Autor
|
Bewertung
Statistik
Sätze: | 102 | |
Wörter: | 961 | |
Zeichen: | 5.724 |
Die Treppe
Die roten Flecken, die ins Holz der Treppe eingesickert waren und glänzten, verunsicherten sie. Bianca biss die Zähne zusammen und stieg vorsichtig weiter hinauf. Sie ließ ihre rechte Hand über das alte Holzgeländer gleiten. Es fühlte sich trotz der Sonneneinstrahlung eiskalt an.
Was sollte schon geschehen? Eine Treppe mitten im Wald? Ja, das war höchst unheimlich, zumal sie nirgends hinführte. Sie war einfach nur da, mitten in der Natur. Wer hatte sie gebaut? Wozu? Dieses Phänomen war wirklich gruselig. In Nordamerika gab es mehr davon – in Nationalparks. Staircases in Woods.
Bianca liebte Geistergeschichten, unheimliche Dinge. Sie war stets auf der Jagd. Kaum hatte jemand in diversen Internetforen etwas scheinbar Paranormales gepostet, war sie bereits vor Ort. Aber zu ihrem Leidwesen war das Meiste ausgedachter Unsinn und hatte nun wirklich nichts mit übernatürlichen Geschehnissen zu tun.
Sie hielt auf der vorletzten Stufe inne und schaute sich um. Sie war auf der Höhe von den Baumkronen des dichten Laubwaldes. Vögel zwitscherten, die Sonne blinzelte zwischen den saftig grünen Blättern hindurch. Eine leichte Brise strich Bianca übers Gesicht. Sie fröstelte. Eine Stiege galt es noch zu erklimmen. Was würde geschehen? Na, gar nichts, wie immer, spottete ihre innere Stimme.
Wieso fiel es ihr so schwer, den Fuß zu heben und weiter zu gehen? Warum zog es sie nach unten, sie hatte das Gefühl, sofort die Flucht ergreifen zu müssen. Ihre Armhaare sträubten sich, als sie ein Hauch kalter Luft streifte. Sie konnte das heftige Zittern nicht unterdrücken, als sie letztendlich den Fuß auf die letzte Stufe setzte. Unsicher und schwankend stand sie in luftiger Höhe auf der Treppe und sah in den Abgrund vor ihr. Irgendetwas war anders. Bianca rieb sich die Lider. Ein Aufwind, wie unter einem Wasserfall trieb ihr einen Schauder über den Rücken. Sie hielt sich am Geländer fest, um nicht zu stürzen. Dort unten, was war das? Direkt unter ihr? Vorher als sie die Treppe umrundet hatte, war nichts hier gewesen. Aber? Bianca wurde augenblicklich speiübel. Inmitten vor dunkelrotem Laub lag eine Frau in weißen Kleidern. Aber das Weiß war rot gesprenkelt und gefleckt. War das ein Messer in ihrem Rücken? Ein Dolch? Nein, das konnte nicht sein. Nein! Eine Bewegung. Ein dunkler Schatten, der sich von der Frau aus erhob, das Sonnenlicht schluckte und zu ihr hinaufkletterte. Diffus und eisig. Ein Geräusch hinter ihr. Stimmen? Bianca konnte jedoch den Blick nicht von dem aufsteigenden Schatten lösen. Bald würde er sie erreicht haben. Ihre Haare sträubten sich. Die Stimmen wurden lauter, kamen näher.
„He, kommen Sie da runter!“, rief jemand hinter ihr. „Los, das ist Privateigentum. Niemand darf auf diese Stufen, wissen Sie das nicht?“
Bianca erwachte aus ihrer Trance, wandte sich um und hetzte wie von Wölfen gejagt die Stiege hinunter. Sie übersah eine Stufe und stürzte in das weiche Gras. Zitternd blieb sie sitzen. Die hölzerne Treppe stand ruhig und starr hinter ihr inmitten des Waldes. Vögel zwitscherten, sangen ihre Frühlingslieder. Bianca rappelte sich vorsichtig auf. Ein Stich von ihrem Knöchel ausgehend durchzuckte ihren gesamten Körper. Doch sie blieb stumm.
„In letzter Sekunde“, murmelte ein alter Mann zu seiner jugendlichen Begleiterin. Sie standen nicht weit von Bianca entfernt und starrten auf die Treppe. Die Frau schien tieftraurig, ihr blasses hübsches Gesicht war sehr ernst. Dann wandten sich die beiden um, ohne auch nur einen Blick oder ein Wort mit der jungen Frau am Fuße der Stiege zu wechseln und gingen davon, verschwanden hinter den Bäumen. Seltsames Pärchen. Er schien ein alter Jägersmann zu sein. Die dunkelgrüne Tracht, die silbernen dazu passenden Knöpfe, der Hut mit dem Gamsbart, die geschulterte antike Schrotflinte. Die Frau an seiner Seite trug geflochtene Zöpfe und ein wunderschönes Dirndl. Ungewöhnlich. Vater und Tochter direkt von einem Trachtenball inmitten eines Waldes im Nirgendwo? Privateigentum? Abermals sah Bianca zur Treppe.
Oh nein, die weißgekleidete Frau, der Schatten, das Blut! Bianca nahm ihren gesamten Mut zusammen, ignorierte ihren verletzten Fuß, auch wenn ihr die Schmerzen Tränen in die Augen trieben und humpelte um die Holzstiege herum. Laub, Erde, Zweige, Insekten, aber keine Leiche und kein Schatten – nichts. Die Stiege knarrte plötzlich unheilvoll. Bianca sah auf, wich einige Schritte zurück und traute ihren Augen nicht. Die Treppe versank langsam im Erdboden. Minuten später war sie verschwunden, nichts mehr von ihr zu sehen. Der Wald lag friedlich da, alles schien normal. Bianca schüttelte den Kopf und humpelte verwirrt durch den Wald davon. Irgendwann, sie konnte nicht mehr, fiel ihr ein, dass sie ein Handy bei sich trug. Sie rief ihren Freund an, der sie dann gegen Abend endlich fand, um sie nach Hause zu bringen.
Bianca fand Wochen später nach eingehender Recherche heraus, dass in jenem Waldstück vor langer Zeit ein Haus gestanden hatte, ein Schlösschen. Es fiel vor über zweihundert Jahren einem verheerenden Brand zum Opfer. Es wurde total zerstört. Bewohnt wurde es seinerzeit von einer adeligen Familie. Überall, wo jetzt dichter Wald war, gab es damals Ländereien, bewirtschaftete Höfe, Wiesen Felder. Sie waren sehr wohlhabend. Bianca entdeckte im Internet ein Gemälde der Familie. Eine weiß gekleidete Frau schaute ihr aus dem Bild mit hasserfüllten Augen entgegen. Ein stattlicher Mann hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Drei Kinder umgaben das Paar. Ein Mädchen und zwei Buben. Das Mädchen trug geflochtene Zöpfe und ein Dirndl. Bianca schluckte und rieb sich die Augen. Die Frau? Das Mädchen? Bianca war sich sicher. Sie hatte zum ersten Mal eine Begegnung der unheimlichen Art gehabt.
Feedback
Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!