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Blutsgeschwisterbrauch

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19.10.22 16:25
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Autorennotiz

Warnung: Erwähnung häuslicher Gewalt

Blutsgeschwisterbrauch

 

Nervös beobachte ich, wie Freddie mit der Spitze des kleinen Messers, das sie aus der Küche stibitzt hat, in ihre Fingerkuppe pikst. Ein leuchtend roter Blutstropfen tritt hervor. Es scheint gar nicht weh zu tun, sie strahlt mich an und reicht mir das Messer. „Komm‘, Cora, jetzt bist du dran! Es ist gar nicht schlimm!“ Ich presse dennoch vorsorglich die Lippen zusammen, damit mir auch ja kein Schmerzenslaut entkommen kann. Tatsächlich tut es kaum weh, auch wenn meine Hand vor kaum verborgener Anspannung etwas zittert. Auch an meiner Fingerspitze blüht jetzt ein Tropfen der roten Flüssigkeit auf. 
„Und jetzt?“ Ich schaue Freddie ratlos an. So ganz habe ich ihre Idee nicht verstanden, doch wenn Freddie einen Plan hat, kommt ein Ablehnen für mich auf keinen Fall in Frage. 
„Jetzt muss sich unser Blut vermischen, und dann …“ – sie packt mich am Handgelenk und presst ihren blutenden Finger auf meinen – „… sind wir Blutsschwestern!“

Mich durchfährt ein seltsames Kribbeln und ich habe das Gefühl, der heiße Sommertag ist gerade deutlich kühler geworden. „Du meinst wohl, Blutscousinen!“, mache ich einen Witz, um die unheimliche Stimmung abzuschütteln.
Freddie verdreht die Augen und wirft ihre dunklen Locken über die Schultern. „Nein, eben nicht! Früher waren wir nur Cousinen, aber jetzt, durch das Blutritual, sind wir wie Geschwister. Nein, sogar noch mehr als Geschwister – wir sind jetzt untrennbar verbunden, etwas von dir ist in mich übergegangen und umgekehrt!“ Sie benutzt ihre arrogante Erklärstimme, die ich nicht mag, aber ich freue mich trotzdem, jetzt quasi eine Schwester zu haben. Wir sind beide Einzelkinder und sehen uns nur ein paar Mal im Jahr bei Verwandschaftstreffen. Da wir beide deutlich jünger sind, als die anderen Cousins und Cousinen, war es von Anfang an klar, dass wir beide immer miteinander spielen würden. Ich glaube, ganz früher hatte ich sogar etwas Angst vor ihr. Obwohl sie ein Jahr jünger ist als ich, hat sie mich schon immer rumkommandiert, und mein Spielspaß war immer von ihrer Laune abhängig. Sie kann immer noch urplötzlich von fröhlich in beleidigt in wütend umschlagen, doch mittlerweile lasse ich es mir nicht mehr so zu Herzen gehen. Vor allem nicht, seitdem ich mehr über ihre Familie weiß, über ihren Vater. Es ist ein offenes Familiengeheimnis, wie er mit Freddie und ihrer Mutter umgeht, doch keiner spricht es aus, keiner fragt, woher die blauen Flecken stammen. 

„Hey, träumst du schon wieder? Hör‘ mir doch mal zu!“ Freddie rüttelt mich an den Schultern und ich schüttele rasch den Kopf. Ich will mir gerade eine Ausrede ausdenken, warum ich kurz abwesend war, da öffnet sich über unseren Köpfen ein Fenster: „Franziska, Cora! Kommt zu den Autos, wir fahren!“ 
„Ja, Tante Barbara, wir kommen!“ brüllt Freddie nach oben und zieht in meine Richtung eine Grimasse. Ich kichere. Ich bin auch enttäuscht, dass es schon Abendessenzeit ist und wir gleich ins Stammlokal der Familie fahren, in dem bestimmt schon unser Ur- und Ur-Ur-Großeltern essen gingen. Bevor wir den schmalen gepflasterten Gang zur Terrasse laufen, der von hinten, aus dem verwilderten und zu einem kleinen Bach steil abfallenden Garten unserer Oma nach oben führt, schütteln wir uns die Hände und blicken uns ernst in die Augen. Wieder kribbelt es an meinem ganzen Körper, ich habe das Gefühl, ich kann spüren, wie Freddies Blut in mich eindringt und mich zu verändern beginnt. Ich fühle mich gleichzeitig verängstigt und gut. Vor allem, als ich den Rest der Verwandschaft sehe, der sich auf vor dem Haus versammelt, fühle ich mich immer besser. Anders als die anderen, in einem tollen Sinn. Wer von denen hat denn schon eine Blutsschwester?

