"Trotz allem glaube ich immer noch, dass die Menschen
tief in ihrem Herzen gut sind."
Anne Frank
"Was machst du denn da unten? Komm endlich raus", rief Rudolf, ein junger dunkelhaariger Mann, dessen ernste Gesichtszüge erahnen ließen, dass er in seinem kurzen Leben bereits viel Leid miterlebt hatte.
"Wartet auf mich", ertönte es aus dem Graben. Dort unten saß Peter zusammengekauert, nachdenklich an einem Stift kauend, ein vollgekritzeltes Stück Papier vor sich. "Ich muss den Brief an meine Frau noch fertig schreiben."
Peter war ebenfalls ein junger Mann, wenngleich vermutlich einige Jahre älter als Rudolf. Doch was für eine Rolle spielte dies schon, hatte er doch den selben gleichgültigen, versteinerten Gesichtsausdruck aufgesetzt.
"An Margret?", fragte ihn Hans, der älteste der drei. Das Gespräch hatte er nur beiläufig mitverfolgt. In erster Linie widmete er seine Aufmerksamkeit seiner mit Blut und Schmutz befleckten Uniform, die er halbherzig versuchte, etwas sauberer zu bekommen. Seine ehemalige Lebensgefährtin hatte ihm stets regelrecht eingetrichtert, sich um sein Äußeres zu sorgen. Ein Überbleibsel aus alter Zeit, die Macht der Gewohnheit. Er nahm die Pickelhaube vom Haupt, strich sich durch das bereits ergraute Haar und fuhr sich durch den Schnurrbart.
"Ja, an Margret", antwortete Peter, der offenbar die erhoffte Inspiration gefunden hatte und jetzt weiter fleißig schrieb, bis das Papierstück derart vollgekritzelt war, dass kein weiteres Wort mehr Platz gefunden hätte.
"Was schreibst du hier schönes?", erkundigte sich Rudolf und warf seinem Kameraden einen neugierigen Blick zu, bevor er weiter sein Gewehr reinigte. Sie alle schienen gefangen in ihrer eigenen Welt.
"Dies und das", gab Peter nur zurück, faltete den Brief, steckte ihn in einen bereits beschrifteten Umschlag und verstaute ihn in den Tiefen seiner Tasche.
"Bisschen konkreter bitte", bat Hans. "Ich benötige noch Inspiration. Muss Gertrud auch noch einen Brief schreiben. Habe das versprochen."
"Also gut", setzte Peter an. "Ich habe ihr von Ypern erzählt. Glaube, dass die Stadt eigentlich ganz schön sein könnte, wäre sie nicht Schauplatz dieser Kämpfe. Naja, ich berichte ihr halt von den Erlebnissen an der Westfront. Dies und das, ihr wisst schon. Habt ja das gleiche erlebt. Habe ihr erzählt, dass Joseph vor zwei Tagen gefallen ist, oder waren es zwei Wochen? Zwei Monate? Ist auch egal, jedenfalls weilt er nicht mehr unter uns. Armer Teufel!"
"Armer Teufel", stimmten die anderen beiden wie im Chor an, nickten betrübt und sahen melancholisch zu Boden. Rudolf ließ seine Waffe unwillkürlich sinken.
"Außerdem", fuhr Peter fort, "erzählte ich ihr von dem Waffenstillstand. Also dem vorübergehenden Frieden."
"Der Kaiser will es nicht", unterbrach ihn Hans.
"Scheiß auf den Kaiser", meinte Rudolf und seine Miene verfinsterte sich wie der klare Himmel im Sommer durch ein plötzlich entstehendes Gewitter getrübt wird.
"Wie auch immer. Jedenfalls soll sie wissen, dass es mir gut geht, dass ich noch lebe. Ich habe ihr versprochen so bald wie möglich nach Hause zu kommen. Und sie soll meine Tochter von mir küssen und ihr frohe Weihnachten wünschen."
"Versprich nichts, was du nicht halten kannst", empfahl ihm Rudolf. Er half seinem Freund aufzustehen. Mühsam kam Peter aus dem Graben hervorgekrochen und richtete sich langsam auf. "Joseph hat seiner Frau auch versprochen, dass er bis Weihnachten bei ihr ist. Siehst ja, was draus geworden ist."
