rucksack nestelte. Erneut fiel Elias auf, wie vollgepackt dieser war.
„Ich hätte eine Idee, wie uns ein wenig wärmer werden könnte“, murmelte er.
„Ach ja?“, fragte Alex unwillig.
„Köperwärme.“ Seine Stimme war heiser und wäre an diesem einzelnen Wort beinahe gebrochen.
Noch nie hatte er den ersten Schritt gemacht, bisher war es immer Alex gewesen, der Kontakt gesucht hatte. Elias hatte dann lediglich entschieden, ob er sich damit wohl fühlte oder nicht. Einen fürchterlichen Augenblick lang dachte er, Alex hätte ihn nicht gehört. Er bezweifelte, genug Mut aufbringen zu können, um sich zu wiederholen.
Langsam, ganz langsam, drehte Alex sich um und musterte ihn. „Mein Schlafsack ist für zwei Personen ausgelegt.“ Schwungvoll entrollte er ihn, zog den Reißverschluss auf und schlug die obere Hälfte zurück. Auf den Fersen hockend wartete er auf Elias‘ Reaktion.
Elias schluckte, seine Kehle war staubtrocken und seine Gedanken fuhren Karussell. Hatte er einen Fehler gemacht und Erwartungen in Alex geweckt, die er nicht erfüllen konnte? Aber wenn er jetzt wieder zurückschreckte, würde er das nicht mehr gutmachen können. Dann hätte er besser gleich schweigen sollen.
„Du guckst mich an, als wollte ich dich fressen“, stellte Alex nüchtern fest. „Denkst du echt, ich würde dich zu irgendwas zwingen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schlüpfte er in seinen Schlafsack und drehte Elias erneut den Rücken zu.
„Alex“, sagte dieser hilflos, aber sein Freund reagierte nicht.
Stumm sich selbst verfluchend, machte Elias sich daran in seinen eigenen Schlafsack zu klettern, aber auch, als er halbwegs warm und bequem lag, fanden seine Gedanken keine Ruhe. Die Sekunden zogen sich als er mit offenen Augen auf dem Rücken lag und die dunkle Zeltplane anstarrte. Schließlich stand er wieder auf.
Vorsichtig zog er den Reißverschluss des fremden Schlafsacks auf und kroch zu Alex.
„Was machst du denn da?“, brummte dieser. Vielleicht bildete Elias sich das nur ein, aber es schien, als wäre die Wut aus seiner Stimme verschwunden.
„Hab ich doch gesagt: Körperwärme.“ Die Antwort war eher ein undeutliches Nuscheln, denn sein Gesicht war in Alex‘ Jacke, die auszuziehen er sich nicht die Mühe gemacht hatte, vergraben. Elias musste nicht in den Spiegel sehen, um zu wissen, dass seine Wangen rote Flecken aufwiesen und hoffte inständig, dass das Thema beendet war und sie schlafen konnten. Wobei er sich eingestehen musste, auch nichts dagegen zu haben, noch eine Weile länger auf diese Art wach zu liegen. Wenn er tief einatmete, konnte er den vertrauten Geruch nach Holz und Leder wahrnehmen, der Alex stets umgab.
Dieser zerstörte die wunderbare Ruhe, indem er sich auf den Rücken rollte und dabei beiläufig einen Arm um Elias legte.
„Man, die flackernden Schatten sind echt gruselig“, bemerkte er. „Vielleicht waren die Grablichter doch keine so geile Idee.“
„Sie waren eine beschissene Idee“, stimmte Elias zu, ohne die Augen zu öffnen.
Der Schlafsack mochte für zwei Personen ausgelegt sein, aber Elias schätzte, dass die Testpersonen aus dem Biologielabor entwendete Skelette gewesen sein mussten. Zwei Teenager, die in den letzten Monaten einen beträchtlichen Wachstumsschub durchgemacht hatten, mussten schon sehr vertraut miteinander sein, um halbwegs bequem schlafen zu können.
Alex schien damit jedoch ziemlich zufrieden zu sein. Einen Arm hatte er um Elias‘ Schultern geschlungen, die andere Hand lag auf dessen Bauch und ging langsam auf Wanderschaft. Als sie seinen Hosenbund erreichte und spielerisch am Stoff seines Oberteils zupfte, wurde Elias unruhig, protestierte jedoch nicht, um keinen erneuten Streit zu provozieren.
Wortlos zog Alex seine Hand zurück, wandte sich dieses Mal jedoch nicht ab.
Die Minuten verstrichen und Elias stellte fest, dass er unmöglich schlafen konnte. Zu viel ging ihm im Kopf umher und seine Sorgen über das, was sich möglicherweise im Wald verbarg, kehrten mit Wucht zurück.
Zunächst war er erleichtert gewesen, als die seltsamen Umrisse nicht länger sichtbar gewesen waren, aber je länger er darüber nachdachte, umso beunruhigter wurde er. Sie hätten nicht verschwinden dürfen. Nicht so schnell. Wenn sie wirklich nur durch tiefhängende Äste hervorgerufen worden waren, hätte lediglich der veränderte Sonnenstand Einfluss auf sie gehabt und das bedeutete, sie hätten noch eine ganze Weile über die Plane wandern sollen, bevor sie endgültig verblasst wären. Und da war noch etwas, das ihm seltsam daran erschien, aber er konnte den Finger nicht darauf legen.
