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Der See

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11.06.20 01:26
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Es ist so ruhig.

Das Wasser klatscht an die Wanten, Vögel kreischen, quaken oder singen wahlweise - wie sieht das Vorsegel aus? Alles gut? 
Ich gehe beruhigt auf meinem kleinen Refugium hin und her, hier prüfend, da sichernd...

Soeben habe ich meinen üblichen Ankerplatz verlassen und wechsle auf die andere Seeseite. Da, wo die Hotelgäste mich nicht direkt sehen können. Wenn sie auf dem Balkon sitzen, kann ich sonst teilweise ihre Gespräche sogar hören. Der Wind trägt vieles herüber zu mir. 
 

Aber heute Abend möchte ich nichts hören. Er ist weg.

Weg aus meinem Leben, einfach so. Ohne eine Verabschiedung, ohne irgendwelche Verabredungen oder Hilfen - einfach weg. Benjamin - mein Schutzengel, seit ich dreißig war. Ich hatte ihn damals getroffen, in Berlin. Mein Stammlokal war das Carioca in Wilmersdorf. 
An einem Adventsabend rief er mich an. Es war ein besonders übler Adventsabend, im Wohnzimmer saß ein Jemand, den ich lieber nicht kennen wollte und ich hatte nicht einmal einen Adventskranz. 
Es klingelte mein Telefon. Ich liebte dieses Telefon, es war eine Mickymaus, wenn auch noch mit Wählscheibe. So hob ich denn den gelben Hörer, gespannt, wer mich heute Abend aus meiner Misere herausholen würde - und es meldete sich Benjamin Fredemann. Das war mir neu. Da verwählte sich offensichtlich jemand und gab seinen kompletten Namen preis. Im Berlin der Achtziger eine ungewöhnliche Sache. Das machte mich neugierig. 
Er sagte nur: „Hallo, ist ja prima, dass ich dich antreffe - kommst du gleich ins Carioca, ich hätte mit dir was zu besprechen.“ 

Naja, da ich sonst nichts vorhatte, sagte ich zu. Schlechter konnte der Abend ja nicht werden.

Schon die Fahrt mit dem Bus war seltsam. Es stieg ein Mann ein, der alle Fahrgäste einer genauen Inspektion unterzog und immer wieder sagte: „Ihr seid so anders. Ihr alle seid so anders.“ In dem Moment war mir klar, dass er recht hatte. Ja, wir sind anders - jeder von uns lebt in einer eigenen Welt. 
Am Olivaer Platz stieg ich aus, in Gedanken verloren, und steuerte das Carioca an. Eigentlich nutzte ich es als Frühstückslokal, nach durchgemachten Nächten - oder mit Freunden am Wochenende. Abends war ich eigentlich nie dort. 
 

Es war Winter. Als ich in das Lokal ging, beschlug meine Brille. Ich schob mich zwischen den Gästen durch, fand die Garderobe, entwickelte meinen Schal, verlor meine Brille, wurschtelte mich aus meinem Mantel, tastete am Boden nach meiner Brille, richtete mich auf und fand einen Garderobenhaken für meinen Mantel - und hörte ein Lächeln. 
Ich sah es nicht, ich hörte es. Das war bemerkenswert. Vor allem, weil man im allgemeinen Gesprächsgemurmel eigentlich nichts hätte hören können. Ich hob den Kopf. Und sah ein freundliches, bärtiges, bebrilltes Gesicht, das ich immer schon gekannt haben sollte. Zumindest kam es mir so vor. Dieses Gesicht lächelte ein so freundliches, breites Lächeln, ich konnte nicht anders als auf es zuzustolpern. An einem Stehtisch trafen wir uns. 
„Hallo, ich bin Benjamin. Und du bist das Mädel, das ich angerufen habe. Ich habe mir die Freiheit genommen, dir ein Pils zu bestellen - das passt doch, oder?“ Ich war relativ perplex.

Später, nach weiteren zwei Absurd-Adventsabendpils, war mir klar, dass dieser Mann mich kannte. Nicht als Berliner Stalker, nein, er kannte meine ganze Geschichte - von Anfang an. Bis zu diesem Moment. Er fragte mich nach meinem Studium und meiner Einstellung dazu und mir wurde klar, dass es nicht das war,was ich wollte. „Überleg mal einen Richtungswechsel. Und habe keine Angst. Niemals.“ Dann sagte er noch, er wolle kurz für kleine Jungs - und verschwand. Ich wartete noch einige Zeit auf ihn. Dann wollte ich zahlen und erfuhr, das wäre erledigt. Naja, immerhin...

Als ich zum Bus ging, fiel mir auf, dass es hell war, und auch der Blumenladen an der Ecke hatte auf. Ich ging hinein und entschuldigte mich, dass ich so spät noch einen Adventskranz brauchte. Die Verkäuferin meinte, dass ja erst am nächsten Tag Sonntag wäre. Ich trug also einen hübschen Kranz mit weißen Schleifen und goldenen Kerzen nach Hause - in einem schwebenden Gefühl der Unwirklichkeit...

In den folgenden Jahren reihten sich niemals erwartete oder vorstellbare Ereignisse aneinander. Geliebte und eigentlich nicht mögliche Kinder, unerwartete Ehemänner und schließlich auch unerwartete Studiengänge. Völlig überraschende Wendungen in meinem Leben - und immer wieder kam Benjamin um die Ecke, unverändert und lächelnd. 
 

Er kam mir nie zu nahe. Bis gestern. Wir trafen uns in einem anderen Lieblingscafé in einer anderen Stadt, im Frühling diesmal. Keine beschlagene Brille, kein verhedderter Mantel. Aber trotz seines wie immer warmen Lächelns umfing mich eine ungreifbare Traurigkeit. Er wusste schon. Sein Arm in dem immergleichen schwarzen Mantel umfing mich und hielt mich warm. Vierzig Jahre Liebe. Solang ein Schutzengel halt da sein kann. Wir schwiegen in diesem warmen, unteilbaren, unbeschreiblichen Gefühl, das man nur in der gegenseitigen tiefen Kenntnis des anderen haben kann. Wir lächelten uns ein letztes Mal an - und trennten uns.

Jetzt bin ich auf dem Wasser, in meiner kleinen Kajüte. Die Gasflasche ist geöffnet. Morgen - ist morgen...

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Wortschriftner Am 11.06.2020 um 0:58 Uhr
Faszinierende Geschichte - und dann dieser überraschende Schluss...

Autor

ElleanderMornings Profilbild ElleanderMorning

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Sätze: 78
Wörter: 889
Zeichen: 5.169