Rudolf kratzte sich nachdenklich am Bart.
"Du hast eine Tochter?", fragte Hans.
"Ja", antwortete Peter. "Sie heißt Elisabeth. Sie kennt mich jedoch nicht. Ist erst vor zwei Monaten geboren worden."
"So, so", meinten die anderen nur und hingen wieder ihren eigenen Gedanken nach.
Wie sie wohl ist, die Kleine, fragte sich Peter. Ob sie wohl ihm glich oder doch eher Margret? Hatte sie seine blauen oder ihre grünen Augen? Sein blondes oder ihr braunes Haar? Hatte sie sein Temperament oder ihre Bequemlichkeit? Würde er, Peter, jemals die Antworten auf all diese Fragen herausfinden?
"Seht, dort hinten!"
Die aufgebrachte Stimme Rudolfs riss sie aus ihren Gedanken. Ihre Körper wurden automatisch in einen Zustand der Schockstarre versetzt. Das Blut geriet in Wallung, das Herz pochte wie eine außer Kontrolle geratene Wasserpumpe. Gespannt folgten sie der Richtung des ausgestreckten Zeigefingers ihres Freundes und erblickten in der Ferne drei Soldaten.
"Der Feind! In Deckung!", schrie Hans instinktiv und Peter und er warfen sich augenblicklich in den Graben. "Sind es die Franzosen?", fragte Peter.
"Ihr Narren", fuhr Rudolf sie an, der sich nicht von der Stelle bewegt hatte und wie ein Fels in der Brandung die Stellung hielt. "Sie tun uns nichts! Habt ihr vergessen? Waffenstillstand!"
Just in diesem Augenblick ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Das Rattern eines Maschinengewehrs ertönte und Rudolfs Augen weiteten sich vor Entsetzen. Die planke Panik, die unbeschreibliche Angst um das eigene Leben bemächtigten sich seiner, als er gewahrte, dass die Soldaten ihn ebenfalls bemerkt hatten und einer der drei seine Waffen genau auf ihn richtete. Die Kugeln, die ihr Ziel nur um wenige Millimeter verfehlten, sodass Rudolf bereits den Windzug dicht an seinem Ohr spüren konnte, galten ihm.
Mit einem Hechtsprung beförderte er sich schließlich selbst in den Graben zu seinen Freunden.
"Es sind die Briten", stellte er fest, den Angstschweiß auf der Stirn. Es erfolgten weitere Geschosse unmittelbar über dem Boden, was es den dreien unmöglich machte, aus ihrer Deckung hervorzugehen.
"Von wegen Waffenstillstand", echauffierte sich Peter. "Die wollen uns umbringen!"
Doch die Geschosse hörten auf. Hans griff zu seinem Gewehr, um den Angriff zu erwidern, doch Rudolf hinderte ihn daran.
"Lass es! Sie haben aufgehört! Auch sie haben vergessen, dass Waffenstillstand ist! Ihr Angriff war eine instinktive Reaktion!"
"Instinktiv? Ich bringe die um", brüllte Hans und wollte hervorspringen, was ihm auch gelungen wäre, hätten die anderen beiden ihn nicht festgehalten.
"Beruhige dich, Hans. Er hat Recht", meinte auch Peter und die drei ließen sich wieder nieder.
Schwere Stiefel polterten über den unfruchtbaren, von Stahl und Blut übersäten Boden und näherten sich bedrohlich.
"Sie werden uns nichts tun", beruhigte Rudolf seine aufgebrachten Freunde, die voller Angst den sich nähernden Feind erwarteten.
Peter nahm ein weißes Taschentuch hervor, hob den Arm und winkte damit aufgeregt hin und her. Im Anschluss erhoben sich die drei und kletterten langsam aus ihrer Deckung hervor, das Taschentuch weiterhin schwenkend. Als sie aus dem Graben hervorgetreten waren, sahen sie sich im Abstand von etwa zehn Metern den drei britischen Soldaten gegenüber, die ebenfalls völlig allein unterwegs waren.