„Boah, Elias!“, unterbrach Alex‘ seine Gedanken. Mit der freien Hand hielt er sich die Nase zu. „Hättest du damit nicht wenigstens warten können, bis ich schlafe?“
„Was? Ich hab nicht … das ist nicht“, stammelte Elias peinlich berührt und Alex brach in Gelächter aus. Derweil erreichte der Gestank auch Elias‘ Nase. Nur mit Mühe konnte er ein Würgen unterdrücken.
„Mauzi hat mal ‘ne tote Ratte hinter unserer Waschmaschine deponiert. Das stank genauso“, stellte Alex fest und Elias fragte sich, wie er so gelassen bleiben konnte.
Ihn erinnerte der Gestank an etwas ganz anderes. An den Atemhauch, der seinen Nacken gekitzelt hatte, kurz bevor der Igel gegen seinen Fuß gestoßen war. Fauliges Fleisch und altes Blut.
Der Verwesungsgeruch nahm Elias die Luft; er glaubte beinahe, die schwere Süße schmecken zu können. So würde er keine weitere Minute im Zelt aushalten, ohne sich übergeben zu müssen.
„Wo kommt jetzt denn der Scheiß so plötzlich her?“, wollte Alex wissen und dieses Mal bemerkte Elias die Unruhe, die in seinen Worten mitschwang.
„Keine Ahnung“, brachte er hervor. Er atmete ein paar Mal tief durch den Mund, bevor er weitersprechen konnte. „Vielleicht liegt ein Kadaver in der Nähe und der Wind hat sich gedreht. Oder ein fauliger Bach.“
„Vielleicht“, stimmte Alex zu, aber es war offensichtlich, dass keiner von ihnen an diese Erklärungen glaubte.
Mit jedem Atemzug gewöhnten sich ihre Nasen mehr an den Gestank, bis er nur noch ein beständiges Hintergrundrauschen war. Eine Erinnerung daran, dass etwas nicht stimmte; die friedliche Nacht trügerisch war.
Wieder einmal war es Alex, der die Initiative ergriff und die eingekehrte Stille brach. „Mir gefällt‘s hier nicht. Lass uns einen anderen Platz suchen.“
„Das ist keine gute Idee“, antwortete Elias kopfschüttelnd. „Mitten in der Nacht, bei völliger Dunkelheit und so dichtem Nebel, kommen wir keine drei Meter durch den Wald. Bestenfalls verlaufen wir uns, schlimmstenfalls verletzt sich einer von uns schwer.“ Er hatte den Mund noch geöffnet, um Alex von den seltsamen Umrissen zu erzählen, schloss ihn jedoch wieder. Sie saßen so oder so hier fest; die Geschichte würde sie höchstens noch nervöser machen.
Ein Schrei gellte durch die Nacht.
Elias zuckte zurück, aber Alex sprang auf und zog sein Taschenmesser. Seine Hände waren zu fahrig, er schaffte es nicht, die Klinge aufzuklappen und als es nach mehrmaligen Versuchen endlich gelang, fuhr sie tief in sein Fleisch.
„Verfluchte Scheiße!“ Alex riss die Hand zurück.
Die Wunde musste tief sein, denn kleine Blutspritzer flogen durch die Luft und bedeckten ihre Schlafsäcke und den Zeltboden. Elias packte Alex‘ Handgelenk. Die Schreie ließen seine Ohren klingeln, seine Schläfen pochten schmerzhaft.
„Leg das Messer wieder weg“, sagte er so ruhig wie möglich. „Das ist nur ein Fuchs.“
„Sicher?“
Elias konnte sich nicht erinnern, Alex jemals so verängstigt, nahezu panisch, erlebt zu haben.
„Ganz sicher. Zeig mal deine Hand her.“
Der Schnitt war nicht sehr lang, aber er blutete so stark, dass Elias nicht erkennen konnte, wie tief er ging. Er kramte nach dem Verbandskasten, den er für Notfälle mitgenommen hatte, zusätzlich holte er eine Flasche stilles Wasser und die leere Tupperdose, in der die Brote verstaut gewesen waren.
„Meine Fresse, du tust ja, als hätte ich mir den Arm amputiert“, versuchte Alex seine Angst zu überspielen, scheiterte jedoch.
„Halt einmal in deinem Leben die Klappe und lass mich das machen“, wies Elias in zurecht.