Ich lächle immer noch vor mich hin, als ich zu meinen Eltern ins Auto steige. „Na, was grinst du denn so geheimnisvoll?“, fragt meine Mama, die mich im Rückspiegel betrachtet. 
„Ach, es ist immer schön, Freddie wieder zu sehen!“, antworte ich, und das Lächeln, das mir meine Mutter nun schenkt, ist ein bisschen traurig. Als kleines Kind habe ich sie mal gefragt, ob ich denn in den Ferien mal ein paar Tage bei Freddie zu Besuch sein darf, und konnte damals natürlich noch nicht verstehen, warum sie mich bei dieser Familie nicht übernachten lassen wollte. 
Meistens ist es Papa, der bei uns Auto fährt, dass jetzt Mama am Steuer sitzt, zeigt mir, dass er schon ein paar Bier getrunken hat. Das ist auch etwas, das ich erst vor kurzem verstand, warum Papa meistens auf dem Hinweg fährt und Mama auf dem Rückweg. Dass er auch trinkt, wie sein Bruder, Freddies Vater, ist aber nicht so schlimm. Er wird streitsüchtig und schreit mich manchmal an, aber schlagen würde er mich nie.

Ich schaue aus dem Fenster auf die Felder, die vorbeiziehen. Manchmal sieht man Schafherden, als wir an einem Bauernhof vorbeifahren, sogar ein paar Schweine, die wegen ihrer niedlichen Steckdosennasen meine Lieblingstiere sind. Es gibt viele Sachen, die blöd an Familientreffen sind. Dass irgendwann fast alle Erwachsenen betrunken sind und sich angiften, ist eine Sache. Aber Freddie zu sehen ist toll, und die ländliche Gegend, in der Oma wohnt, mag ich auch viel lieber als die Stadt. 

Als wir ankommen, ist neben Freddie leider kein Platz mehr frei. Ich sitze neben lauter Erwachsenen und auch nachdem sie am Anfang noch versucht haben, mit mir zu reden – „Was macht die Schule? Du kommst ja bald aufs Gymnasium, freust du dich?“ – hatten sie bald keine Fragen mehr, und nun langweile ich mich bei ihren Gesprächen über Erwachsenenthemen. Während ich an meinen Pommes knabbere, werfe ich ab und zu Blicke zu Freddie hinüber. Wie, als würde sie das spüren, dreht sie dann den Kopf und lächelt mich an. Obwohl wir fast an gegensätzlichen Enden des Tisches sitzen, ist es, als wären wir durch ein unsichtbares Band miteinander verknüpft. So ist der Abend, trotz der Langeweile, schön. Weil ich mich wirklich fühle, als hätten Freddie und ich etwas Magisches getan, auch wenn es wahrscheinlich nur Kinderkram ist. Manchmal schaue ich unauffällig auf den kleinen Schnitt in meinem Finger und bin stolz. 

Schließlich ist es so spät, dass meine Mutter die erste Fuhre von müden Menschen zurück zu Omas Haus fährt. Die älteren Cousins sowie ein paar Tanten und Onkel wollen wohl noch ein paar Biere oder Schnäpse trinken, doch ich möchte nach Hause. Freddie zum Glück auch, und auch wenn es mich sonst stört, in ein so volles Auto gequetscht zu werden, dicht gedrängt neben meiner Blutsschwester zu sitzen stört mich nicht. 

Bei Oma angekommen ist es dann auch schon Zeit, schlafen zu gehen. Für uns Kinder zumindest, die Erwachsenen lassen noch „bei einem guten Glas Rotwein den Abend ausklingen“, wie Mama es ausgedrückt hat. 
„Wir können den Abend gleich bei einer guten Tafel Schokolade ausklingen lassen!“, hatte Freddie mir verschwörerisch zugeflüstert, während es in ihrer Hosentasche knisterte. 