Wenngleich ihre Gesichtszüge aus der Entfernung nicht eindeutig zu erkennen waren, so musste ihr traumatisierter Ausdruck doch beinahe einem Blinden auffallen. Peter erkannte sich sofort selbst in den feindlichen Soldaten. Zwei von ihnen waren ungefähr in seinem Alter, der dritte ähnelte Hans.
Ob sie wie wir auch einen Mann verloren haben, fragte sich Peter.
Die Engländer klammerten sich an ihre Gewehre, doch ihre Hände zitterten, sodass sie nicht richtig zielen konnten. Rudolf, Hans und Peter hoben die Arme.
"Kann einer von uns Englisch", fragte Peter, der selbst nur über stark eingeschränkte Sprachkenntnisse verfügte. Hans zuckte die Achseln. Rudolf reagierte nicht.
Die feindlichen Soldaten setzten behutsam einen Schritt vor den anderen und kamen langsam näher.
"Germans", rief Rudolf ihnen zu. Demonstrativ wies er auf seine Pickelhaube.
"Merry Christmas", erhob Hans das Wort.
War etwa schon wieder Weihnachten, fragte sich Rudolf! Ach ja, natürlich. Peter hatte ja vorhin seiner Frau einen Weihnachtsbrief geschrieben. Wie lange dies schon her schien. An diesem Ort konnte die Zeit manchmal stehen bleiben, unerträglich lang sein. Doch manchmal zog sie regelrecht an einem vorbei wie ein Reiter mit seinem Pferd, wie ein wahnhafter Fiebertraum, der die Grenzen von Raum und Zeit auflöste und die Wahrnehmung verzerrte. Wie lange waren sie bereits an der Westfront? Gefühlte zehn Jahre, zehn einsame Weihnachtsfeste. Doch das konnte nicht sein. Dies hier musste das erste Weihnachten sein! Doch was für eine Rolle spielte das schon?
Da es ihm am nötigen Vokabular mangelte, die Briten zu fragen, ob sie sich zu ihnen gesellen wollten, bemühte sich Peter sein Anliegen mithilfe von energischen Armbewegungen und ausgefallenen Gestiken zu kommunizieren. Die Engländer schienen instinktiv zu begreifen, hielten in ihrer Skepsis jedoch weiterhin Abstand, die Waffen nach wie vor erhoben.
"Look", forderte Hans sie auf und als er sich sicher war, dass ihm die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Engländer gewidmet war, nahm er seine Pickelhaube vom Kopf und warf sie vor sich auf den Boden. Seine Mitstreiter taten es ihm gleich, doch die feindlichen Soldaten, die bisher noch keinen Ton von sich gegeben haben, reagierten verhalten.
"Singen?", rief Peter ihnen auf Deutsch zu, in der Hoffnung, man würde ihn verstehen.
Plötzlich erhob der Brite, der Hans ähnelte, das Wort und zu Peters großem Erstaunen sprach er auf Deutsch, wenngleich mit einem unverkennbaren Akzent:
"Eher würde ich sterben als auf Deutsch zu singen!"
"Ließe sich einrichten", schmunzelte Hans und ohne dass er sich widersetzen könnte, wanderte seine Hand automatisch in Richtung seiner Waffe und umklammerte den kalten Griff.
Rudolf stieß seinem Freund mit dem Ellenbogen in die Rippen, um ihm zu signalisieren, dass er sein Vorhaben unterlassen sollte und Hans ließ die Waffe wieder los.
Stattdessen stimmte Rudolf mit freudiger Stimme ein in England beliebtes Weihnachtslied an:
"Jingle bells, jingle bells
Jingle all the way,
Oh what fun it is to ride
In a one-horse open sleigh..."
Seine Kameraden stiegen ein und sangen so laut sie konnten, wenngleich sie den Text nicht verstanden. Je weiter sie im Lied fortschritten, desto sanfter wurden die Gesichtszüge der Briten, auch desjenigen, der soeben gesprochen hatte.
"Dashing through the snow
In a one-horse open sleigh
Through the fields we go
Laughing all the way.
Bells on bob-tail ring
Making spirits bright
What fun it is to ride and sing
A sleighing song tonight."