Je mehr er sich auf die Wundversorgung konzentrierte, umso weiter rückte ihre derzeitige Lage in den Hintergrund; vielleicht konnte er sie kurzfristig ganz vergessen. Anders als er gerade behauptet hatte, war er sich keineswegs sicher, ob dieses Etwas, das klang als würde es Höllenqualen erleiden, tatsächlich nur ein harmloser Fuchs war. In Wahrheit hatte er keine Ahnung, ob Füchse solche Laute produzieren konnten, aber er würde alles daransetzen, Alex in diesem Zelt zu behalten. Er stellte die Tupperdose auf den Boden und manövrierte dessen verletzte Hand darüber, bevor er einen Schwall Wasser über die Wunde goss. Normalerweise wäre er dafür einfach nach draußen gegangen, aber das stand nicht zur Debatte.
„Der Schnitt ist nicht weiter schlimm“, bemerkte er erleichtert.
Vorsichtig trug er etwas Jod auf die Wunde auf. Alex verzog das Gesicht, sagte aber kein Wort und wartete geduldig, bis Elias einen provisorischen Verband angelegt hatte.
„Das sollte reichen bis wir zurück sin–“ Kühl und ein wenig spröde, trafen Alex‘ Lippen auf Elias‘.
Augenblicke kamen und gingen, ein Sturm wütete in Elias‘ Kopf. Alles, was er fühlte, war, wie richtig dieser Kuss war. Alles was er hörte, waren die Stimmen, die ihm sagten, wie falsch es war, einen anderen Jungen zu küssen. Sie wurden lauter und lauter, schwollen zu einem stetigen Chor an, der in seinen Ohren dröhnte, bis es zu viel wurde.
Energisch stieß Elias Alex von sich und sprang auf. „Was machst du denn da?“, rief er aufgebracht.
„Willst du mich denn nicht küssen?“
Elias erschrak über den Schmerz in Alex‘ Gesicht. Unwillkürlich huschte sein Blick zu der verletzten Hand, aber die war offensichtlich nicht der Grund. Es war einfach eine Zurückweisung zu viel gewesen; der berühmte letzte Tropfen.
„Es ist falsch“, sagte Elias leise.
„Für mich fühlt es sich richtig an.“
„Es hätte keine Zukunft.“
„Wir haben die Gegenwart!“ Auch Alex war aufgestanden und starrte Elias entgegen. Zorn schlich sich in seine Züge.
„Es ist unnatürlich“, sagte Elias resigniert.
Alex schnaubte verächtlich. „Du klingst wie mein Alter. Der hat jedenfalls auch entschieden, mich nicht mehr zu wollen!“
Ohne Elias eines weiteren Blickes zu würdigen, griff Alex nach seinem Rucksack, der viel zu voll gepackt war, um nur für eine Übernachtung gedacht zu sein und stürmte aus dem Zelt.
„Alex!“
Elias stürzte hinterher, aber Alex war bereits vom Nebel verschluckt worden.
„Alex!“ Verzweifelt brüllte er sich die Seele aus dem Leib, doch nur Stille antwortete. Unsicher stolperte er voran, streckte die Arme nach vorne, in der Hoffnung, das kühle Leder von Alex‘ Jacke zu streifen. Als er sich das nächste Mal umdrehte, war das Zelt nicht länger zu sehen.
Er war allein und es war stockdunkel.
Stockdunkel.
Etwas in Elias‘ Brust verkrampfte sich. Das war es, was ihn so an den mysteriösen Umrissen auf der Zeltwand gestört hatte. Er hätte sie nie sehen dürfen. Zu diesem Zeitpunkt war die Sonne bereits verschwunden gewesen, es hatte keine Lichtquelle mehr gegeben, um die Äste Schatten werfen zu lassen. Nur die Grablichter, die sie kurz zuvor angezündet hatten. Die Grablichter in ihrem Zelt.
„Es war die ganze Zeit bei uns“, flüsterte Elias mit rauer Stimme. „Alex! Bitte antworte mir! Bitte! Alex.“ Das letzte Wort war nur mehr ein Schluchzen.
Elias.
„Alex? Alex, wo bist du?“ Der Fuchs schrie.
Ich bin hier.
„Ich kann dich nicht sehen!“ Der Nebel schien immer dichter zu werden.
Ich warte auf dich.
„Laufe ich in die richtige Richtung?“ Das Atmen fiel ihm schwer.
Wirst du bei mir bleiben?
„Alex?“ Sein Körper fühlte sich plötzlich sehr leicht an.
Wirst du bei mir bleiben?
Immer.
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TamSang • Am 16.10.2017 um 13:34 Uhr | |||
Huhu Noxxy! Okay, wo fang ich an? Am besten bei meinem Problem... Ich habe das Ende Deiner Shortstory nun dreimal gelesen und bin glaube ich zu doof, es zu verstehen... Elias flüstert, das es die ganz Zeit bei ihnen war... Ja was denn? Hab ich was überlesen oder fehlt mir die Fantasy? Ist es das Böse oder einfach nur die Tatsache, dass da Licht und Schatten vorhanden waren, wo keine hätten sein sollen? Ich würde schon gerne wissen, was da genau geschehen ist... und würde mich über eine Erklärung von Deiner Seite aus freuen... (geht auch per PN) Ansonsten hab ich Freude gehabt, auch, wenn es mich nicht gruselte, weil ich das Ende nicht kapier... Grüße und Danke Tami Mehr anzeigen |
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