Jetzt kauern wir gemeinsam in Freddies Bett und teilen uns nach dem Zähneputzen die Nougat-Schokolade. Ich habe ein bisschen ein schlechtes Gewissen, aber ich glaube, wenn man wirklich nur ein- oder zweimal im Jahr nach dem Zähneputzen noch etwas isst werden einem nicht gleich alle Zähne ausfallen.
„Ich habe eine ganz tolle Idee für einen Blutsgeschwisterbrauch, den wir heute Nacht noch durchführen können! Um das Band von Blutsschwestern zu verstärken, sollte man in der ersten Nacht im Bett der jeweils anderen schlafen, und zwar mit einer Haarsträhne von ihr unter dem Kopfkissen“, erklärt sie. „Dann sind wir noch stärker miteinander verbunden. Vielleicht wird unsere Verbindung irgendwann so stark, dass wir uns per Gedankenübertragung unterhalten können!“
Eigentlich glaube ich nicht an so etwas, aber heute erscheint mir alles als möglich. Deshalb stört es mich auch kaum, als Freddie mir eine blonde, glatte Haarsträhne abschneidet. Sie betrachtet mich kritisch und wuschelt mir durch den Kopf. „Sieht man wirklich kaum!“, beruhigt sie mich. Mich beeindruckt, wie sie dann eine richtig große Locke von sich auswählt und abschneidet, sonst ist sie ziemlich eitel, was ihre Haare betrifft. Aber das zeigt mir nur noch mehr, dass wir es hier mit einer großen Sache zu tun haben.
Nachdem wir die Schokoladentafel fertig gegessen haben ist mir ein wenig schlecht, und auch Freddie möchte lieber schnell schlafen gehen. Doch obwohl ich so müde bin, kann ich lange nicht einschlafen, zu geheimnisvoll hat sich dieser Tag angefühlt, und es ist, als würde Freddies Locke unter meinem Kopfkissen eine Kälte ausstrahlen, die mich nicht entspannen lässt. Ich lasse meine Blicke über die altmodischen Tapeten wandern. Das hier war das Jugendzimmer eines meiner Onkel, und die Tapeten in den leuchtenden Orange- und Brauntönen wurden nicht mehr ausgetauscht, seit solche wilden Muster cool waren. Im Dämmerlicht wirken die symmetrisch angeordneten großen und kleinen Kreise aber irgendwie beruhigend und irgendwann schlafe ich dann endlich ein. 

Eigentlich hatte ich gehofft, etwas Spannendes zu träumen, etwas, das vielleicht mir und Freddie die Zukunft voraussagt, doch als ich früh morgens ruckartig erwache, kann ich mich gar nicht erinnern, überhaupt etwas geträumt zu haben. Ich muss dringend auf die Toilette, also schwinge ich meine Beine aus dem Bett und schleiche über den knarzenden Holzflur in das kleine Badezimmer. Die Tür ist von innen verschlossen, weshalb ich für ein paar Minuten ungeduldig von einem Bein auf das andere trete. Endlich öffnet sich die Tür und Tante Barbara kommt heraus. „Guten Morgen, Franziska!“, sagt sie, doch ich nehme sie kaum zur Kenntnis, so eilig habe ich es, an ihr vorbei hinein zu stürmen. Erst, als ich die Tür hinter mir verschlossen habe, dämmert mir langsam der Inhalt ihrer Worte. Ich drehe mich zum Spiegel und Freddies Gesicht, umrahmt von wilden, dunklen Locken, aus denen eindeutig jemand unprofessionell eine Strähne herausgeschnitten hat, starrt mich verängstigt an.

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Kurzbeschreibung

Als ihre Cousine Franziska, genannt Freddie, aus Cora ihre Blutsschwester macht, ist die sehr geehrt. Und obwohl Blutsgeschwisterschaft doch bestimmt nur Kinderkram ist, fühlt sich alles viel zu geheimnisvoll an ...

Kategorisierung

Diese Story wird neben Mystery auch im Genre Familie gelistet.

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