Ohne Vorankündigung stiegen auf einmal auch die Briten ein und alle sechs Soldaten sangen gemeinsam mit größtmöglicher Inbrunst das Weihnachtslied. Mehrstimmig ertönte es, ein Chor aus unterschiedlichen und zumeist tiefen Männerstimmen. Der individuelle Klang eines Jeden erkennbar und doch verschmolzen mit dem großen Ganzen. Durch die karge, leicht mit Schnee bedeckte, trostlose Landschaft, vom eiskalten Winde durch die Welt über Wiesen und Wälder, Städte und Dörfer getragen, schallte es immerzu und immerzu, immerfort und immerfort:
"Jingle bells, jing-jingle bells
Jingle all the way,
Oh what fun it is to ride
In a one-horse open sleigh, brruup
Jingle bells, jingle bells
Jingle all the way,
Oh what fun it is to ride
In a one-horse open sleigh."
Als sie alle geendet hatten, ließen die Briten endlich ihre Waffen sinken und alle Soldaten lachten laut auf.
Der Himmel hatte sich verfinstert und die Sonne war hinter den Bergen verschwunden. Der Wind pfiff erbarmungslos und erzeugte ein unangenehmes Gefühl.
Die sechs Soldaten hatten sich im Kreis um ein Lagerfeuer versammelt, welches Hans entzündet hatte, um der entsetzlichen Kälte entgegenzuwirken, die die Dunkelheit und einbrechende Nacht mit sich brachte.
Es stellte sich heraus, dass der Deutsch sprechende britische Soldat, ein Mann mittleren Alters mit einem Schnurrbart, Francis hieß und er die Sprache während eines mehrjährigen Aufenthaltes im Deutschen Reich erlernt hatte. Er war damals als freischaffender Schriftsteller tätig, bevor er für sein Heimatland in den Krieg ziehen musste. Seine Frau kam bei einem deutschen Angriff ums Leben, wie er, den Tränen nahe, berichtete.
Der jüngste der drei Soldaten, ein achtzehnjähriger Bursche aus Manchester, trug den Namen Ethan. Er musste seine Freundin zu Hause zurücklassen. Eine Schulbildung hatte er nie genossen und sprach dementsprechend kein Deutsch.
Der dreiundzwanzigjährige Winston, ein ehemaliger, allein lebender Jura-Student, war, wie sich herausstellte, bereits zu Beginn des Krieges am Arm verletzt worden. Eine Kugel traf ihn mitten in den Oberarm und zersplitterte. Behandelt werden konnte er nicht, noch nicht einmal verbunden wurde die Wunde.
"Show me", bat Rudolf.
"Wo hat der eigentlich Englisch gelernt?", flüsterte Hans Peter zu, woraufhin dieser nur den Kopf schüttelte.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht krempelte der gutaussehende Winston den Ärmel seines rechten Armes hoch und legte eine entsetzliche Wunde bloß, die, wenngleich sie bereits zugewachsen war, erahnen ließ, welch schlimme Schmerzen sie bereitete.
"Poor guy", sagte Rudolf. "Wait! Wait!"
Der Soldat wühlte entschlossen in seinen Sachen und kramte schließlich eine Art Verband hervor.
Winston ließ ihn gewähren und sah zu, wie Rudolf die Wunde verband, was die Schmerzen augenblicklich linderte.
"Danke", flüsterte der Engländer und setzte ein warmes Lächeln auf. Das sich in seinen Augen spiegelnde Feuer, offenbarte ein von Tränen stammendes Glitzern in denselben.
Francis begann in einwandfreiem Deutsch zu sprechen:
"Entschuldigt bitte, dass wir vorhin auf euch geschossen haben. Wir dachten nicht an den Waffenstillstand und daran, dass Weihnachten ist. Es war eine instinktive Handlung, wir konnten uns dem nicht erwehren. Bitte vergebt uns!"
"Sei unbesorgt", versicherte ihn Peter. "Auch wir hätten wohl so gehandelt an eurer Stelle. Der Krieg ist Schuld! Ich habe das Gefühl, es hat nie etwas anderes gegeben und die Befürchtung, es wird nie etwas anderes geben. Krieg ist unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart, unsere Zukunft."
"Nach dem Krieg wird es kein Leben mehr für uns geben", pflichtete Hans seinem Kameraden bei. "Unabhängig davon, ob wir an der Front sterben, später im Krankenhaus oder tatsächlich überleben. Egal ob tot oder lebendig, das Leben ist nach dem Krieg vorbei. Vorausgesetzt, er wird überhaupt enden. Ich nehme eher an, dass er uns alle überdauern wird."
Winston und Ethan verfolgten das Gespräch aufmerksam und obwohl sie kein Wort verstanden, schienen sie doch in gewisser Weise alle die gleiche Sprache zu sprechen und sich alle instinktiv zu verstehen. Jedenfalls war dies ihren Reaktionen zu entnehmen. Sie blickten betrübt zu Boden, der Blick starr ins Leere gerichtet. Die ausdruckslosen Augen offenbarten die Abgründe ihrer Seele. Die aufgerissenen Gräben, das wilde Gebrüll, der Anblick von Kameraden die an der eigenen Seite fielen, Zischen von Granaten, Rattern von Gewehren, offene Wunden aus denen das Blut hinausströmte wie aus einem Springbrunnen. All dies äußerte sich in ihren Augen.
"Meistens handelt der Mensch instinktiv, seinen Gefühlen entsprechend und aus den Trieben heraus. Die Vernunft stellt hierbei nichts anderes als eine Absicherung dar, eine höhere Instanz, die sich nur meldet, sobald eine affektgesteuerte Handlung kurz vor dem Eintreten ist, welche gegen bestimmte gesetzliche oder moralische Prinzipien verstößt. Die Vernunft kann folglich mit einem Gericht verglichen werden. Sie resultiert aus Erziehung und angeborenen Verständnis, inklusive den sich aus Umfeld und Gesellschaft ergebenden Normen und universell gültigen Werten", meinte der britische Schriftsteller.
"Wer uns das hier angetan hat, verfügt über keinerlei Verstand", stellte Rudolf verbittert fest und warf noch ein am Boden liegendes Geäst ins Feuer, um selbiges nicht erlöschen zu lassen. Währenddessen klopfte er dem verletzten Winston aufmunternd und kameradschaftlich auf die Schultern.
Alle nickten zustimmend. Peter betrachtete die Briten aufmerksam und ein schrecklicher Gedanke kam in ihm auf.
Was wenn einer dieser Soldaten, mit denen er gerade friedlich vor einem Feuer saß, seinen Freund Joseph ermordet hatte? Er blickte in das verstörte und tiefstes Mitleid erregende Gesicht von Ethan. Wie konnte ein solch armer, bedauerlicher Junge zum Mörder werden? Dieser arme, bedauerliche Junge, konnte der Mörder von Joseph sein oder zumindest der Mörder irgendeines Freundes eines deutschen Soldaten.
Peter dachte an sich selbst. Ja, auch er war in den letzten Monaten vermehrt zum Mörder geworden. Er, der er nie jemals irgendjemandem Leid zufügen wollte, er, der immer schon gerne Arzt werden wollte, um den Notleidenden dort draußen zu helfen, ja, er hatte dem Freund von jemandem das Leben genommen. Nicht nur den Freund, sondern auch den Bruder, den geliebten Sohn, womöglich den Ehemann, den Vater. Er, Peter, der junge Soldat, der Mann aus einfachem Hause, dem Kämpfer des Deutschen Reiches an der Westfront, hatte Familien zerstört, weinende Frauen, verzweifelte und Hunger leidende Kinder zurückgelassen, schreckliche Schicksale besiegelt. Er war schuldig, ob er es wahrhaben wollte oder nicht! Es zählte nicht, wer er im Innern war, was er vorhatte. Entscheidend waren nur die Taten. Der Krieg ist die einzige Wahrheit. Der Krieg lügt nicht! Und Peter musste unwillkürlich erschaudern, da sich sein Magen krampfhaft zusammenzog und eine Eiseskälte seinen Körper elektrisierte.
"Zum Glück haben wir uns noch nicht vorher erschossen. Sonst hätten wir uns ja niemals kennenlernen können", stellte Hans fest und reichte Ethan die Hand.
"Entschuldigt mich bitte einen Moment", unterbrach ihn Francis, der von dannen schritt.
"Wo willste denn hin", rief Peter ihm nach, doch der Soldat antwortete nicht und war alsbald in der Dunkelheit entschwunden, dessen Schatten ihn verschlangen.
"Your girl awaits you?", fragte Rudolf Ethan. Der Junge hatte sich im Laufe des Abends als überaus ruhig und in sich gekehrt herausgestellt. In den vergangenen Stunden hatte er kaum gesprochen. Rudolf war es unmöglich festzustellen, ob es sich hierbei um eine Folge der schrecklichen Ereignisse, die der arme Mann in soch jungen Jahren hat miterleben müssen, handelte oder ob dies eine natürliche und angeborene Eigenschaft des Gemüts und des Wesens darstellte, die ihm bereits seit Anbeginn seiner Existenz zu eigen war. Nichtsdestotrotz versuchte der Deutsche, den Engländer zu integrieren, um ihm nicht das Gefühl zu vermitteln, er sei von der Gruppe ausgeschlossen.
"I hope so", gab dieser nur stumm zurück, ohne Rudolf anzusehen. Sein Blick blieb weiter starr auf den Boden gerichtet.
"She does, believe me", munterte Rudolf den Jungen auf und klopfte auch ihm auf die Schultern. "You are a good boy! Stay strong!"
Zum ersten Mal an diesem Abend richtete Ethan den Blick nach oben, sodass er seinem Gesprächspartner direkt ins Gesicht sehen konnte.
"Danke", murmelte er und lächelte dabei.
Eine Zeit lang war nichts mehr zu hören, abgesehen von dem Knistern des Feuers. Alle Privatgespräche waren eingestellt. Vermutlich mussten alle Beteiligten zunächst einmal verarbeiten, in welch skurriler Situation sie sich befanden.
Es ist wirklich unglaublich, dachte Peter. Gestern schossen sie sich noch gegenseitig ab, heute sitzen sie zusammen nebeneinander.
"Was gäbe ich für einen Schnaps", seufzte Hans plötzlich und unterbrach damit die Stille. An den stetigen Hunger waren sie alle mittlerweile gewöhnt. Sie waren abgehärtet. Doch auf den Alkohol war nur schwer zu verzichten, bedurfte man schließlich seiner, um das Not und Elend in diesen schwierigen Zeiten ertragen zu können.
Kurz darauf kehrte endlich Francis zurück, in der rechten Hand einen aus den Überresten von alten Kleidungsstücken (vermutlich Uniformen von gefallenen Soldaten) zusammengebastelten Fußball, in der linken Hand...eine Flasche Schnaps!
"Dich schickt der Himmel", rief Hans in seiner Freude aus.
"Wo hast du das denn her?", erkundigte sich Peter ungläubig und sprang sofort auf.
"Notfallreserve", erfolgte prompt mit einem Augenzwinkern die Antwort. "Wer will Fußball spielen?", fragte Francis freudestrahlend in die Runde.
Wenngleich die Sonne schon längst untergegangen war und das Land in Finsternis gehüllt hatte, so spendeten der Vollmond und die vielen Sterne am Firmament doch genug Licht, zumal auch das Lagerfeuer als zusätzliche Lichtquelle diente, um in der Nacht spielen zu können.
Die Soldaten hatten zwei Dreiergruppen gebildet und ließen die beiden Mannschaften gegeneinander antreten. Hans spielte zusammen mit Francis und Ethan, die andere Gruppe bildeten Rudolf, Peter und Winston.
Nachdem sie das kleine Spiel mit dem Ball, der sich als überaus widerstandsfähig und für ihre Zwecke tauglich erwies, wurde die Flasche geöffnet. Jeder trank einen großen Schluck und reichte die Flasche dann weiter. Bald darauf, war sie leer und die Stimmung rund um das Lagerfeuer heiter.
Die Soldaten tanzten um die Flammen herum und warfen gespenstische Schatten auf den Boden. Sie sangen gemeinsam, lachten über Witze, erzählten sich persönliche Geschichten aus einer besseren Zeit, bevor das Elend seinen Lauf nahm und erfreuten sich allgemein des Lebens.
Zu ganz später Stunde überfiel eine große Müdigkeit die Männer, was sie dazu veranlasste, sich niederzulassen und das wilde Feiern einzustellen. Schlaf kam jedoch nicht in Frage. Dafür war die gemeinsame Zeit viel zu kostbar. Und sie war endlich...
"Morgen früh, wenn der Tag anbricht, werden wir aufbrechen müssen", verkündete Francis. "Wir können es uns nicht erlauben, noch länger hier mit euch zu verweilen. Wir müssen uns am Stützpunkt melden. Der Krieg wird in den nächsten Tagen fortgesetzt."
"Verstehe", gab Peter zurück. "Ich bin des Kämpfens überdrüssig."
"Geht mir genauso", stimmte Rudolf zu. "Aber wir haben keine Wahl. Wir haben eine Pflicht zu erfüllen."
"Für Volk und Vaterland", ergänzte Hans mit einem nicht zu übersehenden Anflug von patriotischem Stolz.
"Was ist schon dieses Vaterland", entgegnete Peter. "Auf nichts hast du so wenig Einfluss wie auf den Ort und den Zeitpunkt deiner Geburt. Mir ist nicht einsichtig, wie ich auf etwas, das sich derart meiner Kontrolle und Verantwortung entzieht und nicht durch mein Handeln beeinflusst werden kann, stolz sein könnte. Das Vaterland teilen wir mit Millionen anderen Deutschen, Kamerad. Das ist keine Leistung!"
"Schon gut, Peter", reagierte Hans abwehrend und sah leicht beschämt zu Boden, da er erkannte, wie unangebracht seine Aussage in Anbetracht der gegenwärtigen Umstände tatsächlich war.
"Hey Francis", sprach Rudolf um das Thema zu wechseln. "Findest du England schön?"
Der Brite runzelte die Stirn als müsse er angestrengt nachdenken. Schließlich brummte er:
"Das war es jedenfalls. Es ist meine Heimat. Ob es das immer noch ist, wenn ich wiederkehre, sollte ich überhaupt wiederkehren, weiß ich nicht."
Rudolf fragte nicht weiter nach.
"Übrigens", setzte Francis erneut an, griff in seine Tasche, kramte Tabak hervor und überreichte diesen den drei deutschen Soldaten.
"Frohe Weihnachten!"
"Merry Christmas!", erwiderten die Deutschen.
Wie lange hatten sie schon nicht mehr rauchen können? Tabak war zum Luxusgut geworden. Doch in jener Nacht konnten sie davon endlich nochmal Gebrauch machen. Wie sie so die von der Pfeife hervorgerufenen Rauch beobachteten, der in Kreisen und Kringeln emporstieg und sich wie Nebel auflöste, überfiel sie eine ungeheuerliche Sehnsucht, die mit schwerer Melancholie einherging.
"Ob ich sie je wiedersehen werde?", hauchte Peter mehr zu sich selbst als zu den anderen und dachte an den Brief, der sich noch in seiner Tasche befand.
"Das wahre Wesen des Menschen offenbart sich erst in Extremsituationen", meinte Francis ebenfalls mehr zu sich selbst sprechend.
"Du weißt wirklich sehr viel", staunte Rudolf. "Woher hast du all das Wissen?"
"Mit Wissen wird man geboren. Man erlernt es nicht. Das ist nur Bildung. Diese beiden Bereiche dürfen nicht verwechselt werden."
"Bildung ist nutzlos, wenn man so endet wie wir", meldete sich Hans zu Wort. "Alles sinnlos, alles vergeblich. Jetzt hausen wir hier wie die Tiere. Und dafür haben wir die Schulbank gedrückt?"
"Ich verstehe deinen Unmut", tröstete ihn Francis. "Manchmal weiß ich selbst nicht, ob ich das hier überleben will."
"Francis", meinte Peter plötzlich. "Sollte ich einen von deinen Freunden getötet haben, so tut mir dies schrecklich Leid. Ich möchte, dass du das weißt."
Dieser nickte nur verständnisvoll. "Weißt du, Peter. Sollte ich dich töten, so tut mir dies ebenfalls schrecklich Leid."
Wie er dies vernommen, musste Peter zunächst einmal schlucken. Die restliche Nacht beteiligte er sich nicht mehr an dem Gespräch.
Die Stunden vergingen wie Minuten. Die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die Dunkelheit, schwarze Wolken verschwanden, die Sterne verließen den Horizont und wichen warmem Sonnenlicht. Der Schnee begann zu schmelzen und alles war in wunderschönes Morgenrot getaucht.
Entgegen ihrer ursprünglichen Absicht, waren die Soldaten doch noch eingeschlafen, wenn auch nur für maximal zwei Stunden. Das Tageslicht hatte sie alle mehr oder minder gleichzeitig erwachen lassen.
Peter schlug die Augen auf, da er aus einem bösen Traum erwachte, rollte sich instinktiv zur Seite und sah sich panisch um. Als er seine alten und neuen Kameraden um sich herum erblickte, beruhigte er sich jedoch augenblicklich wieder. Die Erinnerungen kamen zurück. In der Nähe dieser Männer fühlte er sich wohl und geborgen, auch wenn ihm völlig bewusst war, dass sie sich in dieser Konstellation wohl nie wieder begegnen würden. Dies war traurige Gewissheit! Ereignisse wiederholen sich nicht. Die Zeit ist dem stetigen und unaufhaltsamen Wandel unterworfen und vor allem der Krieg manipulierte die Zeit aufs Äußerste. Nichts würde wieder so werden wie es war.
Francis half seinen beiden Kameraden auf die Beine, unterhielt sich kurz auf Englisch mit ihnen und im Anschluss widmeten sie sich den Deutschen.
"Wie angekündigt, ist nun die Zeit gekommen. Hiermit müssen wir leider Lebe wohl sagen!"
"Werden wir uns je wiedersehen?", fragte Peter mit Tränen in den Augen, obwohl er die Antwort schon kannte.
"Glaub mir, es ist besser, wenn es nicht geschehen wird. Behalten wir uns alle in positiver Erinnerung. Ein späteres Wiedersehen würde diesen Eindruck nur zunichte machen. Dann hat der Krieg uns noch weiter zerstört, noch stärker zerrissen und wir würden einander nie wieder als Freunde begegnen, sondern nur als Engländer und Deutsche, die sich bekämpfen müssen."
"Wir gehen auseinander als Freunde!", versprach Rudolf. Seine sonst so harten Gesichtszüge nahmen ganz sanfte, beinahe weiblich anmutende Züge an.
"Nein, nein." Francis schüttelte den Kopf. "Wir gehen auseinander als Feinde. Der Krieg hat erst begonnen. Schon morgen werden wir uns als erbitterte Rivalen auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen. Wir werden uns bekämpfen, hassen, verletzen, verfluchen und womöglich gar töten. Doch das ändert nichts daran, dass wir die schönsten Momente unseres Lebens miteinander verbracht haben und das verbindet uns in diesen Zeiten."
Rudolf nahm Winston in den Arm. Sein Blick fiel unwillkürlich auf den Verband.
"Danke, Kamerad", flüsterte der Brite mit schwacher Stimme.
"Thank you, mate", hauchte der Deutsche ebenso schwach zurück.
Francis wurde im Gegensatz zu allen anderen nicht in den Arm genommen. Man beließ es bei einem diskreten Händedruck als Zeichen des Respekts und der gegenseitigen Wertschätzung. Der Brite verzog keine Miene. Sein Schnurrbart und die kantigen Gesichtszüge verliehen seinem Antlitz einen düsteren Ernst, der jedoch auf große Weisheit schließen ließ.
"Glück auf, Kameraden", brummte er zum Abschied und salutierte.
"Good luck", erfolgte die Antwort seitens der Deutschen und Peter, Hans und Rudolf salutierten wie es sich für echte Soldaten gehörte. Winston und Ethan taten es ihnen gleich.
Was, wenn ich einen von ihnen töten werde, fuhr es Hans durch den Kopf. Er ahnte instinktiv, dass seine Freunde das gleiche dachten. Daraufhin musste er sich zunächst einmal eine Pfeife anzünden. Nun, er würde seinen neuen Kameraden und neuen Feinden einen ehrenhaften Tod gewähren. Das ist Krieg!
Noch lange blickten sie den davonschreitenden Soldaten hinterher, selbst als diese nicht mehr zu sehen waren, da sie bereits am Horizont mit der aufgehenden Sonne verschmolzen waren. Das ist Ewigkeit! Krieg ist Ewigkeit!
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